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Verfassungsrechtliche Untersuchung der Impfgesetzgebung in Deutschland

Von Information und Aufklärung bis zum Impfzwang

von Marleen Staudinger (Autor:in)
©2021 Dissertation 206 Seiten

Zusammenfassung

Die Arbeit betrifft die historische Entwicklung, diedogmatische Verortung sowie die verfassungsrechtliche Bewertung derImpfgesetzgebung, insbesondere einer Impfpflicht. Der thematische Bogen reichtvom Reichsimpfgesetz 1874 bis zur Impfgesetzgebung 2019/2020. Die Verfasserinbehandelt sozial- und krankenversicherungsrechtliche Fragen, Schul- undKitarecht, zeigt aber ebenso den zivil- und strafrechtlichen Rahmen auf. Dabeibezieht sie auch Stellungnahmen verschiedener Expertengremien wie etwa der WHOin ihre Untersuchung mit ein. Des Weiteren würdigt sie die Impfgesetze amMaßstab des Grundgesetzes.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1. Kapitel – Einleitung
  • A. Anlass der Untersuchung
  • B. Allgemeines zu Schutzimpfungen
  • I. Kurzer Überblick über die Entstehung von Schutzimpfungen
  • II. Schutzimpfungen aus medizinischer Sicht
  • III. Herdenimmunität und Musketierprinzip
  • IV. Teufelskreis
  • V. Nebenwirkungen und Impfschäden
  • VI. Ungeimpfte
  • VII. Schutzimpfungen aus rechtlicher Sicht
  • C. Gang der Untersuchung
  • 2. Kapitel – Überblick über die gesetzlichen Regelungen zu Schutzimpfungen und Stellungnahmen zu Schutzimpfungen
  • A. Kurze Geschichte der Impfregelungen und -praxis
  • I. Die Pockenschutzimpfung nach dem Reichsimpfgesetz von 1874
  • II. Impfregelungen und -praxis in der DDR (1949 bis 1990)
  • III. Impfregelungen und -praxis in der BRD (1949 bis 2000)
  • IV. Zusammenfassung
  • B. Überblick über die gesetzlichen Regelungen zu Schutzimpfungen bis zum 01.03.2020
  • I. Jedermann betreffende Regelungen
  • 1. §§ 3, 20 Abs. 1, § 34 Abs. 10 IfSG – Information und Aufklärung
  • a. § 3 IfSG
  • b. § 20 Abs. 1 IfSG
  • c. § 34 Abs. 10 IfSG
  • 2. § 20 Abs. 2, 3 IfSG – Impfempfehlungen
  • a. § 20 Abs. 2 IfSG und Geschäftsordnung der Ständigen Impfkommission (GO-STIKO)
  • b. § 20 Abs. 3 IfSG
  • 3. § 20 Abs. 4 S. 1, Abs. 5 IfSG – Kostenregelungen
  • 4. §§ 21, 22 IfSG – Impfstoffe und Impfausweis
  • 5. Notfallermächtigung nach § 20 Abs. 6, 7 IfSG: Impfpflicht im bevorstehenden Epidemiefall
  • a. Voraussetzungen des § 20 Abs. 6 S. 1 1. Fall IfSG
  • aa. Übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen
  • bb. Mit epidemischer Verbreitung zu rechnen
  • cc. Wirksamer Impfstoff vorhanden
  • b. Rechtsfolge: Rechtsverordnung gerichtet an bedrohte Teile der Bevölkerung
  • c. Zustimmung des Bundesrates
  • d. Mögliche Eilbedürftigkeit
  • e. Zuwiderhandlung der Adressaten
  • f. Ergebnis
  • 6. §§ 2 Nr. 11, 6 Abs. 1 Nr. 3, 60 IfSG – Impfschäden
  • II. Speziell Kinder betreffende Regelungen
  • 1. § 34 Abs. 10a IfSG – Nachweis einer Impfberatung
  • 2. Kita-Gesetze der Länder
  • 3. § 34 Abs. 11 IfSG – Impfstatuserhebung bei Grundschulanmeldung
  • III. Besondere Regelungen bezüglich Masern: § 28 Abs. 2 IfSG
  • IV. Gesetzlich Krankenversicherte betreffende Regelungen: Regelungen im Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V)
  • 1. § 20d SGB V – Nationale Präventionsstrategie
  • 2. §§ 20i, 132e SGB V – Leistungsanspruch auf Schutzimpfungen
  • 3. §§ 25 Abs. 1 S. 1, 26 Abs. 1 SGB V – Ansprüche auf Gesundheitsuntersuchungen
  • 4. § 65a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB V – Boni für Schutzimpfungen
  • V. Asylsuchende und Sich-illegal-Aufhaltende betreffende Reglungen
  • VI. Bestimmte Berufsgruppen betreffende Regelungen
  • 1. Allgemein
  • 2. Soldaten
  • VII. Zusammenfassung
  • C. Stellungnahmen zum Thema Schutzimpfungen und zur Gesetzeslage in Deutschland bis zum 01.03.2020
  • I. Vereinte Nationen
  • II. Weltgesundheitsorganisation
