Mediatisierungslinguistik
Theorie und Fallanalysen zur Kommunikation von Politiker*innen am Beispiel von Twitter
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Vorwort
- Inhaltsverzeichnis
- Abkürzungen
- 1. Einleitung, Fragestellung, Zielsetzung
- A THEORETISCHE UND METHODISCHE GRUNDLAGEN
- 2. Politische Kommunikation und Sprache: Ein problemorientierter Forschungsüberblick
- 2.1 Politische Kommunikation als symbolisches Sprachhandeln
- 2.2 Vom ‚Analogen‘ ins ‚Digitale‘
- 2.2.1 Politainment und Mediokratie – Das ‚prädigitale‘ Makrosystem
- 2.2.1.1 Politainment
- 2.2.1.2 Mediokratie
- 2.2.2 (Neue) Politische Kommunikationsformen und Textsorten im World Wide Web
- 2.3 Vom ‚Digitalen‘ ins ‚Virale‘: Vernetztes politisches Sprachhandeln im Social Web
- 3. Mediatisierung: Eine Metatheorie der medialen Alltagskommunikation
- 4. Mediatisierung der Politik: Ein mediatisierungslinguistischer Ansatz
- 4.1 Mediatisierung und Politik: Forschungsüberblick
- 4.2 Medienkulturlinguistik: Kommunikator, Kommunikat, Aneignung
- 4.2.1 Theoretische Grundlagen: Begriffe und Konzepte
- 4.2.2 Methode und Methodik
- 4.3 Ein integrativer Ansatz: Die medienkulturlinguistische Untersuchung der Politik als Mediensoziokultur
- 4.3.1 ‚Digitale‘ Medienkultur(en): Die kommunikative Figuration ‚digitaler‘ Teilöffentlichkeiten als mediatisierte Mediensoziokulturen
- 4.3.1.1 Mediatisierte Lebenswelten und Mediensoziokulturen
- 4.3.1.2 Kultur der Politik als (‚digitale‘) Mediensoziokultur des Politischen
- 4.3.1.3 ‚Virtuelle‘ Medienkultur(en) der Politik: Die kommunikative Figuration ‚digitaler‘ Teilöffentlichkeiten
- 4.3.2 Soziale Netzwerke als medienkommunikative Dispositive
- 4.3.3 Politiker*innen auf der ‚digitalen Bühne‘
- 4.3.3.1 Rolle, Imagebildung, Theatermetaphorik
- 4.3.3.2 ‚Digitale‘ soziale Netzwerke als ‚Quasi-Theater‘
- 4.3.3.3 Soziale Netzwerke als „Raum der Ströme“
- 4.3.4 Zwischenfazit
- 4.4 Mediatisierungslinguistik als integrativer Zugang zur mediatisierten politischen Kommunikation: Anknüpfungspunkte, Forschungsüberblicke und -desiderate
- 4.4.1 Kommunikatoranalyse: ‚Doing (Digital) Politics‘
- 4.4.1.1 Anknüpfungspunkte und Forschungsüberblick
- 4.4.1.2 Methodik: „Subjektive Theorie“ und ethnomethodologische „Studies of Work“
- 4.4.1.3 Forschungsdesiderate und -perspektiven: Leitfragen
- 4.4.2 Kommunikatanalyse: (Multimodale) Tweets als kulturelle Repräsentationen
- 4.4.2.1 Anknüpfungspunkte und Forschungsüberblick
- 4.4.2.2 Politiker*innen und Rollen(-handeln): Forschungsüberblick und Ausgangsüberlegungen
- 4.4.2.3 Tweets als Bündel medienlinguistischer Affordanzen
- 4.4.2.3 Tweets als Bündel medienlinguistischer Affordanzen: Kommunikationsformaffordanzen
- 4.4.2.4 Forschungsdesiderate und -perspektiven: Leitfragen
- 4.4.3 Rezeptionsanalyse: Mediatisierte Spuren der Aneignung von Politik und Aneignung mediatisierter politischer Kommunikation
- 4.4.3.1 Anknüpfungspunkte und Forschungsüberblick
- 4.4.3.2 Forschungsdesiderate und -perspektiven: Leitfragen
- 4.5 Zusammenfassung: Die mediatisierungslinguistische Erforschung politischer Kommunikation in Sozialen Netzwerken – am Beispiel von Twitter
- B EMPIRISCHE ANALYSE
- 5 Forschungsdesign, Analysekorpus, Auswertungsmethoden
- 5.1 Forschungsdesign und Korpuserstellung
- 5.2 Korpusbeschreibung
- 5.3 Methoden der Korpusauswertung
- 5.3.1 Kommunikator: Hermeneutisch-interpretative Analyse
- 5.3.2 Kommunikat: Multimodal-‚digitale‘ Mehrebenenanalyse der Rollenkonstituierung
- 5.3.2.1 Multimodale Stil- und Textanalyse
- 5.3.2.2 Multimodale Frame-/Framing-, Topos- und Diskursanalyse
- 5.3.2.3 Multimodale Narrationsanalyse
- 5.3.2.4 Zusammenfassung
- 6 Mediatisierung von Alltagspraktiken und -routinen: Ethnografische Mediatisierungsprotokolle
- 6.1 Ausgangspunkte und Fragestellungen
- 6.2 Struktur der Protokolle
- 6.3 Auswertung der Mediatisierungsprotokolle
- 6.3.1 Chronologischer Ablauf
- 6.3.2 Analyseaspekte zur Mediatisierung kommunikativen Handelns
- 6.3.2.1 Pluralität von Handlungen
- 6.3.2.2 Primat der Sprache: Face-to-Face-Interaktion
- 6.3.2.3 Smartphone und Tablet: ‚Mobiles Büro‘
- 6.3.2.4 Soziale Netzwerke: Empraktische Kommunikation
- 6.3.2.5 Bedeutung Sozialer Netzwerke: Twitter vor Facebook & Co.
