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Die Haftung für ärztliche Behandlungsfehler bei Vorsorge, Diagnose oder Therapie in Deutschland, England und Frankreich

einschließlich Analyse und Ausblick für einheitliche europäische Arzthaftungsmodelle

von Karolin Krocker (Autor:in)
©2020 Dissertation 306 Seiten

Zusammenfassung

Die rechtsvergleichende Arbeit widmet sich den Beweisregeln und materiellrechtlichen Voraussetzungen der Arzthaftung im deutschen, englischen und französischen Recht. Das deutsche Recht bevorzugt die Beweislastumkehr. Im französischen Recht dominiert die Rechtsfigur vom Verlust der Heilungschancen während das englische „case law" ausdrücklich nicht die „loss of chance" auf Arzthaftungsfälle anwendet. Die Arbeit zeigt, dass es sich in erster Linie um den Umgang der verschiedenen Rechtsordnungen mit Kausalitätsfragen handelt, d. h. der genauen Bestimmung des rechtlich relevanten Geschehensablaufes. Im Ergebnis spricht sich die Arbeit für die Heranziehung einer „fühlbaren Risikoerhöhung" nach Art der englischen material contribution aus.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Widmung
  • Vorwort
  • Danksagung
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • Kapitel 1: Rechtliche und politische Rahmenbedingungen der Arzthaftung
  • I. Die Arzthaftung als „moderne“ Erscheinung
  • II. Gegenwärtige Rechtslage
  • 1. Deutschland
  • 2. England
  • 3. Frankreich
  • a) Verschuldenshaftung
  • b) Verschuldensunabhängige Haftung
  • c) Härtefallfonds
  • 4. Zusammenfassung
  • III. Probleme, insbesondere die Finanzierung der Arzthaftung
  • 1. Ursachen für den Anstieg der Zahl von Arzthaftungsprozessen
  • 2. Fallzahlen und Kosten
  • 3. Reformvorhaben
  • a) Vermeidung einer Defensivmedizin
  • b) Haftungsfonds als Lösung?
  • c) Ein offener Umgang mit Fehlern
  • d) Risikomanagement
  • IV. Schlichtungsverfahren
  • V. Sachverhaltsermittlung
  • 1. Grundlagen der Sachverhaltsermittlung
  • 2. Die prozessuale Aufklärungslast der Parteien in England
  • 3. Tatrichterliche Sachverhaltsermittlung in Deutschland und Frankreich
  • 4. Der Umweg über die Dokumentationspflicht
  • VI. Sachverständigengutachten
  • 1. Voraussetzungen für die Gutachtertätigkeit
  • 2. Gerichtsgutachten in Frankreich und Deutschland
  • 3. Parteigutachten in England
  • VII. Allgemeines zu den Beweiserleichterungen
  • 1. Beweislastumkehr
  • 2. Vermutungen
  • 3. Anscheinsbeweis
  • 4. Beweismaß und Beweiswürdigung
  • Kapitel 2: Haftung für Behandlungsfehler
  • I. Die Pflichtverletzung
  • 1. Unerlaubte Handlung
  • a) Rechtswidrige Rechtsgutsverletzung im deutschen Recht
  • b) Pflichtwidrigkeit in England und Frankreich
  • 2. Vertragsverletzung
  • a) Universal warranty of reasonable care and skill in England
  • b) Ergebnis- und Bemühenspflichten in Frankreich
  • (1) Entstehung und Inhalt der obligation de moyens
  • (2) Pflicht zur sorgfältigen medizinischen Behandlung als obligation de moyens
  • (3) Gegenüberstellung von erfolgs- und tätigkeitbezogenen Pflichten und dienst- und werkvertraglichen Pflichten
  • c) Schutzpflichtverletzung in Deutschland