  • III. Bundesärztekammer und Deutscher Ärztetag
  • IV. Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V.
  • V. Ärzte für individuelle Impfentscheidung e. V. und Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte Deutschland
  • VI. Eigene Stellungnahme zu den gesetzlichen Regelungen
  • 1. Freiwilligkeit
  • 2. Information über Impfungen gemäß § 20 Abs. 1 IfSG
  • 3. Impfberatung nach § 34 Abs. 10a IfSG
  • 4. Impfstatuserhebung bei der Grundschulanmeldung nach § 34 Abs. 11 IfSG
  • 5. Ausschluss Nichtgeimpfter nach § 28 Abs. 2 IfSG
  • 6. Fehlende gesetzliche Grundlage für statistische Erhebungen
  • 7. Zusammenfassung
  • VIII. Ergebnis
  • 3. Kapitel – Verfassungsrechtliche Untersuchung der Gesetzeslage bis zum 01.03.2020
  • A. Einzelne Impfgesetze mit Eingriffscharakter
  • I. § 20 Abs. 6, 7 IfSG – Anordnung einer Impfpflicht im Notfall
  • 1. Grundrechte des erwachsenen Impfpflichtigen
  • a. Schutzbereiche und Grundrechtseingriffe
  • aa. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG – Körperliche Unversehrtheit
  • (1) Schutzbereich
  • (2) Eingriff
  • bb. Art. 4 Abs. 1, 2 GG – Glaubens- und Gewissenfreiheit
  • (1) Schutzbereich
  • (a) Glaubensfreiheit
  • (b) Gewissensfreiheit
  • (2) Eingriff
  • cc. Art. 2 Abs. 1 GG – Allgemeine Handlungsfreiheit
  • (1) Schutzbereich
  • (2) Subsidiarität
  • (3) Eingriff
  • b. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
  • aa. Grundrechtsschranken
  • (1) Schranken des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
  • (2) Schranken des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
  • (a) Schranken der Glaubensfreiheit
  • (b) Schranken der Gewissenfreiheit
  • (3) Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG
  • bb. Formelle Verfassungsmäßigkeit des § 20 Abs. 6, 7 IfSG
  • cc. Materielle Verfassungsmäßigkeit des § 20 Abs. 6, 7 IfSG
  • (1) Verhältnismäßigkeit
  • (2) Sonstige Anforderungen
  • c. Zwischenergebnis
  • 2. Grundrechte des minderjährigen Impfpflichtigen
  • a. Grundrechtsträgerschaft des Kindes
  • b. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
  • c. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
  • d. Art. 2 Abs. 1 GG
  • e. Zwischenergebnis
  • 3. Grundrechte der Eltern bezüglich einer verpflichtenden Impfung ihres minderjährigen Kindes
  • a. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG – Elterliches Pflege- und Erziehungsrecht
  • aa. Schutzbereich
  • bb. Eingriff durch eine Impfpflicht
  • cc. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
  • (1) Schranken des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG
  • (2) Materielle Verfassungsmäßigkeit
  • b. Art. 4 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 und 2 GG – Elterliches Recht auf religiöse Erziehung ihrer Kinder
  • II. § 17a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SoldG – Impfpflicht nach dem Soldatengesetz
  • III. § 28 Abs. 2 IfSG – Betretungsverbot im Masernfall
  • 1. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
  • 2. Art. 11 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 GG
  • 3. Art. 3 GG
  • 4. Art. 7 GG
  • IV. § 34 Abs. 10a S. 1 IfSG und KiTa-Ländergesetze – Beratungsnachweise
  • V. § 34 Abs. 10a S. 2 IfSG – Ladung der Sorgeberechtigten
  • VI. § 34 Abs. 11 IfSG – Impfdaten bei Schulanmeldung
  • VII. Ergebnis
  • B. Freiwilligkeit des Impfens im Hinblick auf die staatliche Schutzpflicht und das Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft
  • I. Grundrechtsfunktionen und staatliche Schutzpflicht
  • II. Staatliche Schutzpflicht bezüglich der Ansteckung mit einer übertragbaren Krankheit
  • 1. Schutz des Lebens
  • 2. Schutz der körperlichen Unversehrtheit
  • 3. Rechtswidriger Eingriff von Seiten anderer
  • 4. Grundrechtsgefährdung
  • 5. Schutzverzicht und Einwilligung
  • 6. Zwischenergebnis
