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Die Honorierung von Pflegeleistungen durch das Erbrecht

von Charlotte Baecker (Autor:in)
©2022 Dissertation 238 Seiten

Zusammenfassung

Einhergehend mit dem demografischen Wandel steigt ebenfalls die Anzahl pflegebedürftiger Menschen. Auch wenn die Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe überwiegend dem Sozialrecht zugeordnet wird, stellt die Pflegebedürftigkeit tatsächlich meist ein privates Risiko dar, das von Familien und Angehörigen der Pflegebedürftigen zu tragen ist. Eine erbrechtliche Honorierung könnte dazu führen, die häusliche Pflege als Fundament des Pflegesystems zu stärken. Daher widmet sich die Autorin der Frage, ob nach geltenden Vorschriften des Erbrechts - sowohl der gewillkürten als auch der gesetzlichen Erbfolge - ein erbrechtlicher Ausgleich von Pflegeleistungen möglich ist oder ob Reformbedarf für den Gesetzgeber besteht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Einführung in die Problemstellung
  • B. Verdeutlichung anhand von Fallbeispielen
  • C. Gang der Arbeit
  • 1. Kapitel: Erbrecht als Mittel zur Sicherstellung und Honorierung von Pflegeleistungen
  • A. Begriff der informellen Pflege
  • B. Ausgangslage
  • I. Honorierung im Sozialrecht
  • II. Sonstige Ausgleichsansprüche im Zivilrecht
  • C. Warum sollen Pflegeleistungen überhaupt honoriert werden?
  • I. Entlastung des Sozialsystems
  • II. Gesetzliche Wertentscheidungen
  • III. Interesse der Betroffenen
  • IV. Symbolwirkung
  • D. Warum sollen Pflegeleistungen durch das Erbrecht honoriert werden?
  • E. Ergebnis
  • 2. Kapitel: Der entgeltliche Erbvertrag
  • A. Rechtsnatur und Inhalt des entgeltlichen Erbvertrages
  • I. Vertragliche Erbeinsetzung
  • II. Vertragliche Pflegeverpflichtung
  • 1. Dauerschuldverhältnis
  • 2. Beteiligte Personen
  • 3. Leistungsort
  • 4. Beginn der Verpflichtung
  • 5. Umfang der Leistungsverpflichtung
  • III. Entgeltlichkeit
  • IV. Zusammenhang zwischen vertraglicher Erbeinsetzung und Pflegeverpflichtung
  • 1. Einheitliches Rechtsgeschäft iSd § 139 BGB
  • 2. Synallagmatisches Verhältnis
  • a) Keine Anwendbarkeit der §§ 320 ff. BGB
  • b) Ausnahme bei Vereinbarung einer Verfügungsunterlassungsverpflichtung
  • aa) Verfügungsunterlassungsverpflichtung
  • bb) Folgen für den entgeltlichen Erbvertrag
  • 3. Bedingungszusammenhang
  • 4. Form
  • V. Besonderes persönliches Verhältnis
  • VI. Geeignetes Mittel zur Honorierung von Pflegeleistungen?
  • B. Behandlung von Leistungsstörungen
  • I. Leistungsstörungen
  • 1. Nichtleistung
  • 2. Unmöglichkeit
  • a) Vollständige Unmöglichkeit
  • b) Teilunmöglichkeit
  • c) Vorübergehende Teilunmöglichkeit
  • d) Umzug in ein Pflegeheim
  • e) Schlechtleistung
  • II. Einvernehmliche Aufhebung
  • III. Anfechtung des Erbvertrages
  • 1. Anfechtungserklärung und Berechtigung
  • 2. Anfechtungsgrund
  • a) Voraussetzungen des Motivirrtums
  • b) Motivirrtum bei Nichtleistung
  • c) Motivirrtum bei vollständiger Unmöglichkeit
  • d) Vorübergehende Teilunmöglichkeit
  • e) Teilunmöglichkeit/Umzug in ein Pflegeheim