- 6.3.2.6 Bundestag vs. Wahlkreis
- 6.3.2.7 Ensemble vs. Repertoires
- 6.4 Praxeologische Kontextualisierung von Tweets
- 6.4.1 Handlung(en)
- 6.4.2 Thema und Diskurs
- 6.4.3 Smalltalk
- 6.4.4 Zwischen Transparenz und Dekontextualisierung: Was wird (nicht) gesagt und gezeigt?
- 6.5 Zusammenfassung
- 7 Meta-Mediatisierung: Introspektive Reflexionen in Tiefeninterviews
- 7.1 Ausgangspunkte und Zielsetzungen
- 7.2 Struktur/Motivation
- 7.2.1 Sektor: ‚Nutzungsbeginn‘342: „[…] da ich ja 2009 schon angeblich was Verbotenes getan habe, muss ich also schon dabei gewesen sein.“ (UK-1)
- 7.2.2 Sektor ‚Selbst- vs. Fremdtwittern‘348: „Man muss authentisch sein, es muss in der Ich-Form geschrieben sein. Außerdem muss ich es selbst in der Hand haben.“ (JK-1)
- 7.2.3 Sektor ‚Motivation/Entscheidung‘358: „Ich glaube, es geht um den Kontakt mit Bürgerinnen und Bürgern.“ (SCK-1)
- 7.2.4 Sektor ‚Häufigkeit/Regelmäßigkeit‘378: „Eigentlich jeden Tag mehrmals.“ (SCK-1)
- 7.2.5 Sektor ‚Einsatz vs. Tabu‘386: „Naja, wenn ich schlafe, twittere ich nicht.“ (HW-1)
- 7.2.6 Sektor ‚Followee‘395: „Journalisten […] sind ein Seismograph dafür, was sich tut.“ (JK-1)
- 7.2.7 Sektor ‚Passive Twitternutzung‘404: „Im Prinzip, wenn ich selbst einen Tweet absetze, schaue ich vorher noch, was gerade auf der Timeline zu sehen ist.“ (HW-1)
- 7.2.8 Sektor ‚Aktive Twitternutzung‘410: „[…] es gibt auch Grenzen, wenn es nur Polemik oder Beleidigung ist, dann mache ich das nicht.“ (SCK-1)
- 7.2.9 Sektor ‚Ratschläge/Manöverkritik durch Mitarbeiter*innen‘413: „Beraten nicht, aber gegenseitiger Austausch.“ (DB-1)
- 7.3 Themen/Diskurs
- 7.3.1 Sektor ‚Themenoptionen‘420: „Also hier in Berlin bin ich schon im Allgemeinen Spezialist statt Generalist […]“ (JM-1)
- 7.3.2 Sektor ‚Thementabu‘429: „Alles, was in den klassischen Bereich Privatsphäre geht, würde ich nicht twittern.“ (HW-1)
- 7.3.3 Sektor: ‚Politische Themenoptionen/-tabus‘434: „[…] ich twittere nichts, wo ich keine Ahnung von habe.“ (MF-1)
- 7.3.3.1 Subsektor: ‚Politische Skandale‘ und ‚Shitstorms‘ 440: „Dreimal schlucken, warten, nicht drauf antworten.“ (US-1)
- 7.3.3.2 Subsektor: ‚Einsatz von Hashtags‘467: „[…] ganz gerne nutze ich Hashtags fast schon als eine Art Emoticon“ (UK-1)
- 7.3.4 Sektor: ‚Persönliches/Privates‘474: „Welches Bild möchte man als Abgeordneter von sich zeichnen und dann gehört das natürlich trotzdem mit dazu.“ (JS-1)
- 7.3.5 Sektor ‚Privatperson vs. Politiker*in‘496: „80 % politisch, 20 % privat.“ (US-1)
- 7.3.6 Sektor ‚Politisch brisante Informationen‘503: „Was ich nicht der BILD und meinem Nachbar sagen würde, das twittere ich nicht“ (SN-1)
- 7.3.7 Sektor ‚Öffentlichkeitsbewusstsein‘520: „Es sind halt Schnipsel und die sind flüchtig.“ (VB-1)
- 7.4 Funktion: „Schnelle Information mit Mehrwert […]“ (US-1)
- 7.5 Interaktivität und Dialogfunktion
- 7.5.1 Sektor ‚Stellenwert der Interaktion und des Dialogs‘542: „[…] man kann Stimmungen über Twitter registrieren.“ (JK-1)
- 7.5.2 Sektor ‚Dialogselektion‘551: „Aber alle, die unter der Gürtellinie sind oder NS-Vergleiche heranziehen, werden gleich geblockt.“ (DB-1)
- 7.5.3 Sektor ‚Vorder- vs. Hinterbühne‘568: „[…] was mich darüber erreicht sind Anfragen von Journalisten.“ (VB-1)
- 7.6 Wahlkämpfe
- 7.6.1 Sektor ‚Twitter als Wahlkampfinstrument‘573: „Für die Parteien ist es eine Möglichkeit, ihre Anhänger zu mobilisieren, aber keine Möglichkeit, neue Anhänger zu gewinnen.“ (SN-1)
- 7.6.2 Sektor ‚Twitterhandeln im Wahlkampf‘580: „Naja, vor der Wahl versucht man alles ein bisschen parteiischer zu sehen: Wir sind die Guten, die anderen sind die nicht so Guten.“ (VB-1)
- 7.7 Persönlicher Stellenwert
- 7.8 Vergleich zu weiteren Sozialen Netzwerken
- 7.8.1 Sektor ‚Vergleich Twitter vs. Facebook und Instagram‘602: „In der Regel ist Facebook für mich ein Foto und drei, vier Sätze.“ (US-1)
- 7.8.2 Sektor ‚Weitere Soziale Medien und Netzwerke‘629: „Ich unterscheide ein Stück weit, ob sich Netzwerke mehr an eine breite Öffentlichkeit richten, auch weniger politisch hardcore sind, sondern sehr Bild- und Foto-orientiert […]“ (US-1)
