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Das rechtliche Schicksal der Durchgriffshaftung in Abhängigkeit zur Gesellschaftsschuld

von Julian Hornberg (Autor:in)
©2020 Dissertation 366 Seiten

Zusammenfassung

Die Voraussetzungen und Fallgruppen der Durchgriffshaftung in der GmbH sind seit langer Zeit Gegenstand der juristischen Diskussion. Deutlich weniger ausgeleuchtet ist hingegen die inhaltliche Ausgestaltung einer solchen – ausnahmsweisen – Haftung der Gesellschafter für die Verbindlichkeiten ihrer Gesellschaft. Hier geht es weniger um Fragen des Gesellschaftsrechts, sondern des Schuldrechts. Dies betrifft z.B. die konkrete Ausgestaltung des Haftungsinhalts, verjährungsrechtliche Fragestellungen und etwaige Regressansprüche der in Anspruch genommenen Gesellschafter. Hier setzt der Autor an und versucht Fragen zu beantworten, die in der Literatur bislang nur selten gestellt worden sind.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • § 1 Einleitung, Gegenstand und Gang der Untersuchung
  • A. Einleitung
  • B. Gang der Untersuchung
  • § 2 Die Durchgriffshaftung im System des Kapitalgesellschaftsrechts
  • A. Trennungsprinzip und Haftungsprivileg
  • B. Das Haftungsprivileg als Wesenszug der juristischen Person?
  • I. Das Haftungsprivileg und die Theorien über das Wesen der juristischen Person
  • II. Das Haftungsprivileg und der rechtstechnische Begriff der juristischen Person
  • III. Ergebnis
  • C. Die Rechtsfähigkeit der juristischen Person als rechtsdogmatische Ursache des Haftungsprivilegs
  • I. Die Rechtsfähigkeit in der Zusammenschau mit Schuld und Haftung
  • II. Das Haftungsprivileg am Beispiel der Rechtsfähigkeit des eingetragenen Vereins
  • 1. Das Fehlen eines gesetzlich normierten Haftungsprivilegs
  • 2. Umkehrschluss aus § 54 BGB?
  • 3. Ergebnis
  • III. Die Haftungsverfassungen rechtsfähiger Personengesellschaften – ein Einwand?
  • 1. Die Rechtsfähigkeit der Personengesellschaft „als solcher“
  • 2. Die rechtsfähige Personengesellschaft als juristische Person?
  • 3. Die Haftungsverfassungen im Personengesellschaftsrecht und der Grundsatz der unbeschränkten Vermögenshaftung – kein Einwand!
  • a) Die Gesellschafterhaftung in der OHG und der GbR
  • b) Rechtsformübergreifender Grundsatz unbeschränkter Verbandsmitgliederhaftung?
  • c) Kritische Stellungnahme
  • aa) Widerspruch zum Gesetzesrecht
  • bb) Keine einheitliche Linie in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
  • cc) Der fehlende Nachweis eines „rechtsformübergreifenden“ Grundsatzes unbeschränkter Verbandsmitgliederhaftung
  • IV. Der historische Kontext haftungsbeschränkender Normen im Gesellschaftsrecht
  • V. Ergebnis
  • D. Rechtfertigung des Haftungsprivilegs
  • I. Ökonomische Rechtfertigung des Haftungsprivilegs
  • II. Das Gläubigerschutzprinzip als Korrelat zur Haftungsbeschränkung – die gesetzliche Umsetzung am Beispiel der GmbH
  • 1. Das Eigenkapitalerfordernis
  • a) Das System des festen Stammkapitals und die Mechanismen der Kapitalsicherung
  • b) Das Mindestkapital: Kein Auslaufmodell – Plädoyer für die Beibehaltung einer gesetzlichen Mindesteinlage
  • 2. Der Insolvenzgrund der Überschuldung
  • a) Das Gläubigerschutzpotential des Überschuldungstatbestandes in der Theorie
  • b) Die Schwäche des Gläubigerschutzniveaus aufgrund praktischer Defizite des Überschuldungsschutzes
  • 3. Die Publizität
  • a) Gläubigerschutz durch Registerpublizität
  • b) Rechnungslegungspublizität als Voraussetzung für das Prinzip des „caveat creditor“
  • III. Zusammenfassung
  • E. Das Erfordernis der „Durchbrechung“ des Haftungsprivilegs
  • § 3 Das Rechtsinstitut des „Durchgriffs“: Grundlagen und Dogmatik
  • A. Systematisierung der Durchgriffshaftung
  • B. Dogmatische Grundlagen der ungeschriebenen „echten“ Durchgriffshaftung
  • I. Herleitung und Tatbestand der Durchgriffshaftung
  • 1. Die dogmatische Begründung der Durchgriffshaftung in der Lehre
  • a) Missbrauchslehren
  • b) Normanwendungs- oder Normzwecklehren
  • c) Ablehnung der Durchgriffshaftung: Innenhaftungsmodelle
  • aa) Anwendung der Organhaftungsgrundsätze
  • bb) Schadensersatzpflicht aus gesellschaftsvertraglicher Sonderverbindung
  • 2. Die Begründung der Durchgriffshaftung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