  • f) Schlechtleistung
  • 3. Anfechtungsfrist
  • 4. Rechtsfolgen
  • IV. Rücktritt vom Erbvertrag
  • 1. Verhältnis zur Anfechtung
  • 2. Rücktrittserklärung
  • 3. Rücktrittsrecht gemäß § 323 I BGB
  • 4. Rücktrittsrecht gemäß § 2293 BGB
  • 5. Rücktritt gemäß § 2295 BGB
  • a) Rechtsgeschäftliche Verpflichtung
  • b) Aufhebung
  • aa) Unmöglichkeit
  • (1) Vollständige Unmöglichkeit
  • (2) Vorübergehende Teilunmöglichkeit
  • (3) Teilunmöglichkeit bei Umzug in ein Pflegeheim
  • bb) Kündigung
  • (1) Wichtiger Grund
  • (aa) Unmöglichkeit
  • (bb) Schlechtleistung
  • (2) Vorherige Abmahnung oder Abhilfefrist
  • (3) Kündigungsfrist
  • cc) Rücktritt nach § 323 BGB
  • 6. Folgen des Rücktritts
  • 7. Zwischenergebnis
  • C. Störungen im Zusammenhang mit dem Erbe
  • I. Störungsbeschreibung
  • 1. Der gesetzliche Schutz des Vertragserben
  • a) Leistungsverweigerung
  • b) Kündigung der Pflegeverpflichtung
  • c) Rücktritt gemäß § 313 BGB
  • d) Schutz durch § 2287 BGB
  • e) § 138 BGB
  • f) Schadensersatzansprüche gegen den Erblasser
  • g) Zwischenergebnis
  • 2. Gestaltungsmöglichkeiten
  • a) Abschluss einer Verfügungsunterlassungsvereinbarung
  • b) Vereinbarung einer Sicherungsschenkung
  • c) Sicherung durch Vormerkung
  • d) Vertragsstrafe
  • e) Bürgschaft
  • f) Verfügungsverbot durch einstweiligen Rechtsschutz
  • g) Zulässigkeit solcher Sicherungen
  • h) Vereinbarung eines ordentlichen Kündigungsrechts
  • IV. Kenntnis von der Verfügung
  • V. Zwischenergebnis
  • D. Ergebnis zu Kapitel 2
  • I. Rechtliche Probleme
  • II. Gefahr durch lebzeitige Verfügungen
  • III. Abschließende Würdigung
  • E. Formulierungsvorschlag eines entgeltlichen Erbvertrages
  • 3. Kapitel: Erbeinsetzung unter einer Potestativbedingung
  • A. Einführung
  • B. Problemkreise
  • I. Bedingung oder Motiv?
  • II. Hinreichende Bestimmtheit des Begriffs „Pflege“
  • 1. Erfordernis der Bestimmtheit
  • 2. Pflege als Bedingung
  • 3. Keine Bezeichnung der Person
  • III. Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB
  • IV. Bedeutung für die Honorierung von Pflegeleistungen
  • V. Vermächtnis zu Gunsten einer Pflegeperson
  • 1. Rechtlich mögliche Gestaltung
  • 2. Bedeutung für die Honorierung von Pflegeleistungen
  • C. Sinnvolles Mittel zur Stärkung der häuslichen Pflege?
  • I. Interessen des Erblassers
  • II. Interessen des Erben
  • III. Ergebnis
  • 4. Kapitel: Die Regelung des § 2057a I 2 BGB
  • A. Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung
  • B. Regelungsbedarf neben § 37 SGB XI
  • C. Der Ausgleichsanspruch gemäß § 2057a I 2 BGB
  • I. Historische Entwicklung
  • II. Sinn und Zweck der Norm
  • III. Anspruchsvoraussetzungen
  • 1. Anwendungsbereich
  • 2. Pflegeleistung während längerer Zeit
  • 3. In besonderem Maße
  • 4. Ausgleichsbeteiligte
  • 5. Kein Entgelt, § 2057a II 1 BGB
  • 6. Ermittlung des Ausgleichsbetrags
  • 7. Durchführung der Ausgleichung
  • 8. Verhältnis zum Pflichtteilsrecht
  • IV. Regelungsdefizite hinsichtlich des Ziels der Stärkung der häuslichen Pflege