- 7.9 Meso- und makrostrukturelle Einordnung
- 7.9.1 Sektor ‚Stellenwert für politische Kommunikation‘656: „[…] weil die Journalisten immer fauler werden, sie wollen immer weniger recherchieren, sondern lieber auf Twitter schauen.“ (DB-1)
- 7.9.2 Sektor ‚Twitter-Empfehlung‘666: „Wenn es zu denen passt, dann ja.“ (JS-1)
- 7.9.3 Sektor ‚Zukunft ‚digitaler‘ politischer Kommunikation‘: „Wir gehen dorthin, wo die Bürger sind.“ (JK-2)
- 7.10 Typologie
- 7.11 Zusammenfassung
- 8 Mediatisierte Identitäten: Multimodale Praktiken des ‚Doing Roles‘ bei Twitter (und Facebook)
- 8.1 Ausgangspunkte und Zielsetzungen
- 8.2 Textualitätsaffordanzen: Multimodal-textlinguistische Bestimmung
- 8.2.1 Affordanz der strukturellen Offenheit
- 8.2.2 Affordanz des „Open State of Talk“
- 8.2.3 Affordanz der empraktischen Kommunikation
- 8.2.4 Affordanz der thematischen Heterogenität und Diskontinuität
- 8.2.5 Affordanz der „Small Stories“
- 8.2.6 Affordanz des Framing
- 8.2.7 Affordanz der stilistisch-konzeptionellen Breite
- (a) Grammatik (Flexion)
- (b) Verwendung bestimmter Hashtags (Lexik)
- (c) Umdeutungen und Lexikalisierungen
- (d) Jargon und Umgangssprache
- (e) „Unterneutrale Stilebene“
- (f) „Überneutrale Stilebene“: „Pathos und Feierlichkeit“
- 8.2.8 Affordanz der pragmatischen Diversität, Unterspezifizierung und Metakommentierung
- 1. Aufwertung der Eigengruppe
- 2. Abwertung der Fremdgruppe
- 8.2.9 Affordanz der diskursiven Teilhabe
- 8.2.10 Affordanz von Crossing, Hybridisierung und Intertextualität
- 8.3 Schlussfolgerung(en): Politische Tweets als Text(sorten)fragmente
- 8.4 Politisches „Participation Framework“ bei Twitter: Figurationsrollen
- 8.4.1 Beteiligungsrollen
- 8.4.1.1 Produzentenrolle
- 8.4.1.2 Rezipientenrolle
- 8.4.2 Interaktionsrollen
- 8.4.2.1 Mikrorollen
- 8.4.2.2 Rollencluster: Zur Komplexität des ‚Rollenspiels‘
- 8.4.2.3 Makrorollen
- 8.4.2.4 Analyse komplexer Fallbeispiele
- 8.4.3 Zusammenfassung
- 9 Meso- und Makromediatisierung: Weitere Akteure der politischen Nutzung Sozialer Netzwerke
- 9.1 Bürger*innen: Multimodale Protestkultur(en) durch Rekontextualisierung und -semiotisierung
- 9.1.1 Wahl(kampf)slogans
- 9.1.2 ‚Polit-Memes‘
- 9.1.3 ‚Polit-Selfie‘
- 9.2 Journalist*innen / Medien: Auf dem Weg zur ‚digitalen Anchorperson‘
- 9.2.1 Sektor ‚Twitter vs. Facebook‘818: „Ich bin nicht mit vielen Politikern auf Facebook befreundet, weil ich das auch gar nicht möchte.“ (MHo-1)
- 9.2.2 Sektor ‚Praktiken des ‚Online‘-Journalismus‘828: „Sie dürfen es sich nicht so vorstellen, dass ich hier den ganzen Tag sitze und Tweets aneinanderreihe.“ (MM-1)
- 9.2.3 Sektor ‚Vor- und Nachteile Sozialer Netzwerke für die eigene Arbeit‘842: „Es ist schneller und damit wird alles irgendwie noch schneller.“ (MM-1)
- 9.2.4 Sektor ‚Weitere Soziale Netzwerke‘853: „Politikjournalismus lebt ja von Botschaften, Aussagen und Statements und Instagram ist ja ein bildstarkes Netzwerk, die Texte spielen da eher eine untergeordnete Rolle.“ (JDS-2)
- 9.2.5 Sektor ‚„Lügenpresse“-Diskurs‘858: „Ich würde mal sagen, man wird einfach viel stärker angegriffen.“ (MH-2)
- 9.2.6 Sektor ‚Politische Positionierung in Sozialen Netzwerken‘863: „Soziale Netzwerke sind ja kein Raum, der meinungsfrei gestaltet werden muss.“ (MM-2)
- 9.2.7 Sektor ‚Zukunft des ‚Online‘-Journalismus‘873: „Der Journalismus wird immer versuchen, die Sozialen Medien für sich nutzbar zu machen.“ (DN-2)
- 9.2.8 Zwischenfazit
- 9.3 Schlussfolgerungen für die Analyseebene der Makromediatisierung
- C ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
- 10 Ergebnisse der Analysen und Schlussfolgerungen
- 10.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
- 10.2 Medien- und sprachtheoretische Einordnung der Ergebnisse: Auf dem Weg zur postmodernen politischen Kommunikation
- 10.3 Ausblick
- 10.3.1 Kollaborationen und Allianzen
- 10.3.2 Ereignisbezogene mediatisierte politische Kommunikation
- 10.3.3 Transkulturelle Mediatisierung
- 10.3.4 Politische Kommunikation bei Instagram und Co.
- 10.3.5 De-Mediatisierungstendenzen (?)