  • II. Rechtsfolgenseite
  • 1. Direkter „Durchgriff“ oder Analogie zu § 128 HGB?
  • 2. Schadensersatz nach §§ 249 ff. BGB
  • 3. Die Rechtsfolgen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
  • III. Zusammenfassende Stellungnahme
  • 1. Missbrauchslehre: Das zweifelhafte „Hinwegfingieren“ der juristischen Person
  • 2. Normzwecklehre: Unzureichende Konkretisierung der „Haftungsbrücke“
  • 3. Der „Kunstgriff“ der Innenhaftungsmodelle
  • 4. Das Erfordernis einer fallgruppenorientierten Normanwendung
  • § 4 Der praktische Anwendungsbereich der Durchgriffshaftung unter Berücksichtigung ausgewählter Folgeprobleme
  • A. „Unechte“ Durchgriffshaftung: Eine Domäne des Deliktsrechts
  • B. „Echte“ Durchgriffshaftung wegen Vermögensvermischung: Die Implikationen akzessorischer Haftung
  • I. Haftungstatbestand und Rechtsfolge der Vermögensvermischung
  • 1. Die herrschende Meinung im Schrifttum und die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes: „Echter“ Durchgriff gemäß § 128 HGB analog
  • a) Die Verschleierung der Vermögensabgrenzung zwischen Gesellschafts- und Privatvermögen
  • aa) Funktionslosigkeit der §§ 30, 31 GmbHG aufgrund Unmöglichkeit des Einzelausgleichs
  • bb) Darlegungs- und Beweislast
  • cc) Die „Sphärenvermischung“: Kein Fall der Durchgriffshaftung
  • b) Haftender Gesellschafterkreis
  • aa) Zustands- oder Verhaltenshaftung?
  • bb) Anteilige Subsidiärhaftung nicht verantwortlicher Gesellschafter?
  • c) Entstehung des Tatbestandes erst mit der Gesellschaftsinsolvenz?
  • d) Zusammenfassung
  • 2. Lösungswege über das Deliktsrecht
  • a) Die Vermögensvermischung als Anwendungsfall des § 826 BGB
  • b) Teilnahme des Gesellschafters an einer Schutzgesetzverletzung gemäß § 823 Abs. 2 BGB
  • 3. Innenhaftungsmodelle
  • a) Schadensersatz auf Grundlage mitgliedschaftlicher Sonderverbindung
  • b) Das Haftungsmodell nach Ehricke
  • 4. Kritische Würdigung und eigene Ansicht
  • a) Kritik der deliktsrechtlichen Ansätze
  • aa) Ablehnung einer ausschließlichen Lösung über § 826 BGB
  • bb) Schwächen der Lösung aufgrund Schutzgesetzverletzung gemäß § 823 Abs. 2 BGB
  • b) Kritik der Innenhaftungsmodelle
  • aa) Ablehnung der Schadensersatzpflicht aus mitgliedschaftlicher Sonderverbindung
  • bb) Ablehnung des Haftungsmodells nach Ehricke
  • c) Kritik der herrschenden Meinung und eigene Ansicht
  • aa) Die Vermögensvermischung: Anwendungsfall der „echten“ Durchgriffshaftung analog § 128 S. 1 HGB
  • bb) Beschränkung auf Verhaltenshaftung
  • cc) Keine anteilige Subsidiärhaftung der übrigen Gesellschafter
  • dd) Subsidiarität der Haftung: Die Uneinbringlichkeit der Forderung gegen die Gesellschaft als „objektive Bedingung der Haftung“
  • 5. Ergebnis
  • II. Das Akzessorietätsdogma im Kontext der Durchgriffshaftung
  • III. Akzessorische Haftung und Erlöschen des Hauptschuldners
  • 1. Vollbeendigung juristischer Personen und Forderungsuntergang
  • 2. „Durchbrechung“ der Akzessorietät am Beispiel der Bürgschaft
  • 3. Rechtslage bei der OHG
  • 4. Konsequenzen für die Durchgriffshaftung analog § 128 S. 1 HGB
  • IV. Der Haftungsinhalt der Durchgriffshaftung wegen Vermögensvermischung: Geldersatz oder Leistung „in natura“?
  • 1. Der originäre Anwendungsbereich des § 128 S. 1 HGB: Inhalt der Haftung des OHG-Gesellschafters
  • a) „Haftungstheorie“ vs. „Erfüllungstheorie“
  • b) In Sonderheit: Vornahme vertretbarer Handlungen und Lieferung oder Herausgabe individueller oder vertretbarer Sachen
  • aa) Vertretbare Handlungen, insbesondere Gewährleistungsrechte
  • bb) Haftung für Stück- und Gattungsschulden
  • (1) Stückschulden
  • (a) Umfassende Erfüllungspflicht trotz Leistungsunmöglichkeit?
  • (b) Stellungnahme
  • (2) Gattungsschulden
  • c) Ergebnis
  • 2. Die Schuldinhalte weiterer akzessorischer Haftungsregime
  • a) Inhalt der Eingliederungshaftung nach § 322 Abs. 1 AktG
  • aa) Rechtsnatur der Haftung
  • bb) Haftungsinhalt
  • (1) Grundsätzliches
  • (2) Eingliederungsbedingte Leistungshindernisse
  • cc) Ergebnis
  • b) Inhalt der Spaltungshaftung nach § 133 Abs. 1 S. 1 UmwG
  • aa) Rechtsnatur der Haftung
  • bb) Haftungsinhalt
  • (1) Grundsätzliches
  • (2) Spaltungsbedingte Leistungshindernisse