  • III. Untersuchung der konkreten Schutzpflichterfüllung
  • 1. Mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnisse
  • a. Grundrechte Erwachsener
  • b. Elternrecht und Kinderrechte
  • aa. Grundrechte des eigenen Kindes
  • (1) Kind erkrankt nicht
  • (2) Kind infiziert sich
  • (a) Vergleich: Gabe einer Bluttransfusion
  • (b) Vergleich: Rituelle Beschneidung des männlichen Kindes
  • (c) Vergleich: Besuch eines Sonnenstudios
  • (d) Vergleich: Andere medizinische Entscheidungen der Eltern
  • (e) Vergleich: Einführung des § 1631 Abs. 2 S. 2 BGB
  • (f) Auflösung der Kollisionen
  • (g) Impffrage
  • bb. Grundrechte eines fremden Kindes
  • c. Pflichtimpfung als Lösung?
  • d. Zwischenergebnis
  • 2. Schutzbedarf
  • a. Grundrechtliches Schutzgut
  • b. Gefahr
  • c. Subsidiarität
  • d. Zwischenergebnis
  • 3. Gesetzgebungsauftrag aus der Schutzpflicht
  • a. Gestaltungsfreiraum
  • b. Impfgesetze
  • c. Strafrecht
  • aa. Strafbarkeiten nach dem IfSG
  • bb. Strafbarkeiten nach dem StGB des „Ansteckenden“
  • (1) Strafbarkeit gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 1 2. Alt. StGB wegen vorsätzlicher gefährlicher Körperverletzung
  • (2) Strafbarkeit gemäß § 229 StGB wegen fahrlässiger Körperverletzung
  • (3) Strafbarkeit gemäß § 227 StGB wegen Körperverletzung mit Todesfolge
  • (4) Strafbarkeit gemäß § 222 StGB wegen fahrlässiger Tötung
  • cc. Strafbarkeit von Eltern
  • (1) Bei Erkrankung des eigenen Kindes
  • (2) Bei Erkrankung eines Dritten
  • dd. Beweiswürdigung im Strafverfahren
  • ee. Zwischenergebnis
  • d. Zivilrecht
  • aa. Gefährdungshaftung des Ansteckenden nach § 833 S. 1 BGB
  • bb. Verschuldenshaftung des Ansteckenden nach § 823 Abs. 1 BGB
  • cc. Verschuldenshaftung des Ansteckenden nach § 823 Abs. 2 BGB
  • dd. Vermutete Verschuldenshaftung des Aufsichtspflichtigen nach § 832 Abs. 1 S. 1 BGB
  • ee. Anscheinsbeweis im Zivilprozess nach § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO
  • ff. Zwischenergebnis
  • e. Zwischenergebnis
  • 4. Verhältnismäßigkeitskontrolle des Schutzes
  • a. Straf- und zivilrechtliche Regelungen
  • b. Regelungen des IfSG
  • aa. Einzelner Erwachsener
  • bb. Einzelnes Kind
  • cc. Einzelne Nichtimpfbare
  • dd. Impfquote als Anknüpfungspunkt
  • c. Zwischenergebnis
  • 5. Ergebnis
  • IV. Vergleich: Schutzpflichterfüllung durch Information
  • 1. Schutzhelm- und Sicherheitsgurtpflicht
  • 2. Aids-Gesetzgebung
  • 3. Ergebnis
  • V. Das Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft
  • 1. Besondere staatliche Schutzpflicht aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG
  • 2. Schutzpflichtverletzung
  • a. Elterliches Fehlverhalten
  • b. Kindeswohlgefährdung
  • c. Umsetzung durch §§ 1666 und 1628 BGB
  • 3. Ergebnis
  • VI. Ergebnis
  • C. Ergebnis
  • 4. Kapitel – Möglichkeiten zur Erhöhung der Impfquote und deren verfassungsrechtliche Bewertung
  • A. Impfpflicht für Jedermann
  • B. Impfpflicht für Kinder
  • C. Dauerhafte Betretungsverbote für Nichtgeimpfte in Kindertageseinrichtungen oder Schulen
  • D. Impfpflicht mit Ausnahmen / Widerspruchslösung
  • E. Allgemeiner Beratungszwang mit schriftlicher Bestätigung
  • F. Verbesserungen des vorhandenen Systems
  • I. Einladungssystem
  • II. Elektronischer Impfpass
  • III. Schockwerbung
  • IV. Verbesserte Datenerhebung und gesetzliche Festlegung von Impfquoten
  • V. Verbesserte Impfberatung
  • G. Ergebnis
  • 5. Kapitel – Masernschutzgesetz ab 01.03.2020
  • A. Das Gesetz
  • I. § 13 Abs. 5 IfSG
  • II. § 20 IfSG
  • III. §§ 22, 33 IfSG
  • IV. § 73 IfSG
  • B. Stellungnahmen
  • C. Verfassungsrechtliche Bewertung
  • I. Eingriffe
  • II. Rechtfertigung
  • III. Zitiergebot
  • IV. Bestimmtheitsgrundsatz
  • D. Beurteilung
  • 6. Kapitel – Zusammenfassung und wesentliche Ergebnisse der Arbeit
  • Literaturverzeichnis

