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Das subjektiv-öffentliche Recht des Gemeindebürgers

Zur Bindungswirkung kommunaler Bürgerentscheide

von Sabrina Rita Müller (Autor:in)
©2021 Dissertation 268 Seiten

Zusammenfassung

Die Arbeit untersucht, ob und wie aus den kommunalverfassungsrechtlichen Normen über die Bindungswirkung von Bürgerentscheiden ein subjektiv-öffentliches Recht des Gemeindebürgers herzuleiten ist. Hierdurch könnte er die Beachtung des Bürgerentscheids und seines Ergebnisses vonseiten des gewählten Vertretungsorgans einklagen – wohingegen er sonst auf die Kommunalaufsicht angewiesen wäre, deren Einschreiten der Einzelne jedoch nicht beanspruchen kann, da sie allein im objektiv-öffentlichen Interesse handelt. Die Autorin analysiert hierzu die verwaltungs- und verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, legt die relevanten Normen aus und entwickelt abschließend einen eigenen Lösungsweg, der zwischen den Ansätzen aus der Rechtsprechung und der Gesetzesauslegung vermittelt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright Page
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung –​ Gegenstand und Gang der Untersuchung
  • Teil 1: Grundlagen und Rechtsprechungsanalyse
  • Kapitel 1: Grundlagen –​ Spannungsverhältnis von Demokratie und kommunaler Selbstverwaltung
  • A. Dogmatische Struktur des kommunalen Selbstverwaltungsrechts
  • B. Normative Grundlagen –​ Kommunalverfassungsrechtliche Bindungsklauseln
  • I. Besonderheiten der Kommunalverfassung
  • 1. Rechtsnatur des Gemeinderats
  • a) Kommunalparlament oder Verwaltungsorgan?
  • b) Geltung von Verfassungsgrundsätzen
  • aa) Parlaments-​ und Rechtssatzvorbehalt
  • bb) Gewaltenteilung und Organtreue
  • c) Rechtskontrolle
  • aa) Interne Kontrollmechanismen
  • bb) Externe Kontrollmechanismen
  • cc) Ausschluss kommunalwahlrechtlicher Prüfung
  • 2. Rechtsstellung des Gemeinderatsmitglieds
  • 3. Entscheidungsgegenstände des Kommunalvertretungsorgans und der Bürgergesetzgebung
  • a) Angelegenheiten der Gemeinde
  • b) Negativkataloge
  • aa) Finanzwirksame Gesetze
  • bb) Abwägerische Regelungsgegenstände
  • (1) Fachplanungsvorbehalt
  • (2) Quantitative und qualitative Interessenvielfalt
  • c) Verfassungsrechtliche Vorgaben
  • 4. Rechtsnatur des Bürgerentscheids
  • a) Äquivalenzwirkung
  • b) Ratsbürgerentscheid
  • II. Konkrete Ausgestaltung der Bindungswirkung in den einzelnen Kommunalordnungen
  • 1. Modell der einfachen Abänderung
  • 2. Modell der fristgebundenen, bürgerentscheidsbedingten Abänderung
  • 3. Modell der fristgebundenen, vertretungskörperschaftlich initiiert bürgerentscheidsbedingten Abänderung
  • 4. Modell der Abänderung gemäß dem Grundsatz clausula rebus sic stantibus
  • III. Relevante Rechtsschutzkonstellationen zur Durchsetzung der Bindungswirkung
  • 1. Sicherungsbegehren: Vollzug des Bürgerentscheids
  • 2. Sicherungsbegehren: Beachtung des Bürgerentscheids
  • C. Spannungsverhältnis von repräsentativer und direkter Demokratie auf kommunaler Ebene
  • I. Begrifflichkeiten
  • II. Bindungswirkung direkt-​demokratischer Gesetzgebung
  • 1. Argumente gegen eine Bindungswirkung
  • a) Rechtsdogmatische Argumente