  • cc) Ergebnis
  • c) Inhalt der Haftung des Gesellschafters einer Außen-GbR analog § 128 HGB
  • d) Inhalt der Kommanditistenhaftung nach § 171 Abs. 1 HGB
  • e) Inhalt der Bürgenhaftung
  • 3. Folgerungen für die inhaltliche Ausgestaltung der Durchgriffshaftung wegen Vermögensvermischung analog § 128 S. 1 HGB
  • a) Grundsatz: Übertragbarkeit der „Erfüllungstheorie“ auf die Durchgriffshaftung
  • b) Abweichende Beurteilung aufgrund der Rechtsnatur der GmbH sowie der Ergebnisse zur Bürgen- und zur Kommanditistenhaftung?
  • c) Einfluss der Haftungssubsidiarität und der Vollbeendigung der GmbH auf den Inhalt der Durchgriffshaftung?
  • d) In Sonderheit: „Vermischungsbedingtes“ Leistungshindernis
  • 4. Ergebnis
  • V. Ausgewählte Einwendungen des haftenden Gesellschafters
  • 1. Wegfall der Bereicherung gemäß § 818 Abs. 3 BGB
  • a) Haftung des Gesellschafters für bereicherungsrechtliche Verpflichtungen der GmbH analog § 128 S. 1 HGB
  • aa) § 128 HGB (analog) für Bereicherungsschulden
  • bb) Herausgabepflicht bei gegenständlichen Leistungen?
  • (1) Gegenstand (noch) im Gesellschaftsvermögen
  • (2) Gegenstand im Vermögen eines Gesellschafters
  • b) Entreicherungseinwand gemäß § 818 Abs. 3 BGB
  • aa) Weitergabe des Bereicherungsgegenstandes an den haftenden Gesellschafter
  • bb) Beweisschwierigkeiten angesichts der „Waschkorblage“
  • cc) Vermögensverfall als Entreicherung?
  • c) Ergebnis
  • 2. Die Einrede der Verjährung nach Erlöschen des Hauptschuldners
  • a) Problemlage
  • b) Denkbare Lösungsansätze
  • c) Problembehandlung bei der Bürgschaft
  • aa) Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
  • bb) Rezeption in der Literatur
  • cc) Stellungnahme
  • d) Rechtslage bei der OHG
  • e) Folgerungen für die Durchgriffshaftung wegen Vermögensvermischung
  • aa) Anspruchsunkenntnis des Gläubigers: Verjährungshemmung wegen „höherer Gewalt“?
  • (1) Lösungsansatz Schwab
  • (2) Kritische Stellungnahme
  • (a) Anspruchsunkenntnis grundsätzlich kein Fall höherer Gewalt
  • (b) Der strenge Sorgfaltsmaßstab des § 206 BGB
  • bb) Begrenzung durch Höchstfristen?
  • (1) Die fünfjährige Sonderverjährung des § 159 HGB
  • (2) Analoge Anwendung der Verjährungshöchstfristen des BGB
  • f) Ergebnis
  • VI. Regressmöglichkeiten des haftenden Gesellschafters
  • 1. Regress gegen die Gesellschaft
  • a) Aufwendungsersatzanspruch analog § 110 Abs. 1 HGB
  • b) Analoge Anwendung des § 774 Abs. 1 S. 1 BGB?
  • aa) Der Streitstand im Personen(handels-)gesellschaftsrecht
  • (1) Bundesgerichtshof und (früher) herrschende Lehre: Abschließende Funktion des § 110 HGB
  • (2) Die vordringende Gegenansicht im Schrifttum: Forderungsübergang entspricht Akzessorietätsprinzip
  • (3) Stellungnahme
  • bb) Folgerungen für die Durchgriffshaftung: Zessionsregress unter Ausschluss der §§ 412, 401 BGB?
  • 2. Regress gegen die Mitgesellschafter
  • 3. Ergebnis
  • VII. Besonderheiten der Haftung im (eröffneten) Insolvenzverfahren
  • 1. Bedeutung der Gesellschaftsinsolvenz für den Tatbestand der Vermögensvermischung
  • 2. Ausgestaltung der Durchgriffshaftung in der Gesellschaftsinsolvenz
  • a) Analoge Anwendung des § 93 InsO
  • b) Einfluss des § 93 InsO auf den Inhalt der Durchgriffshaftung
  • aa) Problemlage bei den Personen(handels-)gesellschaften
  • (1) Überwiegende Ansicht: Ausschließlich Geldleistungspflicht
  • (2) Gegenauffassung: Fortwirkung der Erfüllungstheorie
  • (3) Stellungnahme
  • (a) § 45 InsO: Forderungsumwandlung im Zeitpunkt der Feststellung zur Tabelle
  • (b) Einfluss des § 103 InsO auf den Inhalt der Gesellschafterhaftung
  • (c) Normzweck des § 93 InsO widerspricht Erfüllungshaftung der Gesellschafter
  • (d) Andere Beurteilung aufgrund der „Freigabe“ der Haftungsansprüche?
  • bb) Folgerung für die „echte“ Durchgriffshaftung wegen Vermögensvermischung
  • c) Einwendungen und Einreden gegen die Gesellschaftsschuld
  • aa) Grundsätzliches
  • bb) In Sonderheit: Die Einrede der Verjährung und § 93 InsO
  • d) Gesellschafterregress in der Insolvenz der Gesellschaft
  • aa) Rückgriff gegen die Gesellschaft
  • bb) Rückgriff gegen die Mitgesellschafter
  • 3. Ergebnis
  • § 5 Zusammenfassung und wesentliche Ergebnisse
  • Literaturverzeichnis

