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Das kartellrechtliche Konzept der wirtschaftlichen Einheit unter besonderer Berücksichtigung von Gemeinschaftsunternehmen

von Deborah Xenia Daase (Autor:in)
©2019 Dissertation 266 Seiten

Zusammenfassung

Die Kommission sowie der EuGH interpretieren seit langem den kartellrechtlichen Unternehmensbegriff funktional und definieren ihn als „wirtschaftliche Einheit". Damit soll jede „Einheit" erfasst werden, die am Markt als selbständiger Wettbewerber auftritt. Dieser Ansatz kann dann Schwierigkeiten bereiten, wenn es um miteinander verflochtene Gesellschaftsgruppen geht, deren einzelne Glieder zwar unmittelbar als Marktteilnehmer auftreten mögen, die aber in ihrem Marktverhalten von übergeordneten Einheiten gesteuert werden. Die Autorin hat es sich zur Aufgabe gemacht, vor allem im Hinblick auf Gemeinschaftsunternehmen und ihre Muttergesellschaften die Voraussetzungen für die Annahme einer wirtschaftlichen Einheit zu analysieren, die für die Bestimmung des Norm-, Bußgeld- und Schadensersatzadressaten relevant ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Title Page
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einführung
  • § 1 Problemstellung und Zielsetzung der Arbeit
  • § 2 Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes
  • § 3 Gang der Untersuchung
  • Erster Teil: Das Konzept der wirtschaftlichen Einheit – die Gesellschaftsgruppen als Normadressat
  • § 1 Der kartellrechtlich funktionale Unternehmensbegriff, Art. 101, 102 AEUV
  • I. Entwicklung des Unternehmensbegriffs
  • 1. Der institutionelle Unternehmensbegriff
  • 2. Die Entwicklung des funktionalen Unternehmensbegriffs
  • 3. Stellungnahme zum Verhältnis der beiden Begrifflichkeiten
  • 4. Das Rechtsfähigkeitserfordernis als konstitutiver Bestandteil des Unternehmensbegriffs
  • a. Meinungsstand
  • b. Würdigung
  • II. Voraussetzungen des kartellrechtlichen funktionalen Unter- nehmensbegriffs
  • 1. Kriterium der wirtschaftlichen Betätigung
  • 2. Kriterium der wirtschaftlichen Einheit
  • a. Definition der wirtschaftlichen Einheit
  • b. Die Entwicklung der wirtschaftlichen Einheit in der Gemeinschaftspraxis
  • aa. Europäische Kommission
  • bb. EuGH
  • c. Zusammenfassung
  • § 2 Die Anwendung des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit auf Gesellschaftsgruppen
  • I. Konstellation A: Muttergesellschaft und 100%ige Tochtergesellschaft
  • 1. Problemstellung
  • 2. Muss die Muttergesellschaft selbst eine Unternehmensqualität aufweisen?
  • 3. Bestimmender Einfluss
  • a. Fehlende Autonomie, das Marktverhalten selbst bestimmen zu können
  • b. Bezugspunkt der fehlenden Entscheidungsautonomie
  • aa. Ansicht der Unionsorgane
  • bb. Würdigung
  • 4. Möglichkeiten der Ausübung eines bestimmenden Einflusses
  • a. Einflussmöglichkeiten durch strukturelle Verflechtungen
  • aa. Einflussmöglichkeit durch eine kapitalmäßige Verbundenheit
  • bb. Weitere Einflussmöglichkeiten
  • b. Einflussmöglichkeit durch personelle Verflechtung
  • 5. Widerlegbare Vermutung der bestimmenden Einflussnahme
  • a. Tatsächliche Ausübung des bestimmenden Einflusses
  • b. Vermutung der bestimmenden Einflussnahme bei 100%iger Beteiligung der Muttergesellschaft an der Tochtergesellschaft
  • aa. Entwicklung der Einflussnahmevermutung in der Rechtsprechung
  • bb. Ist die Anwendbarkeit der Vermutungsregel auf einen 100%igen Kapitalbesitz begrenzt?
  • cc. Die Geltung der Vermutungsregel in einem mittelbaren Beteiligungsverhältnis
  • c. Widerlegung der Vermutung
  • aa. Widerlegbarkeit der Vermutung
  • bb. Nachweismöglichkeiten zur Widerlegung der Vermutung
  • d. Rechtsstaatliche Zulässigkeit der widerlegbaren Vermutung eines bestimmenden Einflusses
  • e. Sollte die Vermutungsregel im Hinblick auf Nachweisanforderungen verschärft werden?
  • f. Der Begründungsmangel als Korrektiv?
  • 6. Zusammenfassung
  • II. Konstellation B: Gemeinschaftsunternehmen mit paritätischer Beteiligung
  • 1. Problemstellung
  • 2. Verhältnis des Autonomiedefizits im Rahmen der wirtschaftlichen Einheit zum Postulat der wettbewerblichen Eigenständigkeit im Sinne der FKVO
  • a. Ansicht DuPont und Dow
  • b. Stellungnahme
  • 3. Bestimmende Einflussnahme durch gemeinsame Kontrolle
  • a. Kommissionspraxis
  • b. Gemeinsame Kontrolle
  • c. Positiver und negativer Einfluss
  • aa. Meinungsstand
  • bb. Würdigung
  • 4. Gemeinsame Leitungs- und Einflussnahmemöglichkeiten
  • a. Einfluss auf die strategischen geschäftspolitischen Entscheidungen des Gemeinschaftsunternehmens
  • b. Einflussmöglichkeiten aufgrund struktureller Verflechtungen
  • c. Einflussmöglichkeiten aufgrund personeller Verflechtungen
  • 5. Ausübung des bestimmenden Einflusses
  • a. Interessengleichheit der Gesellschafter
  • aa. Gemeinsames Ziel und Interesse als Gründungsgrundlage für ein Gemeinschaftsunternehmen
