Zur Verwertbarkeit von Selbstkommunikation im deutschen Strafprozess
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorwort
- Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis
- 1. Teil Einleitung
- §1 Einführung in die Problematik
- §2 Gang der Untersuchung
- 2. Teil Problemkreis „Selbstkommunikation“
- §1 Der Begriff der „Selbstkommunikation“ und seine Bedeutung
- I. Allgemeiner Sprachgebrauch
- 1. Die Sprache als Medium der (Selbst-)Kommunikation
- 2. Selbstkommunikation in der Literaturwissenschaft
- II. Psychologische Betrachtung
- 1. Begriffsbestimmung und Bedeutung
- a) Definitionsversuche
- b) Informationsverarbeitung (hirnbiologische Grundlagen)
- c) Formen der Selbstkommunikation
- d) Selbstkommunikation im Kindesalter
- e) Sinn und Zweck der Selbstkommunikation
- f) Abgrenzung zur zwischenmenschlichen Kommunikation
- 2. Unbewusstheit der Äußerungen und Ähnlichkeit zu Gedanken
- a) Laute Selbstgespräche – ein unwillkürlich auftretendes Phänomen?
- b) Leises und lautes Denken
- 3. Pathologische Formen der Selbstkommunikation
- a) Negative Selbstkommunikation als Symptom psychischer Erkrankungen
- b) Negative Selbstkommunikation als Quelle psychischer Erkrankungen
- 4. Sind Gebete Selbstgespräche?
- §2 Strafrechtliche Relevanz von Selbstkommunikation
- I. Strafbarkeit nach § 185 StGB?
- II. Schutz durch § 201 StGB
- 1. Rechtsgut des § 201 StGB
- 2. Der Begriff des nichtöffentlich gesprochenen Wortes gemäß § 201 StGB
- §3 Strafprozessuale Relevanz von Selbstkommunikation
- I. Strafprozessrechtlich relevante Formen der Selbstkommunikation
- 1. Verbale Selbstkommunikation
- 2. Non-verbale Selbstkommunikation (insbesondere Tagebücher)
- II. Differenzierung nach Räumlichkeiten und schriftlicher Niederlegung
- 1. Selbstkommunikation im Rahmen der akustischen Wohnraumüberwachung (§ 100 c StPO)
- a) Anordnung gem. § 100 d StPO und Voraussetzungen von § 100 c Abs. 1 bis 3 StPO
- b) Kernbereichsschutz gemäß § 100 c Abs. 4 und 5 StPO
- c) Weitere Grenzen der Verwertbarkeit
- 2. Selbstkommunikation im Rahmen der akustischen Überwachung außerhalb von Wohnungen (§ 100 f StPO)
- a) Anordnung und Voraussetzungen
- b) Verwertbarkeit
- 3. Sicherzustellende Selbstkommunikation
- a) E-Mails, SMS und sonstige elektronische Mitteilungen
- aa) Anordnung und Voraussetzungen
- bb) Verwertbarkeit
- b) Tagebücher und Briefe
- aa) Anordnung und Voraussetzungen
- bb) Beschlagnahme- und Verwertungsverbote
- 3. Teil Verwertbarkeit von Selbstgesprächen
- §1 Einführung in die Beweisverbotslehre
- I. Die Grundlagen des Beweisrechts
- 1. Der Grundsatz der Amtsermittlung und das Legalitätsprinzip
- 2. Beweismittel
- 3. Beweiswürdigung und Verwertung von Beweisen
- II. Arten von Beweisverboten
- 1. Beweiserhebungsverbote
- a) Beweisthemenverbote
- b) Beweismethodenverbote
- c) Beweismittelverbote
- 2. Beweisverwertungsverbote
- a) Unselbständige sowie gesetzlich geregelte Beweisverwertungsverbote
- b) Selbständige und ungeschriebene Beweisverwertungsverbote
- III. Fernwirkung und Fortwirkung von Beweisverboten
- 1. Fernwirkung von Beweisverboten
- 2. Fortwirkung von Beweisverboten
- §2 Verwertungsverbote im Zusammenhang mit Selbstkommunikation
- I. Verwertungsverbot aufgrund eines Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht
- 1. Der Begriff des Kernbereichs privater Lebensgestaltung
- 2. Das „Elfes-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts – Statuierung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts
- a) Sachverhalt
- b) Kein Verstoß gegen Art. 11 GG
- c) Herleitung des Kernbereichs des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
- d) Würdigung des Urteils
- 3. Die „Tagebuch-Entscheidungen“
- a) Das erste „Tagebuch-Urteil“ des BGH
- aa) Gegenstand der Entscheidung
- bb) Anerkennung eines selbständigen Beweisverwertungsverbots
- cc) Kritik
- b) Die Entwicklung bis zur „Tonband-Entscheidung“
- aa) Der Tagebuch-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
- bb) Die Entscheidungen des OLG Celle und des OLG Frankfurt
- cc) Das Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs
- dd) Konkretisierung der „Kernbereichstheorie“ durch das Bundesverfassungsgericht
- c) Das „Tonband-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts
- aa) Zugrundeliegender Tatbestand
- bb) Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts
- cc) Diskurs
- d) Das „Volkszählungs-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts
- aa) Das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“
- bb) Aufgabe der Sphärentheorie?
