Georg Wilhelm Stein d. Ä. (1737-1803) in Kassel
Ein früher Repräsentant der akademischen Geburtsmedizin
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Danksagung
- Inhaltsverzeichnis
- 1 Einführung und Zielsetzung der vorliegenden Arbeit
- 1.1 Aktueller Forschungsstand
- 1.2 Allgemeiner historischer Kontext
- 1.3 Geburtshilfe zu Lebzeiten Georg Wilhelm Steins des Älteren
- 2 Zur Biografie G. W. Steins
- 2.1 Herkunft
- 2.2 Schulzeit
- 2.3 Studium
- 2.3.1 Studium in Göttingen
- 2.3.1.1 Universität zu Göttingen und medizinische Fakultät
- 2.3.1.2 Universität in Zeiten des Siebenjährigen Krieges
- 2.3.1.3 Lehre in der Geburtshilfe an der Universität zu Göttingen zur Studienzeit Steins
- 2.4 Auslandsreisen – Gelehrte Reisen
- 2.4.1 Straßburg – Johann Jakob Fried
- 2.4.2 Paris – André Levret, Jean Antoine Nollet, Raphael Bienvenu Sabatier
- 2.4.3 Leiden – Pieter von Muschenbroek
- 2.5 Wissenschaftliche Prägung Steins durch seine Lehrer
- 3 Kasseler Zeit (1761–1792)
- 3.1 Accouchirhaus Kassel
- 3.1.1 Politische Hintergründe
- 3.1.2 Finanzierung des Accouchirhauses, Umzug in den Neubau
- 3.1.3 Organisation des Accouchir- und Findelhauses
- 3.1.4 Belegungszahlen (im inter-/nationalen Vergleich)
- 3.1.5 Personal des Accouchir- und Findelhauses
- 3.1.6 Lehrbetrieb im Accouchirhaus zu Kassel
- 3.1.6.1 Die medizinische Fakultät des Collegium Carolinum zu Steins Zeit als Professor
- 3.1.6.2 Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse
- 3.1.6.3 Praktischer Unterricht im Accouchirhaus für Akademiker
- 3.1.6.3.1 Theoretische Anleitung zur Geburtshilfe
- 3.1.6.3.2 Praktische Anleitung zur Geburtshilfe
- 3.1.6.4 Schüler Steins in Kassel
- 3.1.6.4.1 Friedrich Benjamin Osiander
- 3.1.6.4.2 Bernhard Christoph Faust
- 3.1.6.4.3 Georg Wilhelm Stein der Jüngere
- 3.1.6.5 Unterricht für Hebammen, Steins Hebammenkatechismus
- 3.2 Stein als Mitglied des Collegium Carolinum, Prorektorate, Kollegen Steins
- 3.3 Stein als Mitglied und Direktor des Collegium medicum
- 3.4 Freimaurerei, Korrespondenz Baldinger, Glaß und Harnier
- 4 Medizinische Arbeit Steins
- 4.1 Steins Beginn und Steins Vermächtnis – die Verbreitung der Levretschen Geburtszange in Deutschland
- 4.2 Ringen um die Indikationsstellung des Geburtsmodus, Messinstrumente Steins
- 4.2.1 Baromacrometer und Cephalometer
- 4.2.2 Stein als Begründer der inneren Pelvimetrie?