  • bb. Das Interessenverhältnis zwischen den Muttergesellschaften bei Liefer- und Leistungsbeziehungen
  • cc. Risiken im Rahmen der Zusammenarbeit
  • dd. Mechanismen zur Überwindung einer Interessendivergenz und Auflösung einer Pattsituation
  • ee. Würdigung
  • b. Nachweis der Einflussnahme
  • aa. Grundsatz
  • bb. Praxis der Unionsorgane
  • cc. Relevanter Zeitpunkt für die Feststellung des bestimmenden Einflusses
  • dd. Würdigung
  • ee. Anwendbarkeit der Vermutungsregel
  • 6. Struktur der wirtschaftlichen Einheit im Falle eines paritätischen Gemeinschaftsunternehmens
  • 7. Zusammenfassung
  • III. Konstellation C: Gemeinschaftsunternehmen ohne paritätische Beteiligung
  • 1. Problemstellung
  • 2. Einflussnahmemöglichkeiten auf das Gemeinschaftsunternehmen
  • a. Alleinige Kontrolle vs. gemeinsame Kontrolle
  • b. Begründung gemeinsamer Kontrolle
  • aa. Gleiche Stimmrechte oder Besetzung der Entscheidungsorgane
  • bb. Vetorechte
  • cc. Gemeinsame Ausübung der Stimmrechte
  • 3. Nachweis der tatsächlichen Ausübung von Einfluss
  • a. Anforderungen der Europäischen Kommission und des EuG an den Nachweis des bestimmenden Einflusses
  • aa. Rechtssache Fuji Electric Systems
  • bb. Rechttsache Toshiba
  • cc. Rechtssache Del Monte
  • dd. Rechtssache Kerzenwachse/Sasol
  • b. Stellungnahme zu den Nachweiserfordernissen
  • c. Anwendbarkeit der Vermutungsregel
  • aa. Ansicht des EuG
  • bb. Stellungnahme zur Anwendbarkeit der Vermutungsregel
  • 4. Stellungnahme zur Annahme einer wirtschaftlichen Einheit bei nicht paritätischen Gemeinschaftsunternehmen
  • 5. Zusammenfassung
  • IV. Konstellation D: Muttergesellschaft und mehrere Tochtergesellschaften (sog. Schwestergesellschaften)
  • 1. Problemstellung
  • 2. Fehlende Autonomie der Schwestergesellschaften
  • 3. Stellungnahme
  • 4. Zusammenfassung
  • Zweiter Teil: Die bußgeldrechtliche Verantwortlichkeit von Muttergesellschaften
  • § 1 Bußgeld als Sanktionierung eines Verstoßes gegen Art. 101, 102 AEUV
  • § 2 Bußgeldrechtlicher Unternehmensbegriff
  • I. Interpretationsansatz der Unionsorgane
  • II. Stellungnahme zum bußgeldrechtlichen Unternehmensbegriff
  • III. Zusammenfassung
  • § 3 Die wirtschaftliche Einheit als Haftungskonzept
  • I. Zurechnungssubjekt für das wettbewerbswidrige Verhalten
  • II. Bußgeldrechtliches Zurechnungssubjekt
  • § 4 Die Vereinbarkeit des Haftungskonzepts der wirtschaftlichen Einheit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen
  • I. Überblick
  • II. Die unionsrechtlichen Gesetzesvorbehalte
  • 1. Der ungeschriebene unionsrechtliche Gesetzesvorbehalt
  • 2. Der Gesetzesvorbehalt nach Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRCh
  • a. Allgemeine Voraussetzungen
  • b. Eingriff der Bußgeldentscheidung der Europäischen Kommission in ein geschütztes Grundrecht
  • III. Nulla poena sine lege
  • IV. Das Schuldprinzip
  • 1. Die originäre Unternehmensschuld
  • a. Schuldfähigkeit des Unternehmens
  • b. Zugerechnetes Fremdverschulden vs. originäres Verschulden
  • c. Organisationsverschulden als eigenes Verschulden des Unternehmens
  • 2. Persönliche Verantwortlichkeit und wirtschaftliche Einheit
  • 3. Die persönliche Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft
  • V. Zusammenfassung
  • § 5 Das Auswahlermessen der Europäischen Kommission
  • I. Die gesamtschuldnerische Haftung der Rechtsträger einer wirtschaftlichen Einheit
  • II. Die Auswahl der Bußgeldadressaten
  • 1. Die Beanspruchung eines Auswahlermessens der Europäischen Kommission
  • 2. Kommissionspraxis
  • a. Muttergesellschaft und 100%ige Tochtergesellschaft
  • b. Gemeinschaftsunternehmen
  • c. Schwestergesellschaften
  • 3. Ermessenskriterien der Europäischen Kommission
  • III. Stellungnahme
  • IV. Zusammenfassung
  • § 6 Der gesamtschuldnerische Innenausgleich
  • I. Die Relevanz des gesamtschuldnerischen Innenausgleichs
  • II. Das anwendbare Recht für den gesamtschuldnerischen Innenausgleich
  • III. Kriterien für den gesamtschuldnerischen Innenausgleich
  • IV. Zusammenfassung
  • Dritter Teil: Die wirtschaftliche Einheit als Adressatin von Schadensersatzansprüchen
  • § 1 Die kartellrechtliche Schadensersatzrichtlinie
  • I. Problemstellung
  • II. Anwendbarkeit der kartellrechtlichen Schadensersatzrichtlinie
  • III. Anspruchsgegner
  • § 2 Übernahme des europäischen Unternehmensbegriffs und Haftungskonzepts der wirtschaftlichen Einheit in das nationale Kartellschadensersatzrecht
  • I. Derzeitiger Meinungsstand
  • II. Stellungnahme
  • Schluss
  • § 1 Zusammenfassung und Ergebnisse
  • I. Die Gesellschaftsgruppen als Normadressat
  • II. Die Gesellschaftsgruppen als Bußgeldadressat
  • III. Die Gesellschaftsgruppen als Adressat privater Schadensersatzansprüche
  • § 2 Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Entscheidungsverzeichnis