§ 1 Einleitung, Gegenstand und Gang der Untersuchung

A. Einleitung

Die „Durchgriffsproblematik“. Laut K. Schmidt1 gehört sie zu den „schwierigsten und umstrittensten Problemkreisen des Gesellschaftsrechts“. Ungeachtet der thematischen Weite, die sich hinter dem Schlagwort „Durchgriff“ verbirgt, steht der „Haftungsdurchgriff“ auf grundsätzlich haftungsprivilegierte Gesellschafter bzw. Mitglieder einer juristischen Person des Privatrechts seit jeher im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Den Ausgangspunkt bildet dabei stets die Frage, welches Verhalten oder Vorgehen insbesondere der Gesellschafter einer GmbH als haftungswürdig zu qualifizieren ist. Als einschlägige und häufig kontrovers diskutierte Fallgruppen sind hier insbesondere die „materielle Unterkapitalisierung“, die „Vermögensvermischung“ und der „existenzvernichtende Eingriff“ zu nennen.

In Ermangelung eines positivrechtlichen Haftungsinstituts bildet dabei bis heute die Konkretisierung der als haftungsrelevant erachteten Tatbestände bzw. die dogmatische Begründung der Durchgriffshaftung als solche den Kern der juristischen Diskussionen. Das Meinungsspektrum reicht hier von der Anerkennung einer gesellschaftsrechtsspezifischen Rechtsfortbildung eines eigenständigen Haftungsinstituts einerseits bis zur Zuordnung der haftungsrelevanten Fälle in allgemeine zivilrechtliche Haftungskategorien andererseits. Begrifflich lässt sich insoweit zwischen „echter“ und „unechter“ Durchgriffshaftung unterscheiden.2 Insbesondere die abwechslungsreiche und umstrittene Entwicklung der Dogmatik zur sogenannten „Existenzvernichtungshaftung“ verdeutlicht diese Gegensätze. Zeitweise als Anwendungsfall des „echten“ Haftungsdurchgriffs qualifiziert, wird die Haftung wegen existenzvernichtenden Eingriffs seit dem „Trihotel“-Urteil des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 20073 in der heutigen Rechtsprechungspraxis auf ein deliktisches Haftungsmodell nach § 826 BGB gestützt, das zudem in das Innenverhältnis zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern verlagert ist.4 Damit hat sich die Existenzvernichtungshaftung ←17 | 18→von einer „echten“ Durchgriffshaftung, die auf eine Außenhaftung gegenüber den Gesellschaftsgläubigern zielt, weitestmöglich entfernt. Demgegenüber wird insbesondere der Tatbestand der „Vermögensvermischung“ nach wie vor verbreitet als Anwendungsfall des „echten“ Haftungsdurchgriffs verstanden und mit einer Analogie zu den §§ 128, 129 HGB begründet.5

Konzentrieren sich die Untersuchungen im Fall der Existenzvernichtungshaftung mittlerweile folgerichtig auf die Überprüfung der deliktsrechtlichen Einordnung des Existenzvernichtungstatbestandes,6 so stand zuvor vielfach die Untersuchung des existenzvernichtenden Eingriffs als Anwendungsfall der persönlichen und (grundsätzlich) unbeschränkten Durchgriffshaftung analog § 128 HGB im Fokus.7 Für die Fallgruppe der Vermögensvermischung beschäftigte sich namentlich Gao8 eingehend mit der Konkretisierung von Tatbestand und Rechtsfolge im Sinne einer „echten“ Durchgriffsaußenhaftung der Gesellschafter. Indes fanden in den bisherigen Untersuchungen Fragen zur konkreten Ausgestaltung der Haftung, insbesondere solche schuldrechtlicher Art, wie sie sich im originären Anwendungsbereich des § 128 HGB typischerweise stellen, wenig Beachtung. Das betrifft zum einen die Frage des Haftungsinhalts. Im Personengesellschaftsrecht wird hier bekanntlich zwischen Haftungs- und Erfüllungstheorie unterschieden bzw. danach gefragt, ob der Gesellschafter – namentlich bei Sachleistungspflichten der Gesellschaft – selbst Erfüllung oder bloß Geldersatz schuldet. Lässt sich diese Diskussion auf die Durchgriffshaftung analog § 128 HGB übertragen? Und wenn ja, wie ist sie zu lösen? Ebenso wenig standen bislang verjährungsrechtliche Fragen im Zentrum der Auseinandersetzung. Bereits in seiner bekannten „Autokran“-Entscheidung aus dem Jahr 1985 zweifelte der Bundesgerichtshof daran, ob es überhaupt möglich sei, Verjährungsfragen im Zusammenhang mit der Durchgriffshaftung an feste Regeln binden zu können und ob nicht im jeweiligen Einzelfall demjenigen Gesellschafter, der sich auf die Verjährung der Gesellschaftsschuld beruft, der Einwand des „Rechtsmissbrauchs“ entgegengehalten werden müsse.9 Wenn indes die Durchgriffshaftung in entsprechender Anwendung der Haftungsnorm des § 128 HGB ←18 | 19→ihre Grundlage finden soll, liegt es dann nicht nahe, analog § 129 Abs. 1 HGB auch die Frage der Verjährung in streng akzessorischer Abhängigkeit zur Gesellschaftsschuld zu lösen? Des Weiteren ist die Durchgriffshaftung durch ihre „Subsidiarität“ gekennzeichnet. Die „Durchbrechung“ des Haftungsprivilegs rechtfertigt sich als ultima ratio erst, wenn die Forderungen der Gläubiger gegen die Gesellschaft uneinbringlich geworden sind, etwa aufgrund der Insolvenz der Gesellschaft. Wie aber fügt sich ein solches Erfordernis in die haftungskonstruktive Grundlage einer Analogie zu § 128 HGB? Und welche Auswirkungen hat es, wenn die Gesellschaft als vermögenslos aus dem Handelsregister gelöscht wird, ehe es zur Inanspruchnahme der Gesellschafter kommt?

B. Gang der Untersuchung

Der Versuch, die soeben aufgeworfenen Fragen einer Lösung zuzuführen, bildet den Schwerpunkt der vorliegenden Ausarbeitung. Die Fragestellungen stehen freilich in engem Zusammenhang mit einem Verständnis, welches die dogmatische Grundlage der „echten“ Durchgriffshaftung in einer analogen Anwendung der akzessorischen Haftungsnorm des § 128 HGB sieht. Weil diese Sichtweise heute einzig für den Tatbestand der Vermögensvermischung als herrschend bezeichnet werden kann, bildet dieser Durchgriffstatbestand den zentralen Gegenstand der Untersuchung. Der Ausarbeitung ist dabei zunächst eine Einordnung der Durchgriffshaftung in das System des Kapitalgesellschaftsrechts vorangestellt (§ 2), wobei sowohl die dogmatische und historische Grundlage privilegierter Haftung im Gesellschaftsrecht untersucht als auch der Rechtfertigung haftungsprivilegierter Gesellschafterstellungen nachgegangen wird. Es wird die besondere Bedeutung des Gläubigerschutzes herausgestellt, dessen Erhalt bzw. Stärkung die Grundlage für etwaige Durchbrechungen des Haftungsprivilegs bildet. Sodann erfolgt eine überblickartige Abhandlung von Grundlagen und Dogmatik des „Durchgriffs“ (§ 3), ehe der Vermischungstatbestand im Einzelnen daraufhin überprüft wird, ob er sich konsistent mit einer analogen Anwendung des § 128 HGB erfassen lässt oder etwa nach der Rechtsprechungswende zur Existenzvernichtungshaftung ebenfalls über das Deliktsrecht gelöst werden muss; Ersteres wird bejaht (§ 4 B I). Es folgen – für die Sachlage außerhalb des Regelinsolvenzverfahrens der Gesellschaft – eine Abhandlung über die Auswirkungen des Akzessorietätsdogmas auf die Durchgriffshaftung (§ 4 B II, III), Überlegungen zum Haftungsinhalt (§ 4 B IV), wobei neben der Haftung des OHG-Gesellschafters auch die Haftungsinhalte weiterer akzessorischer Haftungsregime, etwa der Eingliederungshaftung und der Spaltungshaftung in die Betrachtung miteinbezogen ←19 | 20→werden, und eine Befassung mit ausgewählten Einwendungen des Gesellschafters, namentlich dem Wegfall der Bereicherung und der Verjährungseinrede (§ 4 B V). Anschließend werden etwaige Regressmöglichkeiten des haftenden Gesellschafters untersucht (§ 4 B VI) sowie die Besonderheiten der Haftung im eröffneten Insolvenzverfahren erörtert (§ 4 B VII). Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse (§ 5).

