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Zwei Zuhause

Kroatische Arbeitsmigration nach Deutschland als transnationales Phänomen

von Jasna Čapo (Autor:in)
©2022 Monographie 312 Seiten

Zusammenfassung

Unter den zahlreichen Arbeitsmigranten, die in den 1960ern und 1970ern nach Deutschland zugewandert sind, waren auch Kroaten. Mehrere Hunderttausend Menschen kroatischer Herkunft sind in Deutschland geblieben und leben dort noch heute. Die Studie umfasst rund vierzig Jahre der multilokalen Lebensweise verschiedener Generationen. Ihr Leben hat sich zwischen zwei Orten, einem im Herkunftsland und anderem im Aufnahmeland, abgespielt und oft werden beide als Zuhause angesehen. Die Selbstaussagen der Migranten und ihrer Nachkommen thematisieren ihre Sicherheitswünsche und Rückkehrpläne, Familienstrukturen, Formen der lokalen Eingliederung und Zugehörigkeitsgefühle. Die Studie bietet einen neuen Blick auf die kroatische Migration nach Deutschland und eröffnet neue Perspektiven auf die Frage nach Integration von Zuwanderern allgemein.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • 1. Umstände und Kontext der Arbeitsmigration nach Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
  • 1.1 Das deutsche Wirtschaftswunder und die Tücken der Gastarbeiter-Anwerbepolitik: Gäste werden Zuwanderer
  • 1.1.1 Die Anwerbung von Gastarbeitern aus Jugoslawien
  • 1.1.2 „Zeitweiligkeit“ und Rückkehr
  • 1.1.3 Abkommen: Transnationale soziale Sicherheit
  • 1.2 Migranten in einem „Nicht-Migrationsland“: Migrationspolitik
  • 1.3 Andere Typen von Einwanderern in die Bundesrepublik Deutschland
  • 1.4 Der Weg zur Integrationspolitik
  • 1.5 Neue Terminologie: „Menschen mit Migrationshintergrund“
  • 1.6 Arbeitskraftanwerbung und Ambivalenz der deutschen Immigrationspolitik
  • 2. Wissenschaftlicher Kontext: Wechselnde Forschungsparadigmen
  • 2.1 Integrations- und Assimilationsparadigmen
  • 2.2 Studien über die Integration von kroatischen Migranten in Deutschland
  • 2.3 Methodologischer Nationalismus und das Paradigma der kulturellen Differenz
  • 2.4 Das transnationale wissenschaftliche Paradigma
  • 2.5 Migrantenintegration aus dem transnationalen Blickwinkel
  • 2.6 Ein neuer Blick auf kroatische Wirtschaftsmigranten in Deutschland
  • 3. Über die Interviewten und das Forschungsprojekt
  • 3.1 Die Geschichte des Forschungsvorhabens
  • 3.2 Die Interviewten: Migranten, Generationen und ihre Merkmale
  • 3.3 Interviewgruppe 1: Migranten
  • 3.4 Interviewgruppe 2: Transnationale Generationen
  • 3.5 Über die Untersuchung und den Schreibprozess
  • 4. Der zeitweilige Charakter der Migration: Von den Rückkehrplänen bis zur Transmigration
  • 4.1 Rückkehrstatistik
  • 4.2 Jasna und Stjepan: Lebenslange Bilokalität – „hier und dort“
  • 4.3 Draga und Lucija: Doppelte Rückkehr mit transmigrantischen Zwischenphasen
  • 4.4 Transnationale Perspektive und Irrelevanz des Begriffs „Rückkehr“
  • 5. Bilokalität und zwei Zuhause: Kroatische und deutsche Lebensorte als Zuhause
  • 5.1 Migranteninvestitionen in der Heimat: Geld und Gefühle
  • 5.1.1 Luka: Strategische Investitionen in drei Ländern
  • 5.1.2 Nicht abgeschlossene und aufgegebene Investitionen in der Heimat
  • 5.1.3 Investitionen aus der Geschlechterperspektive: Ehefrauen und Ehemänner über das Haus in der Heimat
  • 5.2 Bilokalität und die Schaffung eines Heimatgefühls in der Migration
  • 5.3 Logik der Investitionen, Veränderung und mehrere Zuhause
  • 6. Transnationale Familien: über Staatsgrenzen hinweg
  • 6.1 Statistiken und Modalitäten der transnationalen Familie
  • 6.2 Marija: Eine „getrennte Familie“ mit einem „normalen Leben“
  • 6.3 Luka und Zora: Familienzusammenführung nach zwanzig Jahren getrennten Lebens
  • 6.4 Katarina und Martin: eine Entscheidung in der Jugend und getrenntes Familienleben
  • 6.5 Verschiedene Gesichter des transnationalen Elternschicksals
  • 6.6 Die Kinder über das transnationale Familienleben
  • 6.7 Die Kinder nach der Familienzusammenführung in Deutschland
  • 6.8 Transnationale Familien: Ambivalenz, Ideologie und Realität
  • 7. Transnationale Generationen „auf zwei Stühlen“ und Transkulturation
  • 7.1 Über Kultur und kulturelle (Dis-)Kontinuität
  • 7.2 Kulturrepertoires als nationale Merkmale
  • 7.3 Trennung und Zusammenfügung der Kulturen, Vervielfältigung der Kulturgrenzen und -identitäten
  • 7.4 Von der Krise bis zur Akzeptanz
  • 7.5 Kulturelle Heterogenität innerhalb der nationalen Kulturen
  • 7.6 Kontraste: national, bäuerlich – städtisch; traditionell – modern
  • 8. Transnationale Generationen und Identifikationsprozesse
  • 8.1 „Kroatien im Herzen“ junger Leute
  • 8.1.1 Ante: „Kroate unter Kroaten in Deutschland“
  • 8.1.2 Jozo: Doppelt ausgeschlossen und unmögliche Festlegung
  • 8.1.3 Tonka: Doppelt ausgeschlossen mit postnationaler Identität
  • 8.1.4 Ana: Transnationale Identifikation – eine „deutsche Kroatin“
  • 8.2 Lokale Identifikationen in Deutschland
  • 8.3 Heterogene Äußerungen über die Zugehörigkeit
  • 9. Auf dem Weg zu einem neuen Konzept der kroatischen Arbeitsmigration nach Deutschland
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Einleitung

