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Grund und Grenzen des Befristungsrechts

Das verfassungsrechtliche und unionsrechtliche Dogma des Interessenausgleichs im TzBfG

von Justin Schippers (Autor:in)
©2022 Dissertation 224 Seiten

Zusammenfassung

Bei der Begrenzung der Befristung von Arbeitsverträgen kommt es darauf an, einen fairen und akzeptablen Ausgleich von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteresse zu erzielen. Das Befristungsrecht bezweckt dabei weder einseitigen Arbeitnehmerschutz noch die Bevorteilung des Arbeitgebers. Im ersten Teil der Dissertation wird die dogmatische Grundlage des Befristungsrechts untersucht. Hierzu wird der dreidimensionale Rechtsgüterkonflikt bei der Begrenzung von Befristungen auf Ebene der Verfassung und der Unionsgrundrechte beleuchtet. Zudem befasst sich der Autor mit dem Nachweis des Dogmas des Interessenausgleichs durch Auslegung der RL 1999/70/EG. Im zweiten Teil der Dissertation widmet sich der Autor den Grenzen von Befristungen im TzBfG und zeigt Perspektiven für die Rechtsentwicklung auf.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • A) Einleitung
  • B) Der Grund des Befristungsrechts
  • I. Die Geschichte des Befristungsrechts
  • 1. Die Entwicklung des Sachgrunderfordernisses
  • 2. Die sachgrundlose Befristung als Impuls für den Arbeitsmarkt
  • 3. Die richtlinienbasierte Eigenständigkeit des Befristungsrechts
  • 4. Zwischenergebnis für die Entwicklung des Befristungsrechts
  • II. Der gerechte Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber als Grund des Befristungsrechts
  • 1. Der gerechte Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei der Begrenzung von Befristung als verfassungsrechtlicher Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Gebots der praktischen Konkordanz
  • a) Die Wirkung verfassungsrechtlicher Freiheiten für das TzBfG
  • b) Die Verhältnismäßigkeit als Knotenpunkt bei der Rechtfertigung von Eingriffen in die verfassungsrechtlichen Freiheiten von Arbeitnehmer und Arbeitgeber durch die Begrenzung der Befristung von Arbeitsverträgen
  • c) Das befristungsrechtliche Dogma des Interessenausgleichs zwischen den Arbeitsvertragsparteien als Ausfluss des verfassungsrechtlichen Prinzips der Verhältnismäßigkeit und des Gebots zur Herstellung praktischer Konkordanz
  • d) Zwischenergebnis für die verfassungsrechtliche Herleitung des Dogmas des Interessenausgleichs
  • 2. Das Ziel der Vermeidung von Missbrauch durch Befristungen in der RL 1999/70/EG als Interessenausgleich zwischen den Arbeitsvertragsparteien
  • a) Die Wirkung der RL 1999/70/EG für das TzBfG
  • (1) Die Zulässigkeit der unionsrechtskonformen Auslegung des „sachlichen Grundes“
  • (2) Die Zulässigkeit der unionsrechtskonformen Auslegung des Vorbeschäftigungsverbots
  • (a) Die methodischen Voraussetzungen
  • (b) Das Verhältnis zur verfassungskonformen Auslegung
  • (c) Die Anwendbarkeit der RL 1999/70/EG
  • (d) Das Verschlechterungsverbot
  • (3) Zwischenergebnis für die Zulässigkeit der unionsrechtskonformen Auslegung
  • b) Das Gebot zum Interessenausgleich in der RL 1999/70/EG
  • (1) Das Verhältnis von Richtlinie und Rahmenvereinbarung
  • (2) Die Rahmenvereinbarung in der RL 1999/70/EG als Kompromiss der Sozialpartner
  • (3) Herleitung des Gebots zum Interessenausgleich aus dem Zweck der Missbrauchsvermeidung
  • (a) Unionsgrundrechtskonforme Auslegung des „Missbrauchs“
  • (b) Der Zweck der Missbrauchsvermeidung als Interessenausgleich
  • (c) Die Konkretisierung des Interessenausgleichs
  • (d) Zwischenergebnis für die unionsrechtliche Herleitung des Gebots zum Interessenausgleich
  • c) Die Konkurrenz der verfassungsrechtlichen Implikationen mit den unionsrechtlichen Vorgaben
  • 3. Das Dogma des gerechten Interessenausgleichs in den gesetzlichen Strukturen des TzBfG
  • a) Das Merkmal „sachlicher Grund“ als offener Rechtsbegriff
  • (1) Der Interessenausgleich in den benannten Regelbeispielen
  • (2) Die Wahrung des Interessenausgleichs in unbenannten Fällen
  • b) Die verfassungskonforme Ausgestaltung von § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG
  • III. Zwischenergebnis: Das Dogma des Interessenausgleichs als Schlüssel für neue Perspektiven im Befristungsrecht
  • C) Die Grenzen des Befristungsrechts
  • I. Die verfassungsrechtlichen Grenzen für die Befristung von Arbeitsverträgen