- 4.2.3 Labimeter
- 4.2.4 Cliseometer
- 4.3 Der Kaiserschnitt an der Lebenden, Steins Kaiserschnittbistouri
- 4.4 Die richtige Lage zur Geburt, Steins Geburtsstuhl und -bett
- 4.5 Der Streit um die Milch- und Brustpumpe
- 5 Steins persönliche Einstellung zu den Frauen in Hinblick auf aktuelle Forschungsergebnisse
- 5.1 Der Fall der Frau Rittmeisterin von Canitz
- 5.2 „Der schamlose Blick“
- 5.3 Umgang mit Leichen, Steins geburtshilfliche Sammlung
- 6 Abwanderung nach Marburg
- 6.1 Marburger Zeit (1791–1803)
- 6.1.1 Tod Steins
- 7 Fazit
- 8 Anhang
- Abbildungsverzeichnis
- Literaturverzeichnis
1 Einführung und Zielsetzung der vorliegenden Arbeit
Georg Wilhelm Stein zählt zu den ersten und sehr bedeutenden Geburtshelfern in Deutschland und hat es bis über die Landesgrenzen hinweg zu erheblichem Ansehen gebracht. Er wurde in einer Zeit Geburtshelfer, in der sich politisch motiviert im Zusammenhang mit der sogenannten „Wohlfahrtspflege“ (mit dem Ziel der Reduktion der Säuglingssterblichkeit und der Verbesserung der Sicherheit lediger Wöchnerinnen) die Akademisierung des Faches der Geburtshilfe überall im europäischen Umfeld vollzog und somit die traditionelle Hebammenkunst mit der akademischen Geburtsmedizin konfrontierte. Dabei wurden mit sogenannten Accouchirhäusern Institutionen geschaffen, in denen vor allem mittellose Frauen entbunden wurden. Stein selbst war viele Jahre als Leiter des Kasseler Accouchirhauses, später auch als Leiter des Marburger Accouchirhauses tätig. Im Falle einer Einrichtung an einem Universitätsstandort dienten diese Institutionen neben der Ausbildung von Hebammen auch der akademischen Ausbildung der männlichen Geburtshelfer in Form des neuartigen Bedside-Teachings, sodass die in den Accouchirhäusern vorwiegend armen Patientinnen dort auch der Lehre dienen sollten. Darüber hinaus wurde die Lehre der Hebammen zentralisiert und neu hierarchisiert, was immer wieder zu Konflikten führte. Diese Prozesse sind aus Gender-orientierter wie institutionsgeschichtlicher Perspektive vielfach dargestellt worden. Die in diesen Arbeiten zum Teil sehr einseitigen Wertungen, ebenso aber die in älteren Studien skizzierte medizinische Erfolgsgeschichte gilt es, kritisch zu hinterfragen.
Eine biografische Aufarbeitung mit dem Fokus auf die Person Georg Wilhelm Steins des Älteren aus einer dezidiert medizinhistorischen Perspektive soll daher die verschiedenen Facetten Steins, die durch die unterschiedlichen Themenschwerpunkte vorliegender Studien durchaus auch widersprüchlich erscheinen, zu einem Gesamtbild zusammenfügen und kritisch neu bewerten. So begegnet Stein uns nicht nur als berühmter Geburtshelfer, er übte darüber hinaus politische Funktionen als Leiter des Collegium Medicum, der führenden Institution der landgräflichen Medizinalbehörde, aus und engagierte sich als Freimaurer. In diesem Zusammenhang muss auch die damalige politische Situation, insbesondere der Machtwechsel von Friedrich II. zu Wilhelm IX. dargestellt werden, da dieser an mehreren Stellen Steins Leben umfänglich tangierte.
Da gegenüber seiner Marburger Jahre (1792–1803) die hauptsächliche Schaffensphase in Kassel war, konzentriert sich die Arbeit auf diese Zeit.
←11 | 12→Eine ausschließlich medizinhistorische Betrachtung, die Stein im Rahmen der Entwicklung des Faches angemessen berücksichtigt, ist somit neben den bereits vorhandenen perspektivischen Arbeiten ein weiteres Desiderat der Forschung. Es sollen sowohl die Primärquellen als auch die zum Teil widersprüchliche Sekundärliteratur ausgewertet werden, um Stein als wichtigen Repräsentanten der Geburtshilfe seiner Zeit zu kontextualisieren. Insbesondere das umfassende Werk Steins selbst sowie die Rezeption desselben sind hinsichtlich der Rekonstruktion eines differenzierten Bildes seines Wirkens als Geburtshelfer zu analysieren. Es werden auch Quellen berücksichtigt, die bereits in Studien ausgewertet wurden, die ihren thematischen Schwerpunkt auf Themenbereiche wie die Einrichtung der Geburtshäuser und die Ablösung und Verdrängung der Hebammen durch männliche Geburtshelfer legten. Nun sollen diese und einige neue Quellen zur Hand genommen werden, um herauszuarbeiten, wie Stein einzuordnen ist als Person, Forscher und Geburtshelfer. Wo gab es Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede zu seinen Zeitgenossen, seinen Lehrern, Kollegen und Schülern? Wie war das Verhältnis Steins zu seinen Patientinnen und den Hebammen? Wo lagen Unterschiede in der privatärztlichen Tätigkeit und in der Tätigkeit im Accouchirhaus? Was kann die Auswertung seiner zahlreichen Erfindungen über die Person Steins aussagen?