←20 | 21→

1 Gesellschaftsrecht, § 9 I 2 (S. 219).

2 Näher unten unter § 3 A.

3 BGHZ 173, 246 ff. = NJW 2007, 2689.

4 Vgl. unten unter § 4 A.

5 Näher unten unter § 4 B I.

6 So etwa Röck, Existenzvernichtungshaftung, passim; Kluge, Deliktsrechtliche Insolvenzverursachungshaftung, passim.

7 Siehe nur Matschernus, Existenzvernichtung, passim; Wahl, Existenzvernichtung, passim; Khonsari, Haftung, passim.

8 Vermögensvermischung, passim.

9 BGHZ 95, 330 (333) = NJW 1986, 188 – Autokran.

§ 2 Die Durchgriffshaftung im System des Kapitalgesellschaftsrechts

A. Trennungsprinzip und Haftungsprivileg

Das Haftungssystem im Kapitalgesellschaftsrecht ist durch das sogenannte Trennungsprinzip geprägt. Kapitalgesellschaften10 sind als juristische Personen des Privatrechts selbstständige Träger von Rechten und Pflichten und besitzen eine eigene Rechtspersönlichkeit, vgl. §§ 1 Abs. 1 S. 1 AktG, 13 Abs. 1 GmbHG, § 11 Abs. 3 InsO.11 Aus diesem Grund sind die Gesellschaft und ihre Mitglieder in personen- und vermögensrechtlicher Hinsicht getrennt voneinander zu betrachten.12 In der Folge ist es zunächst die Gesellschaft selbst, die für ihre, rechtsgeschäftlich oder gesetzlich begründeten, Verbindlichkeiten einzustehen hat. Die hinter der Gesellschaft stehenden Gesellschafter sind demgegenüber grundsätzlich von der Haftung für die Gesellschaftsschulden freigestellt, womit das sogenannte Haftungsprivileg beschrieben ist. Im Recht der GmbH findet sich die ausdrückliche Normierung dieses Grundsatzes in der Regelung des § 13 Abs. 2 GmbHG. Für die Aktiengesellschaft normiert § 1 Abs. 1 S. 2 AktG die Beschränkung der Haftung auf das Gesellschaftsvermögen und damit den Entzug des Privatvermögens der Gesellschafter vor dem Gläubigerzugriff.

B. Das Haftungsprivileg als Wesenszug der juristischen Person?

Das Haftungsprivileg der Gesellschafter findet im Kapitalgesellschaftsrecht seinen gesetzlichen Niederschlag insbesondere in den vorstehend zitierten Regelungen des GmbH- und Aktienrechts. Es beschreibt eine typische Ausprägung der juristischen Personen des Privatrechts.13 Diese Art der rechtsformgebundenen Haftungsprivilegierung wird auch als „institutionelle Haftungsbeschränkung“ bezeichnet.14

←21 | 22→

Fraglich ist insofern allerdings, ob das Haftungsprivileg bereits im „Wesen“ der juristischen Person als solcher wurzelt oder gar notwendige Folge der juristischen Personifizierung ist. Bitter beispielsweise spricht von einer „aus dogmatischer Sicht natürliche(n) Haftungsbeschränkung bei den juristischen Personen“.15 Die gesetzliche Anordnung des § 13 Abs. 2 GmbHG sei selbstverständlich, da jede juristische und natürliche Person für ihre Verbindlichkeiten nur mit ihrem eigenen Vermögen hafte.16 Reuter beschreibt das Haftungsprivileg – neben der technischen Verselbstständigung eines Sondervermögens – als die wichtigste „Funktion(en)“ der juristischen Person.17 Er stützt sich dabei auf Wieacker, der die durch das positive Recht verselbstständigte Vermögenssphäre der juristischen Person als deren konstituierendes Element begreift und diesem als wechselseitige Verschränkung das Haftungsprivileg der Mitglieder gegenüberstellt.18 Ebenso im Sinne eines logischen Zusammenhanges von juristischer Personifizierung und Ausschluss der Mitgliederhaftung lässt sich die Aussage Buchners deuten, nach welcher die im Rahmen der Tätigkeit eines Verbandes entstehenden Verbindlichkeiten diesem allein als Rechtssubjekt „letztzuständig“ zuzurechnen sind.19

Im Schrifttum werden die Haftungsverhältnisse teilweise dahingehend erläutert, dass es mit der Verleihung von Rechtsfähigkeit und der dadurch bedingten (vermögensrechtlichen) Verselbstständigung der juristischen Person zur vollständigen Verdrängung der Rechtszuständigkeit der Einzelmitglieder komme. Dementsprechend korreliere das Haftungsprivileg grundsätzlich mit der Verselbstständigung der juristischen Person.20

