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Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive

Akten des XIV. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) (Bd. 8) - Jahrbuch für Internationale Germanistik - Beihefte

von Laura Auteri (Band-Herausgeber:in) Natascia Barrale (Band-Herausgeber:in) Arianna Di Bella (Band-Herausgeber:in) Sabine Hoffmann (Band-Herausgeber:in)
Konferenzband 728 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Der sich seit Jahren durchgesetzte Begriff des Literaturtransfers wird hier aus verschiedenen Perspektiven besprochen. Es geht um die Möglichkeit der Erschließung von Texten, um die Rezeption seitens des Publikums, um das Editionswesen und nicht zuletzt um die Kunst des Übersetzens.
Der achte Band enthält Beiträge zu folgenden Themen:
- Der Taugenichts bei, vor und seit Eichendorff in Deutschland und anderswo;
- Edition und Interpretation;
- Übersetzungen literarischer Texte und deren Edition;
- Modelle, Figuren und Praktiken des deutsch-italienischen Literaturtransfers;
- Florenz und die Deutsch-Florentiner. Eine Austauschbühne zwischen Risorgimento und Gründerzeit

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Der Taugenichts bei, vor und seit Eichendorff in Deutschland und anderswo
  • Einführung (Annette Runte (Siegen), Henriett Lindner (Budapest), Alexander Schwarz (Lausanne))
  • Giufà und Eulenspiegel, zwei Müßiggänger. Eine Annäherung (Luisa Rubini Messerli (Zürich))
  • Ein Taugenichts vor Eichendorff: Christian Reuters Schelmuffsky als Taugenichts (Gudrun Bamberger (Tübingen))
  • Der Taugenichts als eine Wendefigur zwischen dem Engelhaften und dem Narrenhaften (Aki Mizumori (Nanzan))
  • Er taugt nicht als er. Elfriede Jelineks Stück über Robert Walser (Karin Wolgast (Kopenhagen))
  • Der Taugenichts bei Hermann B. (Alexander Schwarz (Lausanne))
  • Antal Szerbs Romane Reise im Mondlicht und Pendragon-Legende im Kontext der deutschen Romantik (Henriett Lindner (Budapest))
  • Eulenspiegel und die Eulenspiegelliteratur in Polen (Witold Wojtowicz (Warschau))
  • Die poetologische Funktion des Tricksters in Daniel Kehlmanns Roman Tyll (2017) (Moritz Strohschneider (Tübingen))
  • Der Taugenichts im transkulturellen pikaresken Erzählen (Klaus Schenk (Dortmund))
  • An den Rändern der Differenz. Figuren „weiblicher“ Travestie bei Bettine von Arnim und Joseph von Eichendorff (Annette Runte (Siegen))
  • Edition und Interpretation
  • Einleitung (Anke Bosse (Klagenfurt), Wolfgang Lukas (Wuppertal), Michael Stolz (Bern))
  • I. Editorische (De)Konstruktion des Autors
  • Editorik und Poststrukturalismus. Hinweise auf eine wissenschaftsgeschichtliche Koinzidenz in der Neugermanistik (Rüdiger Nutt-Kofoth (Wuppertal))
  • Theo Lutz auf Zuse Z 22: Stochastische Texte (1959). Präliminarien einer Edition (Toni Bernhart (Stuttgart))
  • Warum sollte man Textausgaben edieren und interpretieren? Henriette Herzʼ Lebenserinnerungen als kulturgeschichtliches Faktum und Editionsproblem (Mike Rottmann (Halle))
  • II. Textgenetische Deutungen
  • Zum Verhältnis von Textgenese und Textdeutung, am Beispiel von Ernst Tollers Autobiographie Eine Jugend in Deutschland (Peter Langemeyer (Halden))
  • Rose Ausländers unveröffentlichte Gedichte: Herausforderungen und Möglichkeiten einer Lyrik-Edition (Annkathrin Sonder (Wuppertal))
  • III. Zur Deutung der nonverbalen Materialität/Medialität
  • Am Rande. Von epistolographischen Normen und editorisch verursachtem Informationsverlust am Beispiel eines Briefes von Ludwig Börne (Sophia Victoria Krebs (Wuppertal/Leipzig))
  • Wie ediert man die Athenäums-Fragmente? Eine Fallstudie zur graphischen Dimension der Edition und Interpretation (Takuto Nito (Fukuoka))
  • Zeilenabstände als Gegenstand des Edierens? Zu Ilse Aichingers Aufzeichnungen (Andreas Dittrich (Wuppertal))
  • Druckszenen und ihre Interpretation. Am Beispiel von Robert Musils Hasenkatastrophe (Franziska Mader (Klagenfurt))
  • IV. Kommentar und Deutung
  • Der literarische Text als interkontextuelle Schnittfläche. Zum Verhältnis von Interpretation und Kommentar in der Online-Edition am Beispiel Musil (Artur R. Boelderl (Klagenfurt))
  • Übersetzungen literarischer Texte und deren Edition
  • Einführung (Winfried Woesler (Osnabrück))
  • Die Magie der Übersetzung: Zur Verwandtschaft zwischen Benjamins Übersetzungstheorie und Tawadas Poetik der Intersprachigkeit (Jian Liu (Nanjing))
  • Herders „Ossian“-Aufsatz (1773) und die Schwierigkeiten literarische Texte zu übersetzen (Winfried Woesler (Osnabrück))
  • „Herüber“ – „hinüber“. Zu Goethe als Übersetzer Diderots (Jutta Linder (Messina))
  • Tanzen mit Nietzsche. Überlegungen zum Stil beim Übersetzen seiner frühen Gedichte (Carmen Gómez García (Madrid))
  • Nietzsches Lyrik und die Frage ihrer Rezeption in einer kritischen Edition in spanischer Übersetzung (Arno Gimber (Madrid))