  • (1) Rechtsgutsverletzung
  • (2) Verschulden
  • 3. Pflicht zur Einhaltung des medizinischen Standards
  • a) Facharztstandard
  • b) Die Bestimmung des medizinischen Standards
  • 4. Anscheinsvermutung des Behandlungsfehlers
  • a) Voll beherrschbares Risiko
  • b) Faute présumée
  • (1) Obligations (de sécurité) de résultat
  • (2) Von der faute virtuelle zur obligation de précision
  • c) Res ipsa loquitur
  • d) Zusammenfassung
  • II. Der Schaden und sein Ersatz
  • 1. Schadensersatz
  • 2. Schadensbestimmung
  • a) Der Ersatz von Heilungschancen im französischen Recht
  • (1) Unmittelbare und direkte Schadensfolgen (dommage certain)
  • (2) Chancenersatz im französischen Recht
  • (3) Übertragung auf die Arzthaftung
  • (4) Auflockerung der Kausalität
  • (5) Rückkehr zur Schadensfigur
  • (6) Schlussbetrachtungen
  • b) Gesundheitsschaden im deutschen Recht
  • (1) Die Rolle der Körperverletzungsdoktrin
  • (2) Keine Bewertung des Behandlungsfehlerschadens als „verpasste Heilungschance“
  • (3) „Gesundheitsschaden“ als Primärschaden
  • (4) Gesundheitliche Befindlichkeit und Risikoerhöhung als Primärschaden
  • (5) Schadensteilung aufgrund von Reserveursachen
  • (6) Ausweitung der „abgrenzbaren Teilkausalität“
  • c) Kein Heilungschancenersatz im englischen Arzthaftungsrecht
  • (1) Hotson v. East Berkshire Area Health Authority (1987)
  • (2) Gregg v. Scott (2005)
  • (3) JD v. Mather (2012)
  • (4) Fazit
  • d) Zusammenfassung
  • III. Die Kausalität
  • 1. Die Anforderungen an die Kausalität
  • 2. Der Kausalitätsbeweis
  • 3. Die typischen Probleme in Arzthaftungsfällen
  • 4. Die Lösungsansätze
  • a) Beweislastumkehr
  • b) Material contribution test
  • (1) Bonnington Castings v. Wardlaw (1956)
  • (2) McGhee v. National Coal Board (1972)
  • (3) Wilsher v. Essex (1988)
  • (4) Fairchild v. Glenhaven Funeral Services Ltd (2002)
  • (5) Barker v. Corus (2006)
  • (6) Bailey v. Ministry of Defence (2008)
  • (7) Canning-Kishver v. Sandwell and West Birmingham Hospitals NHS Trust (2008) und Ingram v. Williams (2010)
  • (8) Sienkiewicz v. Greif (UK) Ltd (2011)
  • (9) Ludwig v. Oxford Radcliffe Hospitals NHS Trust (2012) und Ganz v. Childs (2011)
  • (10) Fazit
  • c) Wahrscheinlichkeitshaftung
  • (1) Heilungschancenersatz und Kausalitätserleichterungen
  • (2) Probabilistische Proportionalhaftung im deutschen Recht
  • (i) Analogie zu § 830 Abs. 1 S. 2 BGB
  • (ii) Gesetzesanalogie zur Ursachenvermutung, insbesondere § 6 UmweltHG
  • (iii) Analogie zu § 254 BGB
  • (iv) Risikoerhöhungslehre im Zivilrecht
  • (v) Kausalitätserleichterung und Schadensteilung
  • d) Zusammenfassung
  • IV. Ergebnisse
  • Kapitel 3: Reformbestrebungen im Recht der Europäischen Union
  • I. Vorschlag einer Dienstleistungshaftungsrichtlinie 1990
  • II. Vorschläge für ein Europäisches Vertragsrecht
  • III. Vorschläge für ein Europäisches Deliktsrecht
  • IV. Draft Common Frame of Reference
  • Schlussbetrachtungen
  • Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

A.C.

Law Reports, Appeal Cases 1875-

AJDA

Actualité juridique – Droit administratif

All E.R.