- e) Das zweite „Tagebuch-Urteil“ des BGH
- aa) Erörterung der Entscheidungsgrundlagen
- bb) Kritik
- cc) Abwägung des Persönlichkeitsrechts mit den Belangen der Strafrechtspflege – Kriterien
- f) Das zweite „Tagebuch-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts
- aa) Darstellung der Entscheidung
- (1) Auffassung der die Verwertbarkeit befürwortenden Richter
- (2) Ansicht der vier unterlegenen Senatsrichter
- bb) Auseinandersetzung mit der Entscheidung
- (1) Kritik an der die Entscheidung tragenden Auffassung
- (2) Befürwortung der Einschätzung der unterlegenen Richter
- g) Der Tagebuch-Beschluss des BGH vom 30. März 1994
- aa) Sachverhalt und Entscheidungsgründe
- bb) Stellungnahme
- h) Der Beschluss des BGH zu Notiz- und Taschenkalendern
- aa) Tatbestand und tragende Erwägungen des Urteils
- bb) Diskurs
- 4. Die „Lauschangriff-Entscheidungen“
- a) Das Urteil des BGH zu „Raumgesprächs-Aufzeichnungen“
- aa) Sachverhalt und Darstellung der tragenden Erwägungen
- bb) Bewertung
- b) Das „Pkw-Raumgespräch-Urteil“ des BGH
- aa) Tatbestand und Entscheidungsgründe
- bb) Erörterung der Urteilsgründe
- c) Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum „großen Lauschangriff“
- aa) Überblick
- bb) Auseinandersetzung
- cc) Auswirkungen: Gesetzesänderung vom 24. Juni 2005
- d) Die „Reha-Klinik“-Entscheidung des BGH
- aa) Zusammenfassung der Entscheidung
- bb) Kritik
- e) Das „Pkw-Selbstgespräch-Urteil“ des BGH
- aa) Sachverhalt
- bb) Sichtweise des BGH
- cc) Auseinandersetzung mit der Entscheidung
- (1) Räumliche Begrenzung der Intimsphäre?
- (2) Kein Erfordernis eines dinglichen Substrats
- (3) Unabhängigkeit vom Inhalt der Äußerung
- (4) Die einzelnen Kriterien der Einzelfallabwägung
- (a) Eindimensionalität der Selbstkommunikation
- (b) Nichtöffentlichkeit der Äußerungssituation
- (c) Unbewusstheit der Äußerungen
- (d) Identität mit Gedanken – bruchstückhafter Gedankenfluss
- (e) Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes
- 5. Fazit
- II. Weitere mögliche Verwertungsverbote
- 1. Verwertungsverbot aus Art. 13 GG
- a) Der Schutz der Wohnung nach Art. 13 Abs. 1 GG
- b) „Portabilität“ der Intimsphäre
- 2. Verwertungsverbot aus Spezialgrundrechten?
