Lade Inhalt...

Vorsatz in der Fahrlässigkeit

Eine Widerlegung der bewussten Fahrlässigkeit

von Köroglu Kaya (Autor:in)
©2022 Dissertation 352 Seiten

Zusammenfassung

Die Ziffern im mathematischen sowie Begriffe im juristischen Sinne bilden den ersten Knopf. „Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande" (Goethe). Die Begriffsbildung des Vorsatzes und Unterscheidung zwischen dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit gilt als eine der schwierigsten Frage der Strafrechtsdogmatik. Der Verfasser befasst sich mit der Frage, ob die Einordnung des voluntativen Elements zum Vorsatz zutreffend und ob „bewusste Fahrlässigkeit" eine ontologisch „gefundene Kategorie" oder ein fiktiv „erfundener Begriff" ist. Mit dem klaren Verdikt der Künstlichkeit der bewussten Fahrlässigkeit präsentiert der Autor anschließend wertvolle Reformanstöße zur Revision der Straftatsystematik und zur gesetzlichen Neuregelung zu Lasten (Ablehnung) der bewussten Fahrlässigkeit, die an sich eine „contradictio in adjecto" darstellt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Einführung in die Problematik
  • B. Umfang und Begrenzung des Themas
  • C. Vorgehensweise und Methode
  • D. Gang der Untersuchung
  • Das Erste Kapitel. Die Hemdknöpfe und die gewollte Tätigkeit
  • § Die in den Weg zu legenden Steine
  • A. Ausgangspunkt
  • B. Die Kurzformel: Ein groteskes Bild
  • C. Der Grund der strafrechtlichen Verantwortlichkeit: Die gewollte Tätigkeit
  • I. Grundlagen
  • II. Wieso beginnen wir mit dem Begriff „Handlung“?
  • III. Die gewollte Tätigkeit
  • IV. Nicht eine bloße Steuerung, sondern bewusste Ingangsetzung des kausalen Prozesses
  • D. Der Mittelpukt der Problematik
  • I. Die Sackgasse
  • II. Intensive Bestrebung, aber keine eindeutige Lösung
  • III. Der Streit um das Willenselement des [bedingten] Vorsatzes
  • Das Zweite Kapitel. Der erste Knopf: Fahrlässigkeit im Vorsatz
  • §1 Grundprobleme der Fahrlässigkeit: Umdenken beim Vorsatz
  • A. Ausgangspunkt
  • B. Das Wesen des Vorsatzes
  • §2 Die Kritik des „Seins“ und die Feststellung des „Sollens“
  • A. Der Grund- und Artbegriff
  • I. Die Unterscheidung von Entstehung und Charakterisierung
  • II. Die Grund- und Erscheinungsform eines Begriffes: Der Grund- und Artbegriff
  • III. Die Kritik des „Seins“
  • 1. Die heute gängige Klassifizierung
  • 2. Eine Pari-passu-Aufteilung
  • IV. Die Feststellung des „Sollens“
  • 1. Die Urform des Vorsatzes: Der bedingte Vorsatz
  • 2. Die Erscheinungsformen des Vorsatzes
  • 3. Das Wollen: Nicht ein typisierendes, sondern qualifizierendes Element
  • B. Ein integriertes Denk- und Fühlsystem: Die Untrennbarkeit von „Wissen“ und „Wollen“
  • I. Die gegenwärtige Situation
  • II. Die Einheit von „Wissen“ und „Wollen“
  • III. Das Wollen ist schon impliziert im Wissen
  • IV. Kein „wollensfreier“, sondern „selbstständig-wollensfreier“ Vorsatzbegriff
  • V. Die zwei Kehrseiten derselben Medaille
  • C. Zwei Bezugspunkte des Wollens: Tat und Erfolg
  • I. Ein Fass ohne Boden: Der Begriff „Wollen“
  • II. Der psychologische Hintergrund des Begriffes „Wollen“
  • III. Die Aporie von Wünschen und Wollen
  • IV. Indirektes Wollen
  • V. Das Meronym: Wer die Gesamtheit will, darf nicht die Stücke leugnen
  • VI. „Mitgewollt-sein“