All England Law Reports

Bull. Civ.

Bulletin des arrêts des chambres civiles (de la Cour de cassation)

CA

Court of Appeal/Cour d’appel

CAA

Cour administrative d’appel

Cass. civ.

Arrêt des chambres civiles de la Cour de cassation

Cass. req.

Arrêt de la Chambre des requêtes de la Cour de cassation

CC

Code civil

CCI

Commissions de conciliation et d’indemnisation

CLJ

The Cambridge Law Journal

CPC

Code de procedure civile

CPR

Civil Procedure Rules

CRCI

Commission régionale de conciliation et d’indemnisation

CSP

Code de la santé publique

D.

Recueil Dalloz

DCFR

Draft Common Frame of Reference/Gemeinsamer Referenzrahmen

DDS

Droit Déontologie et Soin

D.P.

Recueil périodique et critique mensuel Dalloz (vor 1941)

GAJZ

Les Grands arrêts de la jurisprudence civile (12e ed. en 2 vol., Dalloz)

GAMM

Groupement des Assurances mutuelles médicales

HL

House of Lords

IPP

Incapacité permanente

ITT

Incapacité totale de travail

JCP

La Semaine Juridique – Edition Générale

KB

Law Reports, King’s Bench Cases

Lebon

Recueil Lebon/Recueil Conseil d’État

LQR

The Law Quarterly Review

Mod. L. Rev.

The Modern Law Review

Med. L. R.

Medical Law Reports

Med. L. Rev.

Medical Law Review

PC

Privy Council

PELC

European Principles on Contract Law

PEL SC

Principles of European Law on Service Contracts

PETL

Principles of European Tort Law

PICC

UNIDROIT-Principles of International Commercial Contracts

P.I.Q.R.

Personal Injuries and Quantum Reports

RCA

Revue Responsabilité civile et assurances

RDP

Revue du droit public et de la science politique

RDSS

Revue de droit sanitaire et social

Rec.

Recueil des décisions du Conseil d’État

RFDA

Revue française de droit administratif

RGDA

Revue générale du droit des assurances

RGDM

Revue générale de droit médical

RTDC

Revue trimestrielle de droit civil

W.L.R.

Weekly Law Reports 1953-

WL

Westlaw (Official Transcript)

Einleitung

Die medizinische Behandlung als Haftungsfall stellt unabhängig von nationalen Grenzen ein einzigartiges rechtliches Phänomen dar, denn die Reaktionen des menschlichen Körpers auf Krankheitsprozesse basieren nicht auf den Regeln der Logik. Die Medizin zählt anders als die Chemie, Physik und Biologie nicht zu den Naturwissenschaften, diese bilden vielmehr nur ihre exakten Grundlagen. Die klinische Medizin (Heilkunde) ist deshalb unter die humanen Praxiswissenschaften einzuordnen, und lässt sich vor allem auch als Erfahrungswissenschaft beschreiben.1 Das bedeutet, die Reaktionen auf Krankheitsprozesse und Behandlungsmaßnahmen bestimmen sich überwiegend nach empirisch gewonnenen Erkenntnissen und beanspruchen keine Allgemeingültigkeit. Wesentlich beeinflusst werden die ärztlichen Maßnahmen von den Empfindungen und Wünschen des Patienten sowie den Wahrnehmungen des Arztes. Man könnte fast meinen, bei der medizinischen Behandlung gäbe es kein Richtig oder Falsch, sondern nur ein gemeinsames Streben nach Veränderung. Wenn auf diesem Weg Unfälle und Irrtümer passieren, entziehen sich die Schadensfolgen häufig den juristisch-pragmatischen Anforderungen an die Bestimmung von Verursachung und Wiedergutmachung: „Patients are unique – they are not like broken televisions.“2 Im Verkehrsunfallrecht können Schäden auf das Verschulden des Schädigers, des Geschädigten oder höhere Gewalt zurückgeführt werden. Im Arzthaftungsrecht sind die Zusammenhänge wesentlich komplexer.