- 10.3.6 Diachrone und Langzeitstudien
- Literaturverzeichnis
- Anhang
- A. Bundestag
- B. Wahlkreis
- Abbildungen
- Tabellen
- Reihenübersicht
1.Einleitung, Fragestellung, Zielsetzung
Twittokratie1, Twitter Diplomacie2 oder Hashtag Diplomacy3 – diese Schlagwörter sind ein Beleg dafür, dass Soziale Netzwerke4, allen voran Twitter, nicht mehr am Rande öffentlich-politischer Kommunikation stehen, sondern längst im Zentrum politischer Macht – bei Regierungsvertreter*innen – angekommen sind. Die Inszenierung von Politik über das Medium Fernsehen ist mittlerweile durch die Inszenierung über Twitter, Facebook, Instagram und Co. ergänzt worden, aus interkultureller Perspektive freilich mit unterschiedlichem politischem Gewicht und unterschiedlicher kommunikativer Relevanz. Um Medienaufmerksamkeit buhlen nicht mehr – wie dies früher der Fall war – wenige Spitzenpolitiker*innen, denn sämtliche Politiker*innen sind heute in der Lage, ihre eigenen (Teil-)Öffentlichkeiten durch Soziale Netzwerke zu schaffen, d.h. zu organisieren und zu verwalten. Holly stellt bei seiner Untersuchung zum informellen Sprachhandeln eines Bundestagsabgeordneten 1990 noch fest:
Die Untersuchung eines „durchschnittlichen“ Bundestagsabgeordneten lag nahe, weil ein nicht-prominenter Parlamentarier in der Hauptsache nicht über Medien politisch sprachhandelt. (Holly 1990: 267)
Seit dieser Feststellung vor über 30 Jahren hat sich das Sprach- und Kommunikationshandeln „durchschnittlicher“ Parlamentarier*innen grundlegend gewandelt. Dies ist weniger auf sprachimmanente Faktoren zurückzuführen oder mit der Tatsache zu erklären, dass die ‚traditionellen‘ Medien für Abgeordnete leichter oder schwerer zugänglich geworden seien, sondern hängt mit den einschneidenden, systematischen und sämtliche Bereiche umspannenden Veränderungen im Politik- sowie Mediengefüge zusammen. Hier sind vor allem zwei medientechnologische Entwicklungen zu nennen, die unter dem Stichwort der Digitalisierung die öffentlich-politische Kommunikation zu Beginn des 21. Jahrhunderts maßgeblich prägen: 1. das Internet, 2. die durch technische Innovationen hervorgerufene mobile Kommunikation, vornehmlich durch Smartphone und Tablet.
←21 | 22→Das Internet hat einerseits zur Veränderung bestehender und Herausbildung neuer Medien, Dispositive, Kommunikationsformen und Textsorten im Bereich der politischen Kommunikation geführt (vgl. 2.2.2), andererseits hat es die Akteurskonstellationen und -rollen erweitert bzw. -verschoben (vgl. 4.3.3). War die Produktion von Medieninhalten bis dato einem kleinen, eher professionellen Kreis von Journalist*innen und Pressesprecher*innen (von Parteien, Regierungen etc.) vorbehalten, konnten allmählich alle Nutzer*innen Inhalte nicht nur rezipieren, sondern auch (simultan) produzieren. Die im Zuge des „Politainments“ prädigitaler Ära zu konstatierende Tendenz zu Personalisierung und Inszenierung von Politik (vgl. 2.2.1.1) differenzierte sich im Internet mit Homepages und Blogs auf multimodale Art und Weise noch weiter aus; umso mehr regte sich früh die Hoffnung, dass das „Social Web“ mit den Sozialen Netzwerken den von Habermas (1981) proklamierten Strukturwandel der Öffentlichkeit hin zu mehr politischer Deliberation endlich realisieren würde. Nachdem schließlich diese Euphorie einer weitgehenden Ernüchterung gewichen ist, denn die politische Lagerbildung und Abschottung wird ‚online‘ häufig in so genannten „Echokammern“ organisiert (vgl. Lütjen 2016), bleibt allerdings vielfach ein medienkritischer oder -idealisierender Duktus, der dazu führt, dass in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit politischer ‚Online‘-Kommunikation
a.Soziale Netzwerke als Kommunikationsplattformen sowie deren Kommunikate im Handlunsgfeld Politik isoliert untersucht werden,
b.die Bedeutung Sozialer Netzwerke für die holistische öffentlich-politische Kommunikation dadurch entweder überhöht und idealisiert oder reduziert und marginalisiert wird und
c.die politischen Akteure, ihr sozialer Status, ihr Rollenverhalten, ihre Eigen- und Fremdsicht(en) auf politische Kommunikation unberücksichtigt bleiben.
Möchte man politische Kommunikation und politisches Sprachhandeln in Sozialen Netzwerken also differenziert und möglichst umfassend untersuchen, muss man sie als Teil einer komplexen Kommunikationsstruktur betrachten, die aus vielen verschiedenen, medial sowie raum-zeitlich geprägten Kommunikationsnetzwerken und kommunikativen Mustern (Texte, Interaktionen) bestehen. Damit sind bereits zwei Aspekte angesprochen, die die politische Kommunikation gegenwärtig kennzeichnen:
1.Vielfalt der Kommunikationsmedien, -formen und -netzwerke
Neben den ‚traditionellen‘ Medien Brief, Telefon und Fernsehen haben sich mit dem Internet auch – mittlerweile ebenfalls als etabliert geltende – Kommunikationsformen wie E-Mail, Chat, Homepages oder aber auch Soziale Medien wie Blogs, audiovisuelle Soziale Medien wie Youtube und schließlich die genannten Sozialen Netzwerke wie Facebook, Twitter, Instagram, Snapchat, TikTok, Google+ etc. herausgebildet. Diese Pluralität an medial-multimodalen Kommunikationsoptionen bedeutet schließlich auch eine Pluralität an Kommunikationsnetzwerken, die sich durch je spezifische medial-kommunikative Handlungen charakterisieren (lassen).