- a) Glaubens- und Gewissensfreiheit, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
- b) Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 S. 1 1. HS GG
- c) Schutz der Ehe und Familie, Art. 6 Abs. 1 GG
- 3. Verwertungsverbot aufgrund von Anordnungs-/Verfahrensfehlern
- a) Fehlende Anordnungskompetenz
- b) Nichteinhaltung von sonstigen Verfahrensvorschriften
- 4. Kollision mit dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit („Nemo tenetur se ipsum accusare“)
- III. Notwendigkeit einheitlicher Kriterien des selbstständigen Verwertungsverbots bei Selbstgesprächen
- 1. Erforderlichkeit eines selbständigen Verwertungsverbots bei Selbstgesprächen
- 2. Schutzumfang und Kriterien
- 3. Vorschlag für eine Gesetzesfassung des Verwertungsverbots von Selbstgesprächen
- §3 Einzelne Fragen der Verwertbarkeit von Selbstgesprächen
- I. Reichweite des Verwertungsverbots aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG
- 1. Verwertbarkeit bei anderen Beteiligten des Strafverfahrens
- 2. Fern- und Fortwirkung des Verwertungsverbots
- II. Dispositionsbefugnis des Betroffenen über das Verwertungsverbot aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG
- III. Verwertung zugunsten des Beschuldigten
- IV. Verwertbarkeit aus präventiven Gründen?
- V. Geeignetheit des Selbstgesprächs als Beweismittel
- 4. Teil Zusammenfassung und Ausblick
- §1 Die praktische Bedeutung der Unverwertbarkeit
- §2 Tendenz der Entwicklung der Rechtsprechung
- Literaturverzeichnis
Auf die Erstellung eines Abkürzungsverzeichnisses wurde verzichtet, es wird verwiesen auf:
Kirchner, Hildebert: Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 8. Auflage, de Gruyter Verlag, Berlin 2015. ← XVII | XVIII →
§1 Einführung in die Problematik
Selbstkommunikative Phänomene beschäftigen die deutsche Rechtswissenschaft bereits seit vielen Jahrzehnten. So sind seit den sechziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts einige höchstrichterliche Entscheidungen ergangen, die sich mit unterschiedlichen Erscheinungsformen von Selbstgesprächen befasst haben.1 Gegenstand dieser Entscheidungen waren in erster Linie perpetuierte Niederschriften von Selbstgesprächen, mithin Tagebücher. Aber auch die Verwertbarkeit von verbalen, lauten Selbstgesprächen wurde von der höchstrichterlichen Rechtsprechung bereits erörtert.2
Diese Urteile zogen eine Flutwelle juristischer Kritik nach sich.3 Insbesondere die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Verwertbarkeit tagebuchartiger Aufzeichnungen eines wegen Mordes Beschuldigten aus dem Jahre 19894 sowie zum sogenannten „großen Lauschangriff“ im Jahre 20045 hatten eine kontroverse Diskussion innerhalb der juristischen Literatur zur Folge. Vor allem die letztgenannte Entscheidung erteilte einem beunruhigenden Trend der heutigen Zeit eine Absage: Jenem, „[…] der durch immer mehr Überwachung, Freiheitsbeschränkung und Strafe, Sicherheit auf Kosten von Freiheit gewährleisten will.“6
Auch heute hat diese Thematik immer noch eine große Relevanz. Dies ist insbesondere auf aktuelle Diskussionen zu Abhörmaßnahmen zurückzuführen, die durch die immer wiederkehrenden Argumente der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus und der vermeintlich angespannten Sicherheitslage gerechtfertigt werden sollen. ← 1 | 2 → 7
Die Frage der Verwertbarkeit von Selbstkommunikation hängt – wie zu zeigen sein wird8 – mit dem Kernbereich der persönlichen Lebensentfaltung, der Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 GG ist, eng zusammen. Dieses ist nicht nur bei der Frage der Verwertbarkeit von Selbstkommunikation relevant – welche sich naturgemäß erst nach der Erlangung des „selbstkommunikativen Beweismittels“ (in der Regel durch eine Abhörmaßnahme) – stellt, sondern auch bei anderen Eingriffen in die Intimsphäre des Individuums, die nicht mit Selbstkommunikation in Zusammenhang stehen. Letztlich können die für selbstkommunikative Phänomene gewonnenen Erkenntnisse, die den Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung betreffen, aber unter Umständen darüber hinaus zur Bestimmung desselben bei anderen Kommunikationsformen – wie beispielsweise bei Gesprächen mit engen Verwandten oder Vertrauten – oder bei sonstigen Handlungen, die den Kernbereich der privaten Lebensgestaltung betreffen, herangezogen werden. Bereits hier sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Kommunikationsform des Selbstgesprächs im Vergleich zu anderen Ausdrucksformen einige zu beachtende Besonderheiten aufweist, auf die noch im Einzelnen einzugehen sein wird.9