Hätte man 1961 einen Jugoslawen in der siebten jugoslawischen Teilrepublik getroffen – oder, weniger metaphorisch, am Hauptbahnhof in München oder Wien –, wäre er oder sie höchstwahrscheinlich ein Kroate oder eine Kroatin aus Kroatien.

William Zimmerman (1987: 86)

Ende der 1970er-Jahre lebten etwa zwanzig Millionen Menschen in den sechs Republiken des damaligen Jugoslawien – und etwa 1,3 Millionen außer Landes. Diese Zahl war weit höher als die Einwohnerzahl einiger jugoslawischer Republiken zu dieser Zeit. So wundert nicht, dass William Zimmerman (1987) von der „siebten Republik“ spricht. Der Großteil dieses extraterritorialen „jugoslawischen Archipels“ befand sich in Europa (etwa 80 Prozent), und hier stand das damalige Westdeutschland an der Spitze. Anfang der 1970er-Jahre waren 55 Prozent aller jugoslawischer Migranten in Deutschland und etwa 11 Prozent in Österreich beschäftigt (Baučić 1973: 35f). Von den 1960ern bis zum Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren war die Emigration aus diesem Land für West- und Nordeuropa eine der wichtigsten Quellen für Arbeitskräfte (Kupiszewski 2009).