I. Das Haftungsprivileg und die Theorien über das Wesen der juristischen Person

Der Theorienstreit über das „Wesen“ oder die „Natur“ der juristischen Personen wurde vorwiegend im 19. Jahrhundert ausgetragen. Als Hauptströmungen der Auseinandersetzung lassen sich die auf Friedrich Carl von Savigny zurückgehende sogenannte Fiktionstheorie und die von Otto von Gierke propagierte ←22 | 23→Theorie der realen Verbandspersönlichkeit gegenüberstellen. Das Kennzeichen dieser beiden Gegenpositionen ist, dass sie Legitimation und Ursprung der Rechtssubjektivität der juristischen Person zu erklären suchten.21 Savigny begriff die juristische Person als bloße Fiktion, weil an sich nur der Mensch als natürliche Person um seiner Freiheit willen berechtigt und verpflichtet werden könne.22 Deshalb sei der juristischen Person Rechtsfähigkeit nicht von Natur aus gegeben, sondern könne jener nur durch positivrechtliche Zuweisung erteilt werden.23 Gierke hingegen schöpft die Rechtsfähigkeit der juristischen Person aus der sozialen Realität der Verbände, d.h. der juristischen Person als sozialem Organismus mit eigenständigem Verbandswillen.24 Die Anerkennung der Rechtsfähigkeit folgt demnach vordergründig aus dem objektiven Recht, ein Akt staatlicher Verleihung ist zwar notwendig, setzt dieses aber nur um.25

Die genannten Theorien streiten mithin im Kern um die Art und Weise der Zuweisung bzw. Legitimation von Rechtsfähigkeit eines Verbandes und den staatlichen Einfluss hierauf. Angesichts der positiven Regelungen im heutigen Recht und den grundsätzlich unterschiedlichen Ansätzen der widerstreitenden Thesen wird diese Auseinandersetzung heute als erschöpft und nicht weiterführend betrachtet.26 In der Tat ist sie auch für die vorstehende Frage der Haftungsprivilegierung bzw. für das Verhältnis von Verbands- und Mitgliederhaftung nicht sonderlich ertragreich. Beiden Theorien sind konkrete Aussagen über eine Vermögensorganisation oder Haftungsverfassung schwerlich zu entnehmen. Nach der Fiktionstheorie ist es gerade Aufgabe des Gesetzgebers, Voraussetzungen und Grenzen der rechtlichen Verselbstständigung der juristischen Person zu definieren. Inhaltliche Vorgaben setzt die Theorie nicht. Der Theorie der realen Verbandspersönlichkeit lassen sich überhaupt keine Rückschlüsse auf die Haftungsverfassung entnehmen.27 Der Streit über den rechtsphilosophischen bzw. ←23 | 24→soziologischen Hintergrund der Rechtssubjektivität der juristischen Person führt in Haftungsfragen daher nicht entscheidend weiter.

II. Das Haftungsprivileg und der rechtstechnische Begriff der juristischen Person

Auf die philosophisch und soziologisch geprägte Diskussion im 19. Jahrhundert folgt in der heutigen Zeit ein rechtstechnisches Verständnis der juristischen Person. Diese Entwicklung ist das Resultat der methodischen Übung, Rechtsbegriffe mehr und mehr von ihren sozialen und ethischen Hintergründen zu abstrahieren und steht im Kontext eines verstärkten Gesetzespositivismus.28 Die Figur der juristischen Person ist dadurch zu einer in der Praxis handhabbaren Kategorie geworden.29 Die herrschende Meinung begreift die juristische Person nunmehr als zweckgebundene, d.h. der Entfaltung menschlicher Selbstbestimmung dienende, und mit Rechtsfähigkeit ausgestattete Organisations- bzw. Zuordnungs- und Zurechnungseinheit.30 Kern der Definition ist mithin, dass einem als Einheit zu begreifenden sozialen Gebilde durch die Rechtsordnung Rechtsfähigkeit zugesprochen wird.31 Darüber hinaus werden zur inhaltlichen Konkretisierung der Organisationsstruktur die Elemente Handlungsorganisation, Haftungsverband und Identitätsausstattung benannt; deren Ausgestaltung im Einzelnen habe durch das positive Recht zur erfolgen.32

Namentlich das Merkmal der Rechtsfähigkeit bewirkt also in gewisser Weise eine Gleichstellung der juristischen Person mit den natürlichen Personen. Und da hinter natürlichen Personen in der Regel auch nicht weitere Schuldner haften, liegt der Schluss nahe, die Haftungsbeschränkung sei notwendige Folge der juristischen Personifizierung.33 Mit dem rechtstechnischen Verständnis des Begriffs der juristischen Person ist diese Annahme jedoch nicht zu vereinbaren. Denn aus der Technisierung folgt, dass die Rechtsordnung unbeschadet der rechtlichen Verselbstständigung der juristischen Person durchaus eine zusätzliche Vollhaftung der Verbandsmitglieder vorsehen kann. Das ist die Konsequenz ←24 | 25→des positivrechtlich geprägten Charakters der juristischen Person. Sowohl das Beispiel der unbeschränkten persönlichen Haftung des Komplementärs einer KGaA gemäß § 278 Abs. 1, 2 AktG, §§ 161 Abs. 2, 128 HGB34 als auch die an den Haftungsgrundsätzen der OHG (§ 128 S. 1 HGB) ausgerichtete Konzernhaftung der Hauptgesellschaft für die Verbindlichkeiten der eingegliederten Gesellschaft nach § 322 AktG35 verdeutlichen dies. Letztere durchbricht das in § 1 Abs. 1 S. 2 AktG gesetzlich fixierte Haftungsprivileg.

III. Ergebnis

Im Ergebnis stellt die Haftungsbeschränkung bei den juristischen Personen, insbesondere im GmbH- und Aktienrecht, zwar das vorherrschende und typische Strukturmerkmal dar. Diese Privilegierung ist jedoch kein zwingendes oder notwendiges Charakteristikum der juristischen Personifizierung als solcher. Die Haftungsbeschränkung stellt sich insbesondere nicht als besonderes Merkmal im Sinne einer „natürlichen“ oder „wesensgemäßen“ Vorgegebenheit dar. Das heutige rechtstechnische Verständnis der juristischen Person ermöglicht vielmehr die Statuierung einer Mithaftung der Mitglieder für die Verbindlichkeiten der juristischen Person, ohne die Verselbstständigung derselben in Frage zu stellen.