  • 1. Begrenzter Kreis der Ausgleichsbeteiligten
  • 2. Unsicherheit in der Rechtsanwendung aufgrund zu vieler unbestimmter Rechtsbegriffe
  • 3. Zu kurz greifender Regelungszweck
  • D. Möglichkeit der Erweiterung der bestehenden Regelung
  • I. Verbesserung durch die Erbrechtsreform 2009?
  • II. Vorschlag der Einführung eines § 2057b BGB
  • 1. Vergleich mit der aktuellen Regelung in § 2057a I 2 BGB
  • a) Die zu erbringende Leistung
  • b) Erweiterter Kreis der Ausgleichsbeteiligten
  • c) Vorgaben zur Ermittlung des Ausgleichsbetrages
  • d) Wegfall des Ersparnisgedankens
  • III. Gründe für die Ablehnung des Vorschlags
  • 1. Ablehnung der Erweiterung der Ausgleichsbeteiligten
  • 2. Nachteil bezüglich des Leistungsumfangs
  • 3. Nachteil bei den Vorgaben zur Berechnung des Ausgleichsbetrages
  • IV. Alternative Regelungsmöglichkeiten, insbesondere die Erweiterung des Kreises der Ausgleichsbeteiligten
  • 1. Erweiterung des § 2057a BGB auf alle Pflegepersonen
  • 2. Erweiterung auf alle Erben
  • 3. Erweiterung auf Schwiegerkinder und nichteheliche Lebensgefährten
  • 4. Einbeziehung der Ehegatten?
  • 5. Zwischenergebnis
  • V. Regelungsdefizite
  • 5. Kapitel: Erbrechtsreform 2015 in Österreich: Die Einführung eines gesetzlichen Pflegevermächtnisses in § 677 ABGB
  • A. Einführung
  • B. Rechtliche Rahmenbedingungen in Deutschland und Österreich
  • I. Vergleichbare gesellschaftliche Rahmenbedingungen
  • II. Sozialrechtliche Rahmenbedingungen
  • 1. Anspruchsberechtigung nach dem BPGG
  • a) Allgemeines
  • b) Pflegebedürftigkeit
  • c) Leistungen
  • aa) Geldleistung
  • bb) Sachleistungen
  • cc) Weitere Leistungen
  • d) Leistungen der Länder
  • 2. Vergleich mit Deutschland
  • 3. Vergleich der Zahlen und Fakten
  • a) Zahlen zur Pflegebedürftigkeit
  • b) Gewährte Leistungen
  • 4. Zwischenergebnis
  • III. Grundzüge des österreichischen Erbrechts im Vergleich mit dem deutschen Erbrecht
  • C. Die Neuregelung des gesetzlichen Pflegevermächtnisses durch das Erbrechts-Änderungsgesetz 2015
  • I. Einführung
  • II. Sinn und Zweck des § 677 ABGB
  • III. Voraussetzungen des Vermächtnisanspruchs
  • 1. Beteiligtenkreis gemäß § 677 III ABGB
  • 2. Pflegeleistung
  • 3. Dauer
  • 4. Kein Ausschluss
  • IV. Rechtsfolge
  • V. Verhältnis zu anderen Vorschriften
  • 1. Verhältnis zu erbrechtlichen Vorschriften
  • 2. Verhältnis zum Bereicherungsrecht
  • VI. Kritik
  • 1. Pflegeleistung
  • 2. Zeitliche Eingrenzungen
  • 3. Pflegegeld
  • 4. Höhe des Vermächtnisses
  • 5. Entzug nach § 678 II ABGB
  • D. Vergleich des § 677 ABGB mit der Ausgleichsregelung des § 2057a I 2 BGB
  • I. Vergleich der Zweckrichtungen beider Normen
  • II. Vergleich der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen
  • III. Vergleich der Voraussetzungen
  • 1. Personenkreis
  • 2. Pflegeleistung
  • 3. Maßgeblicher Zeitraum
  • 4. Kein Entgelt
  • IV. Vergleich der Rechtsfolgen
  • 1. Rechtsnatur des Anspruchs
  • 2. Berechnung der Höhe des Abgeltungsbetrags
  • 3. Verhältnis zum Pflichtteilsrecht
  • V. Ergebnis des Vergleichs