  • II. Die unionsrechtlichen Grenzen für die Befristung von Arbeitsverträgen
  • 1. Das Schrankenpotenzial der RL 1999/70/EG
  • a) Die Wortlautauslegung der RV im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG
  • (1) Die Begrenzung nach Sachgrund, Dauer und Anzahl der Befristung
  • (2) Bestehende gleichwertige gesetzliche Maßnahmen
  • (3) Mindeststandards und Verschlechterungsverbot
  • (4) Keine Grenzen aus dem unmittelbaren Wortlaut der Richtlinie
  • b) Die Missbrauchskontrolle als teleologische Grenze für die Befristung von Arbeitsverträgen
  • (1) Der Zweck der Missbrauchsvermeidung als absolute Grenze für die Befristung von Arbeitsverträgen
  • (a) Der sachliche Grund
  • (b) Die Höchstdauer und Höchstzahl aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverhältnisse
  • (2) Die teleologische Verbindung der unionsrechtlichen Grenzen
  • (a) Das System zur Missbrauchsvermeidung
  • (b) Die allgemeinen Folgen für das deutsche Befristungsrecht
  • (c) Die besonderen Folgen für § 14 Abs. 2 TzBfG
  • (d) Die besonderen Folgen für § 14 Abs. 3 TzBfG
  • (e) Die besonderen Folgen für § 14 Abs. 2a TzBfG
  • (f) Zwischenergebnis: System der Missbrauchsvermeidung
  • 2. Die zweckdominierte Kontrolle durch den EuGH als Schranke für die Umsetzung der RL 1999/70/EG im TzBfG
  • a) Die Zulässigkeit von Korrekturen durch den EuGH
  • b) Expansion der Kompetenzen des EuGHs
  • 3. Zwischenergebnis für die unionsrechtlichen Grenzen
  • III. Die Grenzen für Befristungen im geltenden Recht
  • 1. Die Befristung mit Sachgrund
  • a) Transposition der benannten Sachgründe
  • (1) Der vorübergehende Bedarf an Arbeitskräften
  • (2) Die Erstanstellung
  • (3) Die Vertretung
  • (4) Die Eigenart der Arbeitsleistung
  • (5) Die Erprobung
  • (6) Die Gründe in der Person des Arbeitnehmers
  • (a) Die soziale Überbrückung
  • (b) Die Befristung auf Wunsch des Arbeitnehmers
  • (7) Die Zweckbindung an Haushaltsmittel
  • (8) Der gerichtliche Vergleich
  • (9) Die Essenz der benannten Fälle eines sachlichen Grundes
  • b) Die Fortentwicklung der unbenannten Fallgruppen
  • (1) Die Vorgaben der Rechtsprechung
  • (2) Die unionsrechtskonforme Ausgestaltung
  • (3) Zwischenergebnis für neue unbenannte Sachgründe
  • 2. Die Befristung ohne Sachgrund
  • a) Die sachgrundlose Befristung gem. § 14 Abs. 2 TzBfG
  • (1) Das Vorbeschäftigungsverbot als Instrument des Missbrauchsschutzes
  • (2) Die einschränkende Auslegung des Vorbeschäftigungsverbots
  • (a) Verfassungsrechtliche Einschränkung
  • (b) Unionsrechtliche Einschränkung
  • (c) Zwischenergebnis für den Reformbedarf beim Vorbeschäftigungsverbot
  • (3) Die teleologische Extension des Vorbeschäftigungsverbots
  • b) Die sachgrundlose Befristung gem. § 14 Abs. 2a TzBfG
  • (1) Die Befristungsdauer
  • (2) Das unionsrechtliche Gebot einer Höchstzahl an Verlängerungen
  • (3) Die einschränkende Auslegung von § 14 Abs. 2a S. 1 Hs. 2 TzBfG
  • (4) Weitere Missbrauchsschutzinstrumente
  • c) Die sachgrundlose Befristung gem. § 14 Abs. 3 TzBfG
  • (1) Voraussetzungen
  • (a) Beschäftigungslosigkeit im Sinne von § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III
  • (b) Der Bezug von Transferkurzarbeitergeld und die Teilnahme an geförderten Beschäftigungsmaßnahmen
  • (c) Vier-Monats-Zeitraum
  • (2) Die zeitlichen und zahlenmäßigen Grenzen
  • (3) Die erneute sachgrundlose Befristung gem. § 14 Abs. 3 TzBfG
  • (4) Kein Vorbeschäftigungsverbot
  • d) Zwischenergebnis für das Konzept der sachgrundlosen Befristung
  • 3. Das Gesamtkonzept des geltenden Befristungsrechts als Hybrid starrer Grenzen und einzelfallbezogener Korrekturen
  • IV. Vorhaben zur Bestimmung neuer Grenzen im Befristungsrecht
  • 1. Die Änderungsvorschläge ausgehend vom Koalitionsvertrag
  • 2. Die Extension der Befristungsmöglichkeiten als Mittel zur Beschäftigungsförderung in Zeiten wirtschaftlicher Rezession
  • a) Umsetzungsvarianten zur Beschäftigungsförderung
  • b) Diskussion und Entwicklung eines Umsetzungsvorschlags
  • c) Umsetzungsvorschlag
  • D) Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
  • I. Wesentliche Ergebnisse zum Grund des Befristungsrechts
  • II. Wesentliche Ergebnisse zu den Grenzen des Befristungsrechts
  • E) Schlusswort
  • F) Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