←18 | 19→

Abkürzungsverzeichnis

Bay KiBiG

Bayerisches Kinderbildungs- und Betreuungsgesetz

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BremKTG

Bremisches Kindertageseinrichtungs- und Kindertagespflegegesetz

BSeuchG

Bundesseuchengesetz

BT-DS

Bundestagsdrucksache

GO

Geschäftsordnung

HGöGD

Hessisches Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst

IfSG

Infektionsschutzgesetz

IfSGDV RP

Landesverordnung zur Durchführung des Infektionsschutzgesetzes

IfSZV

Infektionsschutzzuständigkeitsverordnung Brandenburg

KiBiz NRW

Kinderbildungsgesetz Nordrhein-Westfalen

KiFöG MV

Kindertagesförderungsgesetz Mecklenburg-Vorpommern

KiFöG SA

Kinderförderungsgesetz Sachsen-Anhalt

KitaFöG Berlin

Kindertagesförderungsgesetz Berlin

KitaG BB

Kindertagesstättengesetz Brandenburg

KitaG BW

Kindertagesbetreuungsgesetz Baden-Württemberg

KitaG NS

Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder Niedersachsen

KitaG SH

Kindertagesförderungsgesetz Schleswig-Holstein

KTagStG RP

Kindertagesstättengesetz Rheinland-Pfalz

m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

PrävG

Präventionsgesetz

Reichsgesetzbl.

Reichsgesetzblatt

RKI

Robert-Koch-Institut

Rn.

Randnummer

SKBBG

Saarländisches Kinderbetreuungs- und -bildungsgesetz

SH

Schleswig-Holstein

SL

Saarland

St. Rspr.

Ständige Rechtsprechung

STIKO

Ständige Impfkommission

ThürKitaG

Thüringer Kindertagesbetreuungsgesetz

VO

Verordnung

Vorb.

Vorbemerkung

Zif.

Ziffer←19 | 20→

Bezüglich aller weiteren verwendeten Abkürzungen wird verwiesen auf:

Kirchner, Hildebert (Begr.) -

Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 9. Auflage, Berlin 2018

Duden, Konrad (Begr.) -

Die Deutsche Rechtsschreibung, Band 1, 27. Auflage, Berlin, 2017

←20 | 21→

1. Kapitel – Einleitung

A. Anlass der Untersuchung

Das Thema Impfen wird seit vielen Jahren kontrovers diskutiert. Immer wieder gibt es in Deutschland Ausbrüche von Krankheiten, die eigentlich durch Impfungen vermeidbar gewesen wären. Wissenschaftliche Analysen zeigen, dass die Impfquoten für die verschiedenen impfpräventablen Krankheiten in der Bundesrepublik dauerhaft zu niedrig sind. Dies liegt darin begründet, dass Probleme beim zeitgerechten Impfen im Kleinkindalter sowie im Jugend- und Erwachsenenalter bestehen und daneben für einzelne Impfungen eine erhebliche Varianz auf regionaler Ebene zu erkennen ist.1