Die ethnische und nationale Struktur der „siebten Republik“ war in den 1960er-Jahren größtenteils kroatisch. Den Großteil des Migrationskontingents machten Kroaten aus den Ländern Kroatien und Bosnien und Herzegowina aus (Mesić 1991: 23); dieser Anteil spiegelte nicht die Verteilung der Nationalitätenanteile auf dem jugoslawischen Territorium wider. Laut Einwohnerzählung von 1971 waren 39 Prozent jugoslawischer Migranten im Ausland Kroaten; der Anteil der Kroaten in der gesamten Einwohnerzahl Jugoslawiens betrug aber nur 22 Prozent (Baučić 1973: 82f). Die Gastarbeiter aus Kroatien und Bosnien und Herzegowina wanderten meistens nach Deutschland aus: In der Gesamtzahl der Migranten aus Jugoslawien dort waren sie mit 62 Prozent vertreten (ebd.: 36f, 86).

Bis in die 1960er-Jahre stammten die meisten nach Deutschland ausgewanderten Migranten aus Kroatien, im Laufe der 1960er-Jahre änderte sich die Situation, sodass Ende der 1960er-Jahre die Mehrheit aus Bosnien und Herzegowina stammte, von denen die meisten allerdings ebenfalls Kroaten waren (ebd.). Mit einer immer stärkeren Migration aus Serbien verminderte sich der ←10 | 11→Anteil der kroatischen Migranten im Gesamtkontingent der jugoslawischen Arbeitskräfte im Ausland und pendelte sich zwischen 20 und 30 Prozent ein.

Kroatische und andere Arbeitsmigranten der 1960er- und 1970er-Jahre wurden auch auf Kroatisch umgangssprachlich nach dem deutschen Wort Gastarbeiter gastarbajteri genannt. Semantisch spiegelte diese Bezeichnung die Absicht der damaligen Bundesrepublik Deutschland wider, die in diesem Moment unentbehrlichen ausländischen Arbeitskräfte nur auf eine befristete Zeit während der Hochkonjunktur als Gäste zu empfangen. Die ausländischen Arbeiter kamen aus verschiedenen europäischen Ländern, so auch aus Jugoslawien, auf der Suche nach besserem Verdienst und wirtschaftlichem Wohlstand, und deshalb können sie als Wirtschaftsmigranten bezeichnet werden. Ein großer Teil von ihnen ist nie in ihr Heimatland zurückgekehrt, viele haben in Deutschland eine Familie gegründet oder haben ihre Familie nachkommen lassen. Im Zentrum des vorliegenden Buches steht nicht die ganze „siebte jugoslawische Republik“, sondern nur das extraterritoriale Kroatien, besiedelt von Kroaten aus Kroatien und aus Bosnien und Herzegowina.

Der Anteil der Kroaten an der ausländischen Bevölkerung in Deutschland ist relativ hoch; umso mehr überraschen die bisher geringe Anzahl an wissenschaftlichen Studien und Fachtexten über diese Bevölkerungsgruppe sowie das Fehlen einer umfassenden Monografie über sie in der kroatischen Fachliteratur. Die vorhandenen Studien stammen aus der Zeit der Wirtschaftsmigration in den 1960er- und 1970er-Jahren. Das Phänomen der kroatischen Migration nach Deutschland wurde als Teil der jugoslawischen Migrationsbewegungen untersucht. Dazu wurden quantitative Daten und statistische Quellen herangezogen. Das damalige Zagreber Zentrum für Migrationsforschung war der Mittelpunkt aller wissenschaftlichen Untersuchungen über kroatische Migrationen und die damals entstandenen Studien stellen eine bis heute aktuelle Referenzliteratur dar (s. Baučić 1970, 1973; Katunarić 1978; Nejašmić 1981; Mežnarić 1985). Auch in den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde über die kroatische/jugoslawische Bevölkerung in Deutschland geforscht und geschrieben, analysiert wurden das Phänomen der Rückkehrer sowie ihre Reintegration (Baučić und Groß 1987; Mesić 1991), Frauen als Migrantinnen und Migrantenkinder (Morokvašić 1987; Sklevicky 1988; Švob und Brčić 1985; Oklobdžija 1990).