C. Die Rechtsfähigkeit der juristischen Person als rechtsdogmatische Ursache des Haftungsprivilegs

Der vorstehende Befund zeigt, dass das Haftungsprivileg keine zwingende Voraussetzung der juristischen Person darstellt. Die Anordnung einer Mithaftung der Verbandsmitglieder ist konstruktiv ohne Weiteres möglich.

Der Schluss von der Verselbstständigung der juristischen Person als eigenständigem Haftungssubjekt auf das Haftungsprivileg der Mitglieder wird sich in der nachfolgenden Untersuchung dennoch als grundsätzlich folgerichtig erweisen. Dazu bedarf es nicht erst haftungsbeschränkender (genauer: haftungsausschließender) Normen wie § 13 Abs. 2 GmbHG, § 1 Abs. 1 S. 2 AktG oder auch § 2 GenG und § 175 VAG. Bereits die Rechtsfähigkeit der juristischen Person als solche begründet die rechtsdogmatische Ursache des Haftungsprivilegs: Wird einer Organisation Rechtsfähigkeit verliehen, folgt daraus die Haftungstrennung ←25 | 26→im Verhältnis zu den Verbandsmitgliedern. Eine Mithaftung schließt dies zwar nicht aus. Die zusätzliche Haftung der Mitglieder bedarf aber der besonderen Begründung – nicht umgekehrt ihr Ausschluss.

I. Die Rechtsfähigkeit in der Zusammenschau mit Schuld und Haftung

Die Rechtsfähigkeit ist das Kernelement juristischer Personen. Das Bürgerliche Gesetzbuch definiert den Begriff der Rechtsfähigkeit als solchen nicht, sondern setzt ihn voraus.36 Die Begriffsbildung ist damit der Rechtswissenschaft überlassen, welche die Rechtsfähigkeit seit jeher als die Fähigkeit versteht, Träger von Rechten und Pflichten zu sein.37 Unter diesem Gesichtspunkt besteht also eine Gleichstellung von juristischer und natürlicher Person. In diesem Zusammenhang nur von einer begrenzten Vergleichbarkeit der Rechtsfähigkeit der juristischen Person mit der Rechtsfähigkeit der natürlichen Person zu sprechen, ist nicht angezeigt.38 Eine absolute Rechtsfähigkeit in dem Sinne einer vollumfänglichen Rechts- und Pflichtenträgerschaft kann es nicht geben. Dies wird offenbar, wenn man bedenkt, dass einerseits etwa Familien- und Staatsbürgerrechte juristischen Personen kraft Natur der Sache nicht zugewiesen werden können39 und andererseits natürliche Personen beispielsweise kein Versicherungsunternehmen im Sinne des Gesetzes über die Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen betreiben dürfen (§ 8 Abs. 2 VAG)40. Bei der Begriffsbestimmung kommt es also nicht auf die Aufschlüsselung der einzelnen Rechts- und Pflichtenstellungen an, sondern auf das allgemeine Potential, überhaupt Träger von Rechten und Pflichten sein zu können.41 Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass das Element der Rechtsfähigkeit zu einer wesensmäßigen Gleichstellung von juristischer und natürlicher Person führt. Dies zeigt sich namentlich bei der Frage, inwieweit für die wesensgemäße Anwendbarkeit der Grundrechte auf juristische Personen (Art. 19 Abs. 3 GG) auf die dahinter stehenden natürlichen Personen, um deren Freiheit und Gleichheit willen die Grundrechte ja existieren, als personales ←26 | 27→Substrat abgestellt werden muss (sogenannter „Durchgriff“).42 Darüber hinaus besteht bei den juristischen Personen z.B. die Möglichkeit der Entziehung der Rechtsfähigkeit, vgl. etwa §§ 43, 45 und 73 BGB. Im Gegensatz zur natürlichen Person bleibt die juristische Person also klar Zweckschöpfung des Rechts.43

Kommt der juristischen Person jedoch Rechtsfähigkeit zu, ermöglicht die allgemeine Fähigkeit zur Pflichtentragung die Zuordnung von rechtsgeschäftlich oder gesetzlich begründeter Schuld.44 Schuld bedeutet das „Leistensollen“ des Schuldners, also die Leistungspflicht. Auf diese Pflicht folgt die Verantwortlichkeit für ihre Erfüllung und damit im Falle der Nichterfüllung die „Haftung“, d.h. das Unterworfensein des Schuldners unter staatlichen Rechtszwang. Die Haftung steht damit in einem Komplementärverhältnis zur Schuld: „Wer schuldet, haftet auch.“45 Und da sich die Haftung im heutigen Recht in der Verstrickung von Vermögensgegenständen konkretisiert, mithin als Vermögenshaftung darstellt, ermöglicht die Rechtsfähigkeit auch den Zugriff auf ein der juristischen Person zugewiesenes und haftendes Sondervermögen. Dieses dient als Haftungsmasse für die selbstständigen Schulden der juristischen Person.46 Hieraus folgt zwar nicht, dass die Beschränkung der Haftung auf dieses Vermögen zwingende Voraussetzung für das Vorliegen juristischer Personifizierung ist; dies zeigen die genannten Beispiele der KGaA und der aktienrechtlichen Konzernhaftung. Die rechtliche Verselbstständigung der juristischen Person bewirkt jedoch einen ←27 | 28→gegenüber allen anderen Rechtsträgern und deren Vermögensverhältnissen abgrenzbaren Rechtskreis. Diese Tatsache bedeutet daher auch die scharfe Trennung von Sondervermögen der juristischen Person auf der einen und Privatvermögen der Verbandsmitglieder auf der anderen Seite.47 Soll das Privatvermögen der Mitglieder nun ebenfalls als Haftungsmasse erschlossen werden, bedarf es einer gesonderten, in der Person des Verbandsmitglieds begründeten Schuld, denn nur diesem ist das Privatvermögen rechtlich zugewiesen. Ist ein solcher Schuldgrund nicht gegeben, bleibt es bei der Haftungstrennung. Insoweit trifft also der oben angeführte Vergleich der juristischen mit der natürlichen Person zu, hinter welcher in der Regel auch nicht weitere Schuldner haften.48 Auch dort ist zwar die Haftung weiterer Schuldner möglich, jene müssen sich dann allerdings z.B. durch Bürgschaftsvertrag oder Schuldbeitritt zusätzlich verpflichten.