  • D. Argumentum a Contrario und § 24 Mecelle: Ist das „Verbot“ weg, so kommt das „Verbotene“ zurück
  • I. Ausgangspunkt
  • II. § 16 StGB: Regelung des Nicht-Vorsatzes oder ein Umkehrschluss
  • III. Argumentum a contrario
  • §3 Der Grundsatz des Rechts: Das Tatprinzip
  • A. Das Tatprinzip
  • I. Das Recht legt nicht das Herz, sondern die Hand zugrunde
  • II. Nicht Hoffnung, sondern Handlung
  • III. Der Vorsatz: Nicht nach dem Herz, sondern nach der Hand
  • B. Die Handlung spricht deutlicher als Worte
  • I. Die Innenseite des Menschen: Eine „Blackbox“
  • II. Das Wort und die Handlung
  • III. Die in die Außenwelt eingetretene Tat ist das Spiegelbild der Innenwelt
  • IV. Steckt der Vorsatz im Finger oder im Kopf?
  • C. Schutzbehauptung: Das strafrechtliche Verfahren ist ein taktisch orientiertes und geführtes Spiel
  • I. Das Geständnis des Täters: Der einzige Picklock
  • II. Die Schutzbehauptung: Wer schießt sich ins eigene Bein?
  • III. Das Gerichtsverfahren ist ein taktisch-orientiertes Spiel
  • D. Die Ungewissheit der voluntativen Seite des Vorsatzes
  • I. Die Elastizität der Grenze und Transitivität der Grenzfälle
  • II. Die Ungewissheit der Maßstäbe
  • III. Medice, cura te ipsum!
  • E. Die Kurzformel: Eine Zauberformel?
  • I. Eine inhaltsleere Floskel
  • II. Die Zauberformel
  • III. Eine Humpty-Dumptyische Begriffsbildung
  • F. Die materiellrechtliche und prozessuale Einheit eines Begriffes
  • I. Der beweisrechtliche Hintergrund
  • II. Beweisrechtlich oder sachlich?
  • III. Die Kehrseite der Medaille: Begriffsbildung und Beweisführung
  • IV. Der Kernsatz: Theoretische Richtigkeit und praktische Durchführbarkeit
  • V. Der vielstimmige, dissonante Chor
  • Das Dritte Kapitel. Der zweite Knopf: Vorsatz in der Fahrlässigkeit
  • § Jagd nach dem Vorsatz
  • A. Die Fahrlässigkeit
  • I. Die auf Feuerbach zurückgehende Aufteilung
  • II. Der etymologische Hintergrund des Begriffs „Be-wusst- sein“ und Fahr-lässig-keit“
  • 1. Ausgangspunkt
  • 2. Der etymologische Hintergrund des Begriffs „Be-wusst-sein“
  • 3. Der etymologische Hintergrund des Begriffs „Fahr-lässig-keit“
  • 4. Bewusstsein deutet auf Vorsatz, Fahrlässigkeit auf Unbewusstsein hin
  • 5. „Bewusst-sein“ und „Fahr-lässig-keit“ schließen sich gegenseitig aus
  • B. Die bewusste Fahrlässigkeit: Contradictio in adjecto
  • I. Contradictio in adjecto
  • II. Schwarze Milch
  • III. Die „double bind“ Theorie: Ein psychopathologisches Krankheitsbild
  • C. Ergibt zweimal Unrecht einmal Recht?
  • I. Ausgangspunkt
  • II. Ursache-Wirkung-Beziehung
  • III. Kein Ausweg: Nicht Auswahl, sondern Notwendigkeit
  • IV. Zweimal Unrecht ergibt nie einmal Recht
  • V. Ein Paradebeispiel: Culpa dolo determinata
  • D. Die Lebensfremdheit der „denaturierten“ juristischen Begriffe
  • I. Ontologie und Fiktion
  • II. Die Entsprechung von „Sein“ und „Sollen“
  • III. Aus „Wenn“ oder „Falls“ ergibt sich nur ein großes „Nichts“
  • IV. Was nach den Gesetzen der menschlichen Natur nicht möglich ist, kann kein Gesetz möglich machen
  • V. Die Sache, die uns mit hundert schwarzen Augen ansieht
  • VI. Denaturierung der Begriffe: Nicht gefunden, sondern erfunden
  • VII. Ein „Don Quijote“-Kampf
  • E. Bewusste Fahrlässigkeit, Dolus eventualis und Irrtum