  • Übersetzungsprobleme vor einem kulturellen Hintergrund: der Briefroman Ella und der Gringo mit den großen Füßen (Ricarda Hirte (Córdoba))
  • Übersetzen als Projektarbeit an der Universität. Doris Dörrie: Die Welt auf dem Teller (Susanne Lippert (Rom))
  • Übersetzung eines experimentellen Romans aus der Muttersprache in die Zweitsprache am Beispiel von Elfriede Gerstls Roman Spielräume (Dagmar Winkler Pegoraro (Padua) )
  • Das Bemühen einer „exakten Nachbildung“ des originalen Satzbaus: Burkhart Kroebers deutsche Neuübersetzung von Alessandro Manzonis I Promessi Sposi (Lucia Salvato (Mailand))
  • Übersetzen im Dienste der Nationsbildung. Giuseppe Mazzinis Biblioteca Drammatica (Kathrin Engelskircher (Mainz))
  • Editorische Eingriffe in literarischen Übersetzungen. Eine Betrachtung aus translationswissenschaftlicher Perspektive am Beispiel von Übersetzungen ins Türkische (Zehra Gülmüș (Eskişehir))
  • Friedrich Eberhard Boysens Koranübersetzungen vor dem Hintergrund der Übersetzungstraditionen des 18. Jahrhunderts (Sally Gomaa (Kairo))
  • Das Panchatantram im Zeitalter des Kolonialismus (Priyada Padhye (Neu Delhi))
  • Beibehaltung der Unterschiede und Kreativität: Chinesische Gegenwartsliteratur in deutscher Umschreibung (Lina Li (Nanjing))
  • Sexualität in Günter Grass’ Danziger Trilogie: Wandel vom Original zur chinesischen Übersetzung (Yanhui Wang (Beijing))
  • Neue und alte Übersetzungen von Haruki Murakamis Südlich der Grenze, westlich der Sonne (Makoto Yokomichi (Kyoto))
  • Die Lokalisierung geistiger Weltvorstellungen in der Übersetzung literarischer Werke – Verwendung von biblischer Sprache in der deutschsprachigen Übersetzung des Romans Der Seemann, der die See verriet von Yukio Mishima – (Ikumi Waragai (Tokio))
  • Modelle, Figuren und Praktiken des deutsch-italienischen Literaturtransfers
  • Vorwort (Alexander Nebrig (Düsseldorf), Francesco Rossi (Pisa), Michele Sisto (Chieti-Pescara))
  • Giacomo Zignos italienische Übersetzung des Messias von F.G. Klopstock (Daniela Nelva (Turin))
  • Gessners Idyllen in der Rezeption von Aurelio de’ Giorgi Bertola (Maurizio Pirro (Mailand))
  • Johann Diederich Gries’ Übersetzungen im Kontext des italienisch-deutschen Kulturtransfers der Romantik (Daniele Vecchiato (Padua))
  • Zur Übersetzungspolitik der frühen italienischen Romantik. Translationshistorische Überlegungen in deutsch-italienischer Perspektive (Andreas Gipper (Mainz), Lavinia Heller (Mainz), Robert Lukenda (Mainz))
  • Für eine histoire croisée der Charakteristik. Die germanistischen Arbeiten aus der Schule Arturo Farinellis (Francesco Rossi (Pisa))
  • „Expressionistischer Futurismus“ Italienische Futuristen in expressionistischen Übersetzungen (Mario Zanucchi (Freiburg))
  • La selva orfica. Leone Traverso und die Hermetisierung der deutschen Lyrik (Flavia Di Battista (Rom))
  • Hans Grimms Volk ohne Raum: Geschichte einer unveröffentlichten Übersetzung (Natascia Barrale (Palermo))
  • Unsichtbare Übersetzerinnen aus dem Deutschen in der italienischen Verlagsszene: der Fall Cristina Baseggio (1897–1966) (Anna Antonello (Chieti/ Pescara))
  • „Einer der Vertreter der marxistischen Kunst“. Io Bertolt Brecht, der erste ins Italienische übersetzte Gedichtband von Brecht (Salvatore Spampinato (Turin))
  • Der deutsche Pasolini: Ein Sonderfall (Luca Zenobi (L’Aquila))
  • Jenseits der Germanistik. Vermittlungen des deutschen Gegenwartsromans in Italien in den 2000ern (Barbara Julieta Bellini (Dresden))
  • Florenz und die Deutsch-Florentiner. Eine Austauschbühne zwischen Risorgimento und Gründerzeit
  • Vorwort (Michael Ewert (München), Rotraut Fischer (Darmstadt), Elena Giovannini (Vercelli))
  • „Fürchten Sie sich nicht vor der gerechten Freiheit und der Bildung der Frauen“: Ludmilla Assings Frauenbild(er) (Elena Giovannini (Vercelli))
  • „O, mein schönes Exil!“ Florenz in den Reisebriefen von Ludmilla Assing an Emma Herwegh aus den Jahren 1861/1862 (Angelika Schneider (Bratislava))
  • Den Deutschen einen Blick in das innere Wesen der italienischen Gegenwart zu vermitteln – Karl Hillebrand und die Zeitschrift „Italia“ (1.1874–4.1877) (Anna Nissen (Bologna))
  • „Kann Österreich Italien aufgeben?“ Die Nationswerdung Italiens aus österreichischer Sicht (Irene Schrattenecker (Salzburg))
  • Italienische Ideale und Referenzen bei Paul Heyse und Hermann Kurz. Kontrastive Perspektiven auf zwei „Novellenschätze“ und den Briefwechsel der Herausgeber (Katharina Herget (Darmstadt))
  • „(…) als revoltierende Burschen Steine in die Loggia di Lanzi warfen.“ – Deutsch-Florentiner zwischen Weltflucht und sozialer Wirklichkeit (Udo Weinrich (Kleve))
  • Apotheose des Frühlings. Rilkes Florenzer Tagebuch (Michael Ewert (München))
  • Die „größten Söhne“ der Stadt Florenz – Otto Hartwigs biographische Essays und die Biographik der Deutsch-Florentiner (Rotraut Fischer (Darmstadt))
  • Reihenübersicht