Das liegt vor allem daran, dass es sich bei den gesundheitlichen Folgen eines Behandlungsfehlers auch um fortwährende Krankheitssymptome des Patienten handeln kann. Darüber hinaus ist eine Behandlung selten völlig risikofrei. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Patient seine Krankheit gegen das Behandlungsrisiko eintauscht, um sein Leben oder seine Gesundheit zu bewahren.3 Das Behandlungsrisiko entspricht einem erhöhten allgemeinen Lebensrisiko, das auch jeder Teilnehmer im Straßenverkehr in Kauf nimmt. Im Arzthaftungsrecht gelten jedoch zwei Besonderheiten. Zum einen setzt sich der Patient dem erhöhten Lebensrisiko in der Regel nicht in einem „normalen“ Gesundheitszustand, sondern in einem behandlungsbedürftigen, kranken Gesundheitszustand aus, welcher zur Schadensentstehung wesentlich beitragen kann. Zum anderen greift ←19 | 20→der Arzt – anders als die schädigende Sache oder Person im Straßenverkehr – bestimmungsgemäß in den Körper und die Gesundheit des Patienten ein. Unterläuft ihm dabei kein Fehler, kann dieser Eingriff in die körperliche Integrität, der mit der Zustimmung des Patienten erfolgt ist, kaum einen Schadensersatzanspruch auslösen, schließlich war genau dieser Eingriff bzw. diese „Verletzung“ zum Zwecke der Heilung gewünscht, auch wenn Letztere im Ergebnis ausgeblieben ist. Dabei gelten für den Arzt hohe Verhaltensanforderungen, die dem Schutz des Patienten dienen, und denen er gerecht werden muss. Die Satzungsbestimmungen der Ärztekammern sind anspruchsvoll, wie ein Auszug aus der Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte zeigt: „Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patientinnen und Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.“4 Auch der Weltärztebund bekennt sich in dem sog. Genfer Gelöbnis zu einer modernisierten Fassung des Hippokratischen Eids.5 Da die Verpflichtung zur Einhaltung berufsethischer Normen bereits existiert, kommt dem Haftungsrecht vor allem die Aufgabe zu, gegenläufige Interessen zu regulieren und entstandene Schäden auszugleichen. Dabei folgt das Haftungsrecht dem Prinzip, dass derjenige, der Schäden verursacht, diese auch – mithilfe seiner Haftpflichtversicherung – auszugleichen hat, und sorgt dadurch für das nötige Vertrauen in die gegenseitige Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Marktteilnehmer in einer rechtlich verfassten Marktwirtschaft.6 Im Arzt-Patient-Verhältnis gipfelt dieser Grundsatz in einem rechtsdogmatisch erklärbaren, und dennoch manches Mal bedauerlichen, Verständnis von der ärztlichen Heilbehandlung, denn „[w];as der Arzt als heilbringende Maßnahme ansieht, ist für den Juristen zunächst einmal nichts anderes als eine Körperverletzung.“7

←20 | 21→

Die Richter haderten zu Beginn ihrer Auseinandersetzung mit Behandlungsfehlern noch mit ihrer Kompetenz. Das zeigt eine Entscheidung des Berliner Kammergerichts aus dem Jahr 1811. Angeklagt war der Psychiater an der Berliner Charité Dr. Horn, weil eine geisteskranke Patientin unter seiner Obhut zu Tode gekommen war.8 Er hatte sie – wie er es mit geisteskranken Patienten zu tun pflegte, wenn sie in Raserei verfielen – in einen Sack gesteckt, in dem man sie am Abend tot fand.9 Die Richter sahen sich trotz der Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht in der Lage, ein Urteil über die Schuld des Angeklagten zu fällen. „Unendlich schwankend und unsicher ist die Wissenschaft, unendlich mannigfaltig und verschieden das Maß der Erkenntnis und das praktische Talent unter den Ärzten. Der eine wirft dem anderen als Quelle allen Irrtums vor, worin der andere die Summe aller Wahrheit findet.“10 Auf die Aufforderung des Justizministeriums zogen die Richter des Kammergerichts weitere Sachverständige hinzu und sprachen Dr. Horn schließlich frei, weil der Sack für ausreichend luftdurchlässig befunden wurde.11