  • I. Verschiebung oder Zurücksetzung?
  • II. Nichts anderes als Dolus eventualis
  • 1. Ausgangspunkt
  • 2. Gleiches Unrecht, unterschiedliche Schuld
  • 3. Das gemeinsame kognitive Element
  • 4. Gleiche psychische Stufe im Unrechtsbereich
  • 5. Die mildere Schuldstufe des Dolus eventualis
  • 6. Die im Heuhaufen verlorene Nadel im Vorgarten suchen
  • 7. Das „subjektive Mehr“
  • 8. Die Unterscheidung von Handlungs- und Gesinnungswert
  • III. Die bewusste Fahrlässigkeit ist eigentlich ein Irrtum
  • IV. Kein vorsatzausschließender, sondern ein sich auf die Schuld auswirkender Irrtum
  • 1. Die Unterscheidung von Vorstellung und Antizipation
  • 2. Error facti [der faktische Irrtum]
  • 3. Richtige Vorstellung, irrige Einschätzung
  • 4. Das Vertrauen auf einen guten Ausgang ist Gegenindiz des Vorsatzes?
  • Das Vierte Kapitel. Der letzte Knopf: Vorsatz im Vorsatz und Fahrlässigkeit in der Fahrlässigkeit
  • §1 Das Vernunftwesen
  • A. Der Ausgangspunkt der eigenen Ansicht zur Vorsatzbestimmung
  • I. Kurzformel: Keine Vereinfachung, sondern kontinuierliche Komplikation
  • II. Der dritte Weg bzw. Mittelweg
  • III. Die Objektivierung der Kriterien zur Grundvorsatzbestimmung
  • 1. Ausgangspunkt
  • 2. Ein hegelianischer Maßstab: Das vernünftige Wesen
  • 3. Der Gradmesser: Der Modellmensch
  • IV. Die Maßstäbe
  • 1. Grundlagen
  • 2. Der einsichtige und besonnene Mensch
  • 3. Der objektive Beobachter: Eine Dritte-Person-Perspektive
  • 4. Die Lebenserfahrungssätze
  • 5. The Ordinary Course of Events: Die Typizität des Falls und Gewöhnlichkeit des Erfolgseintritts
  • V. Augen des Täters oder Brille des Richters?
  • VI. Illegale Autorennen: Die Raser-Fälle auf der Straße
  • VIII. Die mutmaßliche Kritik und Einzelfallgerechtigkeit
  • VIII. Grundzüge der eigenen Ansicht
  • B. Ist der Ersatz von Gegenfaktoren Gegenindiz zum Vorsatz?
  • I. Die Theorie der Manifestation des Vermeidungswillens
  • II. Der Ersatz von Gegenfaktoren als vorsatzausschließender Grund?
  • III. Ein echtes Problem und die am falschen Ort gesuchte Lösung
  • IV. Der betätigte Wille: Quasi-Rücktritt
  • C. Beherrschbarkeit und Kontrollierbarkeit des Kausalverlaufs
  • I. Die Tatherrschaft des Täters
  • II. Unbeherrschbarkeit oder Unkontrollierbarkeit als ausschlaggebendes Abgrenzungskriterium?
  • III. Den Zug in Gang setzen oder auf einen fahrenden Zug freiwillig aufsteigen?
  • IV. Eigenes und fremdes Risiko: Ist Selbstgefährdung ein Gegenindiz des Vorsatzes?
  • §2 Das Dilemma des Strafrechts
  • A. Freiheit und Sicherheit
  • I. Die moderne Zeit und Risikogesellschaft
  • II. Die Komplexität der Lebensverhältnisse und sachgerechte Begriffsbildung
  • B. Die Privilegierung des Egoismus
  • I. Ausgangspunkt
  • II. Der Begriff „Egoismus“
  • III. Darf Egoismus privilegiert oder prämiert werden?
  • C. Die Privilegierung des Optimismus
  • I. Weder dies noch das
  • II. Das umsichtige Rechtssubjekt oder der gedankenlose Bummler?
  • III. Weder theoretisch logisch noch praktisch gerecht
  • IV. Weder optimistisches noch pessimistisches, sondern rationales Menschenbild
  • D. Rūmīs Elefant und Petitio Principii
  • I. Ausgangspunkt
  • II. Ein methodisches Paradox
  • III. Ein Denkfehler: Petitio Principii
  • Schlussbetrachtungen
  • Literaturverzeichnis