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Einführung

‚Ausnahmezustände sind interessanter als Normalzustände‘
(Niels Werber)

In unserer Epoche digitalisierter Globalisierung hat sich Andreas Reckwitz zufolge eine Kultur der „Singularisierung“ (Reckwitz 2017: 64 ff.) durchgesetzt, die den Zweckrationalismus bürgerlicher Traditionen zugunsten eines neuen „Kreativitätsdispositivs“ (Reckwitz 2010: 501 ff.) verdrängt, das mit der postmodernen Ästhetisierung der Alltagswelt einhergeht. An der Vervielfältigung multikultureller oder hybrider Lebensstile lässt sich nicht nur die mediale Umgestaltung herkömmlicher Lebens- und Kommunikationsformen beobachten, sondern auch ein politisches revival aufklärerischer Toleranzansprüche, wie sie etwa im Falle sexuell-geschlechtlicher Diversität bereits juristischen Erfolg verbuchten, etwa mit der Einrichtung einer dritten Geschlechtskategorie im deutschen Personenstandsrecht. In der aktuellen Konjunktur der Identitätssuche befremdet, dass sich „Diverse“ wie „Identitäre“ unter der gleichen Binärlogik der Identität als Negation von Alterität versammeln, aber es verwundert kaum. Denn im hegemonialen Interdiskurs der social media wuchert ein „Narzissmus der kleinen Differenzen“ (Sigmund Freud), der sich als das „Andere des Selben“ imaginiert. Wenn Transgressionen symptomatisch für soziale Krisen sein sollten, fragt es sich angesichts des laufenden Szenarios andauernder Katastrophen, inwieweit Entgrenzungen noch „De-/ Normalisierungs“-Prozesse (vgl. Link 2018) anzeigen. Eine Alternative zur soziologischen Denkfigur eines „Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft“ böten system- oder diskurstheoretische Analysen, etwa zur Dynamik subkultureller Dissidenzen. „Die Außenseiter sind tot, es leben die Insider“? In diesem Sinne erscheint mir die Frage nach der Genealogie und Repräsentation von „Außenseitertum in der Literatur“, die sich unsere Sektion zum Thema gewählt hat, unter transkulturellen wie kulturhistorischen Aspekten hoch relevant.

Doch warum sollte man die Problematik des Außenseitertums an alteuropäischen Figuren wie dem legendären Eulenspiegel oder Eichendorffs berühmtem Taugenichts aufhängen, der – Thomas Mann zufolge – „in geschlechtlichen Dingen […] unschuldig bis zur Tölpelhaftigkeit“ (Zit. in Ellrich: 2020: 296) sei? Wie ein kürzlich erschienener Sammelband von Claudia Liebrand und Thomas Wortmann verdeutlicht, ist der „verstaubte“ Spätromantiker zu Recht wieder ins Zentrum germanistischen Interesses ←13 | 14→gerückt. Täten sich „unter dem Firnis des Harmonisch-Idyllischen Abgründe auf“ (Liebrand / Wortmann 2020: 3). so ließen sich auf formaler Ebene bei ihm „verwickelte Texturen“ und „Signaturen des Uneindeutigen“ (ebd.: 6) entdecken, deren Antizipation modernistischer Verfahren von einer „pessimistischen Anthropologie“ (Scherer 2020: 34) begleitet wird. Dem widerspricht die Lesart des Vagabunden (Pikulik 2009: 49) als „Aussteiger“-Type keineswegs, zumal das ironisch-satirische Moment (Korte 2000: 96 f.) die Möglichkeit eines „alternativen Lebenswandel[s]‌“ (Schultz 2001: 124 f.) bereits auf narrativer Ebene offenhält. Eichendorffs Novelle ist jedenfalls als Prätext bis heute aktiv, doch auch vor der Romantik und danach gab es in zahlreichen Sprachen und Literaturen derartige Figuren. Der umgangssprachlich geläufige Terminus des „Außenseiters“, der dem modernen Sportjargon entstammt, soll hier als Sammelbegriff für einen ausschnitthaften Blick auf das breite Panorama intertextueller Konfigurationen dieser Topik und Motivik dienen. Hatte Hans Mayer einst in seiner komparatistischen Studie Außenseiter (1975) unter diesem Titel neben Homosexuellen und „Juden“ noch das Geschlecht der Frauen als dritte „Randgruppe“ eingeordnet, obwohl letztere doch etwa die Hälfte der Menschheit ausmachen, begründete er die allen gemeinsame Diskriminierung im Gefolge einer Dialektik der Aufklärung damit, dass die politische Emanzipation an der Diskrepanz zwischen „materialer und formaler Egalität“ (Mayer 1981: 9) gescheitert sei.