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A) Einleitung

„Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält.“1 So beschreibt Goethes Dr. Faust dramatisch seinen Wunsch nach unermesslichem Wissen. Während die Suche nach diesem inneren Kern Dr. Faust zu einem Pakt mit dem Teufel bewegt, so ist die Methode, aus dem bekannten Einzelfall eine innere, allgemeine Regel zu entwickeln, in der Rechtswissenschaft unter dem Begriff Induktion anerkannt und kein ‚Teufelswerk‘.2 Dieser von Goethe verklärte Wunsch, den innersten Zusammenhalt aus dem Einzelfall zu abstrahieren, wird regelmäßig durch einen weiteren Deduktionsschritt ergänzt, der den nunmehr verallgemeinerten Rechtsgedanken (tertium comparationis) auf einen neuen und bisher ungeregelten Einzelfall anwendet, sodass der Analogieschluss methodisch vollendet wird.3 Dieser Methode folgend, werden in dieser Arbeit Grund und Grenzen des Befristungsrechts bestimmt, indem zunächst der Grund des Befristungsrechts, also der innerste Kern, anhand der verschiedenen Gesetzesmaterialien unter B) herausgearbeitet wird. Dieser dogmatische Kern soll dann unter C) bei der Bestimmung der Grenzen von Befristung im geltenden Recht angewendet werden sowie auch als Maßstab für die Weiterentwicklung des Befristungsrechts dienen.