←16 | 17→

Abkürzungsverzeichnis

Abs.

Absatz

AcP

Archiv für die civilistische Praxis

AfcP

Archiv für die civilistische Praxis

AfRW

Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie

AJCL

The American Journal of Comparative Law

Angekl.

Angeklagte

Anm.

Anmerkung

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

ARWP

Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie

bearb.

bearbeitet

Bd.

Band

BGH

Bundesgerichtshof

bspw.

beispielsweise

bzw.

beziehungsweise

CLF

Criminal Law Forum

Diss.

Dissertation

DLJ

Duke Bar Journal

dStGB

deutsches Strafgesetzbuch

estStGB

estnisches Strafgesetzbuch

EvGF

Ersatz von Gegenfaktoren

f.

auf der nächsten Seite

ff.

auf den nächsten Seiten

Fn.

Fußnote

gem.

gemäß

hrsg.

herausgegeben

HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Informal Log.

Informal Logic

Iss.

Issue

insb.

insbesondere←17 | 18→

GA

Goltdammer`s Archiv für Strafrecht

GG

Grundgesetz (der Bundesrepublik Deutschland)

JA

Juristische Arbeitsblätter

JAACAP

Journal of the American Academy of Child Psychiatry

Jhg.

Jahrgang

JCLC

Journal of Criminal Law and Criminology

JRE

Jahrbuch für Recht und Ethik

JURA

Juristische Ausbildung

JuS

Juristische Schulung

JZ

Juristen Zeitung

KJ

Kriminologisches Journal

KriPoZ

Kriminalpolitische Zeitschrift

LK

Leipziger Kommentar

m. a. W.

mit anderen Worten

MüKo

Münchener Kommentar

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nr.

Nummer

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

OLG

Oberlandesgericht

Oxf. J. Leg. Stud.

Oxford Journal of Legal Studies,

öStGB

österreichisches Strafgesetzbuch

PA

Psychotherapy in Australia

Phenom Cogn Sci

Phenomenology and the Cognitive Sciences

Philos Stud

Philosophical Studies

PM

Psychologische Medizin

RabelsZ

Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht

RDP

Revista de Derecho Puertorriqueño

RECPC

Revista Electrónica de Ciencia Penal y Criminología

Rn.

Randnummer

Rspr.

Rechtsprechung

S.

Seite

SALJ

South African Law Journal←18 | 19→

SCJN

Suprema Corte de Justicia de la Naciòn

SLR

Slovenian Law Review

StGB

Strafgesetzbuch

StPO

Strafprozessordnung

StR

Revisionen in Strafsachen

STS

spanisches Tribunal Supremo

sog.

sogenannt

tStGB

türkisches Strafgesetzbuch

Univ.

Universität

Univ PA Law Rev

University of Pennsylvania Law Review

usw.

und so weiter

V.

Volume

v.

von

Vorb.

Vorbemerkungen

z. B.

zum Beispiel

ZIS

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZJS

Zeitschrift für das Juristische Studium

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

z. T.

zum Teil

←20 | 21→

Einleitung

A. Einführung in die Problematik

Es ist heute nahezu unumstritten, dass Vorsatz und Fahrlässigkeit die zwei subjektiven Haupterscheinungsformen des persönlichen Vorwurfs bilden.1 Insoweit stellen Vorsatz und Fahrlässigkeit zwei wesentliche, unerlässliche und zentrale Begriffe des Strafrechts dar. Über viele Jahre hinweg wurden aber die Fahrlässigkeit und das Fahrlässigkeitsdelikt als ein Stiefkind des Strafrechts und der rechtswissenschaftlichen Forschung angesehen. Obwohl heutzutage die Fahrlässigkeit die zweitgrößte Deliktsgruppe im Strafrecht bildet und gleichzeitig auch ein wesentliches Verantwortlichkeitsprinzip erörtert, erfährt die Fahrlässigkeit und insb. die sog. bewusste Fahrlässigkeit nicht die Aufmerksamkeit, die ihr eigentlich zukommen sollte. Denn bis zum heutigen Zeitpunkt wird die Fahrlässigkeit ausgehend vom bzw. in Abgrenzung zum Vorsatz – bspw. im Hinblick auf die bewusste Fahrlässigkeit und den bedingten Vorsatz – beschrieben.