Konkreter Anlass für die Aufarbeitung der nach wie vor hochaktuellen Thematik der Selbstkommunikation war das am 22. Dezember 2011 ergangene Urteil des Bundesgerichtshofs im sogenannten „Pkw-Selbstgespräch-Fall“10, welches „[…] die Diskussion um die Verwertbarkeit von Beweisen im Strafprozess, welche bei Gelegenheit heimlicher Ermittlungsmaßnahmen erhoben wurden, auf ein neues Gleis stellt[e].“11
Hierbei entschied der BGH, dass ein in einem Kraftfahrzeug geführtes Selbstgespräch eines sich alleine wähnenden Beschuldigten, welches mittels akustischer Überwachung aufgezeichnet worden war, nicht verwertet werden dürfe. Dies führte das Gericht darauf zurück, dass ein solches Selbstgespräch dem absolut geschützten Kernbereich der Persönlichkeit gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG zuzurechnen sei.12
Diesem Urteil lag ein Aufsehen erregender Fall zugrunde: Der des Mordes an seiner Ehefrau Beschuldigte Siegfried K. sowie dessen mutmaßliche Komplizen – die Zwillingsschwester des Beschuldigten und deren Ehemann – waren in erster Instanz vom Landgericht Köln zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. ← 2 | 3 → Den Angeklagten wurde vorgeworfen, die philippinische Ehefrau des Siegfried K., Lotis K., welche seit dem Jahre 2001 mit den drei Angeklagten in einem Haus lebte, ermordet zu haben.
Mangels auffindbarer Spuren konnten die Einzelheiten der Tatausführung nicht aufgeklärt werden. Auch nach einer umfangreichen Suche seitens der Strafverfolgungsbehörden blieb die Leiche der Lotis K. unauffindbar.13
Das Landgericht Köln verurteilte die Angeklagten wegen Mordes in Mittäterschaft aus niedrigen Beweggründen. Sein Urteil stützte das Gericht neben weiteren Hinweisen auf eine Äußerung des Siegfried K., die dieser während einer Autofahrt im Alleinsein zu sich selbst getätigt hatte. Der Pkw des Beschuldigten Siegfried K. war im Rahmen einer Maßnahme nach § 100 f StPO abgehört worden. Die hierdurch gewonnene Tonbandaufnahme verwertete das Landgericht Köln im Rahmen seiner Beweiswürdigung als Augenscheinsbeweis durch Vorspielen der Äußerungen in der Hauptverhandlung. Es führte hierzu in seinen Urteilsgründen aus, der unantastbare Kernbereich der privaten Lebensgestaltung werde durch die Verwertung der Tonbandaufnahme nicht tangiert, da inhaltlich ein Bezug der Äußerungen zu dem Tötungsdelikt vorliege. Daher sei das Selbstgespräch nicht dem Bereich des Höchstpersönlichen zuzuordnen und demnach unter Abwägung der Belange der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege und der Interessen der Beschuldigten verwertbar.14 Folglich wertete das Landgericht das Selbstgespräch des Angeklagten Siegfried K. als geständnisgleiches Indiz für die Tötung der Lotis K. und verwertete es auch zu Lasten der Mitangeklagten.
Die insbesondere gegen die Verwertung des Selbstgesprächs gerichtete Verfahrensrüge der Angeklagten wurde mit der Entscheidung des BGH über die eingelegte Revision für begründet erachtet. Der BGH stützte die Annahme der Unverwertbarkeit des Selbstgesprächs auf einen Eingriff in den durch Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten, unantastbaren Kernbereich der Persönlichkeit. Er führte hierzu insbesondere aus, dass der Schutzbereich der Intimsphäre durch die heimliche Aufzeichnung des nicht öffentlich geführten Selbstgesprächs berührt werde und dass nur durch eine Gesamtbewertung aller Umstände im Einzelfall festgestellt werden könne, ob dieses dem absolut geschützten Kernbereich oder nur dem relativ geschützten Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zuzuordnen sei. Aufgrund einer Kumulation der Umstände befand das Gericht letztlich, dass das Selbstgespräch in diesem Fall ← 3 | 4 → dem absolut geschützten Kernbereich unterfallen müsse. Als hierfür herangezogene Kriterien benannte der BGH „[…] die Eindimensionalität der Selbstkommunikation, die Nichtöffentlichkeit der Äußerungssituation, die mögliche Unbewusstheit der Äußerungen im Selbstgespräch, die Identität der Äußerung mit den inneren Gedanken beim Selbstgespräch und die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes“.15
Diese Kriterien des BGH sollen in dieser Arbeit – insbesondere in Verbindung mit einer psychologischen Sichtweise – eine eingehende Betrachtung erfahren. So sind vor allem die Fragen zu klären, in welchen Situationen tatsächlich von einer Eindimensionalität der Selbstkommunikation gesprochen werden kann, ob diese wirklich unbewusst erfolgt und ob von einer Identität der Selbstgespräche und inneren Gedanken auszugehen ist.