←18 | 19→

Einführung

§ 1 Problemstellung und Zielsetzung der Arbeit

Eine geläufige Redensart im Volksmund lautet: „Eltern haften für ihre Kinder“. Häufig auch bei Kartellrechtsfällen zugrunde gelegt,1 kann diese Bestimmung jedoch nicht unproblematisch bejaht werden.2 In den letzten Jahren hatten sich die Unionsorgane3 wiederholt mit der Frage zu beschäftigen, unter welchen Voraussetzungen Bußgelder gegen ein an einem Kartell beteiligtes Gemeinschaftsunternehmen auch an seine Muttergesellschaften adressiert werden können.4 Der EuGH hatte im Jahre 2013 mit den Entscheidungen in den parallelen Rechtssachen DuPont und Dow die bußgeldrechtliche Verantwortung der Muttergesellschaften eines paritätischen Gemeinschaftsunternehmens bestätigt, da zwischen diesen Gesellschaften eine wirtschaftliche Einheit bestand.5 Es handelt sich um die ersten Urteile des Gerichtshofes zur Haftung der Muttergesellschaften für Kartellrechtsverstöße eines Gemeinschaftsunternehmens.6 Gleichwohl bekräftigt der EuGH damit eine Linie, die das EuG bereits in mehreren vorhergehenden Entscheidungen eingeschlagen hatte.7