  • aa) Verfassungsrechtliche Grundentscheidung für die repräsentative Demokratie
  • bb) Rechtliche Ranggleichheit und demokratische Gleichwertigkeit repräsentativer und direkter Demokratie
  • cc) Stufenbau der Rechtsordnung
  • b) Demokratietheoretische Argumente
  • aa) Handlungsfähigkeit des Staates
  • bb) Qualität des Staatshandelns
  • cc) Rechtsunsicherheit bezüglich des Bindungsgegenstands
  • c) Rechtspolitische/​rechtsphilosophische Argumente
  • aa) Eigennutz
  • bb) Verführbarkeit
  • 2. Argumente für eine Bindungswirkung
  • a) Schwächen des repräsentativen Systems
  • aa) Diskussionsforum
  • bb) Kompromissgesetzgebung
  • cc) Sachverstand
  • b) Kompensations-​ und Korrektivfunktion
  • 3. Mindestanforderungen an die Bindungswirkung
  • D. Schlussfolgerungen für die Rolle des Gemeindebürgers
  • Kapitel 2: Rechtsprechungsanalyse
  • A. Lösungsansätze der Rechtsprechung
  • I. Subjektives Recht
  • 1. Rechtsschutzgedanke
  • a) Entwertung des Bürgerentscheids
  • b) Durchsetzungsbefugnis als Annexrecht
  • 2. Verfahrensrüge in Anlehnung an Wahl-​ und Abstimmungsrechte
  • II. Organstellung
  • 1. Verpflichtung des Gemeindebürgers
  • 2. Sanktionsgedanke
  • 3. Äquivalenz von Gemeinderatsbeschluss und Bürgerentscheid
  • III. Keine Klagemöglichkeit
  • 1. Fehlen eines Vollzugsanspruchs
  • a) Fehlen eines allgemeinen Anspruchs auf Gesetzesvollzug
  • b) Fehlen eines Anspruchs auf Vollzug von Gemeinderatsbeschlüssen
  • 2. Unzulässige Ungleichbehandlung von Gemeinderatsmitgliedern und Gemeindebürgern
  • a) Keine Zuständigkeit der Gemeindebürger
  • b) Gefährdung der Funktionsfähigkeit des Gemeinderats
  • B. Zusammenfassende Rechtsprechungsdarstellung
  • Ergebnisse zu Teil 1
  • Teil 2: Auslegung der kommunalverfassungsrechtlichen Bindungsklauseln
  • Kapitel 3: Zur Entstehungs-​ und Entwicklungsgeschichte, Gegenwart und Zukunft des subjektiv-​öffentlichen Rechts
  • A. Anliegen und Ziel der Auslegung
  • B. Normative Anbindung zur Begründung subjektiv-​öffentlicher Rechte
  • I. Begrifflich-​funktionelle Einordnung des subjektiv-​öffentlichen Rechts
  • 1. Historische Entwicklung
  • a) Statuslehre
  • b) Schutznormtheorie
  • aa) Rechtsmacht oder Rechtsreflex?
  • bb) Subjektiv-​öffentliches Recht oder Klagemöglichkeit?
  • cc) Objektive Schutzwirkung
  • 2. Schutznormtheorie vs. a priori-​Geltung
  • a) Rechts(un)sicherheit
  • b) Verfassungsautorität
  • c) Zusammenfassung
  • 3. Kritik in europarechtlicher Dimension
  • 4. Ausblick in die Zukunft der Schutzzwecktheorie
  • II. Kommunalverfassungsrechtliche Bindungsklauseln als Auslegungsgegenstand
  • Kapitel 4: Auslegung
  • A. Auslegung nach Maßgabe der Modellbetrachtung der Bindungsklauseln
  • I. Grammatische Auslegung
  • 1. Der Wortlaut als erster und äußerster Zugriff zum Inhalt der Norm
  • 2. Der Wortlaut der kommunalverfassungsrechtlichen Bindungsklauseln allgemein
  • a) Tatbestand
  • b) Rechtsfolge
  • 3. Grammatische Besonderheiten der konkreten Modelle
  • II. Systematische Auslegung
  • 1. Die Systematik als Blick auf das normative Gesamtgefüge
  • 2. Die Systematik der kommunalverfassungsrechtlichen Bindungsklauseln allgemein
  • 3. Rechtssystematische Besonderheiten der konkreten Modelle
  • III. Historische Auslegung