Der BGH führte in seiner Entscheidung überdies umfassend aus, dass der Schutz der Kernbereichsentfaltung den Menschen dazu diene, „[…] sich in einem letzten Rückzugsraum mit dem eigenen Ich befassen zu können, ohne Angst davor haben zu müssen, dass staatliche Stellen dies überwachen.“16 Er betonte darüber hinaus, dass die Gedanken grundsätzlich frei seien, „[…] weil Denken für Menschen eine Existenzbedingung darstellt.“ Den Gedanken fehle bereits „[…] aus sich heraus die Gemeinschaftsbezogenheit, die jenseits des Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung liegt.“ Gleiches müsse für die Gedankenäußerung im nicht öffentlich geführten Selbstgespräch gelten, zumal Gedanken in der Regel in Form eines „inneren Sprechens“ entwickelt würden und Denken und Sprache untrennbar miteinander verbunden seien. Aus diesen Gründen nehme das unter Umständen unbewusste „laute Denken“ an der Gedankenfreiheit teil.17
Der Begriff der Gedankenfreiheit18 wird häufig mit demjenigen der Meinungsfreiheit gleichgesetzt, mithin im Sinne einer politischen und weltanschaulichen Äußerungsfreiheit verstanden. Während die Meinungsfreiheit als unabdingbares Grund- und Menschenrecht hier keinesfalls in Frage gestellt werden soll, ist jedoch zu betonen, dass die Gedankenfreiheit genau genommen bereits eine Stufe früher ansetzt. Die Gedanken des Menschen sind naturgemäß frei, mithin keinen Regeln oder Tabus unterworfen.19 Sie können grundsätzlich, da sie meist innerlich ← 4 | 5 → ablaufen, auch von niemandem wahrgenommen werden und weisen häufig einen sehr intimen Inhalt auf, der nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist.20
Die Bedeutung und die Besonderheiten der Gedankenfreiheit wurden bereits im vormärzlichen Freiheitspathos von Edgar von Fallersleben, an dessen Wortlaut die Ausführungen des Urteils des BGH erinnern,21 deutlich: „Die Gedanken sind frei / Wer kann sie erraten? / Sie fliegen vorbei / Wie nächtliche Schatten / Kein Mensch kann sie wissen / Kein Jäger sie schießen / Es bleibet dabei / Die Gedanken sind frei.“22 Auch in der Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ von Achim von Arnim und Clemens Brentano singt der Gefangene von der Gedankenfreiheit. Diese Volkslieder waren im 19. Jahrhundert Ausdruck einer neuen, freiheitlichen Denkweise und Vorreiter der vormärzlichen Revolution. An ihrer Aussagekraft und der grundlegenden Bedeutung der Gedankenfreiheit für die menschliche Existenz hat sich bis heute nichts geändert.
Trotz der zahlreichen Diskussionen über die Verwertbarkeit selbstkommunikativer Phänomene sowohl seitens der juristischen Literatur als auch innerhalb der Rechtsprechung, sind ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen weiterhin überwiegend ungeklärt und lassen insbesondere eine systematische Aufarbeitung vermissen. Auf die Tagebuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1989 folgten zwar einige Abhandlungen zur Verwertbarkeit tagebuchartiger Aufzeichnungen. Einen umfassenden Beitrag, der eine Verknüpfung derselben mit lauten, verbalen Selbstgesprächen herstellt, sucht man jedoch vergebens. Nach wie vor fehlt es an einer solchen methodischen, umfassenden Betrachtung der Selbstkommunikation in Literatur und Rechtsprechung und insbesondere auch an einer eingehenden psychologischen Untersuchung selbstkommunikativer Phänomene seitens der juristischen Literatur.
Das erklärte Ziel dieser Arbeit ist es, diese Lücke zu schließen und die Problematik der Selbstgespräche in ihren unterschiedlichen Facetten zu beleuchten.