Die Arbeit zielt auch auf eine kritische Auseinandersetzung mit den bislang über Stein vorliegenden Forschungsbeiträgen.
1.1 Aktueller Forschungsstand
Eine aktuelle biografische Arbeit zu Georg Wilhelm Stein existiert nicht. Dennoch gibt es zahlreiche Autoren, die sich seiner Person gewidmet haben. Insbesondere für die Marburger Zeit Steins sind die Arbeiten Metz-Beckers zu nennen, neben zahlreichen Aufsätzen insbesondere das Werk „Der verwaltete Körper“.1 Sie kritisiert hier zu Recht die zu diesem Zeitpunkt schlechte Forschungslage bezüglich des im 18. und 19. Jahrhunderts einsetzenden Prozesses der Verdrängung der Hebammen und der Akademisierung des Faches der Geburtshilfe. Insbesondere fokussierte sie auf die bis dahin vernachlässigte kulturwissenschaftliche Betrachtung dieses Umbruchs jenseits einer noch weitgehend vorherrschenden reinen medizinhistoriographischen Fortschrittsgeschichte. Dabei widmet sich Metz-Becker der Sicht der Patientinnen im Sinne der Frauen- und Geschlechterforschung. Doch auch Stein selbst gerät bezüglich ←12 | 13→der von ihm durchgeführten Kaiserschnitte, aber auch als Leiter der Accouchiranstalt in Marburg und als Verfechter der Levretschen Zange in den Fokus der Forschungen. In diesen Abhandlungen und drastischer noch in den Texten Ute Freverts werden den ersten Geburtshelfern wie Stein dem Älteren Experimentierfreudigkeit ohne Rücksicht auf die Schwangeren und diesbezüglich auch eine gewisse Inhumanität sowie Herrschsucht gegenüber den traditionell in der Geburtshilfe agierenden Hebammen vorgeworfen: „Hier [gemeint: im Geburtshaus] konnten sie [gemeint: männliche Accoucheure] hemmungslos ausprobieren, welche Techniken am besten geeignet waren, die Gebärmutter bei ihrer Arbeit anzutreiben.“2 Auch von einer Ablösung der Hebammen ist die Rede.3
Diese Darstellungen, in denen die Frauen und Hebammen als Opfer der in die Geburtshilfe drängenden männlichen Accoucheure dargestellt werden, werden in neueren Aufsätzen Metz-Beckers4 sowie in den Darstellungen Schlumbohms5 um die Handlungsspielräume der Hebammen und Patientinnen erweitert und so zum Teil revidiert.
Christina Vanja nimmt das Thema unter dem Aspekt der politischen Motivation für die Entstehung des Kasseler Accouchirhauses auf.6 Noch expliziter mit der Person Steins setzt sie sich in einem etwas später erschienenen Aufsatz auseinander. Vanja widerspricht deutlich der Sicht der o.g. AutorInnen, indem sie anhand einzelner Handlungsweisen und Schriften Steins aufzeigt, dass sich an diesen weder Operationswut noch Inhumanität nachweisen lassen: „Trotz aller Problematik, die bereits dem Ansatz der neuen Geburtshilfe innewohnte, nämlich dem medizinischen Fortschritt ebenso zu dienen wie den Gebärenden und ihren Kindern, bestätigt die Geschichte der Kasseler Accouchiranstalt keinesfalls das jüngst von Hans-Christoph Seidel wiederholte Verdikt Ute Freverts, die frühen Entbindungsanstalten hätten vor ←13 | 14→allem als Experimentierfeld gedient, auf dem Männer ›hemmungslos ausprobieren [konnten], welche Techniken am besten geeignet waren, die Gebärmütter bei ihrer Arbeit anzutreiben‹. Solche Inhumanität bestätigen weder die Texte Georg Wilhelm Steins noch die Verhaltensweisen der betroffenen Frauen.“7
Darüber hinaus existieren Schriften neueren Datums von Brian Hibbard8, Michael Kowalski9 und Andrea Linnebach10, die den Fokus auf die geburtshilflichen Instrumente, Sammlungen und Privatmuseen der damalig tätigen Accoucheure richten.