Die genannte Vielfalt an strukturellen Kommunikationsmöglichkeiten steuert auf der einen Seite in besonderer Weise natürlich auch die Frage nach den Kommunikationsanlässen. Hier sind es – wie eingangs erwähnt – vor allem die portablen Medien, allen voran das Smartphone und das Tablet, die als Medienträger crossmediale zeit- und raumunabhängige, also „zerdehnte“ (vgl. Ehlich 1983), Kommunikationsanlässe schaffen und somit zu einer Dynamisierung der politischen Kommunikation führen.
Diese komplexe, sich in spezifischen medienkulturellen Mustern konkretisierende Mediatisierung der Politik stellt für die Politikerperspektive in der Forschung bislang weitgehend ein Desiderat dar. Untersuchungen beschränken sich meist auf isolierte Kommunikatanalysen, die oft nur ein lückenhaftes Bild dieses Mediatisierungsprozesses zeichnen (vgl. 4.4.2.1). Dies zeigt sich beispielsweise bei der Twitterkommunikation, die im Vergleich zur Kommunikation etwa bei Facebook und Instagram mit Bezug auf politische Themen wesentlich dynamischer und diskursiver5 verläuft und deshalb in dieser Arbeit in den Mittelpunkt gerückt werden soll.6
Den/Die Politiker*in als Sprachhandelnde*n und Kommunikationsakteur*in fokussierend setzt diese Untersuchung dagegen explizit an dem Zusammenspiel zwischen Kommunikator und Kommunikat mit Bezug auf Soziale Netzwerke an und reiht sich damit in eine Gruppe medienlinguistischer Kommunikatorforschungen innerhalb des Handlungsfeldes Politik ein (vgl. Holly 1990; Spranz-Fogasy 2002a, b, 2003 a, b, 2014; Wodak 2011; Dang-Anh 2019; Blasch 2020). Es soll als These gelten, dass Kommunikate, in diesem Fall vornehmlich Tweets, nur dann vollständig und erschöpfend erfasst werden können, wenn im Rahmen eines integrativen medienkulturlinguistischen Ansatzes (vgl. 4.0) neben den Kommunikatanalysen auch die zugrundeliegenden Handlungen und komplexen Kommunikationsnetzwerke als ritualisierte und kulturell geprägte Praktiken/Muster/Handlungen/Rituale7 ethnografisch erhoben werden. Diese subjekt- und handlungsorientierte Herangehensweise ist also eng an die akteurszentrierte und (selbst-)darstellungsorientierte ←23 | 24→Funktion Sozialer Netzwerke gebunden. Mit anderen Worten: Wenn bei Twitter die Darstellungsfunktion des Politikers/der Politikerin im Sinne der Image- und Markenbildung im Vordergrund steht, während Interaktionen (z. B. Dialoge) dagegen nur selten von Politiker*innen ausgehen und somit unterrepräsentiert sind (vgl. Thimm/Einspänner/Dang-Anh 2012a), dann erweist sich eine Kommunikatorforschung als unerlässlich, um die Praktiken der sprachlich-kommunikativen Selbstdarstellung kontextuell zu rahmen und in einen weiten medial-kommunikativen Gesamtzusammenhang zu stellen (mit Blick auf Funktionen, Zielgruppen, Eigen- und Fremdreflexionen, Handlungskomplexe, Medienrepertoires, -ensembles etc., vgl. 4.4.1). Dies soll letztlich dazu verhelfen, Soziale Netzwerke in ihrer Gesamtfunktion sowie ihrem Wechselspiel zu betrachten und ihre Bedeutung für die politische Kommunikation zu bestimmen.
Im Mittelpunkt einer integrativen ethnographischen Kommunikator- und Kommunikatforschung stehen dann u.a. folgende Aspekte:
- •Welche theoretisch-methodischen Zugänge sind erforderlich und können geleistet werden? (vgl. Kapitel 3 und 4)
- •Welche Rolle spielen Soziale Netzwerke im Alltag von Politiker*innen? Wann, wo und wie werden sie zur Realisierung welcher Funktionen eingesetzt und welche Bedeutung kommt ihnen im gesamtmedialen und -kommunikativen Zusammenhang zu? (vgl. Kapitel 6)
- •Wie lässt sich das Twitterhandeln von Politiker*innen rollen- und akteursbezogen medienkulturlinguistisch bestimmen? Inwiefern korrelieren Kommunikatanalysen mit kommunikatorbezogenen Eigen- und Fremdreflexionen? (vgl. Kapitel 7 und 8.4)
- •Wie lassen sich Soziale Netzwerke wie Twitter medienkulturlinguistisch adäquat und differenziert (er-)fassen? (vgl. Kapitel 4)
- •Welche Rolle spielen weitere Akteure wie Bürger*innen und Journalist*innen/Medien bei der ‚digitalen‘ politischen Kommunikation und wie sind sie aufeinander bezogen? (vgl. Kapitel 9)
Die Arbeit setzt also an der medienkommunikativen und mediatisierten Mikroebene an, indem sie vom funktionalen Zusammenspiel aller Kommunikationsoptionen im Alltag und im alltäglichen Handeln von Politiker*innen ausgehend zu einer medienlinguistisch fundierten Rollentypologie twitternder Politiker*innen gelangt. An die Untersuchung der mediatisierten Mikroebene anschließend können sodann Fragen nach der allgemeinen kommunikativen Funktion Sozialer Netzwerke für die Politik und den Konsequenzen, die daraus für die Trias zwischen Politik, Medien und Gesellschaft zu ziehen sind, erörtert werden (Meso- und Makroebene). Zu diesem Zweck wird die Politikerperspektive durch die Bürger- und Journalistenperspektive symptomatisch ergänzt.