Die Interessenlage bei der Befristung von Arbeitsverträgen ist vielschichtig. Auf der einen Seite des Spannungsfelds befindet sich die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers, der ein Interesse daran hat, durch Befristungen flexibel auf wechselnde Arbeitsbedingungen zu reagieren.4 Auf der anderen Seite steht der Arbeitnehmer, der ein Interesse an einer unbefristeten und sicheren Beschäftigung hat. Sein Interesse wird durch die Begrenzung von Befristung von Arbeitsverträgen abgesichert. Dies dient dem Schutz vor Befristungsmissbrauch und entspricht der Schutzpflicht des Staates zugunsten des strukturell unterlegenen Arbeitnehmers.5 Der Interessenkonflikt bei der Begrenzung der Befristung wird dadurch vertieft, dass die Grenzen des Befristungsrechts nicht nur den Schutz des Arbeitnehmers absichern, sondern gleichzeitig auch dessen Vertragsfreiheit einschränken. Für Arbeitnehmer kann die befristete Beschäftigung einen ←13 | 14→Einstieg in die Arbeitswelt ermöglichen und eine Brücke zu einer unbefristeten Beschäftigung bauen.6 Diese gegenüberstehenden Freiheiten müssen durch den Gesetzgeber und die Rechtsprechung zu einem Ausgleich gebracht werden.7

Waren die zu Beginn der Großen Koalition geäußerten Reformvorhaben8 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG) zuletzt ins Stocken geraten, so ist der Bedarf nach einem Update des Befristungsrechts aktuell größer denn je. Die durch die Covid-19-Pandemie hervorgerufenen gravierenden wirtschaftlichen Folgen für den Arbeitsmarkt offenbaren sich zunehmend deutlicher.9 Zwar falle der Anstieg der registrierten Arbeitslosigkeit wegen des starken Einsatzes von Kurzarbeit gemessen am Nachfrage- und Produktionseinbruch bisher vergleichsweise gering aus, stellen Klös und Schäfer fest.10 Jedoch sind strukturelle Maßnahmen des Gesetzgebers gegen die zunehmende Arbeitslosigkeit noch nicht zu erkennen.11 Zuletzt werden deshalb weitere Maßnahmen wie die temporäre Aussetzung des Vorbeschäftigungsverbots im Befristungsrecht gefordert, um krisenbedingte Kündigungen mit befristeten Wiedereinstellungen aufzufangen, so der wirtschaftlichen Rezession entgegenzutreten und diese in eine positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt umzukehren.12 Ob solche Lockerungen der Grenzen von Befristung bei diesem Vorhaben Erfolg versprechen, bedarf einer kritischen Würdigung.


1 Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie, Faust I, Vers 382 f.

2 Möllers, Juristische Methodenlehre, § 6 Rn. 99.

3 Möllers, Juristische Methodenlehre, § 6 Rn. 99.

4 BVerfG, Beschluss vom 06.06.2018 - 1 BvL 7/14, BVerfGE 149, 126, Rn. 57.

5 BVerfG, Beschluss vom 06.06.2018 - 1 BvL 7/14, BVerfGE 149, 126, Rn. 46.

6 Preis/Temming, Individualarbeitsrecht, § 68 Rn. 3286.

7 Chandna-Hoppe, ZfA 2020, 70, 73; Junker, GK Arbeitsrecht, § 1 Rn. 6.

8 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 19. Legislaturperiode.

9 Klös/Schäfer, IW-Policy-Paper Nr. 20, 2020, S. 3.

10 Klös/Schäfer, IW-Policy-Paper Nr. 20, 2020, S. 3.

11 Klös/Schäfer, IW-Policy-Paper Nr. 20, 2020, S. 3.

12 Klös/Schäfer, IW-Policy-Paper Nr. 20, 2020, S. 3, 16 f.

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B) Der Grund des Befristungsrechts

Die abstrakte Frage nach dem Grund des Befristungsrechts zielt auf das Dogma des Interessenausgleichs zwischen den Arbeitsvertragsparteien. Die Elemente des Interessenausgleichs finden sich sowohl in der Verfassung als auch im Unionsrecht sowie im TzBfG, sodass alle Rechtsquellen des Befristungsrechts durch das gemeinsame Dogma im Innersten zusammengehalten werden.

I. Die Geschichte des Befristungsrechts

Erste Einblicke in den Grund des Befristungsrechts ergeben sich aus der bisherigen Rechtsentwicklung. Die für das Arbeitsrecht typische Tradition der Fortentwicklung des geltenden Rechts durch ein „Wechselspiel“ von richterrechtlicher Rechtsfortbildung einerseits und gesetzgeberischer Neuregelung andererseits ist auch für das Befristungsrecht charakteristisch.13 So wurden in der Geschichte des Befristungsrechts bereits einige Kapitel geschrieben.