In den 1990er-Jahren flaut das Interesse an kroatischen Wirtschaftsmigranten in Deutschland ab. Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund der damaligen politischen Verhältnisse, des Krieges für die Unabhängigkeit Kroatiens und der Entstehung neuer Migrantentypen – internationaler Flüchtlinge und intern um-gesiedelter ←11 | 12→Personen – sowie anderer gesellschaftlich schwieriger Umstände in der Gründungsphase des kroatischen Staates auch verständlich. Von der Interessenverschiebung zeugt deutlich die zentrale kroatische Migrationszeitschrift Migracijske i etničke teme (Migrationsthemen und ethnische Themen), die sich den damals aktuellen Migrationsthemen zuwendete. Das Thema wurde zeitweilig auch in den Studien über die kroatische Diaspora aufgegriffen, die sich allerdings überwiegend mit der kroatischen Emigration in den außereuropäischen Ländern befasst (Šakić et al. 2003; Čizmić et al. 2005). In den letzten fünfzehn Jahren wurde das Interesse an dem Thema vom ethnologisch-kulturellen sowie anthropologischen, seltener aber vom historiografischen und soziologischen Standpunkt wiederbelebt (u. a. Čapo Žmegač 2003, 2004, 2005a, 2005b, 2006, 2008, 2009; Čapo 2012a, 2012b, 2013, 2019; Čapo et al. 2014; Peračković 2006; Božić 2012; Jurčević 2016). Obwohl ein eindrucksvolles Essay von Nenad Popović über die gesellschaftlich und sprachlich unsichtbare Gastarbeiterpopulation in Kroatien veröffentlicht wurde (Popović 2008), gibt es in der kroatischen Geschichtsschreibung, Ethnologie oder Kulturanthropologie keine synthetisierenden historiografischen oder ethnologischen Studien in der Art, wie sie in Serbien entstanden sind (Ivanović 2012; Antonijević 2013). Das Interesse an der besagten Population schwindet auch angesichts des Interesses an der neuen Auswanderungswelle aus Kroatien und Bosnien und Herzegowina, ebenfalls nach Deutschland, die nach dem Beitritt Kroatiens in die Europäische Union eingesetzt hat (Jurić 2018).

Das Interesse am Thema Arbeitsmigration ist in Deutschland und Österreich von höherem Interesse als in Kroatien. Dieses Interesse folgt den Veränderungen in der Migrationspolitik des jeweiligen Landes und problematisiert die in diesem Zusammenhang ausgelösten gesellschaftlichen Fragen (Zeitweiligkeit und Rückkehr, Integration, Multikulturalität, Aufarbeitung der nationalen Geschichte). Neuere Arbeiten auf diesem Gebiet umfassen unter anderem die Wirtschaftsmigration von Frauen (Mattes 2005), Aufarbeitung der Geschichtsschreibung und Neubewertung bisheriger Untersuchungen (Oltmer et al. 2012), Interpretationen vor dem Hintergrund der Verflechtung von Politik, Medienbilder und Neugestaltung der deutschen Gesellschaft sowie die Schaffung einer neuen deutschen Identität in der Nachkriegszeit (Chin 2007).

In den letzten fünfzehn Jahren kam es außerdem zu einer gewissen Neubelebung dieses Themas im Rahmen der Aktivität von Nichtregierungsorganisationen und ihrer Aktivisten, unter denen sich eine beträchtliche Zahl von Migrantennachkommen befindet. So wurde zum Beispiel 2004 im Wiener Stadtmuseum in der Zusammenarbeit mit dem Verein Initiative Minderheiten die Aus-stellung ←12 | 13→„Gastarbeiter: 40 Jahre Arbeitsmigration“ (Gürses et al. 2004) organisiert. Als eine der ersten Ausstellungen zum Thema Wirtschaftsmigration fand sie großen Anklang und zehn Jahre später versammelten sich die Aktivisten erneut und veröffentlichten eine ausstellungsbegleitende Publikation (Bakondy et al. 2010).