Die Erforschung von Mediatisierungsprozessen unter medienkulturlinguistischen Vorzeichen muss Texte und Interaktionen als medial geprägt begreifen. Medientexte und -textsorten sowie Interaktionstypen stellen semiotisch zu Mustern geronnene medienkulturelle Praktiken dar, was wiederum bedeutet, dass ←24 | 25→sie sich sowohl durch Medien und mediendispositive Eigenschaften als auch den jeweiligen lebensweltlich-kulturellen Bedingungen, in denen sie gebraucht werden, formieren. Da diese Faktoren bei der Analyse ‚digitalen‘ Sprachgebrauchs häufig nur unsystematisch berücksichtigt werden, wird im Theorieteil einerseits die Einbettung von medienkulturellen Sprachpraktiken in die ‚Mediensoziokultur des Politischen‘ vorgenommen, um zu zeigen, inwiefern sie ‚mediatisierte Welten‘ prägen aber auch von den dort herrschenden kulturellen Praktiken geprägt werden (vgl. 4.3.1). Andererseits wird der dispositive Einfluss durch die Herleitung eines umfassenden medienkommunikativen Dispositiv-Begriffes markiert (vgl. 4.3.2), der die Grundlage dafür schafft, um die medial-diskursive Inszenierung von Tweets und Posts medienlinguistisch zu beschreiben.
Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut: Im zweiten Kapitel werden die Grundlagen öffentlich-politischer Kommunikation erläutert und die politische Kommunikation vor sowie seit dem Beginn der so genannten ‚Neuen Medien‘ skizziert. Im dritten Kapitel wird das Mediatisierungskonzept, das dieser Arbeit zugrunde liegt, eingeführt. Mit der Medienkulturlinguistik wird im vierten Kapitel ein spezifisch linguistischer Zugang gewählt, dessen Potenziale für die Analyse mediatisierungslinguistischer Fragestellungen erörtert werden. Hier sollen auch die theoretisch-methodischen Grundlagen zur Erforschung von multimodalen Rollenmustern im empirischen Teil gelegt werden. Das fünfte Kapitel beschreibt das Korpus sowie die Auswertungsmethoden der empirischen Analyse. Diese beginnt in Kapitel sechs mit der Mediatisierung von Alltagspraktiken und -routinen, die durch eine ethnografische Begleitung analytisch eruiert werden. Das siebte Kapitel stellt dieser ‚neutralen‘ Außensicht die subjektiv, da auf Introspektion basierende, Selbst- und Fremdsicht von Politiker*innen entgegen, die sich aus ethnografischen Tiefeninterviews ergeben. In Kapitel acht wird die Kommunikatorperspektive durch die kommunikatbezogene Analyse multimodaler Praktiken des ‚Doing Roles‘ ergänzt. Hier geht es darum, Figurationsteilrollen und somit -identitäten auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus textlinguistisch zu identifizieren. Kapitel neun führt mit Bürger*innen und Journalist*innen weitere Akteure auf der Meso- und Makroebene der Mediatisierung ein, die kommunikat- und kommunikatorbezogen empirisch erforscht werden. Im zehnten Kapitel werden die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung schließlich zusammengefasst und offene Forschungsfragen bzw. -perspektiven skizziert.
2.Politische Kommunikation und Sprache: Ein problemorientierter Forschungsüberblick8
2.1 Politische Kommunikation als symbolisches Sprachhandeln
Politische Kommunikation9 lässt sich immer als symbolisches Handeln10 auf zwei Ebenen beschreiben:
1.Sie ist semiotisch und wird durch Zeichensysteme realisiert, die – sei es als Sprache oder als multimodale Kommunikation11 im Verbund mit anderen Zeichensystemen – auf der konventionellen, symbolischen Verknüpfung von Inhalt und Ausdruck beruhen.
2.Sie verknüpft dadurch „Verweisungssymbole“ mit „Verdichtungssymbolen“ (Edelman 2005: 5)12, also die denotative mit der evaluativen Bedeutung von ideologischen13 Zeichen mit deontischer Zielsetzung (vgl. Hermanns 1989).
Diese zwei Ebenen können als Symbole ‚erster‘ und ‚zweiter‘ Ordnung gelten, wobei die Symbole der zweiten Ordnung als rhetorische Symbole immer auf Symbolen der ersten Ordnung basieren: Indem sie – der Logik der politischen Rhetorik folgend (vgl. Klein 2009a) – beispielsweise auf bestimmte politische ←29 | 30→Weltanschauungen, Positionen und Sachverhalte verweisen, dies mit spezifischen Werten und Bewertungen verbinden (die adressatenseitig bestimmte Emotionen und Verhaltensweisen hervorrufen sollen), greifen sie dabei stets auf komplexe Zeichensysteme (Sprache, Bild, Ton) zurück. Damit sind zugleich zwei grundlegende Fragestellungen angedeutet, die seit jeher im Fokus politolinguistischer Untersuchungen stehen: 1. Wie lässt sich der politische Sprachgebrauch lexikalisch und rhetorisch-stilistisch14 sowie 2. funktional15 bestimmen?
Die funktionale Perspektive ist mit Bezug auf politisches Sprachhandeln insofern von besonderer Bedeutung, als öffentlich-politische Kommunikation – als Realisierung von Sprachstrategien (vgl. Klein 1996) – immer zugleich persuasives Sprachhandeln umfasst, neben direkten also immer zugleich auch indirekte Sprecher-handlungen (vgl. von Polenz 1988: 201) realisiert werden, was mit der generellen Unterscheidung zwischen „direktem“ und „indirektem“ Adressatenkreis und der damit verbundenen Mehrfachadressiertheit zusammenhängt (vgl. Kühn 1995; Girnth 2015: 34).