  • 1. Die Rechtsgeschichte als synoptischer Vergleich
  • 2. Die Geschichte und Genese der kommunalverfassungsrechtlichen Bindungsklauseln allgemein
  • 3. Rechtshistorische/​-​genetische Besonderheiten der konkreten Modelle
  • IV. Teleologische Auslegung
  • 1. Das Telos als zeitloser Gesetzeszweck
  • 2. Sinn und Zweck der kommunalverfassungsrechtlichen Bindungsklauseln allgemein
  • a) Kommunale Selbstverwaltungsgarantie
  • b) Abstimmungsfreiheit
  • c) Rechtsstaatlichkeit
  • e) Grundrechtsschutz
  • 3. Teleologische Besonderheiten der konkreten Modelle
  • B. Zusammenfassende Bewertung
  • Ergebnisse zu Teil 2
  • Teil 3: Vermittelnder Lösungsansatz
  • Kapitel 5: Abkehr von herkömmlichen Kategorien zur Differenzierung zwischen subjektiv-​öffentlichen Rechten und Organkompetenzen
  • A. Mitgliedschaftliche Rechte
  • I. Merkmale des Organs im engeren Sinne
  • 1. Aufgabenwahrnehmung für das Gemeinwesen
  • 2. Wahrnehmungszuständigkeit
  • a) Kritik am herkömmlichen Verständnis
  • b) Wesensunterschied von Wahlen und Abstimmungen
  • c) Träger der Wahrnehmungszuständigkeit
  • II. Mitgliedschaft in der Gemeinde
  • B. Abgewandelte Kriterien für die Gemeindebürger
  • Kapitel 6: Die Organstellung der Gemeindebürgerschaft als Kollektiv
  • A. Spannungsverhältnis zwischen Gemeindebürgern und Gemeindevertretern
  • B. Transitorische Organkompetenz der Gemeindebürger
  • I. Organrechtliche Defizite der Gemeindebürgerschaft
  • II. Kompensation durch kommunalverfassungsrechtliche Sondervorschriften
  • Kapitel 7: Das subjektiv-​öffentliche Recht des Gemeindebürgers als Individuum
  • A. Materiell-​rechtliche Ausgestaltung
  • I. Die subjektiv-​rechtliche Komponente der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie
  • II. Der transitorische Anteil des Gemeindebürgers am kommunalen Selbstverwaltungsrecht
  • B. Prozessuale Konsequenzen
  • I. Allgemeine prozessrechtliche Aspekte
  • 1. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs
  • 2. Statthafte Klage-​/​Antragsart
  • a) Außen-​ und Regelungswirkung der Maßnahme einer öffentlichen Behörde
  • aa) Behördeneigenschaft
  • bb) Außenwirkung
  • cc) Regelungswirkung
  • b) Differenzierung nach Sicherungsbegehren
  • c) Statthaftigkeit des Eilrechtsschutzes
  • 3. Klage-​/​Antragsbefugnis
  • a) Sicherungsbegehren: Vollzug des Bürgerentscheids
  • b) Sicherungsbegehren: Beachtung des Bürgerentscheids
  • 4. Beteiligten-​ und Prozessfähigkeit
  • 5. Rechtsschutzbedürfnis
  • II. Aktivlegitimation
  • 1. Anspruchsträger
  • a) Alle Abstimmungsberechtigten oder Vertrauenspersonen?
  • b) Prozessstandschaft
  • 2. Anspruchsinhalt
  • a) Recht auf Vollzug des Bürgerentscheids
  • aa) Vollziehbarkeit
  • (1) Vollzug von Grundsatzentscheidungen
  • (2) Grundsätzliche Vollzugshindernisse
  • bb) Vollzugsmodalitäten
  • (1) Fristenlösung
  • (2) Verschuldenslösung
  • b) Recht auf Beachtung des Bürgerentscheids
  • III. Passivlegitimation
  • IV. Entscheidung und Rechtsfolge
  • Ergebnisse zu Teil 3
  • Ergebnisse der Untersuchung –​ Zusammenfassende Thesen
  • Anhang –​ Bindungsklauseln der Kommunalverfassungen in den 13 (Flächen-​) Bundesländern
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung – Gegenstand und Gang der Untersuchung