Hierbei soll der Leser innerhalb des Gliederungspunktes „Problemkreis der Selbstkommunikation“ unter dem Unterpunkt „Der Begriff der Selbstkommunikation und dessen Bedeutung“ zunächst für die Thematik der Selbstkommunikation ← 5 | 6 → sensibilisiert werden, indem in einem ersten Schritt die Sichtweise der Allgemeinheit in Bezug auf dieses Phänomen dargestellt wird.23 Bereits hier soll verdeutlicht werden, welche besondere Rolle die Selbstkommunikation im Leben eines jeden Menschen spielt. Auch die im Anschluss darauf folgende Betrachtung durch die Literaturwissenschaften soll den umfassenden Blick auf alle denkbaren selbstkommunikativen Phänomene lenken und aufzeigen, welche unterschiedlichen Funktionen letztere einzunehmen vermag.24
Im darauf folgenden Unterpunkt soll im Rahmen der psychologischen Betrachtung der Selbstkommunikation dem Leser verdeutlicht werden, dass letztere vor allem auch aus psychologischer Sicht zahlreiche sinnvolle Funktionen inne hat und im Alltag eines jeden Individuums tagtäglich eine bedeutende Rolle spielt.25 Beinahe alle Denkvorgänge wären ohne sie unmöglich. Innerhalb dieser Betrachtung soll dem Juristen, dem während seiner Ausbildung in der Regel keinerlei psychologischen Inhalte vermittelt werden26, unter anderem veranschaulicht werden, was Selbstkommunikation aus psychologischer Sicht überhaupt bedeutet27, ob und warum sie trotz einer lauten verbalen oder perpetuierten Entäußerung Gedanken sehr ähnlich ist28, welche Formen – sowohl gesunder als auch pathologischer Art – denkbar sind29 und ob Gebete ebenfalls als Selbstgespräche aufgefasst werden können30.
Eine eingehende Betrachtung selbstkommunikativer Phänomene ist ohne ein fundiertes Verständnis der diesen zugrundeliegenden psychologischen Vorgänge und Funktionen undenkbar. Es ist unmöglich, die Verwertbarkeit eines Selbstgesprächs zu beurteilen, ohne sich zuvor damit auseinanderzusetzen, ← 6 | 7 → welche Funktionen dieses aufweist und wie es im Allgemeinen einzuordnen ist. Daher liegt ein wesentlicher Schwerpunkt dieser Arbeit darin, dem Leser die psychologischen Aspekte der Selbstkommunikation und anhand dessen ihre besondere Bedeutung für den Menschen aufzuzeigen.31 Dabei ist neben einer kurzen Veranschaulichung der hirnbiologischen Verarbeitungsvorgänge bei der Selbstkommunikation32 auch die Darstellung der frühkindlichen Entwicklung derselben33 sowie eine Abgrenzung zur zwischenmenschlichen Kommunikation34 notwendig. Diese Ausführungen dienen insbesondere als Vorarbeiten für die im darauf folgenden Gliederungspunkt zu untersuchende Frage, ob Selbstkommunikation – wie es der BGH beurteilt – tatsächlich unwillkürlich auftritt35 und ob sie mit (leisem) Denken gleichzusetzen ist36. Schließlich werden der Vollständigkeit wegen auch pathologische Formen selbstkommunikativer Phänomene dargestellt37 und untersucht, ob auch Gebete als Formen der Selbstkommunikation aufzufassen sind38. Auch diese Untersuchungen werden später im Rahmen der Verwertbarkeit der Selbstkommunikation39 relevant werden und die Argumentation stützen.
In einem weiteren Gliederungspunkt im Rahmen des Problemkreises der Selbstkommunikation wird sodann die strafrechtliche Relevanz derselben diskutiert.40 Hier wird zu klären sein, ob Selbstgespräche eine Strafbarkeit nach § 185 StGB begründen können41 und ob ihnen ein Schutz durch § 201 StGB zuteil wird42.
Innerhalb des folgenden Kapitels wird sodann die strafprozessuale Relevanz der Selbstkommunikation eingehend betrachtet, um den Leser auf die Verwertungsproblematik derselben einzustimmen43. Dieser Abschnitt dient der systematischen Einordnung der verschiedenen strafprozessrechtlich relevanten Formen ← 7 | 8 → der Selbstkommunikation44 und ihrer Differenzierung anhand unterschiedlicher Ermittlungsmaßnahmen45, wobei die jeweiligen Anordnungsvoraussetzungen und bereits überblicksartig die hierbei zu beachtenden Verwertbarkeitsaspekte dargestellt werden.