1. Die Entwicklung des Sachgrunderfordernisses

Der Abschluss befristeter Verträge war nach dem Wortlaut des § 620 Abs. 1 BGB bei Inkrafttreten des BGB im Jahre 1900 unbegrenzt möglich.14 Dies eröffnete Arbeitgebern die Möglichkeit, ihre Arbeitnehmer immer nur für einen gewissen Zeitraum befristet anzustellen und nach jedem Zeitabschnitt zu prüfen, ob eine Weiterbeschäftigung für ihn nützlich oder notwendig ist. Ohne Verlängerung des Arbeitsvertrages endete das Arbeitsverhältnis dann mit Fristablauf der vereinbarten Befristung, ohne dass die Einhaltung von Kündigungsvoraussetzungen – wie etwa die Kündigungsfrist, die soziale Rechtfertigung oder die Anhörung des Betriebsrats – notwendig war. Im Ergebnis wurde hiermit der vom Kündigungsschutzrecht garantierte Bestandsschutz durch die uneingeschränkte Möglichkeit zur Befristung von Arbeitsverträgen umgangen.15

Dem trat erstmals das Reichsarbeitsgericht entgegen, indem es bei Kettenarbeitsverträgen – also bei vielen aufeinanderfolgenden befristeten Arbeitsverträgen - § 620 BGB nicht angewendet hat, wenn der Arbeitgeber mit der ←15 | 16→Vertragsgestaltung Kündigungsschutznormen umgehen wollte.16 Als mit dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG) 1951 der Kündigungsschutz novelliert wurde, verlangte das Bundesarbeitsgericht (BAG)17 sodann einen die Befristung rechtfertigenden sachlichen Grund, um eine Umgehung der neuen Kündigungsschutzvorschriften zu vermeiden.18 Der konkrete Sachgrund musste also immer eine Rechtfertigung dafür bieten, dass Kündigungsschutzvorschriften nicht angewendet werden. Durch diese Rechtsprechung wurde die Befristung von Arbeitsverträgen nicht nur durch das Sachgrunderfordernis beschränkt, sondern dem Befristungsrecht wurde auch die klare Funktion zugewiesen, den vom KSchG garantierten Bestandsschutz abzusichern.19

Ausnahmsweise bedurfte es aber bei Kleinbetrieben, die gem. § 23 Abs. 1 KSchG a.F. mit fünf oder weniger Arbeitnehmern nicht unter das Kündigungsschutzgesetz fielen, keines sachlichen Grundes, da das Kündigungsschutzgesetz nicht anwendbar war und damit kein Umgehungsschutz erforderlich war.20 Gleiches galt für eine Befristungsdauer von bis zu sechs Monaten (vgl. § 1 Abs. 1 KSchG).21 Abgesehen von diesen Ausnahmen wurden Befristungen von Arbeitsverträgen deutlich durch die auslegungsbedürftige und damit rechtsunsichere Grenze „Sachgrund“ eingeschränkt.22 Das Befristungsrecht konnte in der Folge nicht jedem Flexibilisierungsbedürfnis der Arbeitgeber entsprechen, sodass diese trotz Zeiten der Hochkonjunktur Anfang und Mitte der 1980er-Jahre haderten, neue Mitarbeiter auf Zeit einzustellen.23

2. Die sachgrundlose Befristung als Impuls für den Arbeitsmarkt

Zur Erleichterung der Befristung von Arbeitsverträgen wurde 1985 das Beschäftigungsförderungsgesetz erlassen.24 Entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BAG wurde in ihm die Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung einmalig für den Zeitraum von maximal einem Jahr und sechs Monaten als niedrigschwellige ←16 | 17→Beschäftigungsform zugelassen, um einen Impuls an den Arbeitsmarkt zu senden und Beschäftigung zu fördern.25 Mit § 1 Abs. 1 des BeschFG 1996 wurden dann die Grenzen der sachgrundlosen Befristung auf maximal drei Verlängerungen bei einer zulässigen Höchstdauer von 2 Jahren erweitert.26