Betrachtet man öffentlich-politische Kommunikation mithin als im Kern symbolische Kommunikation, basierend auf der Realisierung von Sprechakten unterschiedlicher Ebenen, kann sie als inszeniert aufgefasst werden. Inszenierung politischer Kommunikation ist dabei zunächst einmal wertneutral die Bezeichnung für das Muster einer zusätzlichen, neuen Bedeutungsebene, die das Ergebnis ←30 | 31→äußerer Einflussfaktoren (z. B. Öffentlichkeit, Mehrfachadressiertheit, „recipient design“16) darstellt:
Als „inszeniert“ soll ein Muster gelten – unabhängig von der Frage, ob es „wirklich“ oder „nur zum Schein“ vollzogen wird –, wenn es die Funktion hat, gegenüber einem Publikum auf einer anderen Realitätsebene einen bestimmten Effekt zu erzielen, der diesem Muster im unmittelbaren Handlungszusammenhang noch nicht zukommt. (Holly 1990: 57)
Wie Holly (1990: 57–59) ausdrücklich betont, ist Inszenierung von Sprache und Kommunikation kein politikspezifisches Phänomen, sondern eine aus der Bühnen- und Rollentheorie Goffmans (1993) entlehnte Metaphorik, um alltägliche rollenbezogene Kommunikation zu erfassen (vgl. hierzu 4.3.3). ‚Kommunikative Inszenierung‘ – z. B. in Bezug auf die Politikerrolle – meint dann in erster Linie „unverwerfliche“ (vgl. Holly 1990: 57) Muster symbolischer Formen, die zuvor schon unter Rekurs auf Edelman (2005: 5 f.) als „Verweisungs- und Verdichtungssymbole“ begrifflich eingeführt wurden. Auf das Zeichensystem Sprache bezogen stellen diese alle drei Teilbereiche dar, die in Bühlers Organonmodell (1965) als Grundfunktionen zum Ausdruck kommen: Verweisungssymbole entsprechen dann der Darstellungsfunktion von Gegenständen und Sachverhalten und Verdichtungssymbole können sowohl die Ausdrucksfunktion auf Sender- (sprachliche Muster von Emotionen und Emotionalität) als auch die Appellfunktion auf Empfängerebene (Weckung von Emotionen) betreffen. So wie Bühler (1965: 28) verdeutlicht, dass die drei Funktionsebenen Ausdruck, Darstellung und Appell selten allein, sondern meist kombiniert auftreten, können auch die für inszenierte politische Kommunikation konstitutiven Verweisungs- und Verdichtungssymbole nur in ihrer Kombination analysiert werden. Daraus ist zu schlussfolgern, dass die spezifischen rhetorischen und strategischen Muster bzw. Praktiken, die der Inszenierung zugrunde liegen, nicht nur das Kommunikat betreffen, sondern ebenso eine Kommunikator- und Rezipientenkategorie darstellen: Ob eine Äußerung als Inszenierung gemeint ist und/oder als perlokutionärer Effekt (vgl. Searle 1971: 71 f.; Austin 1972: 127 f.) auch verstanden wird, geht nicht (allein) aus dem Kommunikat hervor. Nur wer also bestimmte (politische) Inszenierungsmuster beherrscht, dem wird die Inszenierung auch gelingen und nur der-/diejenige, der/die sie durchschaut, kann die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen.
Es ist bis hierhin deutlich geworden, dass Inszenierung eine der öffentlichen Kommunikation im Allgemeinen und öffentlich-politischen Kommunikation im Besonderen inhärente und konstitutive Kategorie darstellt, die als „analytischer Begriff“ (vgl. Klemm 2017a: 29) nicht pejorativ, sondern in unterschiedlichen Facetten realisierend verstanden werden soll.17 Dennoch fungierte Inszenierung lange ←31 | 32→Zeit als – negativ konnotiertes – symptomatisches Schlagwort für das zunehmend mit bestimmten Formaten des Mediums Fernsehen und dem aufkommenden Internet assoziierte politikwissenschaftliche Konzept des Politainments sowie für das Konzept der Mediokratie als die Beeinflussung des Politiksystems durch das Mediensystem.
Im folgenden Abschnitt wird es deshalb zunächst um eine knappe, problemorientierte und kritische Auseinandersetzung mit beiden Konzepten, die beanspruchen, den Zustand und das Ausmaß der gegenseitigen Einflussnahme und Durchdringung von Medien und Politik der prädigitalen Ära um die Jahrtausendwende zu beschreiben, gehen.
2.2 Vom ‚Analogen‘ ins ‚Digitale‘18
2.2.1 Politainment und Mediokratie – Das ‚prädigitale‘ Makrosystem
2.2.1.1 Politainment
Politainment und Mediokratie sind politikwissenschaftliche Konzepte, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts einerseits symptomatisch, andererseits diagnostisch das medial-politische und politisch-mediale System in Deutschland zu charakterisieren suchen. Beide Ansätze gehen davon aus, dass sich die Darstellungs- bzw. Präsentationslogik der Politik („Darstellungspolitik“ nach Korte 2009, vgl. Sarcinelli 2011: 125 f.) unter medialen, soziokulturellen und -ökonomischen Einflüssen grundlegend verändert (hat).
Politainment umfasst dabei die (massen-)mediale Durchdringung politischer Elemente und Erscheinungsweisen und nimmt die Prämisse an, dass die Präsentation von „Politik im Unterhaltungsformat“ (Dörner 2001: 31) ein Symptom der (vielfach kritisch konzeptualisierten) „Erlebnisgesellschaft“ (vgl. Schulze 1992) darstellt. Nach Dörner (2001: 31) lässt sich Politainment wie folgt charakterisieren:
Politainment bezeichnet eine bestimmte Form der öffentlichen, massenmedial vermittelten Kommunikation, in der politische Themen, Akteure, Prozesse, Deutungsmuster, ←32 | 33→Identitäten und Sinnentwürfe im Modus der Unterhaltung zu einer neuen Realität des Politischen montiert werden.
Worin äußert sich nun diese „bestimmte Form“ der Kommunikation? Dörner (2001) nennt folgende Manifestationen von Politainment:
- •Neustrukturierung des öffentlichen Raumes: „Unterhaltungsöffentlichkeit“ (ebd.: 87f.)
- •Amerikanisierung: Personalisierung, ‚Horse Race‘ und Entertainisierung (ebd.: 112f.)
- •Politiker als hyperreale Medienfiguren (ebd.: 118f.)
- •Inszenierte Gespräche und Kommunikation (ebd.: 133f.)