Im Schrifttum sowie in der Rechtsprechung gibt es verschiedene Auseinandersetzungen über den Begriff, das Wesen, die Art und die Merkmale der Fahrlässigkeit. Seit langem ist es aber auch allgemein anerkannt, dass die Abgrenzung zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz wegen der Vorgehensweise der heute vorherrschenden Lehre zu den schwierigsten und umstrittensten Fragen in der Strafrechtsdogmatik gehört2. In diesem Zusammenhang erscheint die Abgrenzung der bewussten Fahrlässigkeit vom bedingten Vorsatz als eine sowohl geschichtliche als auch durchweg aktuelle und umstrittene Frage. Zum einen stellt sich die Frage, ob eine Kategorie wie die bewusste Fahrlässigkeit tatsächlich begründet werden kann; zum anderen stellt sich die grundlegende Frage, ob die Kategorie „bewusste Fahrlässigkeit“ ein gefundener bzw. konstruierter oder bloß ein erfundener bzw. gekünstelter Begriff ist. Ferner tauchen im Hinblick auf die Begriffsbestimmung des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit sowohl aus theoretischen als auch aus praktischen Bemühungen erhebliche Schwierigkeiten auf,3 weil die gängige Beschreibung des Vorsatzes eine durchaus problematische Besonderheit aufweist.4 Eine alternative Herangehensweise wäre, im Wesen sowohl des Vorsatzes als auch der [bewussten] Fahrlässigkeit de novo umzudenken und diese Begriffe umzuformulieren. Um den sich daraus ergebenden Problemen zu begegnen und sie sachgerecht lösen zu können, muss man unbedingt den Begriff „Vorsatz“ umschreiben. Dies erfordert, dass man das Wesen, die Merkmale und Formen ←21 | 22→des Vorsatzes erneut in die Diskussion einbringen muss, weil ausgehend von der herrschenden Ansicht die derzeit andauernden Diskussionen offensichtlich kein Ende finden werden.

Zweifellos befindet sich die heute herrschende Lehre in einer Krise. Die Krise der traditionellen Ansätze und der heute herrschenden Lehre zur Grenzbestimmung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit5 bzw. die Abgrenzungsfrage zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz gehören auch im 21. Jahrhundert weiterhin zu den schwierigsten Fragen in der Strafrechtsdogmatik.6 Die materiellrechtliche Definition des bedingten Vorsatzes und die Unterscheidung zwischen Dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit bildet in jüngster Zeit das wesentliche Thema der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen7 und ist eines der theoretisch umstrittensten und praktisch bedeutsamsten Probleme sowohl der deutschen8 als auch vieler anderen Strafrechtsordnungen.9 Hingegen könnte man das Schrifttum sowie die Rechtsprechung bereichern und Lösungen konkreter Rechtsfragen deduzieren, indem man einen Perspektivenwechsel vornehmen und die bewusste Fahrlässigkeit nicht mehr als ontologisches bzw. vorgegebenes, sondern als ein fiktives, d. h. post factum erfundenes Faktum betrachten würde.

Aus diesem Grund möchte diese Arbeit auf den historischen, rechtsphilosophischen und etymologischen Hintergrund des Vorsatzes und der [bewussten] Fahrlässigkeit eingehen und alternative Lösungswege untersuchen. Im Lichte der aus dieser historischen, rechtsphilosophischen und etymologischen Untersuchung gewonnenen Angaben wird der Vorsatz und die [bewusste] Fahrlässigkeit abweichend von der bisherigen allgemein akzeptierten Meinung durch eine neue Herangehensweise ersetzt. Auf diese Weise können alternative Lösungen zu den Grundproblemen der Begriffsbildung von Vorsatz und Fahrlässigkeit gefunden werden.