  • 1. Stärkung der häuslichen Pflege
  • 2. Regelungsdefizite
  • VI. Übertragbarkeit auf Deutschland
  • 6. Kapitel: Einführung eines gesetzlichen Pflegevermächtnisses
  • A. Regelungsbedarf
  • B. Stärkung der Testierbereitschaft?
  • C. Vorschlag eines gesetzlichen Vermächtnisses
  • D. Vereinbarkeit der Vermächtnislösung mit Art. 14 I GG
  • I. Eingriff in die Testierfreiheit
  • 1. Verwandtenerbrecht als Element des Art. 14 I GG
  • 2. Ausgestaltende Maßnahme oder Eingriff des Gesetzgebers?
  • 3. Grenzen der Ausgestaltung
  • II. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
  • 1. Vereinbarkeit mit Art. 6 I GG
  • 2. Interessen der Pflegenden
  • 3. Das Sozialstaatsprinzip gemäß Art. 20 I GG
  • a) Sozialer Ausgleich durch Schutz der Pflegenden
  • b) Förderung der Solidarität
  • c) Schutz der Pflegebedürftigen
  • d) Finanzielle Stabilität der Sozialversicherung
  • 4. Erforderlichkeit
  • 5. Abwägung
  • III. Zwischenergebnis
  • E. Gestaltungsvorschlag
  • I. Bisherige Vorschläge
  • 1. Vorschlag des Notarvereins
  • 2. Vorschlag von Otte
  • 3. Regelung in Österreich
  • II. Neuer Gestaltungsvorschlag
  • 1. Übernommene Regelungen
  • a) Ausgestaltung als Vermächtnis
  • b) Begriff der Pflege
  • c) Sonstige Bestimmungen
  • 2. Abweichende Bestimmungen
  • III. Einzelerläuterungen
  • 1. Sinn und Zweck der Norm
  • 2. Persönlicher Anwendungsbereich
  • 3. Anspruchsberechtigte Personen
  • a) Abkömmlinge
  • b) Ehegatten
  • c) Schwiegerkinder
  • d) Nichteheliche Lebensgefährten
  • e) Stiefkinder
  • f) Sonstige Personen
  • 4. Das Problem der familiären Beistandspflichten
  • a) Verdeutlichung des Problems
  • aa) Vergleich von Kindern und Ehegatten, Kindern und Dritten
  • bb) Vergleich von Ehegatten und nichtehelichen Lebensgefährten
  • b) Honorierung der Erfüllung von gesetzlichen Beistandspflichten?
  • c) Gesetzliche Umsetzung
  • aa) Keine Anspruchsberechtigung des Ehegatten
  • bb) Keine Anspruchsberechtigung von Ehegatten und Kindern
  • cc) Ausschluss des Vermächtnisanspruchs des Ehegatten und der Kinder bei gesetzlicher Erbfolge
  • dd) Abzug der Beistandspflicht
  • ee) Honorierung von überobligatorischen Leistungen
  • (1) Angemessenheit der Einschränkung
  • (2) Einschränkung für alle Pflegepersonen?
  • 5. Pflege während längerer Zeit
  • a) Pflege
  • b) während längerer Zeit
  • 6. Höchstpersönlichkeit der Pflegeleistung?
  • 7. Berechnung der Anspruchshöhe
  • a) § 36 SGB XI oder § 37 SGB XI?
  • 8. Keine Berücksichtigung des Pflegegeldes
  • 9. Ausschluss von doppelter Honorierung
  • a) Abs. 5
  • b) Abs. 6
  • 10. Regelung als gesetzliches Vermächtnis
  • a) Entsprechende Geltung des § 2150 BGB
  • aa) Klarstellende Regelung
  • bb) Geltung als Vorausvermächtnis
  • b) Ausschluss des § 2307 BGB
  • aa) Entsprechende Anwendbarkeit von § 2307 BGB
  • bb) Sachgerechte Lösung
  • 11. Abdingbarkeit des gesetzlichen Vermächtnisses
  • a) Ausdrücklicher Ausschluss
  • b) Konkludenter Ausschluss?
  • 12. Systematische Einordnung
  • IV. Ergebnis
  • Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