Wenn es also in rechtsdogmatischer Hinsicht einen „natürlichen“ Grund für das Haftungsprivileg der Mitglieder einer juristischen Person gibt, dann liegt dieser in der den juristischen Personen verliehenen Rechtsfähigkeit, welche letztlich das Trennungsprinzip bedingt. Der Begriff des Haftungsprivilegs kennzeichnet den beschriebenen Umstand dann auch treffender als der Terminus Haftungsbeschränkung, denn nicht die Beschränkung oder der Ausschluss, sondern umgekehrt die zusätzliche Haftung der Mitglieder bedarf einer – im rechtsdogmatischen Sinne – gesonderten Begründung in Form eines eigenständigen Schuldgrundes.49

II. Das Haftungsprivileg am Beispiel der Rechtsfähigkeit des eingetragenen Vereins

Das Vorstehende verdeutlicht sich nicht zuletzt an den bereits genannten Beispielen der KGaA und der aktienrechtlichen Konzernhaftung; in beiden Fällen folgt die persönliche Haftung des Komplementärs (§ 278 Abs. 2 AktG i.V.m. §§ 161 Abs. 2, 128 ff. HGB) bzw. der Hauptgesellschaft (§ 322 Abs. 1 AktG) aus einer positivrechtlichen Anordnung.50 Anderenfalls würde eine Haftung dieser Subjekte ausscheiden, denn berechtigt und verpflichtet – und damit haftbar – sind ←28 | 29→zunächst allein die rechtlich verselbstständigte KGaA bzw. im konzernrechtlichen Beispiel die eingegliederte Gesellschaft. Dieses Ergebnis wird darüber hinaus durch das für das Kapitalgesellschaftsrecht grundlegende Vereinsrecht (§§ 21 ff. BGB) bestätigt.

1. Das Fehlen eines gesetzlich normierten Haftungsprivilegs

Im Gegensatz zu der ausdrücklichen Gesetzeslage bei der GmbH (§ 13 Abs. 2 GmbHG) und der AG (§ 1 Abs. 1 S. 2 AktG) besteht für den eingetragenen Verein, der Grundfigur der juristischen Person des Privatrechts und damit auch der Kapitalgesellschaften51, kein gesetzlich normiertes Haftungsprivileg. Dennoch gilt unbestritten die Regel, dass für die Verbindlichkeiten des eingetragenen, sprich rechtsfähigen Vereins nur dieser selbst mit seinem Vermögen, nicht hingegen die Vereinsmitglieder persönlich mit ihrem Privatvermögen haften.52 Diese Regel ist denn auch einzig das Ergebnis der dargelegten Verselbstständigung des Vereins als unabhängiger Zuordnungspunkt von Rechten und Pflichten, mithin das Resultat der Verleihung von Rechtsfähigkeit und der damit begründeten rechtlichen Trennlinie zwischen dem Verein und seinen Mitgliedern.53 Es ist in diesem Zusammenhang weiterhin irrelevant, ob und inwieweit sich der Verein im Rechtsverkehr wirtschaftlich betätigt oder nicht. Zwar liegt dem Anwendungsbereich des eingetragenen Vereins die Verfolgung nicht wirtschaftlicher Zwecke zugrunde (sogenannter Idealverein). Im Rahmen des sogenannten Nebenzweckprivilegs hindert aber eine geringfügige, d.h. dem nicht wirtschaftlichen Hauptzweck untergeordnete geschäftliche Tätigkeit die Eintragung nicht.54 Die dogmatische Einordung des Haftungsprivilegs besteht somit unabhängig von der Zweckbestimmung des Vereins bzw. unabhängig davon, ob geschäftlicher Kontakt im Rechtsverkehr besteht. Dies sehen diejenigen Lehren anders, die das Erfordernis eines besonderen Haftungsgrundes für die Mitgliederhaftung nicht schon in der Rechtssubjektivität der juristischen Person erblicken, sondern erst als Folge der Positivierung bestimmter Gläubigerschutzinstrumente begreifen, etwa in Form der Aufbringung eines angemessenen ←29 | 30→Kapitals.55 Derartige Schutzinstrumente verkörpern zwar die rechtspolitische Entscheidung des Gesetzgebers dem Haftungsprivileg, dort wo es nötig ist, gläubigerschützende Maßnahmen zur Seite zu stellen, widerlegen jedoch nicht den rechtslogischen Schluss von der Verselbstständigung des Verbandes auf die Enthaftung seiner Mitglieder, sofern eine Haftung nicht besonders angeordnet ist.56

2. Umkehrschluss aus § 54 BGB?

Vor diesem Hintergrund bedarf es zur Begründung des Haftungsprivilegs der Vereinsmitglieder nicht erst eines Umkehrschlusses aus § 54 BGB, so wie dies von Teilen der Literatur vertreten wird. Jene Stimmen meinen, das Haftungsprivileg der Mitglieder des eingetragenen Vereins lasse sich allein im Wege einer mittelbaren Ableitung aus der für das Recht des nicht eingetragenen Vereins statuierten „Handelndenhaftung nach § 54 BGB“ erklären.57 Diese Schlussfolgerung kann nicht überzeugen:

Details

Seiten
366
Erscheinungsjahr
2020
ISBN (PDF)
9783631815441
ISBN (ePUB)
9783631815458
ISBN (MOBI)
9783631815465
ISBN (Paperback)
9783631802779
DOI
10.3726/b16764
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Vermögensvermischung Haftungsinhalt Verjährung Trihotel Akzessorische Haftung Entreicherung Gesellschafterregress
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 366 S.

Biographische Angaben

Julian Hornberg (Autor:in)

Julian Hornberg studierte Rechtswissenschaften an der Freien Universität Berlin und wurde an der Universität Bielefeld promoviert.

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Titel: Das rechtliche Schicksal der Durchgriffshaftung in Abhängigkeit zur Gesellschaftsschuld