Zweifellos zielt jede akademische Arbeit darauf ab, einen Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt zu leisten. In dieser Arbeit hat der Verfasser ein Hauptziel und einige sekundäre Ziele, die nach dem Abschluss der Arbeit erreicht werden sollen. Das Problem des Vorsatzes und der [bewussten] Fahrlässigkeit weist eine geschichtliche und komplizierte Materie auf. Zur Herausarbeitung eines neuen und originellen Lösungsansatzes entsprechend der modernen und lebensnahen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdogmatik ist es daher unerlässlich, den historischen, ←22 | 23→rechtsphilosophischen und etymologischen Hintergrund dieser beiden wesentlichen Begriffe zu erforschen.

Vor diesem Hintergrund hat zunächst eine zutreffende Begriffsbildung zu erfolgen. Es versteht sich von selbst, dass dies nicht allein durch die Negation eines Gegenbegriffs geschehen darf. Beispielsweise kann der Bedeutung des Begriffes „Fahrlässigkeit“ überhaupt nicht durch seine Umschreibung als „Nicht-Vorsatz“10 oder „Un-Vorsatz“ Rechnung getragen werden,11 weil ein Begriff nicht aus der negativen Beschreibung anderer Begriffe entwickelt werden soll.12 Denn wie Al-Ghazali zutreffend meint: Irgendeinen Begriff zu beschreiben, heißt nicht darzustellen, was dieser nicht ist.13 Deswegen sollten in dieser Arbeit die beiden Seiten sowohl des Vorsatzes als auch der Fahrlässigkeit klargestellt werden: zum einen das, was Vorsatz oder [bewusste] Fahrlässigkeit ausmachen, zum anderen das, was Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht sind. Demzufolge ist der Hauptzweck dieser Arbeit, eine zutreffende und sachgerechte Begriffsbestimmung bezüglich des Vorsatz- und Fahrlässigkeitsbegriffs herauszuarbeiten und kriminalpolitisch die Zweckmäßigkeit der Bestrafung in einschlägiger Weise zu erforschen und schließlich durch die daraus gewonnenen Erkenntnisse einen neuen Beitrag zur Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdogmatik zu leisten.

Dieser Beitrag wird darin bestehen, dass die Kategorie,, bewusste Fahrlässigkeit“ in Wahrheit abzulehnen ist, weil sie weder theoretisch konstruierbar noch praktisch durchführbar scheint. Insoweit stellt der Ausdruck „bewusste Fahrlässigkeit“ eine Contradictio in Adjecto14 dar. Die hier erwähnte Auffassung ist insb. wegen ihres widersprüchlichen Wortlauts her nicht tragfähig. „Bewusstsein“ enthält bereits begrifflich das Erfordernis des vorsätzlichen Verhaltens, während Fahrlässigkeit eine unbewusste Tat darstellt. Dementsprechend ist diese Konstruktion semantisch nicht denkbar.15 Daraus folgt, dass die bewusste Fahrlässigkeit bereits vom Wortlaut her ein Widerspruch in sich darstellt. Hiernach stehen „bewusst“ und „fahrlässig“ in einem kontradiktorischen Verhältnis zueinander.16

←23 | 24→

Vor dem Hintergrund der Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdogmatik und der damit einhergehenden ewigen Diskussionen ist diese Arbeit insofern relevant, als sie diesen dogmatischen Auseinandersetzungen eine alternative Lösung bieten kann. Es ist dabei jedoch nicht zu vergessen, dass die auf der Hand liegende Arbeit auch nur ein Versuch ist, der darauf abzielt, eine sog. alternative Lösung in einer ewigen Diskussion zu finden und dadurch einen dritten Weg eröffnen zu können. Deswegen soll und darf dieser Beitrag auf keinen Fall als ein Anspruch auf die letzte Wahrheit verstanden werden.17

B. Umfang und Begrenzung des Themas

Es ist eingangs hervorzuheben, dass es hier jedoch nicht darum geht, eine ausführliche dogmatische Untersuchung bezüglich der Begriffe „Vorsatz und Fahrlässigkeit“ durchzuführen und dabei auf alle einschlägigen Theorien einzugehen. Mit anderen Worten, Ziel dieser Arbeit ist nicht, auf den entbrannten Streit über die unterschiedlichen Theorien bezüglich des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit ausführlich einzugehen und den ganzen Themenkreis noch einmal aufzurollen. Aus diesem Grund hat der Verfasser bewusst auf jeden einzelnen dogmatischen Ballast verzichtet und versucht, nur betreffende Gesichtspunkte der im Schrifttum vertretenen Lehren bezüglich der Bestimmung und Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit heranzuziehen.