Der sachgrundlosen Befristung kommt damit einerseits eine Brückenfunktion zu, und dient andererseits der Sicherstellung ausreichender Flexibilität für den Arbeitgeber, angepasst an die Wirtschaftsentwicklung den Beschäftigungsstand zu steuern.27 Die Brückenfunktion bedeutet, dass Arbeitnehmern der Einstieg in den Beruf erleichtert und gleichzeitig durch die Befristung eine Brücke hin zu einer langfristigen Beschäftigung geschlagen werden soll.28 Die durch die zeitlichen und zahlenmäßigen Komponenten eingeschränkte Möglichkeit zur sachgrundlosen Befristung erhielt damit gegenüber der Sachgrundbefristung eine eigene Funktion, sodass von einer „genetischen und teleologischen Antinomie“29 gesprochen werden kann – also einer systematischen Trennung zwischen der Begrenzung der Befristung mit Sachgrund und der Befristung ohne Sachgrund. Durch die Rechtsprechung zur Sachgrundbefristung einerseits und das Beschäftigungsförderungsgesetz andererseits wurden dem Befristungsrecht je nach Befristungsform unterschiedliche Grenzen gesetzt.

Die dogmatischen Unterschiede zwischen der Sachgrundbefristung und der sachgrundlosen Befristung wurden zudem durch die unterschiedlichen Rechtsquellen – Richterrecht und Beschäftigungsförderungsgesetz – verstärkt.

3. Die richtlinienbasierte Eigenständigkeit des Befristungsrechts

Das Befristungsrecht zeichnet sich in diesem Stadium durch die dogmatische Unselbstständigkeit der beiden Befristungsformen aus. Die Sachgrundbefristung wurde durch die Funktion als Flankenschutz des Kündigungsschutzes deutlich begrenzt und damit von der Rechtsprechung in das System und die Wertungen des Kündigungsschutzes eingepasst. Die sachgrundlose Befristung als anderer Teil des Befristungsrechts war auf den ersten Blick selbstständig im BeschFG geregelt. Allerdings war die Geltung des Gesetzes bis zum 01.01.1990 befristet, sie wurde jedoch zwei Mal um fünf Jahre verlängert.30 Das legt nahe, dass der ←17 | 18→Gesetzgeber den Bedarf an sachgrundloser Befristung stets aufs Neue prüfen wollte und diese Befristungsform ursprünglich nicht dauerhaft als selbstständige Befristungsvariante etablieren wollte. Dieser installierte ihn arbeitsmarktpolitisch als temporär befristeten Anreiz an den Arbeitgeber zur Einstellung von Arbeitnehmern.31

Dies veränderte sich, als auf europäischer Ebene die Richtlinie (RL) 1999/70/EG verabschiedet wurde, die vor dem Hintergrund der Pflicht des deutschen Gesetzgebers gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV in nationales Recht umgesetzt werden musste. Die aus dem „Wechselspiel“ entstandene, kaum nachvollziehbare und lückenhafte nationale Gesetzes- und Rechtslage im Befristungsrecht konnte ohne Novelle den Umsetzungsmaßstäben der Richtlinie nicht genügen.32 Mit dem Inkrafttreten des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG) am 01.01.2001 wurde das Befristungsrecht gemäß der Umsetzungspflicht kodifiziert. Eingang in das TzBfG fand auch die bisherige Rechtsprechung des BAG zur Sachgrundprüfung.33 Daneben wurde auch die Möglichkeit zur sachgrundlosen Befristung nach dem Vorbild des Beschäftigungsförderungsgesetzes in das TzBfG aufgenommen, sodass die Rechtsentwicklung beider Formen von Befristung kontinuierlich verlief.34

Auch wenn inhaltliche Neuerungen bei den Grenzen der Sachgrundbefristung und sachgrundlosen Befristung auf den ersten Blick nicht zu erkennen sind, ist die Zusammenführung im TzBfG für Grund und Grenzen des Befristungsrechts bedeutsam. Mit dieser wurde das Befristungsrecht auf eine neue, eigenständige Grundlage gestellt und von der Theorie der objektiven Gesetzesumgehung des Kündigungsschutzes losgelöst.35