In der Migrantenforschung nehmen die türkischen Wirtschaftsmigranten in Deutschland eine herausragende Position ein (s. u. a. Kolinsky 1996; Mandel 1989; Mandel und Wilpert 1994; Schiffauer 1991; Wolbert 1995), während kroatische Wirtschaftsmigranten, egal ob gesondert oder als Teil des jugoslawischen Kontingents, bis vor Kurzem unerforscht blieben. Etwas mehr Beachtung fanden italienische, spanische und portugiesische Migranten (s. u. a. Klimt 1989, 2000; Dunkel und Stramaglia-Faggion 2000; Fremde Heimat 2002; Martini 2001; Tü amo 2009) – im öffentlichen Diskurs blieben sie allerdings auch unberücksichtigt, während die ganze Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit den türkische Migranten galt. Wichtige Anhaltspunkte für das Verständnis der Leerstellen in der Erforschung von Wirtschaftsmigranten aus einzelnen nationalen Gruppen liefern die Überlegungen von Rita Chin (2007). Mitte der 1970er-Jahre wurden einige Herkunftsländer der Arbeitsmigranten Teil der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), sodass Migranten aus diesen Ländern nicht mehr als Arbeitsmigranten erfasst wurden. Außerhalb der EWG blieben nur Jugoslawien und die Türkei. Parallel dazu wurde der Akzent im öffentlichen Diskurs und in der Politik immer mehr auf die Migrantenintegration gelegt, sodass mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine gewisse Form der falschen Erinnerung (misremembering) an die frühe Geschichte der Arbeitsmigrationen (Chin 2007: 11) einsetzte. Dabei wurde der anfängliche multinationale Charakter der Wirtschaftsmigrationen vergessen; in den Mittelpunkt der politischen Debatte und der öffentlichen Diskussionen über Migranten in Deutschland rückten nun die muslimischen Türken (ebd.).

Dass Migranten aus Kroatien und generell aus Jugoslawien nicht im Zentrum des öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses standen, kann in der öffentlichen Wahrnehmung begründet sein, dass es sich bei den Kroaten um sehr gute Arbeiter mit verhältnismäßig höherer Qualifikation im Vergleich zu anderen Migranten handelte und dass es eine Bevölkerungsgruppe war, die sich leicht und gut in die deutsche Gesellschaft eingliedern konnte (s. Novinšćak 2009; Molnar 2014b; Jurčević 2016; Jurić 2018). Bereits seit den 1960er-Jahren trifft man gelegentlich auf solche Einschätzungen, wenn von jugoslawischen, überwiegend aber kroatischen Migranten und ihre Familien die Rede ist. Zu der Zeit, als diese Wahrnehmung entstand, machten kroatische Migranten den Großteil ←13 | 14→der jugoslawischen Gastarbeiter in Deutschland aus. Außerdem ist es möglich, dass die damalige Öffnung der westdeutschen Politik dem Ostblock gegenüber (Schonick 2009; Molnar 2014a) zur „Unsichtbarkeit“ der kroatischen und generell der jugoslawischen Gastarbeiter in der deutschen Gesellschaft und in der Wissenschaft beitrug. Die Tatsache, dass in den deutschen Statistiken bis vor etwa fünfzehn Jahren jugoslawische Migranten nicht nach Nationalität aufgegliedert wurden, trug im technischen Sinne dazu bei, dass die kroatische Gastarbeiterpopulation innerhalb der jugoslawischen Migration nicht gesondert erforscht wurde, wodurch auch fehlende Studien über kroatische Migranten zu erklären sind.