Die bußgeldrechtliche Verantwortung der Muttergesellschaft(en) für die Kartellrechtsverstöße des Tochters- bzw. Gemeinschaftsunternehmens kann Implikationen von beachtlichem Ausmaß mit sich bringen.8 Zum einen hängt von der Einbeziehung bzw. Nichteinbeziehung der jeweiligen Muttergesellschaften nicht selten die Höhe der Geldbußen für die Kartellrechtsverstöße ab.9 Im Interesse ←19 | 20→der Kartellbeteiligten liegt es, eine möglichst geringe Berechnungsgrundlage zugrunde zu legen. Zum anderen tangiert die Unternehmensverantwortung die Außenwirkung des Unternehmens. Die Teilnahme an einem Hardcore-Kartell kann zu einem Reputationsverlust für das Unternehmen führen. Insbesondere das Vertrauen der Vertragspartner auf vertikaler Ebene sowie der Verbraucher zu dem Unternehmen kann dadurch erheblich geschwächt werden oder gar gänzlich verwirkt sein. Ferner besteht die Gefahr, von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen zu werden. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) hat im Jahre 2016 einen Referentenentwurf zur Einführung eines sogenannten „Wettbewerbsregisters“ vorgelegt.10 Ende Juli 2017 ist das Gesetz zur Einführung des Wettbewerbsregisters sodann in Kraft getreten. Unternehmen, die sich nicht an wettbewerbsrechtliche Vorschriften halten, sollen von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen werden. Das Wettbewerbsregister, in das die Kartellrechtssünder aufgenommen werden sollen, kann folglich öffentlichen Auftraggebern künftig als Informationsquelle dienen, um über etwaige Ausschlüsse vom Vergabeverfahren entscheiden zu können. Schließlich besteht das potenzielle Risiko, dass privatrechtliche Kartellschadensersatzansprüche gegen die Unternehmen geltend gemacht werden.11

Neben der grundsätzlichen Abschreckungswirkung vor der Begehung neuer Kartellrechtsverstöße ist es wiederum den Wettbewerbsbehörden ein Anliegen, die Finanzkraft der gesamten in einem Kartell involvierten unternehmerischen Einheit angemessen zu berücksichtigen.12 Zudem soll die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, dass für die Zahlung der Geldbuße ein solventer Schuldner zur Verfügung steht, unabhängig von etwaigen Vermögensverschiebungen und Umstrukturierungen innerhalb des betroffenen Konzerns.13 Die Gefahr, sich Bußgeld-Zahlungsverpflichtungen zu entziehen, indem der Konzern umstrukturiert wird, zeigt auf deutscher, kartellrechtlicher Ebene der Fall des Wurstkonzerns ←20 | 21→„Zur Mühlen“ aus dem Jahre 2014.14 Die am Wurstkartell beteiligten Tochtergesellschaften des Konzerns – die Böklunder Plumrose GmbH & Co. KG und die Könecke Fleischwarenfabrik GmbH & Co. KG – sind durch Abspaltung und Verlagerung der Masse in neue Gesellschaften nunmehr nicht mehr existent. Auf diesem Wege konnten sie sich mangels entsprechender gesetzlicher Grundlagen im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) der Bußgeldhaftung entziehen. Der deutsche Gesetzgeber hat auf diese sogenannte „Wurstlücke“ im Rahmen der 9. GWB-Novelle inzwischen reagiert.15 Die im Juni 2017 in Kraft getretene Gesetzesänderung führte eine unternehmensgerichtete Sanktion ein, um das Gesetz an das europäische Kartellrecht anzugleichen.