Auch als Freimaurer tauchte Stein der Ältere bei Forschungen Adolf Kallweits11 auf, dessen Buch bezüglich der medizinhistorischen Fragestellung zwar eine unkritische erfolgsorientierte Geschichtsschreibung wiedergibt, gleichzeitig aber umfangreiche Transkriptionen der Steinschen Korrespondenzen enthält. Neuere die Freimaurerei betreffende Publikationen finden sich bei Ortrud Wörner-Heil12 und Irmtraut Sahmland13. Letzterer Aufsatz bietet als Teil der Soemmerring Forschungen, ebenfalls wie die Publikationen Eberhard Meys mit dem Thema der medizinischen Fakultät des Collegium Carolinum14, an dem auch ←14 | 15→Stein tätig war, ausführliche aktuelle Forschungsergebnisse – allerdings mit dem Fokus auf die Person Samuel Thomas Soemmerrings. Erst kürzlich erschien eine weitere Studie Meys die Medizinerausbildung am Collegium Carolinum in Kassel betreffend, die auch Stein selbst im Rahmen seiner Lehrtätigkeit skizziert.15
Die vorliegende Arbeit soll nun eine Lücke schließen, indem sie möglichst umfassend die Kasseler Zeit Steins sowie dessen Werke analysiert und so hinterfragt, wie er hier sowohl bezüglich seiner Rolle gegenüber den Hebammen als auch gegenüber seinen Patientinnen zu verorten ist.
Hierbei bietet die sehr dichte und quellenbasierte Studie von Schlumbohm zum Geburtshelfer Osiander d.J. in Göttingen16 eine wertvolle Orientierung für die vorliegende Arbeit. Osiander war zuvor ebenfalls aus kulturwissenschaftlicher Sicht in ähnlich eindeutiger Weise wie Stein d.Ä. bewertet worden. Schlumbohm entwirft in seiner Arbeit ein äußerst differenziertes und vielschichtiges Bild des Geburtshelfers. Einschränkend muss bemerkt werden, dass diese Arbeit zwar als Orientierung dienen kann, die Quellenlage aber sicherlich nicht vergleichbar ist.
Neben den o.g. neueren Publikationen gibt es umfassendes Material in Form von Primärquellen. Insbesondere Stein selbst war neben der praktischen Geburtshilfe Autor zahlreicher Schriften. Auch die bei anderen zeitgenössischen Autoren zu findenden Rezeptionen dieser Schriften können zur Auswertung herangezogen werden. Daneben existieren im Staatsarchiv Marburg sowohl Patientenverzeichnisse als auch Hinweise auf die Besoldung und Karriere Steins. Auch eine Gerichtsakte bezüglich eines Streits mit einer Hebamme ist hier zu finden.
Die vorhandenen Quellen sowie die Sekundärliteratur sollen anhand der historisch-kritischen Methode ausgewertet werden. Bezüglich der Gliederung der Arbeit erscheint aufgrund der biografischen Herangehensweise ein weitestgehend chronologisches Vorgehen sinnvoll.
Natürlich muss einschränkend bemerkt werden, dass sich anhand der vorliegenden Quellen kein lückenloses Bild rekonstruieren lässt. Dennoch soll versucht werden, ein Bild Georg Wilhelm Steins zu skizzieren – als einen seine Zeit nachhaltig prägenden Geburtshelfer, den Gründer der ersten geburtshilflichen Kliniken in Kassel und Marburg, Autor von zahlreichen geburtshilflichen Schriften und Erfinder ←15 | 16→verschiedener Instrumente, aber auch als Forscher, dessen Positionierung zur Arbeit der Hebammen und zum Umgang mit seinen Patientinnen analysiert werden soll.
1.2 Allgemeiner historischer Kontext
Das folgende Kapitel soll keine umfassende Darstellung der hessischen Geschichte, sondern vielmehr eine Skizzierung der für das Leben Georg Wilhelm Steins bedeutsamen geschichtlichen Zusammenhänge bieten.
Im Lebenszeitraum des am 3. April 1737 in Kassel geborenen und am 24. September 1803 in Marburg verstorbenen Steins erscheinen hier insbesondere zwei der Landesfürsten von außerordentlicher Bedeutung: Der von 1760 bis 1785 regierende Landgraf Friedrich II. sowie sein Nachfolger und Sohn Wilhelm IX., der die Geschicke des Landes mit Unterbrechung von 1785 bis 1821 leitete. Ein kurzer Einblick soll – aufgrund der nachhaltigen Wirkung desselben – auch in die Regentschaft Wilhelms VIII., des Vorgängers Friedrichs II., gegeben werden.