Eine jede Rechtsordnung verschreibt sich einer Vielzahl an Zielsetzungen. Sowohl in ihrer Gesamtheit als auch innerhalb der verschiedenen Gesetzeswerke der Rechtsordnung stellen diese Zielsetzungen stets das maßgebliche Kriterium bei der Frage nach dem Inhalt und der Reichweite der darin geregelten einzelnen gesetzlichen Bestimmungen dar. Ein von diesen Zielsetzungen losgelöstes Vorgehen – egal, ob es von staatlicher oder von privater Stelle ausgeht – muss zwingend zum Misserfolg führen. Zur Kontrolle sämtlichen Vorgehens staatlicher wie privater Akteure sind gerichtliche Instanzen etabliert. Diese haben eine rechtliche Prüfung und eine darauf basierende Rechtsprechung zur Aufgabe, die sich an den Zielsetzungen der Rechtsordnung orientiert.

Zu diesen Zielsetzungen gehören zwei Pole, die einander als Gegenspieler, aber auch über eine zwischen ihnen bestehende Schnittmenge begegnen können. So zielt eine jede Rechtsordnung gleichermaßen darauf ab, den objektiven Interessen der öffentlichen Allgemeinheit zu dienen, als auch darauf, die subjektiven Einzelinteressen der verschiedenen Individuen innerhalb derselben zu schützen. Der Einzelne als Teil des Ganzen kann sich mit seinen Belangen im Gros der Allgemeininteressen wiederfinden und hieran teilhaben, demgegenüber aber ebenso ein teilweise bis völlig konträres Ziel verfolgen. Je nach konkreter Fallkonstellation sind die entsprechenden Interessen und ihr Zusammenspiel genau herauszuarbeiten und im Hinblick auf ihre praktischen Konsequenzen zu untersuchen.1

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Anders ausgedrückt besteht also die wesentliche Funktion allen Rechts darin, Handlungs- und Wirkungssphären verschiedener Akteure – damit auch des im Sinne einer Gemeinwohlverpflichtung Streitenden mit dem für einen Individualschutz Eintretenden – verlässlich voneinander abzugrenzen.2 In diesem Kontext steht ebenso die Verfassungsvorschrift aus Art. 1 GG mit ihren drei Absätzen:3 Die dort zu findenden Aussagen formulieren ein zwingendes Bekenntnis zur Grundlage der Rechte des Menschen für alles staatliche Handeln. Demgegenüber kommt den Staatsrechtsgütern und Systemleistungen sowie deren einfachgesetzlichen Ausprägungen als rein objektiv verpflichteten Allgemeininteressen eine nur dienende Funktion zu, weil sie wiederum ohne Anknüpfung an den Status des Menschen und Bürgers sowie an seine Freiheiten, welche ihm aus diesem Status erwachsen, haltlos sind.4

Grundsätzlich – wie bei jedem Grundsatz treten auch hier zwangsläufig Durchbrechungen auf – spielt sich das Handeln einer jeden Person somit in einem Einzugs- und Wirkbereich der beiden erwähnten Pole ab. Entweder vollzieht sich in ihm die Wahrnehmung unabgeleiteter, ursprünglicher und natürlicher menschlicher Freiheit. In diesem Fall – wenn also der Mensch das eigene Leben nach eigenen Entwürfen gestaltet und so über sich selbst bestimmt5 –, stehen ihm die Grundrechte aus Art. 1 bis 19 GG zum umfassenden staatlichen Schutz eben dieser Lebensweise zur Seite. Er befindet sich dann in der sogenannten „grundrechtstypischen Gefährdungslage“6, die das jederzeit zumindest theoretisch mögliche Szenario eines staatlichen Eingriffs in die zulässige ←16 | 17→grundrechtliche Betätigungsform entwirft. Genau dieser Gefährdungslage sieht sich der Mensch jedoch nicht ausgesetzt, wenn er statt in Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheit aufzugehen mit seinem Handeln vielmehr wissentlich und willentlich der Erfüllung objektiv-öffentlicher Aufgaben dient. In diesem Fall agiert er aufgrund von Kompetenzen7, welche ihm durch positives Recht verliehen sowie inhaltlich begrenzt sind.8 Solche Kompetenzzuweisungen und die Entscheidungen über die aus ihnen resultierenden Konflikte sind demgegenüber nicht Gegenstand der Grundrechte,9 denn hierbei fehlt der „unmittelbare Bezug zum Menschen.“10