Dies hat sich allerdings in den letzten zehn Jahren sowohl in Deutschland als auch darüber hinaus entscheidend verändert. Es wurden etliche Dissertationen geschrieben und wissenschaftliche Arbeiten zum Thema wirtschaftliche Migration aus Jugoslawien und kroatische Auswandererpopulation in Deutschland veröffentlicht (u. a. Goeke 2006a, 2006b, 2007; Jurčević 2016; Shonick 2009; Tokić 2009, 2012; Molnar 2014a, 2014b, Novinšćak 2009, 2011, 2012; Novinšćak Kölker 2018; Thaden 2016; Ragazzi 2009; Daniel 2007; Le Normand 2017). Eine Reihe von Studien über religiöse Migrantenorganisationen wurde durchgeführt, hier insbesondere die Kroatische Katholische Mission, in deren Rahmen die Ausländerseelsorge für jugoslawische Migranten mit römischkatholischem Glaubensbekenntnis organisiert wurde (Winterhagen 2013; Thränhardt und Winterhagen 2012; Thaden 2014). An dieser Stelle seien auch geschichtswissenschaftliche Studien über einige Aspekte der Migration aus der „jugoslawischen Region“ im Laufe des 20. Jahrhunderts genannt (Brunnbauer 2009; Novinšćak 2009) sowie die Analyse der jugoslawischen Zeitungstexte über die Migrantenpopulation in den 1960er- und 1970er-Jahren (Goodlett 2007). Die oben angeführten kroatischen ethnologischen und anthropologischen Studien fügen sich in diesen Trend ein.

Die Ursachen für dieses wachsende Forschungsinteresse, insbesondere auf dem Gebiet der Erforschung der kroatischen Wirtschaftsmigranten in Deutschland in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, sind in der „Herauslösung“ der kroatischen Themen aus dem jugoslawischen Kontext zu suchen, und zwar im politischen, statistischen und wissenschaftlichen Sinne. Die kroatische Forschung verschob ihr Interesse eindeutig von jugoslawischen auf kroatische Themen (Heršak 1993; Nejašmić 1994, 1996). Darüber hinaus sorgten die Infragestellung der theoretischen Paradigmen, insbesondere der klassischen Spannung zwischen dem Integrationsansatz und den transnationalen Ansätzen, sowie die Diversifizierung der Migrationsuntersuchungen – thematisch, methodisch und ←14 | 15→disziplinbezogen (Nieswand 2016) – für neues Interesse an den Schicksalen kroatischer und anderer Arbeitsmigranten und ihrer Nachkommen in Deutschland. Ihren Beitrag dazu leisteten schließlich auch die neuen „Gast-Arbeiter“ (Castles 2006; Lončar 2013; Jurić 2018), das bereits genannte Interesse der Aktivisten sowie die Aufarbeitung der deutschen nationalen Vergangenheit vor dem Hintergrund der Migrationsbewegungen (Beier-de Haan 2006).