Der dritte Teil der Arbeit stellt dessen „Herzstück“ dar. Hier wird die Verwertbarkeit der Selbstkommunikation aus diversen unterschiedlichen Blickwinkeln untersucht46.
Zunächst werden dem Leser im Rahmen einer kurzen Einführung in die Beweisverbotslehre die Grundlagen des Beweisrechts sowie die Eigenschaften und die Bedeutung der Beweiserhebungs- und -verwertungsverbote verdeutlicht.47 Dies dient auch der Erläuterung von möglicherweise unklaren Begrifflichkeiten und der Sensibilisierung des Lesers für die Besonderheiten der Beweisverbotslehre.
Im darauf folgenden Gliederungspunkt werden die bisher diskutierten Verwertungsverbote – jeweils anhand ihrer (Eingriffs-) Grundlage – dargestellt.48 Die überwiegende Literatur und Rechtsprechung sieht bei der Verwertung von Selbstkommunikation das allgemeine Persönlichkeitsrecht als tangiert an. Daher wird diesem besonders viel Aufmerksamkeit gewidmet, wobei zunächst der Begriff des Kernbereichs der privaten Lebensgestaltung untersucht49 und sodann die Entwicklung der Rechtsprechung hierzu ausführlich dargestellt und diskutiert wird50. In einem weiteren Punkt folgt die Erörterung weiterer bisher in der juristischen Literatur im Zusammenhang mit Selbstkommunikation thematisierter Verwertungsverbote.51
Schließlich wird im letzten Gliederungspunkt dieses Kapitels die Notwendigkeit eines übergeordneten Verwertungsverbots dargestellt und dessen Kriterien im Einzelnen herausgearbeitet52. ← 8 | 9 →
Am Ende des dritten Teils der Arbeit wirft diese einzelne Fragen der Verwertbarkeit von Selbstkommunikation auf, die innerhalb der juristischen Literatur in diesem Zusammenhang immer wieder diskutiert wurden53.
Im vierten und letzten Teil der Arbeit wird die praktische Bedeutung der Unverwertbarkeit der Selbstkommunikation erwogen54 und schließlich eine kurze Einschätzung der Tendenzen in der Entwicklung der Rechtsprechung zu dieser Thematik abgegeben55. ← 9 | 10 →
1 So z. B. BVerfGE 80, 367; 109, 279; BGHSt 50, 206; 57, 71; vgl. hierzu ausführlich unter 3. Teil § 2 I. 2. ff.
2 BGHSt 50, 206; BGHSt 57, 71.
3 Vgl. z. B. Sax, JZ 1965, 1; Händel, NJW 1964, 1139; Nüse, JR 1966, 281 (286); Heinitz, JR 1964, 441; Spendel, NJW 1966, 1102 (1107) u. a.; vgl. hierzu auch die Literaturnachweise in den Fn. der jeweiligen Rechtsprechungskritik.
4 BVerfGE 80, 367.
5 BVerfGE 109, 279.
6 So Roxin, FS Böttcher 2007, S. 159 (164).
7 Vgl. hierzu eingehend Poscher, JZ 2009, 269 f.; auch Reinbacher, RW 2013, 468 thematisiert die vermeintlichen neuen Gefahren unserer globalisierten Welt und spricht von einer „[…] Verteidigung der Freiheit gegenüber staatlichen Eingriffen […]“, S. 469.
8 Vgl. hierzu unter 3. Teil § 2 I.
9 Vgl. hierzu z. B. unter 2. Teil II. 1. c).
10 BGHSt 57, 71.
11 Jahn/Geck, JZ 2012, 561.
12 BGHSt 57, 71 (71 f.).
13 BGHSt 57, 71 (72 ff.).
14 LG Köln, Az. 1451 E – 493.
15 BGHSt 57, 71 (73 f.).
Details
- Seiten
- XVI, 251
- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (PDF)
- 9783653063110
- ISBN (MOBI)
- 9783653953169
- ISBN (ePUB)
- 9783653953176
- ISBN (Paperback)
- 9783631670736
- DOI
- 10.3726/978-3-653-06311-0
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (April)
- Schlagworte
- Lügendetektor Tagebücher Selbstgespräche staatliche Überwachung
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. XVI, 251 S.