Einige Stimmen fordern daher immer wieder die Einführung einer Impfpflicht, andere hingegen lehnen eine solche strikt ab.2

Diese Problematik gibt Anlass dazu, die in Deutschland bestehenden gesetzlichen Regelungen über Schutzimpfungen zu untersuchen, sie verfassungsrechtlich zu bewerten und zu überlegen, inwiefern sie verbesserungsbedürftig sind.

Diese Arbeit wurde in ihren Grundzügen erstellt, bevor die Bundesregierung am 17.07.2019 die Einführung eines Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention beschloss, nach welchem alle Personen, die eine Gemeinschaftseinrichtung besuchen, einen Masernimpfschutz nachweisen müssen.3 Am 14.11.2019 hat der Bundestag dieses sogenannte Masernschutzgesetz verabschiedet und es wird am 01.03.2020 in Kraft treten. Die Ergebnisse und Vorschläge dieser Ausarbeitung sind mithin im Zeitraum vor der Gesetzesnovelle entwickelt worden. In Kapitel 5 erfolgt ein Überblick über dieses neue Gesetz. Es wird hier den zuvor gefundenen Ergebnissen gegenüber gestellt.

←21 | 22→

B. Allgemeines zu Schutzimpfungen

I. Kurzer Überblick über die Entstehung von Schutzimpfungen

Die sogenannte Pocken-Krankheit ist den Menschen vermutlich bereits seit Jahrtausenden bekannt. Es handelt sich dabei um eine schwere fieberhafte Allgemeinerkrankung mit ausgeprägtem Hautausschlag, die durch Tröpfcheninfektion übertragen wird.4 Die Pocken waren früher zunächst in Europa und Asien weit verbreitet und zogen eine hohe Sterblichkeit nach sich.5 Europäische Seefahrer brachten die Krankheit dann auch nach Amerika und später nach Australien.

Um diesem Massensterben ein Ende zu setzen, gab es immer wieder Versuche, Stoffe und Verfahren zu entwickeln, um die Ansteckungsfähigkeit des Pockensekretes abzuschwächen. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass eine einmal überstandene Krankheit einen Menschen vor einer zweiten Erkrankung schützte.6 Weiterhin verbreitete sich die Erkenntnis, dass auch Menschen, insbesondere Melkerinnen, die die sogenannten Kuhpocken, eine im Vergleich zu den Pocken harmlose Virusinfektion, überstanden hatten, sich nicht mehr mit der menschlichen Pockenerkrankung infizierten. Verschiedene Personen experimentierten daraufhin ab 1770 mit der sogenannten Kuhpockenlymphe, eine Flüssigkeit entnommen aus einer Kuhpockenpustel. Darunter gilt der englische Arzt Edward Jenner als derjenige, der letztendlich die erste Schutzimpfung gegen Pocken, von ihm als „Vakzination“7 bezeichnet, entwickelte. Am 14. Mai 1796 gelang ihm dieser entscheidende Schritt, als er einen achtjährigen Jungen mit dem Sekret einer an Kuhpocken leidenden Magd impfte, worauf selbiger ebenfalls leicht an Kuhpocken erkrankte. Sechs Wochen später infizierte sich der Junge trotz Kontaktes mit dem Pockensekret nicht mit den Pocken. Diese damals revolutionären Erkenntnisse veröffentlichte Jenner 1798 in seinem Buch.8

Diese Methode des Impfens wurde fortan in ganz Europa kopiert. Wie kein anderes Ereignis in der Medizingeschichte stieß diese erste Impfung sowohl bei ←22 | 23→Ärzten als auch in der Bevölkerung auf große Zustimmung.9 Die letzten dokumentierten Fälle der Pocken traten 1977 in Somalia und 1978 in Birmingham auf. 1980 erklärte die WHO die Welt für pockenfrei. Damit war es knapp 200 Jahre nach Erfindung der Impfung als neue Maßnahme erstmalig möglich, eine Krankheit weltweit auszurotten.10