Entwickelten soziologische Devianztheorien angelsächsischer Herkunft (Ervin Goffman, usw.) ein konstruktivistisches Modell sozialer Marginalisierung qua Etikettierung schon in den 1960er Jahren, geht Michel Foucaults Genealogie des Anomalen bekanntlich nicht mehr von einem repressionstheoretischen, sondern einem produktivistischen Machtbegriff aus, der auf der Gleichursprünglichkeit von Macht und Widerstand basiert. Im Anschluss an Foucaults Diskurstheorie beruht Jürgen Links Konzeption des „flexiblen Normalismus“ (vgl. Link 1998) auf einem historischen Paradigmenwechsel, der das präskriptive Normativitätsprinzip der vormodernen Disziplinargesellschaft durch die Hegemonie eines modernen Dispositivs der pragmatischen Integration quantifizierbarer Normabweichungen ersetzt. Bei fließenden Grenzen zwischen Normalität und Anomalie lässt sich Singularisierung daher mit Niklas Luhmann als ein wechselseitiges „Konditionierungs- oder Steigerungsverhältnis“ (Luhmann 1989: 151) gesellschaftlicher und individueller Strukturierungen verstehen, dessen historische Evolution sich aus systemtheoretischer Sicht der Umstellung von der Inklusionssemantik stratifizierter Sozietäten auf die Exklusionssemantik der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft verdankt.

Die kulturhistorische Semantik des Außenseitertums, das auch positiv bewertete Ausnahme-Erscheinungen von Exzellenz bzw. Virtuosität umfasst, ←14 | 15→verankert sich in einer grundlegenden Ambivalenz, die die Serie ihrer literarischen Verarbeitungen durchzieht, etwa von der Auffassung des Hofnarren als Doppelgängers und Rivalen des Herrschers (Schillinger 2009: 11) über den zweideutig opportunistischen Picaro der Frühen Neuzeit bis zur fundamentalen Ambiguität transvestitischer Maskerade(n). Als Gegen- und Feindbild des romantischen Künstlers wurde der Philister zu einem Kampfbegriff universalisiert, dessen Aporetik Clemens Brentano in seiner Rede Philister vor, in und nach der Geschichte (1811) ironisch verdeutlichte: Wenn der Philister sich dadurch definiert, dass er sich selbst nicht kennt, dann gerät jeder Anti-Philister in Philisterverdacht, was sich übrigens noch in Eichendorffs Drama Krieg den Philistern! niederschlägt, wo sich die „Parteien“ der „Poetischen“ und der Spießbürger „in nichts“ (Buna et al. 2011: 36) unterscheiden. Die um 1900 in europäischen Metropolen florierenden „Bohème“-Milieus (vgl. Kreuzer 2000) bildeten zwar keine kunstpolitischen Bewegungen, sondern eher „polymorphe soziale Gruppen“, die sich auch in Gestalt dekadenter Dandies oder elitärer Exzentriker als dramatisierte Randfiguren (vgl. Pöppel 2020) exponierten, doch haben modernistische Avantgarden die metaphysischen Dualismen der Lagerbildung längst ad absurdum geführt (z. B. Gertrude Stein, Samuel Beckett).

Dass es gesellige und ungesellige Außenseiter gibt, zeigt die alte Traditionslinie weltflüchtiger Einsamkeit, von antiker Misanthropie (Timon von Athen-Stoff) über christlich-asketische Einsiedelei (Kirchenväter, Mystikerinnen) und moderne Sonderlinge (vgl. Meyer 1963), deren enorme Zunahme in der Prosa des „poetischen Realismus“ (z. B. bei Melville, Flaubert, Keller, Stifter, Raabe, usw.) beeindruckt, bis hin zu dadaistischen Junggesellenmaschinen (vgl. Rissler-Pipka 2011) oder den Nerds der digitalen Netzkultur.

Schrieben sich vergangene „Grenzgänger“ gern noch in eine Dialektik von Eigenem und Fremdem ein, hebt keine hegelsche Synthese sie heute mehr auf. Wenn die kulturelle Funktion des „Tricksters“ darin liegt, sowohl als Störer wie als (Ver-) Mittler zu fungieren und dadurch – Michel Serres (1980) zufolge – aus der Ordnung ausgeschlossen wie in sie eingeschlossen zu sein, wird er zum Prototyp einer Figur des Dritten im Rahmen einer Logik der Liminalität. Auch der sagenhafte Einzelgänger Eulenspiegel, an den hier besonders erinnert werden soll, hält seine Mitmenschen wie ein Trickster zum Narren, übertölpelt sie und dreht ihnen die Worte im Munde herum. Spielt dieser esprit frondeur jedwedem Konformismus Streiche, wenn auch mit Witz und Menschlichkeit, fragt es sich, ob man einen zum „Spaßmacher“ verharmlosten „Schwankhelden“ (Bollenbeck 1985: V) nicht in seiner literarisch-linguistischen Einzigartigkeit begreifen müsste. Die Antwort auf diese Frage möchte ich gern dem Leiter unserer Sektion, Alexander Schwarz (2011, 2013), dem international renommierten Eulenspiegel-Forscher, überlassen, falls er sie überhaupt für adäquat hält.