←18 | 19→

Einleitung

A. Einführung in die Problemstellung

Die Bewältigung der Pflegebedürftigkeit wird in § 8 I SGB XI als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe definiert. Tatsächlich stellt die Pflegebedürftigkeit jedoch primär ein privates Risiko dar, das häufig von Familien und Angehörigen der Pflegebedürftigen zu tragen ist1. Gut 80% der Pflegebedürftigen werden zu Hause betreut und nicht in einem Pflegeheim2. Von den zu Hause Gepflegten werden ungefähr zwei Drittel allein von ihren Angehörigen gepflegt; die übrigen werden von ihren Angehörigen zusammen mit einem professionellen Pflegedienst versorgt3. Diese Zahlen spiegeln jedoch nur den Anteil der Pflegebedürftigen wider, für die Leistungen aus der Pflegeversicherung gewährt werden4. Nicht erfasst sind dabei die hilfe- und pflegebedürftigen Menschen, deren Bedarf unterhalb der sozialrechtlichen Grenze des SGB XI liegt, die aber dennoch der Hilfe bedürfen. Die Zahl der tatsächlich zu Hause Gepflegten ist daher deutlich höher5. In Deutschland besteht somit überwiegend ein familienbasiertes Pflegesystem6.

In den meisten Fällen der häuslichen Pflege gibt es eine Hauptpflegeperson7. Diese trägt die Verantwortung für die gesamte Pflegeversorgung, ist für die Organisation zuständig und leistet wesentliche Teile der Pflege selbst, ohne die Pflegetätigkeit professionell oder beruflich auszuüben8. Die Pflegeleistung umfasst nicht nur die körperliche Pflege, sondern auch Tätigkeitsbereiche wie Hauswirtschaft, Ernährung, Mobilität, Arztbesuche, Organisation und Betreuung9. Der größte Zeitaufwand ergibt sich dabei im Bereich der Betreuung und der Beaufsichtigung des Pflegebedürftigen10. Damit ist gemeint, dass die Pflegeperson in ←19 | 20→der Wohnung des Pflegebedürftigen anwesend oder für diesen verfügbar ist, um jederzeit Hilfe und grundpflegerische Aufgaben leisten zu können11.

Hauptpflegepersonen sind meistens Ehegatten, Töchter oder Schwiegertöchter des Pflegebedürftigen12. Die Hauptpflegeperson wendet im Durchschnitt wöchentlich mehr als 50 Stunden für die Pflege auf13. In vielen Fällen sind neben der Hauptpflegeperson noch weitere Angehörige an der häuslichen Pflege beteiligt, die jedoch deutlich weniger zeitlich eingebunden sind14. Im Übrigen leistet in 20% der Fälle die Hauptpflegeperson die Pflege alleine15. Da die häusliche Pflege die zeitlichen Dimensionen einer Vollzeitbeschäftigung annimmt16, hat sie für Pflegepersonen im erwerbsfähigen Alter erhebliche Auswirkungen17. Häufig müssen pflegende Angehörige ihre Berufstätigkeit reduzieren oder sogar vollständig aufgeben, um die Pflege bewältigen zu können18. Neben beruflichen Einbußen kommen noch Beeinträchtigungen von Gesundheit und Wohlbefinden der Pflegepersonen hinzu, da die Betreuung eine erhebliche Belastung für diese darstellen kann19.

Fälle, in denen alte Menschen von nahestehenden Personen zu Hause gepflegt werden, werden sich zukünftig immer häufiger ergeben. Das durchschnittliche Lebensalter der Menschen steigt und damit auch der Anteil der pflegebedürftigen Personen an der Gesamtbevölkerung20. Wegen der engen persönlichen oder familiären Verbundenheit zwischen Pflegeperson und Pflegebedürftigem werden jedoch in der Regel keine Regelungen über einen finanziellen Ausgleich der Pflegeleistungen getroffen21.

←20 | 21→

Die erheblichen Leistungen, die die Angehörigen erbringen, entsprechen nicht nur dem eigenen Interesse der Beteiligten, sondern kommen auch einem gesamtgesellschaftlichen Zweck zu Gute. Häufig kann nämlich durch die häusliche Pflege von Angehörigen die Betreuung durch einen professionellen Pflegedienst oder sogar der Umzug in ein Pflegeheim verhindert werden. Würden diese Leistungen unterbleiben, so müsste dies durch das soziale Pflegesicherungssystem aufgefangen werden.

Damit wird die Dringlichkeit deutlich, dass die häusliche Pflege als Fundament und Basis der Pflegesicherung gestärkt werden muss.

Um die erbrachten Pflegeleistungen zu honorieren, kommt eine Ausgleichung durch das Erbrecht in Betracht. Es gibt in Wissenschaft und Praxis keine Gegenstimmen grundsätzlicher Art, die sich gegen eine Honorierung von Pflegeleistungen durch das Erbrecht aussprechen22. Vielmehr herrscht ein allgemeiner Konsens dahingehend, dass Pflegeleistungen nach dem Tod des gepflegten Menschen honoriert werden sollten23.