Dieser regierte in der kurzen Zeit von 1751 bis 1760, in der es zu zwei folgenschweren Ereignissen kam. 1756 begann der Siebenjährige Krieg, der noch nachhaltige Folgen für Hessen in Form verheerender anhaltender Armut haben sollte. „Verwüstung und Armut, Not und Elend, Sittenlosigkeit und Rohheit, die sind ganz kurz die charakteristischen Züge des Hessenlandes und -volkes am Ende der 7-jährigen Kriegszeit […]“17
Darüber hinaus fiel in diese Zeit die Konvertierung des Erbprinzen Friedrich, die den Landgrafen dazu zwang, die sogenannte Assekurationsakte vom 19. Oktober 1754 zu unterzeichnen, in der er alle Entscheidungen in kirchlichen Angelegenheiten dem Geheimen Ministerium und dem Konsistorium übertrug. Außerdem übertrug der Landgraf die Grafschaft Hanau unter Übergehung des Erbprinzen unmittelbar auf seinen ältesten Enkel.18
Der Siebenjährige Krieg war von unbeständigem Erfolg gekennzeichnet. So wechselten allein Kassel und Marburg fünfmal die politische Regierung. Schließlich mussten die Belagerer am 1. November 1762 endgültig die Stadt verlassen.19
←16 | 17→Mitten im Krieg vollzog sich dann der Regierungswechsel von Wilhelm VIII. zu Friedrich II. Er regierte streng nach der Assekurationsakte, hielt das Bündnis zu Preußen und musste daher wie sein Vater vor den Franzosen das Land verlassen.
1763 aus dem Exil zurückkehrend widmete sich Friedrich einer „aufgeklärten, zeitüblichen Reformtätigkeit“20, die direkte Folgen auch für Georg Wilhelm Stein den Älteren haben sollte. So reformierte der amtierende Landgraf insbesondere das Wohlfahrts- und Wirtschaftswesen, die Kultur- und Justizpflege. Er verbesserte und stärkte das Collegium Carolinum und erhob die Kasseler Stadtschule zum Lyceum Fridericianum. Außerdem eröffnete er 1761 das Kasseler Entbindungs- und Findelhaus begann 1772 den Bau der Kasseler Charité. Insgesamt regierte der Landgraf, der den Prunk und Glanz liebte, ganz im Sinne der Aufklärung und trug so zu einer Medikalisierung bei, deren Grundideen er bereits in Braunschweig aus dem Exil heraus in seinen „Pensées diverses sur les Princes“ niederschrieb: „Je suis beaucoup pour qu´un Prince fasse de Nouveaux Etablissemens, des Maison d´Enfans trouvé, d´Orfelins, Pour les Foux des Hospiteaux, avec des Ecoles de Médecine et de Chirurgie, qu´il établisse des Académies, des Universités, des Ecole de Génie, d´Artillerie, des Collèges.“21
Darüber hinaus lagen dem Landgrafen besonders die künstlerische und wissenschaftliche Förderung am Herzen. So gründete er das Museum Fridericianum als ersten modernen Museumsbau des Kontinents.
Auch architektonisch verfolgte Friedrich II. ehrgeizige Ziele. Die nutzlos gewordenen Festungsanlagen wurden entfernt, er ließ seinen Architekten Simon Louis Du Ry Altstadt und Oberneustadt mit Friedrichs- und Königsplatz verbinden.22 „Kassel wandelte sich zu einer der schönsten Städte Mitteleuropas.“23
Politisch kam es in der Regierungszeit Friedrich II. zum Abschluss eines einzigen Subsidienvertrages mit England, in dessen Folge er heute wegen seines ←17 | 18→„Soldatenhandels“ im Krieg gegen die amerikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen von Historikern zwiespältig beurteilt wird.24 Folgendermaßen bewertet Karl Demandt die Regentschaft Friedrichs II.: „Das Urteil über Landgraf Friedrich II. und Hessen in seiner Zeit bestimmte daher nicht allein der üble Soldatenhandel. Wenn man den Landgrafen auch des Mangels großer Eigenschaften, kleinlichen Eigensinns, grober Sinnlichkeit und egoistischer Prachtliebe bezichtigte, so ist doch auch zu erwägen, daß ihn die Assekuranzakte weitgehend entmachtet und auf Gebiete abgedrängt hatte, in denen er sich verlor.“25