Der Kernaspekt der Unternehmensverantwortung ist das Konzept der wirtschaftlichen Einheit – seit Langem eines der zentralen Streitthemen im europäischen Wettbewerbsrecht. Es hat seinen Ursprung in der Entscheidungspraxis der Europäischen Kommission der 1970er-Jahre, erfuhr im Nachgang Billigung durch die europäischen Gerichte und ist mittlerweile ein fester Bestandteil der europäischen Rechtspraxis.16 Gleichwohl stellt die wirtschaftliche Einheit keinesfalls ein feststehendes Konzept dar. Es wurde vielmehr zur Lösung unterschiedlichster kartellrechtlicher Fragen unter Beachtung der wirtschaftlichen Realitäten entwickelt.17 Viele Aspekte sind weiterhin klärungsbedürftig – nicht zuletzt auch im Hinblick auf das Gemeinschaftsunternehmen.18

So wird die wirtschaftliche Einheit zunächst zur Bestimmung des Adressaten der Wettbewerbsregeln, namentlich die Art. 101, 102 AEUV, herangezogen (sog. Normadressat). Gegenstand des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts ist grundsätzlich das „Unternehmen“.19 Der Unternehmensbegriff des europäischen Kartellrechts wird im Sinne einer eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübenden ←21 | 22→Einheit verstanden.20 Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Unternehmen aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen im Sinne einer wirtschaftlichen Einheit bestehen, wobei die einzelnen Rechtsträger gemeinsam ein einziges Unternehmen im Sinne der Art. 101, 102 AEUV bilden.21 Erhebliche Rechtsunsicherheit besteht jedoch immer noch im Hinblick auf die erforderlichen Voraussetzungen zur Begründung der Normadressatenstellung der Muttergesellschaften in den unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen. Als wesentliche Bestandteile des heutigen Wirtschaftslebens sind verbundene Unternehmen und im Speziellen Gemeinschaftsunternehmen22 in einer Vielzahl von Variationen ausgestaltet, bzw. es treten ständig neue Erscheinungen hinzu. Es liegt daher ein dynamischer Prozess vor, der sich auch in Bezug auf Rechtsfragen auswirkt und eine ständige Anpassung an neue Entwicklungen fordert.

Überdies kann nach ständiger Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte die Europäische Kommission Bußgelder wegen Verstößen gegen Art. 101, 102 AEUV in der Folge nicht nur an die am Verstoß direkt beteiligte juristische Person adressieren, sondern ferner an alle juristischen Personen, sofern sie zusammen mit der direkt beteiligten juristischen Person eine „wirtschaftliche Einheit“ bilden (sog. Bußgeldadressat).23 Es gibt zahlreiche Stimmen, die die Sanktionspraxis kritisieren. Insbesondere wird die Frage aufgeworfen, ob die Haftung der ←22 | 23→Muttergesellschaft, allein basierend auf einem Beherrschungsverhältnis, nicht gegen grundlegende Prinzipien der Europäischen Union verstoße.

Schließlich ist auch das Kartellzivilrecht unter der Fragestellung, ob das europäische Konzept der wirtschaftlichen Einheit unter der Umsetzung der Richtlinie 2014/104/EU für Schadensersatzklagen24 auch im nationalen Recht Anwendung findet, von Relevanz. Kartellrechtlich begründete Schadensersatzansprüche spielen in der Praxis eine immer größer werdende Rolle, insbesondere geltend gemacht in Form sogenannter „Follow-on-Klagen“. Darunter sind Klagen zu verstehen, die vor Zivilgerichten im Anschluss an Bußgeldentscheidungen erhoben werden.

Ziel dieser Arbeit ist die nähere Untersuchung der Fragestellung, unter welchen Voraussetzungen eine wirtschaftliche Einheit, insbesondere zwischen den Muttergesellschaften und einem Gemeinschaftsunternehmen, vorliegt und welche Auswirkungen die Anwendung dieses „Konzepts“ mit sich bringt. Durch Strukturieren und Erstellen einer Übersicht einer problemspezifischen Auswahl von Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen soll die bisherige Rechtsprechung aufgearbeitet werden. Ferner soll eine Auseinandersetzung mit der Problemstellung stattfinden, um in der Folge konkrete Lösungsansätze für noch offene Fragen zu entwickeln und Perspektiven aufzuzeigen. Die Zielsetzung ist nicht die Formulierung eines rein auf geltendem Recht beruhenden, dogmatischen Ansatzes, der die gängige Praxis der Kartellbehörden und Gerichte außer Acht ließe und damit praktisch wertlos wäre. Vielmehr soll ein Ausgleich zwischen Theorie und Praxis gefunden werden. Die Praxis dient dabei als Ausgangspunkt der Untersuchung und für die Erarbeitung eines dogmatischen Fundaments.

§ 2 Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes

Die Untersuchung konzentriert sich inhaltlich auf das europäische Kartellrecht als Teilgebiet des Wettbewerbsrechts sowie die angrenzenden Regelungen des Sanktionsrechts.