Ungeklärt ist jedoch, wie die erbrechtliche Honorierung erfolgen könnte. Nach derzeitiger Rechtslage finden unentgeltlich erbrachte Pflegeleistungen nur nach § 2057a I 2 BGB bei der Auseinandersetzung der Miterben Berücksichtigung. Demnach kann ein Abkömmling, der den Erblasser während längerer Zeit gepflegt hat, bei der Auseinandersetzung einen Ausgleich dieser Leistung von den anderen Abkömmlingen verlangen. Dass diese Norm im Hinblick auf das Ziel, die häusliche Pflege zu stärken, nicht weitreichend genug ist, ist ebenfalls allgemein anerkannt24. Daher waren weitergehende Regelungen bereits Thema im Rahmen der Diskussionen zur Erbrechtsreform im Jahre 2009. Trotz der Einstimmigkeit hinsichtlich des Ziels kam es jedoch zu keinen bedeutenden Neuregelungen.

Dennoch handelt es sich nach wie vor um ein aktuelles Thema: Die Rahmenbedingungen und der gesellschaftliche Wandel haben sich seit 2009 diesbezüglich nicht geändert. Die Zahl der Pflegebedürftigen, die allein zu Hause von ←21 | 22→Angehörigen gepflegt werden, ist sogar weiter gestiegen25. Die Thematik dürfte auch mit Blick auf das Nachbarland Österreich wieder an Brisanz gewonnen haben. Dort fand eine mit der Erbrechtsreform 2009 vergleichbar große Reform im Jahre 2015 statt, deren Neuregelungen zum 1. Januar 2017 in Kraft traten. Zum Inhalt hatte die Reform unter anderem das Problem der (besseren) Honorierung von Pflegeleistungen. Im Ergebnis entschied sich der österreichische Gesetzgeber für eine weitreichendere Lösung, nämlich die Einführung eines gesetzlichen Pflegevermächtnisses.

B. Verdeutlichung anhand von Fallbeispielen

Fall 1

M und F sind verheiratet und haben zwei erwachsene Kinder. Sie leben im gesetzlichen Güterstand. Nach dem 50. Hochzeitstag wird M pflegebedürftig. F pflegt ihn alleine im gemeinsamen Haus, während die beiden Kinder nur selten zu Besuch kommen.

Fall 2

Das Ehepaar M und F lebt im gesetzlichen Güterstand und führt eine Hausmannehe. Während F arbeiten geht und so das Geld für die Familie verdient, führt M den Haushalt und kümmert sich um die beiden Kinder. Im gleichen Haushalt lebt auch S, die Mutter der F. Als S pflegebedürftig wird, übernimmt M zusätzlich noch die Pflege und Betreuung für sie.

Fall 3

Witwe W muss nach einem langen Leben langsam feststellen, dass sie Probleme hat, den Alltag allein zu meistern. Der befreundete Nachbar N erkennt ihre Hilfebedürftigkeit und kümmert sich um sie, und zwar auch als W schließlich schwer pflegebedürftig ist. Die beiden Kinder der W wohnen weit entfernt und sind mit der Tatsache zufrieden, dass ihre Mutter bei N in guten Händen ist.

Fall 4

M und F sind verheiratet, haben einen Sohn, leben aber seit vielen Jahren getrennt. Neue Partner haben beide nicht. Sie wollen sich aber nicht scheiden lassen. Als M pflegebedürftig wird, kümmert sich Sohn S um ihn.

←22 | 23→

C. Gang der Arbeit

Durch die erbrechtliche Honorierung von Pflegeleistungen könnte die häusliche Pflege durch Angehörige gestärkt werden. Diesbezüglich besteht grundsätzlich Einstimmigkeit in der Literatur26. Dennoch muss zunächst genauer betrachtet werden, warum die Stärkung der häuslichen Pflege und die erbrechtliche Honorierung sinnvoll sind; die Pflegesicherung ist schließlich vorrangig Aufgabe des Sozialrechts. Pflegeleistungen werden daher hauptsächlich nach den Regeln des SGB XI abgegolten. Mit diesem Themenbereich wird sich im Folgenden das erste Kapitel beschäftigen.

Jeder Person steht es grundsätzlich frei, eigene erbrechtliche Verfügungen zu treffen, um die Person zu belohnen, die sie pflegt bzw. gepflegt hat. Daher setzen sich die Kapitel zwei und drei mit den Möglichkeiten auseinander, wie der Erblasser selbst durch Verfügung von Todes wegen an ihn erbrachte Pflegeleistungen honorieren kann. Im zweiten Kapitel wird der entgeltliche Erbvertrag thematisiert. Die Möglichkeiten, wie der Erblasser die Pflegeperson durch Testament belohnen kann, werden im dritten Kapitel behandelt.