←15 | 16→Als underdog der Frühen Neuzeit, der sich mit List und Tücke nomadenhaft durchs Leben schlägt, nimmt der aus Spanien stammende Picaro (vgl. Lickhardt 2014) oder auch die seltenere Picara gewöhnlich eine naive Beobachterperspektive „von unten“ ein, die satirischer Gesellschaftskritik noch immer gut zustattenkommt.

Den seit der Antike bekannten puer robustus begreift Dieter Thomä als einen Typ von realem oder fiktionalem, vornehmlich männlichen „Störenfried“ (z. B. Diderots Rameaus Neffe, Victor Hugos Der Glöckner von Notre-Dame, aber auch europäische Proletarier oder chinesische Studenten), der als Indiz wie Katalysator moderner Krisenhaftigkeit gelten dürfte, aber „nicht vom Zentrum der Macht, sondern“ von ihrem „Rand her zu verstehen“ sei, – daher die kritische Rolle von „Schmarotzer(n), Querulanten und Provokateuren“ (Thomä 2016: 12 f.).

An dieser Stelle möchte ich noch einen raschen Blick auf die asymmetrische „Vergeschlechtlichung“ des Außenseiterphänomens in der europäischen Literatur werfen. Versteht man „Kultur“ als „Selbstbeobachtung“ der Gesellschaft (Dirk Baecker) und Literatur als deren ästhetisch codiertes Subsystem („Überlieferungsmedium“, „kulturelles Gedächtnis“ und „Fiktionsressource“), so bezieht literarische Produktion die Geschlechterdifferenz als universalen Bestandteil der conditio humana, die alle sozialen und epistemischen Felder durchquert, manifest oder latent mit ein. Insofern artikuliert sich auch weibliches Außenseitertum immer schon auf literarischem Terrain, wenn auch mithilfe unterschiedlicher Darstellungs- bzw. Inszenierungsweisen.

In dem Maße, wie sich „Literarizität“ selber als Abweichung bzw. Bruch mit Konventionen verstehen ließe, stellt sich die weitere Frage nach einer Textsortenabhängigkeit der Äußerungen und Aussagen über abweichendes, zu nichts taugendes Verhalten. In Jörg Rogges (2016) darauf bezogenem Sammelband Recounting Deviance geht es um Chroniken, Gerichtsakten und Reisebeschreibungen. Doch das Fehlen fiktionaler Literatur legt den Verdacht nahe, dass diese hier – wie schon in der analytischen Sprachphilosophie – als parasitärer Sprachgebrauch aus der Betrachtung ausgeschlossen wird, also selbst zum Taugenichts unter den Textsorten gemacht wird, besonders in ihren karnevalesk-subversiven anti-hegemonialen Strömungen. Die in der literaturwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung intensiv untersuchten Korrelationen zwischen „gender“ und „genre“ (als textueller bzw. literarischer Gattung) haben bereits zu signifikanten Ergebnissen geführt. Dabei lässt sich z. B. unterscheiden zwischen der auktorialen Präferenz einer Geschlechtsgruppe für bestimmte Gattungen, etwa die bekannte These von der „Geburt“ weiblicher Autorschaft aus dem Privatbriefwechsel (vgl. Nörtemann 1990, Hahn 1994) oder einer konjunkturell bedingten „geschlechtlichen Übercodierung“ von Textsorten im „ideologisierten“ Interdiskurs, etwa die metaphorische Rede von der „Männlichkeit“ der Tragödie, zuweilen gestützt ←16 | 17→durch tendenziöse Befunde, z. B. den angeblichen Mangel an Dramatikerinnen, den empirische Studien (vgl. von Hoff 1994) inzwischen widerlegt haben.

Epistemologisch relevant wäre in diesem Zusammenhang, auf welchen theoretischen bzw. philosophischen Voraussetzungen die Gattungsbegriffe und Geschlechterkonzeptionen bei der Frage nach der geschlechtlichen Differenzqualität (vgl. Runte 2010) sozialen wie literarischen Parasitentums beruhen. Wie unterscheiden sich weibliche von männlichen „Taugenichtsen“, etwa im Fall der autobiographischen Memoiren des Ancien Régime, etwa der „christlichen Amazonen“ aus dem französischen Landadel (z. B. Alberte Barbe D’Ernecourt, Dame de Saint-Balmont) oder aber aus den Kreisen des englischen Restaurationstheaters (z. B. Charlotte Charke)? Was bedeutet die Emergenz eines neuen Genres, nämlich der novatorischen, den Briefroman dekonstruierenden „Briefbücher“ einer Bettine von Arnim auf der Folie weiblicher „Emanzipation“ vor dem Hintergrund der frühromantischen „Kulturrevolution“? Schließlich zeigt sich in der europäischen Avantgarde und Gegenwartsliteratur eine solche Vielfalt bzw. Diversität von Grenzüberschreitungen auf thematischer wie formaler Ebene, dass es schwer fällt, „Abweichungen“ überhaupt von ihren (Re-) Normalisierungen zu trennen, ob es sich nun um das beliebte Genre der Autofiktion (z.T. auch mit Migrantenhintergrund) oder um die zynische Konfrontation mit der „Grimasse d. Realen“ (Slavoj Zizek) handelt, wie in Elfriede Jelineks Satirik oder Sibylle Bergs Pop-Grotesken. Doch dass die pluralisierten Taugenichtse von heute vielleicht an mehr als „zwei Welten“ teilhaben, enthebt sie nicht unbedingt der Binarismen wie Tauglichkeit und Untauglichkeit.