Eine deutlich weniger prunkvolle Hofhaltung begann mit dem Regierungsantritt von Landgraf Wilhelm IX. Er beendete in Hinblick auf sein Ziel des Sparens aber nicht nur die prunkvolle Hofhaltung, sondern kürzte auch sehr schnell die Ausgaben für die Förderung der Wissenschaft und Künste, konkret löste er das Collegium Carolinum auf und veränderte das durch seinen Vater architektonisch so gelungene Stadtbild Kassels kaum noch.26
Neben seiner Sparsamkeit zeichnete ihn aber auch aus, dass er alles Französische untersagte – zuerst die französische Mode bei Militär und Zivilgesellschaft, die französische Komödie und das Ballett, schließlich war er aber auch erklärter Gegner der französischen Revolution. Dies hatte zur Folge, dass er innenpolitisch immer schärfere Regelungen zur Unterdrückung freiheitlicher Denkungsweise einführte. So verbot er die kantische Philosophie an der Universität Marburg und verfügte 1791 die Auflösung aller geheimen Gesellschaften – einschließlich der Freimaurer.27
Insgesamt begleiten Georg Wilhelm Stein also zwei völlig unterschiedliche Regierungszeiten. Die zwar politisch recht unbedeutende, durch die aus heutiger Sicht durchaus zwiespältig zu beurteilende mit Soldatenhandel finanzierte Regentschaft Friedrichs II. kennzeichnete hier die erste Periode. Dieser förderte im Sinne der Aufklärung Wissenschaften, Architektur, sowie seine eigene prunkvolle Hofhaltung, medikalisierte dabei aber auch die Wohlfahrtspflege im Sinne einer „medizinischen Polizey“, die aufgrund des massiven Pauperismus am Ende des Siebenjährigen Krieges notwendig geworden war. Die durch Sparsamkeit und durch große Skepsis gegenüber jeglicher französischer Einflüsse und aufklärerischer Ideen gekennzeichnete Regentschaft Wilhelms IX. stellte hierzu einen Wendepunkt auch in Steins Leben dar.
Beide Landgrafen trafen Entscheidungen, die den Lebensweg Steins direkt beeinflussen sollten.
←18 | 19→1.3 Geburtshilfe zu Lebzeiten Georg Wilhelm Steins des Älteren
Die „Medikalisierung“ der Geburtshilfe erscheint als eine der zentralen Begrifflichkeiten, die die Obstetrik zur Lebzeit Steins umschreiben. Dabei beinhaltet dieser Begriff verschiedene Ebenen, sowohl die „Verdrängung der Volksmedizin“, indem Hebammen nun zentral in Accouchirhäusern von akademisch gebildeten Geburtshelfern ausgebildet wurden, als auch eine dadurch bedingte „Verwissenschaftlichung der Medizin“.28 Darüber hinaus hat dieser Begriff eine politische Komponente. So wurde durch die Gründung der Accouchirhäuser dem Verlangen der Regierung nach „medizinischer Wohlfahrtspflege“ mit dem Ziel der Reduktion der Säuglings- und Müttersterblichkeit sowie des Kindsmords entsprochen. Konkret hieß dies, dass das Fach der Geburtshilfe, das bis in das 16. Jahrhundert ausschließlich von Frauen ausgeübt und über erfahrungsbasiertes Lernen sowie die Weitergabe des Erlernten von Hebamme zur Hebamme ausgeübt wurde, etwa ab dem 16. Jahrhundert über verschiedene Hebammenverordnungen immer mehr reglementiert und begrenzt wurde.29 Dieser Prozess lief in Deutschland uneinheitlich ab, in einigen Städten wie Regensburg gab es sehr früh Hebammenverordnungen, andere insbesondere ländliche Gegenden traten erst sehr viel später in diesen Prozess ein. Paradoxerweise lernten die ersten Geburtshelfer insbesondere die Praxis der Obstetrik vornehmlich von Hebammen, die sie nach den nun schon lange existierenden Hebammenverordnungen eigentlich supervidieren sollten.30
Details
- Seiten
- 274
- Erscheinungsjahr
- 2020
- ISBN (PDF)
- 9783631807262
- ISBN (ePUB)
- 9783631807279
- ISBN (MOBI)
- 9783631807286
- ISBN (Hardcover)
- 9783631801215
- DOI
- 10.3726/b16355
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2020 (März)
- Schlagworte
- Georg Wilhelm Stein der Ältere Geburtshilfe Accouchirhaus Kassel Kaiserschnitt Zangengeburt
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 274 S., 4 farb. Abb., 22 s/w Abb.