In diesem grundsätzlichen Spannungsfeld zwischen einerseits objektiven und andererseits subjektiven Rechtstendenzen macht die vorliegende Arbeit das subjektiv-öffentliche Recht des Gemeindebürgers11 zu ihrem Gegenstand. Zweifelsohne sind die Rechte des Gemeindebürgers in der Menge zahlreich und in der Qualität hoch einzuschätzen – ist er doch zuvorderst Mensch im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG. Nichtsdestotrotz stellt sich der Rechtsschutz zugunsten des Gemeindebürgers als ein in sich nicht abschließend geklärtes System dar.12 Eines der unbestreitbaren Rechte des Gemeindebürgers besteht darin, an Wahlen und Abstimmungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene teilzunehmen. Dazu gehört auch die Teilnahme an einem kommunalen Bürgerentscheid.13←17 | 18→Dieses Instrument direktdemokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung hat nunmehr Eingang in die Kommunalverfassungen sämtlicher deutscher Bundesländer14 gefunden.15 Insofern ist es als ein fester Bestandteil der kommunalen Wirklichkeit anerkannt.16 Vor diesem Hintergrund wurde das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen repräsentativer und direkter Demokratie als solches sowie als Phänomen speziell im Kommunalrecht und damit im Geltungsbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG17 erschöpfend wissenschaftlich durchdrungen.18

←18 | 19→

Die meisten Werke19 weisen dabei jedoch eine umfassende Herangehensweise sowie eine entsprechende Stoßrichtung auf und fragen nach der generellen rechtlichen Zulässigkeit direktdemokratischer Instrumente auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Im Gegensatz dazu befasst sich die vorliegende Arbeit ausschließlich, aber dafür schwerpunktmäßig und detailliert, mit einem ausgewählten Problem: der Bindungswirkung kommunaler Bürgerentscheide. Dass Bürgerentscheide eine politische sowie rechtliche Wirkung entfalten, steht fest.20 Welche Wirkungen sie aber im Detail haben, wie diese genau ausgestaltet sind und was sie dem Bürger – genauer gesagt dem Gemeindebürger – als Träger derselben bringen – die Beantwortung dieser Fragen ist Aufgabe der vorliegenden Arbeit. Dabei ist ihr Titel gleichsam ihr Ziel. Denn das Hauptanliegen besteht darin, umfassend zu untersuchen, ob aus der gesetzlich fixierten Bindungswirkung des Bürgerentscheids in den verschiedenen Kommunalverfassungen der Bundesländer21 ein subjektiv-öffentliches Recht des einzelnen Gemeindebürgers auf Absicherung – das heißt auf gemeindeseitige Vollziehung und Beachtung – des Bürgerentscheids folgt, welches ihn zur gerichtlichen Verteidigung gegen Rechtsverletzungen durch Unterlassen oder gegenläufige Maßnahmen der kommunalen Vertretungsorgane befugt.22