Im Anschluss an die einleitenden Gedanken von Annette Runte wird jetzt Henriett Lindner kurz andeuten, wie sich das Thema der Sektion in den Beiträgen auffächert und wie es weitere Fragen zur literatur- und kulturhistorischen Neukonzeption des Taugenichts-Komplexes im Kontext unserer Zeitgeschichte aufwirft.

„Der Taugenichts vor und nach Eichendorff“ umgreift nicht nur eine Zeitspanne vom siebzehnten Jahrhundert bis in unsere Gegenwart (vgl. die Beiträge von Bamberger, Wojtowicz), sondern wendet sich uns in unterschiedlichen Verkleidungen und mit unterschiedlichen Gesichtern zu. Als Trickster, Eulenspiegel und Taugenichtse zeigen sich diese Figuren als Wendefiguren zwischen Engeln und Narren, als androgyne Wesen (Mizumori), oder provozieren in Form von Travestie durch Mimikry und Maskerade traditionelle Rollenverteilungen (Runte). Sie stellen sich aber auch als eine überzeitliche anthropologische Konstante dar, deren Grundprinzipien das Hinterfragen von in diversen Machtfiguren manifestierten Autoritäten und das (fingierte) Überschreiten der Kultur- und Gesellschaftsgrenzen seien (Rubini), wogegen immer wieder auch Aspekte der Herrschaftslegitimierung gerade durch das straffreie Erlaubtsein des Unerlaubten zur Debatte stehen ←17 | 18→können (Strohschneider). Vermeintlich immerwährende Herrschaftssysteme werden subtil in die Waagschale gelegt, und dies zeitigt auch performative Konsequenzen. Dinge zu sagen und zu tun, die eigentlich nicht nur untersagt, sondern auch zunehmend unmöglich sind, führt einerseits zur Ausweitung der Reichweite literarischer Texte, bis hin zu künstlerischen Alternativentwürfen zur modernen Konsumgesellschaft (Wolgast) oder sogar zum „herkömmlichen“ Unsterblichkeitskonzept (Strohschneider). Andererseits und als Resultat eines habituellen und radikalen Sein- und Treibenlassens der Dinge in den verschiedenen literarischen Figurationen der Narren, Taugenichtse und sonstiger Außenseiter werden auch die jeweils traditionsbedingten Gegebenheiten der Narrative überschritten: Das historische „Wörtlichnehmen“ trickst herkömmliche Autoritätsformen aus (Rubini), während postmoderne diegetische Tricks oder die Rhetorik der Metalepsis die Wirklichkeit unterlaufen (Strohschneider) und spielerisch-leichte Umgangsformen letztendlich die „freiheitssüchtige Sprache“ von ihren Fesseln befreien (Schwarz).

Im Hinblick auf die mögliche Positionierung der Taugenichtse auf der Europakarte mutet es an, als ob der deutsche Eulenspiegel einerseits als Taugenichts-Daseinsform in verschiedenen europäischen Kulturen der Vormoderne – von Frankreich (Runte) über Sizilien (Rubini) bis nach Polen (Schenk, Wojtowicz) – adaptiert und transformiert worden wäre, nicht ohne manches Lokalkolorit. Andererseits aber scheinen in der Moderne und Postmoderne geographisch-kulturelle Grenzen durch Grenzüberschreitung bzw. -aufhebung ihre Geltung zu verlieren, sei es durch die Re-Modellierung romantisierter Antihelden in Auseinandersetzung mit der goethezeitlichen Mentalität, wie dies in Prosatexten der ungarischen klassischen Moderne geschieht, Büchern von Antal Szerb, die ihrerseits als Bestseller der letzten beiden Jahrzehnte den Weg zurück auf deutsches Sprachgebiet gefunden haben (Lindner), oder mithilfe satirischer Formen transkultureller Pikareske in der österreich-polnischen Gegenwartsliteratur (Schenk).

Und hier übernimmt Alexander Schwarz, der den Vorschlag unserer Sektion nicht nach Palermo und an eine IVG-Präsidentin geschickt hätte, die sich in ihrem Studium selbst mit dem Eulenspiegel des 16. Jahrhunderts befasst hat, wenn er nicht die Zusage zur Mitarbeit von Kollegin Annette Runte und die geheime Hoffnung gehabt hätte, sie auf der Zielgeraden für den Kernteil – oder soll ich sagen, den entscheidenden Randteil – dieser einleitenden Worte zu gewinnen. Ja, ich möchte zu ihrer obigen Frage nach dem harmlosen Kindertill sagen, auch er entzieht sich zu sehr pädagogischer Eindeutigkeit und Nützlichkeit, als dass er nicht dem älter gewordenen Kind die Chance einer zweiten weniger philisterhaft-naiven Lektüre geben würde, und in die gleiche Richtung weisend zu den in Runtes Schlusssatz noch einmal angesprochenen Binarismen: Doch, tertium datur, wenn wir dazu bereit sind und die Bezeichnung „Taugenichts“ als von Sohn wie Erzähler ironisiertes Philistertum wie ←18 | 19→sie beide überwinden und möglichst viele Taugenichtse der Beiträge dieser Sektion über die simple Negierung einer personalen wie sozialen Tauglichkeit hinausheben – und sei es nur in der Rolle eines Fragezeichens.