Die Haftung für ärztliche Dienstleistungen ist wie die Berufshaftung im Allgemeinen eine junge Rechtsmaterie.12 Die Kodifikationen der kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen aus dem 19./20. Jahrhundert haben den Beruf als Anknüpfungspunkt für die Haftung kaum berücksichtigt. Die Haftung aus vertraglichen und gesetzlichen Schuldverhältnissen musste an die besonderen Anforderungen angepasst werden. Der Dienstvertrag als Grundlage für die Haftung wird manchmal als „underdeveloped area of law“13 und „rather under-researched“14 betrachtet. Im französischen Recht war der Dienstleistungsvertrag als eigener Vertragstypus bei Schaffung des Code civil (CC) von 1804 noch unbekannt.15 Im deutschen Recht ist der Dienstvertrag nach der Schuldrechtsreform 2002 weitgehend unverändert geblieben, Leistungsstörungen sind kaum spezialgesetzlich geregelt.16 Mittlerweile haben jedoch sowohl Frankreich als auch Deutschland Gesetze erlassen, welche die Obliegenheiten und Pflichten ←21 | 22→von Patienten und Ärzten regeln. Diese Arbeit widmet sich der Entwicklung des Haftungsrechts für die fehlerhafte ärztliche Behandlung in England,17 Frankreich und Deutschland. Sie hat die Zielsetzung, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Rechtssysteme darzustellen und zu bewerten. Schließlich sollen Wege in eine gemeinsame Zukunft des europäischen Arzthaftungsrechts aufgezeigt werden.

Dabei beschränkt sich die Arbeit auf die Untersuchung der Haftungsmechanismen, die den Behandlungsfehler bei Vorsorgeuntersuchungen, Diagnose und Therapie im Unterschied zum sog. Aufklärungsfehler betreffen. Der Aufklärungsfehler des Arztes, d. h. die fehlende oder falsche Warnung vor den Risiken einer beabsichtigten Behandlung, einschließlich der Unterrichtung über alternative Behandlungsmethoden, wird im deutschen Sprachraum teilweise auch als Behandlungsfehler bezeichnet. Er unterscheidet sich jedoch grundlegend von solchen Behandlungsfehlern, die dem Arzt bei der Untersuchung, Vorsorge, Diagnose, Therapiewahl oder Durchführung der Therapie unterlaufen. Nur diese „technischen“ Behandlungsfehler sollen Gegenstand dieser rechtsvergleichenden Arbeit sein, nicht aber Aufklärungsfehler. Im französischen Recht existiert für diese Kategorie der Begriff faute technique, im Gegensatz zu der faute d’humanisme oder der faute éthiques.18 Die obigen Ausführungen machen deutlich, dass die Risikoaufklärung einen bedeutenden Stellenwert besitzt; sie ist fundamental für die Verlagerung des Behandlungsrisikos auf den Patienten. Werden die Risiken von dem Arzt nicht korrekt dargelegt, erleidet der Patient eventuell einen unvorhergesehenen Schaden, der sich hätte vermeiden lassen, wenn der Patient sich gegen eine Behandlung entschieden hätte. Seltene Behandlungsrisiken werden häufig kein Grund sein, eine dringend notwendige medizinische Behandlung abzusagen. Dennoch muss diese Entscheidung dem Patienten überlassen bleiben. Der Aufklärungsfehler geht deshalb stets mit einer Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten einher und stellt eine spezielle Haftungssituation dar, welche mit der korrekten Ausführung einer medizinischen Behandlungsmaßnahme im technischen Sinne nichts zu tun hat, sondern vielmehr eine Rahmenbedingung für diese Behandlung darstellt. Für Behandlungs- und Aufklärungsfehler existieren deshalb im deutschen Recht verschiedene Haftungsvoraussetzungen, deren Ursprung, Struktur und Folgen ←22 | 23→sehr unterschiedlich sind.19 Die Betrachtung beider Fehlerkategorien sprengt den Rahmen dieser Arbeit, denn die Haftungssituation beim Aufklärungsfehler wirft aufgrund der damit einhergehenden Verletzung des Selbstbestimmungsrechts spezielle kausalitäts- und schadensrechtliche Fragen auf, die von den jeweiligen Rechtsordnungen ganz unterschiedlich beantwortet werden.