Diese Eigenständigkeit wird durch die Grundlage für das TzBfG - die Richtlinie 1999/70/EG -unionsrechtlich vorgegeben. Auf unionsrechtlicher Ebene besteht kein Zusammenhang zwischen Befristungsrecht und Kündigungsschutz, da ein unionsrechtlicher allgemeiner Kündigungsschutz weder existiert, noch wegen der unterschiedlichen nationalen Systeme beim Bestandsschutz ←18 | 19→durchführbar wäre.36 Es ist aber kein Automatismus, dass diese unionsrechtliche Eigenständigkeit auch konzeptionell bei der Umsetzung der Richtlinie Eingang in das TzBfG gefunden hat. Der deutsche Gesetzgeber hat möglicherweise auch die nationale Rechtstradition – Befristungsrecht als Flankenschutz zum Kündigungsschutzrecht – mit der Schaffung des TzBfG fortgeführt, denn die nationale Rechtsentwicklung verläuft ohne deutlichen Bruch.37

Für eine Entkoppelung des Befristungsrechts vom Kündigungsschutzrecht spricht aber, dass Befristungen in Kleinbetrieben und kurze Befristungen im TzBfG uneingeschränkter Kontrolle unterliegen. Zuvor wurden diese beiden Fallgruppen noch von der Rechtsprechung bei der Kontrolle auf einen die Befristung rechtfertigenden Sachgrund ausgenommen, da sie nicht in den Anwendungsbereich des KSchG fielen und somit keine Umgehung des Kündigungsschutzes drohte.38 Einen solchen Schwellenwert zur Anwendbarkeit kennt weder die Richtlinie noch das TzBfG.39 Vielmehr gebietet die RL 1999/70/EG bei ihrer Umsetzung eine umfassende Regelung im TzBfG, denn sie lässt keine vollständigen Bereichsausnahmen zu.40 Diese Erstreckung des Anwendungsbereichs im TzBfG geht konform mit dem Unionsrecht und der Entkoppelung vom Kündigungsschutz.

Neben dem Verweis auf den allgemeinen Kündigungsschutz wurde nach der früheren Rechtsprechung bei der Umgehungskontrolle auch auf den Sonderkündigungsschutz (§§ 85 ff., 92 SGB IX, § 9 MuSchG, § 15 KSchG) abgestellt.41 Diese Verbindung von Befristungsrecht und besonderem Kündigungsschutz wurde durch die Neufassung des Befristungsrechts im TzBfG aufgelöst, denn das TzBfG differenziert nicht zwischen Arbeitnehmern mit und ohne Sonderkündigungsschutz.42 Aus unionsrechtlicher Perspektive wird der gebotene Mindestbestandsschutz durch das Sachgrunderfordernis auch in den Fällen, in denen der Sonderkündigungsschutz greifen würde, ausreichend abgesichert.43 Das Bestehen eines besonderen Kündigungsschutzes führt zu keinen höheren ←19 | 20→Anforderungen an den Sachgrund.44 Allerdings bedarf eine ohne Kündigung erfolgende Beendigung des Arbeitsverhältnisses Schwerbehinderter in bestimmten Fällen der Zustimmung des Integrationsamtes gem. § 92 SGB IX.45 Grundsätzlich kommt es aber bei der Zulässigkeit der Befristung nicht mehr darauf an, ob der allgemeine oder der besondere Kündigungsschutz greift. Im Ergebnis spricht auch dies für die Selbstständigkeit des Befristungsrechts.