←19 | 20→

Zwar dürfte, sobald das Gemeindevolk erst einmal entschieden hat, das so gefundene Abstimmungsergebnis in der Regel politisch akzeptiert und rechtlich umgesetzt werden.23 Aber insbesondere dann, wenn die Gemeinde24 den Bürgerentscheid zwar zunächst ordnungsgemäß abhält, dessen Ergebnis aber anschließend nicht in die Tat umsetzt oder vor Ablauf der gesetzlichen Bindungsfrist durch ihre Organe einen abändernden eigenen Gemeinderatsbeschluss trifft und so den Bürgerentscheid nicht hinreichend beachtet, ergibt sich ein erhöhtes Bedürfnis nach nicht nur objektiv-rechtlichem, sondern darüber hinaus auch nach subjektiv-gerichtlichem Schutz.25 So ist ein Beschluss des Gemeinderates, der der gesetzlich geregelten Bindungswirkung des Bürgerentscheids zuwiderläuft, zwar nichtig. Die entsprechenden Vorschriften sollen nämlich sicherstellen, dass das Ergebnis des Bürgerentscheids nicht einfach auf dem Verwaltungswege wieder beseitigt wird.26 Die bisher ergangene verwaltungs- und verfassungsgerichtliche Rechtsprechung aber räumt gegen derartige gemeindliche Verhaltensweisen kaum bis keine Rechtsschutzmöglichkeiten ein.27 Dieser Umstand gibt Anlass dazu, die Frage zu untersuchen, ob und wenn ja inwieweit – neben der politischen Dimension – eine rechtliche Pflicht besteht, einen erfolgreichen Bürgerentscheid aufrechtzuerhalten, zu beachten und zu vollziehen und wer diese Pflicht in der Praxis – gegebenenfalls gerichtlich – durchsetzen kann.28

←20 | 21→

Die vorliegende Arbeit beantwortet die so aufgeworfene Forschungsfrage nach der Bindungswirkung des kommunalen Bürgerentscheids als Grundlage für ein subjektiv-öffentlich-rechtliches Recht des Gemeindebürgers auf eine entsprechende Absicherung in drei Schritten. Dementsprechend gliedert sich die Untersuchung in drei Teile. Teil 1 ordnet den kommunalen Bürgerentscheid in das grundlegende Mehrebenensystem demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung ein und analysiert die zur Frage nach seiner konkreten Bindungswirkung bereits ergangene verwaltungs- und verfassungsgerichtliche Rechtsprechung. Er verfolgt die darin vorzufindenden Argumentationslinien in ihrer Herleitung und Entwicklung und setzt sie einer rechtlichen Stellungnahme aus. Der Kern der so herausgearbeiteten Argumente wird sodann zur Grundlage der weiteren Betrachtung gemacht. Teil 2 nimmt nach Maßgabe einer Modellbetrachtung der im Kommunalverfassungsrecht der Bundesländer niedergelegten normativen Grundlagen zum Bürgerentscheid ihre klassische juristische Auslegung zur Forschungsfrage vor. Teil 3 zieht die Konsequenzen, die sich aus dem zuvor dargestellten Lösungsweg ergeben. Darin wird aufgezeigt, warum und wie der einzelne Gemeindebürger kraft des Bürgerentscheids an der öffentlich-rechtlichen Bestandsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG teilnimmt. Während also Teil 2 zunächst der Frage nachgeht, ob es ein subjektiv-öffentliches Recht des Gemeindebürgers gibt, untersucht Teil das 3 das Wie dieser Rechtsverleihung und damit einhergehende Rechtsschutzmodalitäten. Ein thesenartiges Fazit fasst abschließend die Ergebnisse der Untersuchung zusammen.

Derart gegliedert findet die Arbeit ihre methodische Grundhaltung in der These, dass von Elementen direkter Demokratie keine Wesensveränderung der deutschen Verwaltungs- und Verfassungsrealität zu erwarten ist, weder in positiver noch in negativer Hinsicht.29 So erfüllen sie keine erhebliche Belebungsfunktion für die Legitimationswirkung politischer Entscheidungen,30 bedeuten aber für sie gleichzeitig auch keine Gefahr.31 Die Frage, wie Aspekte repräsentativer ←21 | 22→und direkter Demokratie miteinander zu vereinbaren sind, stellt sich auch aus rechtswissenschaftlicher Perspektive immer wieder.32 Dabei steht zwar fest, dass die repräsentative Demokratie in Deutschland den Regelfall darstellt, weil die grundgesetzliche Mehrebenenordnung eine Systementscheidung für sie getroffen hat.33 So wie aber jedes juristische Regelwerk von dem lebhaften und flexiblen Verhältnis von Grundsatz und Ausnahme bestimmt ist, kann auch die hiesige Debatte um die subjektiv-rechtliche Reichweite von Bürgerentscheiden nicht mit dem Verweis auf die prinzipielle Bedeutung von Willensbildung auf dem Vertretungswege die Relevanz der rein quantitativ gesehen weniger bedeutenden Maßnahmen unmittelbarer Entscheidungsfindung mindern. Denn auch hier gilt ohne Zweifel, dass Ausnahmen die Regel bestätigen. Direkte Demokratie ergänzt die Repräsentation, sie ersetzt sie nicht.34