Im vierten Kapitel soll die bestehende Gesetzeslage bezüglich des Ausgleichs von Pflegeleistungen betrachtet werden, nämlich die Ausgleichsregelung des § 2057a I 2 BGB. Gemäß § 2057a I 2 BGB kann ein Abkömmling bei der Auseinandersetzung unter den Abkömmlingen eine Ausgleichung verlangen, wenn er den Erblasser während längerer Zeit gepflegt hat. Diese Vorschrift ist in der Literatur erheblicher Kritik ausgesetzt27, insbesondere in Bezug auf den Personenkreis der Ausgleichsbeteiligten und den engen Anwendungsbereich. Diese Kritik und die Reichweite der Norm sollen überprüft werden. Dabei ist insbesondere die Tatsache zu berücksichtigen, dass weder ein weiterer Kreis der Ausgleichsbeteiligten noch ein umfassender Anwendungsbereich bei der Gesetzesänderung im Rahmen der Erbrechtsreform von 2009 gesetzlich geregelt wurden.

Das fünfte Kapitel beinhaltet einen Rechtsvergleich mit Österreich. Um Pflegeleistungen erbrechtlich zu honorieren, wurde dort zum 1. Januar 2017 ein gesetzliches Pflegevermächtnis eingeführt. Diese weitreichende Lösung muss genauer betrachtet werden. Es ist zu prüfen, ob eine solche Regelung auf das deutsche Recht übertragbar wäre. Das letzte, sechste Kapitel beschäftigt sich ←23 | 24→daher mit der Frage, ob ein gesetzliches Pflegevermächtnis eingeführt werden sollte und wie ein solches auszugestalten wäre.

Die geschilderten Beispielsfälle sollen in der gesamten Arbeit dazu dienen, die Lösungen und Gestaltungsmöglichkeiten zu verdeutlichen. In allen Fällen handelt es sich um solidarische informelle Pflege. Eine Neuregelung des Problemkreises im Erbrecht sollte möglichst in allen Fällen zu einer Honorierung der Leistung führen.


1 Vgl. Hielscher/Kirchen-Peters/Nock, S. 98, 107.

2 Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2019, S. 9.

3 Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2019, S. 9, 19 Tab. 1.1.

4 Hielscher/Kirchen-Peters/Nock, S. 20.

5 Vgl. Nowossadeck/Engstler/Klaus, Pflege und Unterstützung, S. 3; Hielscher/Kirchen-Peters/Nock, S. 20.

6 Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2015, S. 7.

7 Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 74, 76; Hielscher/Kirchen-Peters/Nock, S. 98.

8 Hielscher/Kirchen-Peters/Nock, S. 45, 98.

9 Hielscher/Kirchen-Peters/Nock, S. 56.

10 Vgl. Hielscher/Kirchen-Peters/Nock, S. 56.

11 Hielscher/Kirchen-Peters/Nock, S. 99.

12 Vgl. Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 41, 76; Nowossadeck/Engstler/Klaus, Pflege und Unterstützung, S. 11.

13 Hielscher/Kirchen-Peters/Nock, S. 58.

14 Hielscher/Kirchen-Peters/Nock, S. 58.

15 Hielscher/Kirchen-Peters/Nock, S. 50.

16 Schneekloth/Wahl, MUG III, S. 78.

17 Vgl. Nowossadeck/Engstler/Klaus, Pflege und Unterstützung, S. 3; Hielscher/Kirchen-Peters/Nock, S. 23; von Mielecki, S. 95.

Details

Seiten
238
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631878873
ISBN (ePUB)
9783631878880
ISBN (MOBI)
9783631878897
ISBN (Hardcover)
9783631876398
DOI
10.3726/b19705
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (April)
Schlagworte
Reform der Gesetzgebung. Erbschaftsrecht Familienfürsorge
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 238 S.

Biographische Angaben

Charlotte Baecker (Autor:in)

Charlotte Baecker studierte Rechtswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo sie auch promoviert wurde. Sie ist als Rechtsanwältin tätig.

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Titel: Die Honorierung von Pflegeleistungen durch das Erbrecht
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