Annette Runte, Henriett Lindner, Alexander Schwarz

Literaturverzeichnis

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Giufà und Eulenspiegel, zwei Müßiggänger. Eine Annäherung

Luisa Rubini Messerli (Zürich)

Abstract: Giufà (arab. Ğuā) mit seinem mythischen Vorfahren Nasreddin Hodscha (arab. „nasr ad-din“) ist das mediterrane, ja sizilianische Pendant des Till Eulenspiegel. Inwieweit können beide Trickster miteinander verglichen werden? Wie schlagen sich ihre gegensätzlichen Umwelten und Kulturen in ihrem Verhalten nieder und welche Formen von „Devianz“ wird ihnen erlaubt oder durch sie ausphantasiert? Die Unterschiede zwischen den jeweiligen Textsorten (aus der Mündlichkeit verschriftlichte Märchen versus gedruckte Historiensammlung bzw. Prosaroman) erzwingen theoretische Vorüberlegungen zu deren Vergleich.

Keywords: Giufà, Eulenspiegel, Gattung.

1. Die Hauptmerkmale der Textkorpora

Es ist naheliegend, bei einem Kongress, der in Sizilien unter dem Banner der Transkulturalität stattfindet, im Rahmen der Sektion zum „Taugenichts“ Hermann Botes Eulenspiegel mit Giufà, dem Trickster der Insel schlechthin zu vergleichen. Dessen Abenteuer sind Teil des arabischen Kulturerbes, und von den Arabern müssen die Sizilianer sie direkt gelernt haben. Diesen Vergleich hat die Forschung bisher noch nie angestellt, hingegen hat sie Eulenspiegel immer wieder mit Nasreddin Hodscha verglichen (Wesselski 1911: Bd. 1, 49; Bd. 2, 197, 246, 249; Krause-Akidil 1975). Nach Marzolph, 2005: 210 werde Nasreddin oft herablassend und unzutreffend als „türkischer Eulenspiegel“ bezeichnet.

Bei Eulenspiegel handelt es sich um ein Werk von mündlich und schriftlich zirkulierenden Stoffen (Hucker 1984: 543), also einem beweglichen, heterogenen Material, dem ein Autor, Redaktor bzw. Kompilator ein Organisationsprinzip eingeprägt hat, so dass es eine klare auktoriale Signatur trägt (Wunderlich 1989: 117–140, 132; Bässler 2005: 30–31). Die Quellenfrage gehört nach Seelbach (1996: 46, Anm. 63) „zu den vertracktesten in der Eulenspiegelforschung“, sie sei „noch lange nicht vollständig erschlossen“.

Beim Giufà geht es hingegen um eine Gruppe von Einzelerzählungen, die – abgesehen von zwei früheren Belegen – erst im 19. Jahrhundert gesammelt wurden, und von denen jede autonom ist, wenngleich zu einem Erzählzyklus gehörend, dem doch eine eigene Kohärenz innewohnt. Sie wurden von verschiedenen Erzählerinnen und Erzählern in Erzählperformanzen ←21 | 22→aufgeführt und gehorchen der Logik mündlichen Erzählens,1 obwohl der Einfluss schriftlicher Überlieferungen auf sie nicht auszuschließen ist (Wechselbeziehung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit). Nach Corraos Hypothese (2012: 45) findet der früheste Schwank sich im Pentamerone I,4 (1634) des Gian Battista Basile, obwohl der Held der Geschichte dort Vardiello heißt. Der Name Giufà und die Gestalt werden zuerst greifbar in der Redewendung „fari lu Giufà“ (den Giufà spielen), die in Del Bono (1752: 37) folgende Erklärung findet: „so tun, als sei man ungeschickt und einfach […] stolidum simulare“ (Übersetzung der Autorin, wie alle folgenden Übertragungen). Das etymologische Wörterbuch von Pasqualino (1786: 229) verweist dann auf den Volksglauben, nach dem Giufà berühmt für seine Taten sei, fast wie „Äsop bei den Griechen“, wovon der Spruch „fari li fatti di Giufà“ und ähnliche Sprüche abgeleitet sind. Den frühesten Schwank mit Giufà als Helden brachte der Latinist Venerando Ganci (1748–1816) heraus. Die Sammlung von 92 gereimten Fabeln und Gedichten (Ganci 1816) erschien posthum und ist verschollen. Von der Zweitausgabe (21839) ist nur noch ein Exemplar vorhanden (in der Bibliothek von Catania). Pitrè (1872: 183) scheint bereits das Buch (die Zweitausgabe) nur indirekt zu kennen. Corrao (2012: 23) erwähnt Ganci irrtümlicherweise als Autor des 17. Jahrhunderts. Erst Papanti (1873: 72–81) hat den Schwank „Giufà camperi cioè Lu patruni goffu“ (Ganci 1839: 99 ff.) zusammen mit einer toskanischen Nachbildung des Agatino Longo (1845: 47 ff.) publiziert. Die Erzählung arabischen Ursprungs (AaTh/ATU 1558 Kleider machen Leute), die zuerst in der Anekdotensammlung „Buch der Geistreichen“ des Ibn al-Ǧauzī (gest. 597/1201) erschien, hatte als Protagonisten den Traditionalisten und Koraninterpreten al-A mas. Seit dem 16. Jahrhundert ist der Schwank in das Repertoire der Hodscha-Nasreddin-Anekdoten übernommen worden (Uther 1993: 1425–1430). Eine Variante liest man bereits im 14. Jahrhundert beim Giovanni Sercambi, bei dem Dante Protagonist des Schwankes ist (vgl. Sercambi 1995: Bd. 1, 598–602). Vergleicht man Sercambis Version mit der von Ganci, so gewinnt man den Eindruck, dass letztere nicht von ersterer beeinflusst wurde, sondern eine literarische Bearbeitung einer mündlichen Erzählung darstellt.