Die normativ vorgesehenen Elemente direkter Demokratie deshalb möglichst effektiv durchzusetzen, wie durch eine im Rahmen dieser Bearbeitung aufgezeigte Herleitung eines subjektiv-öffentlich-rechtlichen Anspruchs des Gemeindebürgers auf die Sicherung des Bürgerentscheids, sollte – wenn auch nicht das zentralste35 –, so aber doch zumindest ein zentrales Anliegen der Juristen in Theorie und Praxis sein. Dabei lautet die Prämisse, dass im Bereich des Kommunalrechts der Gemeindebürger und seine Interessen in den rechtlichen Fokus gehören. In dieser Perspektive möchte sich die vorliegende Arbeit als Beitrag zur Systematisierung des kommunalverfassungsrechtlichen Instruments des Bürgerentscheids sowie zur Operationalisierung des grundgesetzlichen Rechtsschutzsystems im Einzugs- und Wirkbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verstanden wissen.

1 Das Spannungsfeld von subjektivem Rechtsschutz und objektiver Verwaltungskontrolle beleuchtend vgl. aktuell nur Funke, Die Verwaltung 110 (2019), 239. Allgemein unterschieden werden Normen, die ausschließlich zum objektiven Recht zählen (im Prinzip die gesamte Rechtsordnung) von Normen, welche darüber hinaus (also kumulativ und nicht alternativ) subjektive Rechte vermitteln, also auch einzelne Personen berechtigen können. Zwar wird im Zivilrecht eher von Anspruchsgrundlagen und im öffentlichen Recht eher von „subjektiven Rechten“ gesprochen, der Sache nach erfasst wird jedoch jede Norm, welche eine einzelne Person oder einen abgrenzbaren und dadurch hinreichend bestimmbaren Kreis von Personen oder anderen Rechtssubjekten berechtigt, von einem weiteren Rechtssubjekt ein Tun, Dulden oder Unterlassen zu verlangen (entsprechend § 194 Abs. 1 BGB). Wo ein solches subjektives Recht des Bürgers gegen den Staat garantiert wird, ist zugleich ein Rechtsweg im Sinne der Verfassungsvorschrift aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG eröffnet, der das weitere Recht begründet, sich zur Durchsetzung des eigentlichen subjektiven Rechts an staatliche Instanzen (zumeist Gerichte) zu wenden und es beziehungsweise seine Verletzung dort geltend zu machen, Funke, JZ 2015, 369; Gusy, ZJS 2008, 233.

2 Müller-Franken, in: Festschrift für Frotscher, S. 657 (681); Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 131, 216 ff.; zum verschwimmenden Begriff des Gemeinwohls und zum Dauerproblem der „Gemeinwohl-Definitionskompetenz“ vgl. Schuppert, GewArch 2004, 441 ff. (443).

3 Dasselbe gilt für die in Art. 19 Abs. 4 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG verfassungsrechtlich vorgegebene und durch § 90 Abs. 1 BVerfGG sowie § 42 Abs. 2, 47 Abs. 2, 113 Abs. 1, 5 VwGO einfachgesetzlich konkretisierte Gegenüberstellung objektiver und subjektiver Rechte.

4 Greifeld, Volksentscheid durch Parlamente, S. 102.

5 BVerfG NJW 1982, 2173 (2174).

6 BVerfGE 61, 82 (105); BVerfGK 4, 223 (224); 16, 396 (404); BVerfG NJW 1982, 2173 (2174); Dreier, in: ders. GG, Band 1, Art. 19 Abs. 3, Rn. 31 ff. (dort auch in Abgrenzung zur weiter vertretenen Durchgriffstheorie unter dem Stichwort „personales Substrat“).