Innerhalb des so definierten Untersuchungsgegenstandes liegt der Fokus auf dem Unternehmensbegriff und der Fragestellung, unter welchen Voraussetzungen Gesellschaftsgruppen eine wirtschaftliche Einheit bilden. Von besonderem ←23 | 24→Interesse ist diese Fokussierung in Bezug auf die Adressatenstellung der Muttergesellschaften eines Gemeinschaftsunternehmens im Rahmen der Anwendung der Wettbewerbsregeln sowie in Bezug auf die Bußgeldsanktionierung und privaten Kartellschadensersatzklagen.

Kein Gegenstand dieser Untersuchung ist das Konzept der wirtschaftlichen Einheit außerhalb des Kartellrechts in Bezug auf die Anwendung der Gruppenfreistellungsverordnungen und des Handelsvertreters. Überdies wird auch das sogenannte Konzernprivileg nicht behandelt.

§ 3 Gang der Untersuchung

Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Gegenstand des 1. Teils ist die Untersuchung des Unternehmens als Normadressat im Sinne der Art. 101, 102 AEUV und dessen unterschiedliche Ausprägungen im Hinblick auf verbundene Unternehmen anhand der europäischen Spruchpraxis. In § 1 wird zunächst der dem Konzept der wirtschaftlichen Einheit zugrunde gelegte kartellrechtlich funkt- ionale Unternehmensbegriff näher betrachtet. Gegenstand sind insbesondere die Begriffsentwicklung in der Praxis der Unionsorgane sowie die einzelnen Voraussetzungen des Unternehmensbegriffs. In diesem Zusammenhang findet bereits eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Kriterium der wirtschaftlichen Einheit statt, das für die weitere Untersuchung von zentralem Belang ist, durch Aufzeigen seiner Entwicklung in der Spruchpraxis. Der Hauptteil des 1. Teils folgt sodann in § 2. In diesem Abschnitt wird untersucht, unter welchen Voraussetzungen einzelne Gesellschaftsgruppen eine wirtschaftliche Einheit bilden. Die Gesellschaftsgruppen sind untergliedert in Alleingesellschafter, Gemeinschaftsunternehmen und Schwestergesellschaften.

In Teil 2 geht es um die bußgeldrechtliche Verantwortlichkeit in den Gesellschaftsgruppen, insbesondere wiederum im Hinblick auf die Muttergesellschaft. Es wird zunächst in § 1 wieder der Unternehmensbegriff, dieses Mal im Hinblick auf die Bußgeldhaftung, erörtert. Danach erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Haftungsvoraussetzungen (§ 2) und der Fragestellung, ob das Haftungs- konzept der wirtschaftlichen Einheit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar ist. Schließlich werden in Bezug auf die gesamtschuldnerische Haftung das Auswahlermessen der Europäischen Kommission sowie der gesamtschuldnerische Innenausgleich kurz beleuchtet.

Der 3. Teil der Arbeit behandelt die wirtschaftliche Einheit im Rahmen der zivilrechtlichen Haftung für Schadensersatzansprüche aus dem Kartelldeliktsrecht. Kern der Ausführungen ist die Frage der Übernahme des europäischen ←24 | 25→Unternehmensbegriffs und somit des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit im Wege der Umsetzung der EU-Richtlinie in das nationale Recht.

Details

Seiten
266
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631796788
ISBN (ePUB)
9783631796795
ISBN (MOBI)
9783631796801
ISBN (Paperback)
9783631788905
DOI
10.3726/b15923
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Oktober)
Schlagworte
Funktionaler Unternehmensbegriff Bestimmende Einflussnahme Kartellrechtliche Haftung Kartellrechtsverstoß Widerlegbare Vermutung Bußgeldrechtlicher Unternehmensbegriff Bußgeldrechtliches Zurechnungssubjekt Unternehmensschuld Hohe Bußgelder Kartellrechtlicher Schadensersatz
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 266 S.

Biographische Angaben

Deborah Xenia Daase (Autor:in)

Deborah Xenia Daase studierte Rechtswissenschaften an der Universität Passau sowie dem Instituto Tecnológico Autónomo de México und verfügt über einen Master of Law im Wettbewerbs- und Regulierungsrecht. Sie wurde an der Universität Hamburg promoviert und arbeitet als Richterin.

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