Giufàs Schwänke im engeren Sinne erschienen 1870, als Laura Gonzenbach die erste gewichtige Gruppe sizilianischer Märchen auf Deutsch veröffentlichte (vgl. Gonzenbach 1870: Nr. 37/1–14; Gonzenbach 22019), in der vierzehn Schwänke ihn als Helden haben. Dazu gesellten sich weitere ←22 | 23→dreizehn, als Giuseppe Pitrè (1875: Nr. 190/1–13) die erste Sammlung auf Sizilianisch veröffentlichte. Weitere zwei Schwänke publizierte er 1888 (Pitrè 1888: Nr. 81, 82). Andere Volkskundler haben später weitere Erzählungen nachgetragen, die hier aber außer Acht gelassen werden, weil sich im Laufe der Zeit das narrative Repertoire um die Figur Giufàs als Kristallisationsgestalt ständig erweiterte und Schwänke, die mit anderen Helden (also aus anderen Erzähltraditionen) belegt waren, mit einbezogen wurden.

Ganci präsentiert seine gereimte Erzählung folgendermaßen: „Von Giufà, einer einfachen, groben und ungehobelten Person, wurden einige kuriose Tatsachen erzählt, die die Mütter ihren Kindern zu erzählen pflegten, damit sie sich von ihnen kämmen ließen. Für einen Leser, der kein Narr ist, sind sie in der Tat ungeschickt. Aber inmitten der Unbeholfenheit findet man Bilder, die die Wahrheit sehr gut ausdrücken, und man hört ihnen mit Vergnügen zu. Von diesen Tatsachen werde ich Ihnen nur eine erzählen und dann die Moral auf sie anwenden.“ (Papanti 1873: 74). – Es ist typisch für Kristallisationsgestalten wie Giufà, dass auf sie Erzählungen „vereinigt werden, die ursprünglich mit anderen Protagonisten belegt“ waren (Marzolph 2005: 211).

Wenn es zutrifft, dass der Trickster sich als eine überzeitliche anthropologische Konstante darstellt und seine Schwänke im Allgemeinen als „eine Auslotung dessen gesehen werden können, was jenseits der Kultur- und Gesellschaftsgrenzen liegt“ (Luraghi 2014: 85), sodass er, der an den Schwellen zur Ordnung agiert, dazu beiträgt, die Konturen dieser Ordnung sichtbar zu machen, zu stabilisieren oder zu hinterfragen, so bieten Till und Giufà Ausschnitte zweier gänzlich andersartiger Lachkulturen in historisch, geographisch und sozialer Hinsicht. Die Gebiete, in denen sie beheimatet sind, liegen weit voneinander (im Norden und im Süden bzw. Südosten Europas) entfernt, während zeitlich sich die frühe Neuzeit und das 19. Jahrhundert gegenüberstehen.

Eine weitere Schwierigkeit der Vergleichbarkeit stellt die grundlegende Ambivalenz der beiden Gestalten dar, die sich jeder einseitigen Festlegung oder Deutung entziehen. Wilms (2005: 52) bietet folgende minimale Beschreibung Eulenspiegels: „Er mag nicht arbeiten, er muss Streiche spielen und er erträgt es nicht, ausgelacht […] zu werden. Seine Aktionen zeigen darüber hinaus, dass er sich allen Gegebenheiten anpassen und sein Gegenüber jeweils richtig einschätzen kann.“

Details

Seiten
728
ISBN (PDF)
9783034345828
ISBN (ePUB)
9783034345835
ISBN (MOBI)
9783034345842
ISBN (Paperback)
9783034336628
DOI
10.3726/b19961
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Januar)
Schlagworte
Kunst des Übersetzens Deutsch-italienischen Literaturtransfers Übersetzungen literarischer Texte
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 728 S., 41 s/w Abb., 7 Tab.

Biographische Angaben

Laura Auteri (Band-Herausgeber:in) Natascia Barrale (Band-Herausgeber:in) Arianna Di Bella (Band-Herausgeber:in) Sabine Hoffmann (Band-Herausgeber:in)

Laura Auteri ist Ordentliche Professorin für deutsche Literatur an der Universität Palermo und war 2015-2021 Vorsitzende der Internationalen Vereinigung für Germanistik. Natascia Barrale ist Associate Professorin für deutsche Literatur an der Universität Palermo. Arianna Di Bella ist Associate Professorin für deutsche Literatur an der Universität Palermo. Sabine Hoffmann ist Ordentliche Professorin für deutsche Sprache und DaF-Didaktik an der Universität Palermo.

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Titel: Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive
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