- •Durchdringung unterhaltender Formate mit politischen Inhalten (ebd.: 143f.)
Die Kritik am Konzept des Politainments soll dabei hauptsächlich am Unterhaltungsbegriff ansetzen, der dort statisch und lediglich kommunikatbezogen gebraucht wird. Bei Unterhaltung bzw. Vergnügen19 handelt es sich wie bei den Subdisziplinen Humor, Komik und Satire um ästhetische und somit in erster Linie „rezipientenorientierte Kategorien“ (vgl. Diekmannshenke 2002b: 390), die sich kaum allgemeingültig definieren lassen. Unterhaltung kann im Bereich der Aneignung z. B. dann relevant werden, wenn Unterhaltungsansprüche seitens der Produzent*innen und Unterhaltungsansprüche seitens der Rezipient*innen divergieren, also vermeintlich unterhaltende und vergnügliche Elemente von den Rezipient*innen nicht als solche wahrgenommen werden, oder, anders herum, Zuschauer*innen ‚ernste‘ Inhalte vergnüglich rezipieren:
Dies zeigt, dass Unterhaltung und Vergnügen nicht (allein) an den Medientexten festgemacht werden können, selbst wenn diese auf eine vergnügliche Rezeption hin angelegt sind. Das Vergnügen ist eine Frage der Aneignung von Texten, Ergebnis einer spezifischen Rezeptionsmodalität oder – in der Diktion der Sprechakttheorie – eine Perlokution, keine kontrollierbare Illokution: Man kann versuchen oder anstreben, jemanden zu unterhalten, aber der Erfolg liegt nicht in der Macht des Produzenten; der Rezipient entscheidet letztlich selbst, ob er etwas vergnüglich findet oder nicht. (Klemm 2007a: 3).
Wie Klemm (2007a: 3 f.) darlegt, verhalten sich Unterhaltung bzw. Vergnügen einerseits und Information andererseits keineswegs dichotom zueinander, denn auch die vergnügliche Aneignung etwa mittels Satire oder Spott kann im Sinne der Cultural Studies informativ oder ernsthaft sein (vgl. Göttlich/Winter 2000).20
←33 | 34→Vor dem Hintergrund dieses Unterhaltungsbegriffes stellt sich das Politainment-Konzept allenfalls als hilfreiche Heuristik heraus, um als Ausgangspunkt für kommunikatbezogene Analysen von Kultur(en) der politischen Inszenierung von Unterhaltung und Vergnügen zu fungieren. Für Kommunikator- und Rezeptions- bzw. Aneignungsstudien innerhalb dieses Forschungsparadigmas ist das Konzept indes zu statisch, da neben der Kategorie Unterhaltung auch weitere Kategorien wie Öffentlichkeit oder Politik mit Bezug auf die jeweilige Perspektive zu differenzieren sind, um Praktiken beschreibbar zu machen.
2.2.1.2 Mediokratie
Während Politainment die vermeintliche Durchdringung der Medien mit unterhaltender Politik meint, nähert sich der Begriff Mediokratie dem veränderten Verhältnis von Politik und Medien aus politischer Perspektive, indem er nach den politischen Konsequenzen vermeintlicher medialer ‚Übermacht‘ und ‚Vereinnahmung‘ fragt, weshalb die Ausrichtung als grundsätzlich medienkritisch bzw. -pessimistisch zu betrachten ist. Diese „Kolonisierung der Politik durch das Mediensystem“ (Meyer 2001: 10) habe zur Folge, dass die Logik des Mediensystems die Logik des Politiksystems vorgebe, sie gleichsam ersetze. Deshalb geht der Begriff „Mediokratie“ für Meyer auch über den Begriff „Mediendemokratie“ (ebd.) hinaus, da er diagnostisch eine Orientierung der Medien am „Massengeschmack“ der Bevölkerung postuliert:
Wo Massenmedien als Mittler und Katalysatoren dafür sorgen, dass Neigungen und Vorlieben, Aufmerksamkeitsbereitschaft und Informationsneigung des breitest möglichen Massenfeldes der Gesellschaft zu einer Art Grundgesetz der gegebenen Kommunikationsweise werden, sind die Merkmale der Mediokratie erfüllt. (ebd.: 11)
In der Tat ergeben sich hier im Vergleich zum Politainment-Begriff (vgl. 2.2.1.1) parallel laufende Kritikpunkte, die aus der merkmalsreichen, dennoch Vagheit und (semantische) Unterbestimmtheit ausstrahlenden Definition herrühren: Um wessen „Neigungen“, „Vorlieben“, „Aufmerksamkeitsbereitschaft“ und „Informationsneigung“ handelt es sich? Wie lassen sich diese Konzepte empirisch ermitteln und darstellen? Wer stellt das „Massenfeld der Gesellschaft“ dar? Steht „Grundgesetz“ metaphorisch für ‚feste Norm/Regel/Ordnung‘? Wer überwacht diese Normen, wer schreibt sie vor und wer sanktioniert Verstöße?
Nach Meyer (2001) sind nun u. a. folgende Merkmale kennzeichnend für Mediokratie:
- •Mediale Theatralisierung politischer Ereignisse (ebd.: 111f.)
- •Nivellierung der Divergenz zwischen politischer Zeit und Medienzeit (ebd.: 63f.)
- •Selbstmediatisierung und Prä-Inszenierung (ebd.: 85f.; 139f.)
- •Marginalisierung intermediärer Akteure (ebd.: 44)
←34 | 35→Diese Charakteristika legen ein einseitiges Determinationsverhältnis nahe, das eine Unvermeidbarkeit der massenmedialen Ausrichtung von Politik21 postuliert.22
Details
- Seiten
- 722
- ISBN (PDF)
- 9783631879061
- ISBN (ePUB)
- 9783631879078
- ISBN (Hardcover)
- 9783631879054
- DOI
- 10.3726/b19950
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2023 (Januar)
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 722 S., 5 farb. Abb., 380 S/W-Abb., 34 Tab.