Gegen die Selbstständigkeit wird eingewandt, dass die Rolle des Befristungsrechts als Umgehungsschutz zum Kündigungsschutz trotz des Fehlens eines unionsrechtlichen Kündigungsschutzes Bestandteil der Richtlinie sei.46 Dies würde in Zusammenschau mit der Umsetzungspflicht der Richtlinie dann auch gegen die Selbstständigkeit des Befristungsrechts im TzBfG sprechen. Der Hinweis auf den Umgehungsschutz widerspricht nicht der nunmehr selbstständigen Rolle des Befristungsrechts, sondern kann mit der neuen Eigenständigkeit des Befristungsrechts in Einklang gebracht werden. Im nationalen Recht hat sich das Befristungsrecht vom Gedanken des reinen Umgehungsschutzes emanzipiert und wird auf ein breites arbeitsmarktpolitisches Konzept gestützt, in das sich der Umgehungsschutz einfügt.47 Das Befristungsrecht lässt den Umgehungsgedanken bzgl. des Kündigungsschutzes also nicht außen vor, sondern nimmt den Gedanken innerhalb der Missbrauchsdogmatik in sich auf. Auch im Unionsrecht ist der Umgehungsgedanke im allgemeinen Ziel der Vermeidung von Missbrauch gem. § 1 lit. b), § 5 Nr. 1 der RV im Anhang der RL 1999/70/EG enthalten, erfasst aber noch weitere Konstellationen, in denen der Arbeitnehmer vor Missbrauch zu schützen ist.48

Gegen eine Entkoppelung vom Kündigungsschutz kann schließlich angeführt werden, dass § 17 S. 1 TzBfG eine dreiwöchige Klagefrist bei der Befristungskontrollklage anordnet. Diese entspricht auch der materiellen Präklusionsfrist der Kündigungsschutzklage gem. §§ 4, 7 KSchG. Auf die materielle Präklusionswirkung wird sodann von § 17 S. 2 TzBfG verwiesen. Der Gleichlauf dieser Fristen widerspricht auch hier nicht der neuen Rolle des Befristungsrechts. Vielmehr muss sich das neu ausgerichtete Befristungsrecht in das Gesamtsystem des arbeitsrechtlichen Bestandschutzes einfügen. Dabei sichert die dreiwöchige ←20 | 21→Präklusionsfrist das Interesse des Arbeitgebers an Rechts- und Planungssicherheit nach Fristablauf bezüglich der Beendigung des Arbeitsverhältnisses.49 Dieses Interesse des Arbeitgebers besteht nicht nur bei der Kündigung, es ist auch bei der Beendigung durch Befristung schützenswert. Der Verweis dient damit in erster Linie dem Arbeitgeber und nicht dem Umgehungsschutz. Ein Schutz des Arbeitnehmers davor, dass die Vorschriften des Kündigungsschutzes umgangen werden, wird allenfalls mittelbar geboten, da die Präklusionsfrist nicht kürzer ausfällt als im Kündigungsschutzgesetz. Dies ist jedoch kein Indiz für eine Fortsetzung der Rechtstradition des Befristungsrechts als einen unselbstständigen Flankenschutz, sondern lässt sich mit der neuen richtlinienbasierten Eigenständigkeit des Befristungsrechts als Bestandteil im Gesamtsystem des arbeitsrechtlichen Bestandschutzes vereinbaren.

4. Zwischenergebnis für die Entwicklung des Befristungsrechts

Die ursprüngliche Funktion des Befristungsrechts wurde eindeutig abgelöst und die richtlinienbasierte Eigenständigkeit des Befristungsrechts im TzBfG verwirklicht. Mit dieser Emanzipation des Befristungsrechts haben sich auch die dogmatischen Koordinaten des Befristungsrechts verschoben. Der Grund für die Begrenzung der Befristung von Arbeitsverträgen speist sich nicht mehr einzig aus dem Umgehungsschutzgedanken zum Kündigungsschutz, sondern aus einem neuen Missbrauchsbegriff. Dieser erstreckt sich auf ein breit gefächertes Portfolio an Gründen für die Begrenzung der Befristung von Arbeitsverträgen, die stets im Spannungsfeld zwischen Arbeitnehmerschutz und Freiheiten von Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu sehen sind.

Details

Seiten
224
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631882528
ISBN (ePUB)
9783631882535
ISBN (MOBI)
9783631882542
ISBN (Hardcover)
9783631881736
DOI
10.3726/b19924
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juni)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 224 S.

Biographische Angaben

Justin Schippers (Autor:in)

Justin Daniel Josef Hubert Schippers studierte Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln. Er war als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn tätig, wo auch seine Promotion erfolgte.

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