Ende des 19. Jahrhunderts gewannen dann Wissenschaftler wie Louis Pasteur, Robert Koch, Emil von Behring und Paul Ehrlich unter anderem durch Versuchsreihen mit Tieren wichtige Erkenntnisse über neue Impfungen. So entwickelten sie Tollwut-, Diphtherie- und Tetanusimpfstoffe.11

In den 1950er Jahren gelang es dem amerikanischen Forscher Jonas Salk einen Impfstoff gegen die Kinderlähmung zu entwickeln.12

II. Schutzimpfungen aus medizinischer Sicht

Impfungen gehören heute aus medizinischer Sicht zu den wichtigsten und wirksamsten präventiven Maßnahmen, die zur Verfügung stehen.13

Durch eine Schutzimpfung wird eine künstliche Immunität des Körpers gegenüber bakteriellen oder viralen Infektionskrankheiten erzeugt, die, soweit rechtzeitig durchgeführt, den Ausbruch einer bestimmten Krankheit verhindert. Unmittelbares Ziel der Impfung ist es, den Geimpften selbst vor einer ansteckenden Krankheit zu schützen. Durch das Erreichen hoher Impfquoten ist es wiederum möglich, einzelne Krankheitserreger zunächst regional und im Anschluss weltweit auszurotten.14

III. Herdenimmunität und Musketierprinzip

Neben dem Individualschutz gibt es noch einen weiteren wichtigen Vorteil des Impfens: Die durch eine Impfung erworbene Immunität des Individuums ist auch für die restliche Population wichtig, denn eine geimpfte Person kann die Erkrankung nicht mehr an andere übertragen. Somit werden auch Personen innerhalb der Gemeinschaft geschützt, die noch oder gar nicht geimpft werden können, wie Babys ←23 | 24→oder Immungeschwächte.15 Ein einzelner Ungeimpfter braucht in der Gesellschaft Geimpfter keine Angst vor der Ansteckung mit einer impfräventablen Krankheit zu haben. Dieses Phänomen wird als Herdenimmunität oder Musketierprinzip, getreu dem Motto „Einer für alle – alle für einen!“, bezeichnet.16 Wenn sehr viele Menschen geimpft sind, kann dieser Gemeinschaftsschutz zur Ausrottung bestimmter Krankheiten führen.17

IV. Teufelskreis

Diese bestehende Herdenimmunität kann wiederum dazu führen, dass Einzelne diese gut geimpfte Gesellschaft dazu ausnutzen, sich selbst nicht impfen zu lassen – sogenanntes Trittbrettfahren. Sie profitieren also von den Vorteilen der Herdenimmunität, ohne selbst ihren Beitrag dazu zu leisten.18 Wenn zu viele Menschen ein solches Ausnutzen praktizieren, funktioniert das Prinzip der Herdenimmunität durch zahlreiche Ungeimpfte jedoch nicht mehr.

Daneben besteht die Problematik, dass, sobald die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Krankheiten durch gute Impfquoten abnimmt, die Angst vor jenen Krankheiten in der Bevölkerung schwindet und damit auch das Bewusstsein für die Wichtigkeit von Impfungen. Die Bevölkerung wiegt sich in Sicherheit und deshalb werden weniger Impfungen vorgenommen, was als sogenannte „Impfmüdigkeit“ bezeichnet wird. Diese führt wiederum zu erneuten Ausbrüchen der Krankheit.19

V. Nebenwirkungen und Impfschäden

Allgemeine Reaktionen des Körpers nach einer Impfung sind möglich und Ausdruck dafür, dass sich das Immunsystem mit dem Impfstoff wie erwünscht auseinandersetzt. Diese halten in der Regel nur wenige Tage an.20

←24 | 25→

Schwerwiegendere Impfkomplikationen und -schäden sind sehr selten. Früher traten diese häufiger bei Impfungen auf, die heute nicht mehr empfohlen werden. Verdachtsfälle von außergewöhnlichen Impfnebenwirkungen müssen an das Paul-Ehrlich-Institut gemeldet werden.21

Details

Seiten
206
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631861943
ISBN (ePUB)
9783631861950
ISBN (MOBI)
9783631861967
ISBN (Paperback)
9783631847480
DOI
10.3726/b18671
DOI
10.3726/b18708
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (August)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 206 S.

Biographische Angaben

Marleen Staudinger (Autor:in)

Julia-Marleen Staudinger studierte Rechtswissenschaften in Bielefeld und legte beide juristische Staatsprüfungen in NRW ab.

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