Im Verlauf der Forschungsarbeit stellte sich häufig die Frage, welches Rechtssystem das patientenfreundlichste sei. Diese Frage lässt sich nur schwer beantworten. Die Einschätzung kann letztlich nur auf einer Bewertung der gesetzlichen Rahmenbedingungen basieren. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Unterschiede der Haftungssysteme jedenfalls nicht so groß sind, dass sie ein forum shopping rechtfertigen und die Nachteile der fremden Sprache, der Prozesskultur und der gebührenrechtlichen Unwägbarkeiten aufwiegen könnten.20 Die Streitigkeit über einen Behandlungsfehler dient häufig dem Ziel des Patienten, die Geschehnisse aufzuarbeiten, was im englischen Recht am deutlichsten zutage tritt, wo die meisten Streitfälle außergerichtlich entschieden werden. Der Teufel steckt dabei jedoch im Detail. Das französische Recht sieht z. B. eine weitreichende Haftung für eine sog. Krankenhausinfektion vor, ohne dass der Patient einen Verstoß gegen Hygienevorschriften nachweisen muss. Die englischen Gerichte nehmen eine Haftung für Krankenhausinfektionen nur an, wenn sich darüber hinaus eine verspätete Diagnose oder falsche Behandlung feststellen lässt.21 Im deutschen Recht beruht der Erfolg des Prozesses in vielen Fällen auf der Einordung des Behandlungsfehlers als „grob“, d. h. besonders fahrlässig, während in Frankreich und England schon eine hohe Wahrscheinlichkeit des Schadens durch einen leichten Behandlungsfehler zum Erfolg führen kann, allerdings unter Umständen nur zum Ersatz eines geringen Teils des entstandenen Schadens führt. Die rechtsvergleichende Abhandlung von Stauch bemerkt, dass die englische und die deutsche Rechtsprechung im Bereich der Kausalitätszweifel in Arzthaftungsfällen unterschiedliche Lösungsansätze kennen, wobei das deutsche Recht „a notably more ‚patient-friendly‘ stance“ einnehme.22 Großerichter betont in seiner rechtsvergleichenden Betrachtung des französischrechtlichen Heilungschancenersatzes, dass die Systeme zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kämen, wenn sich ein Fehler als schwerwiegend ←23 | 24→(grob) darstellt, aber die Gesundheit des Patienten aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso stark gelitten hätte.23 Während der Patient nach deutschem Recht unter Zuhilfenahme der Beweislastumkehr bei einem groben Behandlungsfehler in der Regel vollen Schadensersatz erlangen wird, müsste der Schadensersatz nach französischem Recht entsprechend der Verursachungswahrscheinlichkeit des Fehlers für den Schaden erheblich reduziert werden. Besteht die Möglichkeit der Wahl zwischen den Rechtsordnungen, müssten also stets die Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden; letztlich jedoch kann ohnehin nicht vorhergesagt werden, wie das medizinische Gutachten ausfällt und die Beweislage durch den Richter bewertet wird.