Die vorliegende Studie ist ein Beitrag zum erneuerten Interesse für kroatische Arbeitsmigrationen nach Deutschland. Erörtert werden Umstände sowie Folgen der Migration zu einem spezifischen geschichtlichen Zeitpunkt, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Blick richtet sich auf zwei Seiten, nämlich die Bundesrepublik Deutschland vor und nach der Wiedervereinigung einerseits und Jugoslawien sowie zwei seiner Nachfolgestaaten, Kroatien und Bosnien und Herzegowina, andererseits. Erörtert werden politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Umstände mit besonderer Berücksichtigung der Wirtschaftskonjunktur und staatlicher Beschäftigungsprogramme in Deutschland sowie Schwierigkeiten in der jugoslawischen staatlich gelenkten Wirtschaft. Die Studie lehnt sich an anthropologische Migrationstheorien sowie ethnografische Methoden an und legt Diskussionen über kroatische Migranten und ihre Nachkommen, die sogenannte zweite oder transnationale Generation, dar. In der Studie wird die kroatische Wirtschaftsmigration mit ihren Folgen im integrierten Migrationskontext (national, transnational, global) und innerhalb des komplexen Migrationsdispositivs (Nieswand und Drotbohm 2014) analysiert, das aus Staatspolitik und dem Diskurs über Migranten besteht. In Betracht gezogen werden des Weiteren Institutionen und nationale Diskurse, die Identitätspolitik des Gast- und des Herkunftslandes sowie die Formen der Kenntnisse über die Migration, die innerhalb des national begrenzten gesellschaftlichen Rahmens entstanden sind (Kapitel 1 und 2). Kapitel 3 stellt das Forschungsvorhaben und die Gruppen der interviewten Migranten vor. In den Gesprächen wurden Themen behandelt wie Rückkehrplanung und Pendeln zwischen Deutschland und dem Herkunftsland (Kapitel 4), Investitionen in der Heimat (Kapitel 5), transnationale (grenzübergreifende) Familien und ihre ständig wechselnden Konstellationen (Kapitel 6), Diskurse über die Kultur der Migrantennachkommen (Kapitel 7), Integration der Migrantengenerationen und der transnationalen Generationen in die deutschen Städte, in denen sie leben, sowie in die deutsche Gesellschaft allgemein (Kapitel 6, 7 und 8) sowie Identitätskonstruktion bei den Migrantennachkommen (Kapitel 8).

Unter Berücksichtigung der kroatischen Wirtschaftsmigration nach Deutschland in den 1960er- und 1970er-Jahren und unter Heranziehung autobiografi-scher ←15 | 16→Zeugnisse von Migranten und ihren Nachkommen wird in diesem Buch der Versuch unternommen, die Migration selbst neu zu konzeptualisieren und ihre Auswirkungen auf das Leben der Migranten sowie ihrer Nachkommen in einem transnationalen sozialen, jenseits des Herkunfts- und Gastlandes geschaffenen Raumes darzustellen. Es wird die Anstrengung gemacht, die herkömmlichen Thesen über diese Migration und die Art ihrer Darstellung zu hinterfragen. Kritisch beleuchtet wird die deutsche These über die mangelnde emotionale Identifikation der kroatischen Migranten mit der Kultur des Aufnahmelandes. Außerdem wird die jugoslawische These unter die Lupe genommen, nach der die Migranten ausgebeutete und rechtlose Arbeiter in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem waren, die eines Tages in die Heimat zurückkehren würden. Der erste Standpunkt hängt mit der ausschließlichen deutschen (ethnonationalen) Idee über die Zugehörigkeit und den nationalen methodologischen Standpunkt zusammen, von dem aus Migrationen betrachtet werden; der zweite Standpunkt ist mit der sozialistischen Ideologie über die Arbeiterklasse verbunden. Außerdem kamen in Jugoslawien eine ganze Reihe anderer Stereotype über das Gastarbeiterleben auf. Sie wurden im kroatischen Kontext in den naturalistischen Zeichnungen von Dragutin Trumbetaš illustriert (Maroević 2001) und hinterfragt:

alleinstehende, arbeitende Männer

nicht funktionale Familien, deren Mitglieder in zwei Staaten leben

irrationale, megalomanische Investitionen in der Heimat

Sehnsucht nach der „ständig sich entziehenden Rückkehr“ (Popović 2008)

ein Leben in einem Zwischenstadium, in dem man ständig eine bessere Zukunft erwartet, die aber nie eintritt

Details

Seiten
312
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631878040
ISBN (ePUB)
9783631878057
ISBN (MOBI)
9783631878064
ISBN (Paperback)
9783631874622
DOI
10.3726/b19746
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Mai)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 312 S.

Biographische Angaben

Jasna Čapo (Autor:in)

Jasna Čapo studierte Europäische Ethnologie und Französiche Sprache und Literatur an der Universität in Zagreb. Sie promovierte an der University of California in Berkeley. Seit 1986 ist sie am Institut für Ethnologie und Folkloristik in Zagreb tätig. 2006 wurde sie zur ordentlichen Professorin an die Zagreber Universität berufen.

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