7 Vgl. grundlegend Neumeier, Kompetenzen. Zur Entstehung eines Paradigmas des deutschen öffentlichen Rechts.

8 Muckel, JA 2019, 633 (634).

9 BVerfG NVwZ 2019, 642 (643 = Rn. 20).

10 BVerfGE 61, 82 (101); 68, 193 (206).

11 Sämtliche personenbezogenen Bezeichnungen sind geschlechtsneutral zu verstehen. Oder um es mit den Worten des VG Neustadt a. d. W. (Urt. v. 25.03.2013 – 3 K 857/12.NW, BeckRS 2013, 49055, bei juris unter Fn. 1 auszudrücken: „Die Bezeichnung Bürger gilt für jedes Geschlecht.“

12 Eine detaillierte theoretische wie praktische Spurensuche nach dem Bürger im Recht unternahm schon Baer, „Der Bürger“ im Verwaltungsrecht. Darin leitet sie aus einer gleichermaßen etaistischen wie partizipatorischen Perspektive heraus das vom Recht gezeichnete Bild des Bürgers in der Gesellschaft und ihren verschiedenen Bereichen heraus; in ähnlicher Weise auch Saurer, Der Einzelne im europäischen Verwaltungsrecht; zu Etymologie und verwaltungsrechtlichem Verständnis vom Bürger samt seinem Verhältnis zur Exekutive, Peters, Legitimation durch Öffentlichkeitsbeteiligung?, S. 17, 22.

13 Hierzu sehr anschaulich ist z.B. die Landesverfassung Bayern in Art. 7 Abs. 2, wonach der „Staatsbürger“ seine Rechte durch Teilnahme an Wahlen, Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden sowie an Volksbegehren und Volksentscheiden ausübt und Art. 12 Abs. 3 Satz 1, demzufolge die Staatsbürger das Recht haben, Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises der Gemeinden durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid zu regeln. Andere Landesverfassungen (z.B. Brandenburg in Art. 22) reden von „einfachen“ Bürgern.

14 Die vorliegende Arbeit geht auf die Stadtstaaten nicht vertieft ein, da bei ihnen eine scharfe Trennung zwischen der Ebene des Landes- und des Kommunalverfassungsrechts nicht möglich ist. Vielmehr fallen beide ineinander zusammen, wodurch das Kommunalverfassungsrecht durch das Landesverfassungsrecht überlagert wird.

15 Vgl. die Aufstellung der in den Bundesländern bestehenden Gemeindeordnungen bzw. Kommunalverfassungen bei Gern/Brüning, Kommunalrecht, Rn. 60 (jeweils in alphabetischer Reihenfolge): § 21 GemO Baden-Württemberg; Art. 18a GO Bayern; § 15 KVerf Brandenburg; § 8b GO Hessen; § 20 KV Mecklenburg-Vorpommern; § 26 GO Nordrhein-Westfalen; § 33 KomVG Niedersachsen; § 17a GemO Rheinland-Pfalz; § 21a KSVG Saarland; § 24 GemO Sachsen; § 27 KVG Sachsen-Anhalt; § 16g GO Schleswig-Holstein; § 17 Satz 4 KO i.V.m. §§ 18 ff. EBBG Thüringen.

16 So Peine/Starke, DÖV 2007, 740.

Details

Seiten
268
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631851432
ISBN (ePUB)
9783631863305
ISBN (MOBI)
9783631866634
ISBN (Paperback)
9783631861554
DOI
10.3726/b18994
DOI
10.3726/b19022
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (September)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 268 S.

Biographische Angaben

Sabrina Rita Müller (Autor:in)

Sabrina Rita Müller studierte Rechtswissenschaft inklusive Fachspezifischer Fremdsprachenausbildungen im Französischen und Anglo-Amerikanischen Recht an der Universität Trier und der University of Sheffield, England. Sie war als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Trier tätig, wo auch ihre Promotion erfolgte.

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