Der Vergleich der Rechtssysteme erfordert zunächst eine Betrachtung der materiellen und prozessualen Voraussetzungen des Arzthaftungsanspruchs. Neben den rechtlichen Grundlagen sollen auch Funktionsfähigkeit und Reformbestrebungen berücksichtigt werden sowie die außergerichtliche Regulierung von Schadensfällen. Schließlich sind die länderspezifischen Methoden zur Sachverhaltsermittlung und das Beweisrecht von Bedeutung. Im Anschluss an diese Einleitung gliedert sich die Arbeit in drei große Hauptteile: Behandlungsfehler, Schaden und Kausalität. Diese Hauptteile enthalten detaillierte rechtsvergleichende Ausführungen zu den wesentlichen Voraussetzungen der Haftung des Arztes, insbesondere zu der Historie und der Handhabung in den Rechtsordnungen der Länder. Dabei werden vor allem die Besonderheiten des Arzthaftungsrechts gegenüber den allgemeinen Grundsätzen des Schuldrechts und die Veränderungen der Haftungs- und Beweisregelungen zugunsten des Patienten rechtsvergleichend analysiert. Abschließend sollen ausgewählte Harmonisierungsprojekte für ein einheitliches europäisches Zivilrecht vorgestellt und auf innovative Lösungsansätze für gemeinsame arzthaftungsrechtliche Probleme untersucht werden.

←24 | 25→

1 Raspe, GesR 2011, 449 (450); s. a. Ladeur, GesR 2011, 455 (457).

2 Swain, in: Hondius, The development of medical liability, S. 27 (46).

3 Pauge, Rn. 159 ff.; Geiß/Greiner, Rn. B 1.

4 Gelöbnis in der (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte, Stand 2011, abrufbar unter: http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=1.100.1143 (zuletzt: 5. Juni 2015).

5 Weltärztebund, in: Die Brockhaus Enzyklopädie Online, Brockhaus/wissenmedia in der inmediaONE], 2015, https://preussischer-kulturbesitz.brockhaus-wissensservice.com/sites/brockhaus-wissensservice.com/files/pdfpermlink/weltaerztebund-224dd273.pdf.

6 Schwintowski, VuR 2013, 52 (ebd.).

7 Schreiber/Rodegra, in: Jung/Schreiber, Arzt und Patient zwischen Therapie und Recht, S. 27 (ebd.).

8 Ausführliche Darstellung des Sachverhalts bei Kalisch, S. 7–28; ferner Riegger, S. 77 f.; Steffen, S. 3 f.

9 Steffen, S. 3.

10 Zitiert nach: Steffen, S. 3.

11 Kalisch, S. 18 (28); Riegger, S. 78; Steffen, S. 3 f.

12 Vgl. Hirte, Berufshaftung, in: Basedow/Hopt/Zimmermann, Band I, S. 191 (ebd.).

13 Loos, in: Hartkamp u. a., Towards An European Civil Code, S. 757 (ebd.).

14 Borghetti, in: Zimmermann, Service Contracts, S. 99 (ebd.).

Details

Seiten
306
Jahr
2020
ISBN (PDF)
9783631823699
ISBN (ePUB)
9783631823705
ISBN (MOBI)
9783631823712
ISBN (Hardcover)
9783631814246
DOI
10.3726/b16886
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Medizinrecht Krankenversicherung Unfallversicherungsrecht Krankenhaus Rechtsvergleichung Behandlungsschaden Kunstfehler
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 306 S.

Biographische Angaben

Karolin Krocker (Autor:in)

Karolin Krocker war nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Freiburg und dem Referendariat als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Internationales Privatrecht, Internationales Zivilverfahrensrecht und Rechtsvergleichung an der Freien Universität in Berlin tätig, wo auch ihre Promotion erfolgte. Mittlerweile arbeitet sie als Unternehmensjuristin in dem Bereich Medizin- und Gesundheitsrecht, vor allem auf dem Gebiet des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung und der Erstattung von Arzneimitteln.

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Titel: Die Haftung für ärztliche Behandlungsfehler bei Vorsorge, Diagnose oder Therapie in Deutschland, England und Frankreich