Ziel und Sinn dieser Arbeit ist es daher nicht eine umfangreiche dogmatische Untersuchung durchzuführen, weil die Lehren bereits ausreichend behandelt worden sind. Es geht hier vielmehr um die Diskussion der Grenzen der theoretischen Systematik im Strafrecht oder um individuelle und eigene Lösungsvorschläge bezüglich des Wesens des Vorsatz- und Fahrlässigkeitsbegriffes und um die Abgrenzungsprobleme zwischen Vorsatz [Dolus eventualis] und [bewusster] Fahrlässigkeit selbst. Die Arbeit muss sich somit auf eine Erörterung der aktueller Fragen bzw. Probleme und die Entwicklung sowie Begründung einer neuen Vorgehensweise bzw. einer alternativen Lehre beschränken.18

Aus diesem Grund sollen im Folgenden nur die wesentlichen Standpunkte der Theorien aufgezeigt und kritisch beleuchtet werden. Es wäre weder notwendig noch ergiebig, auf alle Einzelheiten der teils nur in Details abweichenden, d. h. sich häufig ähnelnden19, Meinungen einzugehen.20 Ferner soll nur auf die ←24 | 25→bedeutendsten literarischen Werke zu diesem wesentlichen Streit hingewiesen werden,21 um eine eigene und alternative Theorie entwickeln und begründen zu können. Zudem ist der Verfasser auch davon überzeugt, dass die herrschende Lehre und ihre herkömmliche Grenzziehung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit hinter den Anforderungen einer modernen Strafrechtswissenschaft zurückgeblieben ist22 und es daher zusätzlicher, neuer Formulierungen bedarf.23 Es ist daher die Aufgabe der Strafrechtsdogmatik, Kriterien aufzufinden und neue Lösungen zu bieten, die eine sachgerechte Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit ermöglichen und diese in einen systematischen, rational überprüfbaren Zusammenhang zu stellen.24

Insoweit soll es außerdem Hauptzweck dieser Doktorarbeit sein, zu einer theoretisch vertretbaren und praktisch durchführbaren Fassung bezüglich des Begriffes des Vorsatzes [Dolus eventualis] und der [bewussten] Fahrlässigkeit zu gelangen und auf diese Weise dem heutigen und zukünftigen Strafrecht beizutragen.25 Denn nur vor diesem Hintergrund aus lassen sich Zweck und Standort der eigenen neuen Lösungsvorschläge sinnvoll darlegen. Um die Diskussion zu vereinfachen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, um dadurch neue Lösungssätze bereichern und begründen zu können, sollen im Folgenden die Lehre und ihre Diskussionen nur kurz skizziert werden.

C. Vorgehensweise und Methode

Das Thema dieser Doktorarbeit ist nicht neu und mit dieser Arbeit soll sicherlich nicht das Rad neu erfunden werden. Tatsächlich kann eigentlich etwas gänzlich Neues auch kaum erfunden werden.26 Vielmehr soll die Debatte eine weitere Perspektive erhalten. Es gibt eine Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen zu diesem Thema, die hervorragend herausgearbeitet sind und auf reichen Quellen beruhen. Der Verfasser beabsichtigt, unter Zuhilfenahme dieser vorbezeichneten Werke zu forschen und einen neuen, alternativen Weg zu beschreiten27 sowie die aufgestellten Hypothesen zu begründen und dabei die Prinzipien der wissenschaftlichen Forschung nie außer Acht zu lassen.

Denn wie Hubert S. Markl [1938] einst sagte: Forschung ist „ […] das Weiterforschen, wo andere aufgehört haben, das Weiterbauen auf Grundsteinen und Gerüsten, die andere vorbereitet haben.“28 Eine neue Forschungsidee ergibt sich ←25 | 26→folglich immer auf der Basis dessen, was schon andere erforscht haben. Sie knüpft an bereits bestehende Forschungsergebnisse an; deswegen ist es Anliegen des Verfassers, unter Berücksichtigung des schmalen Grats zwischen dem respektvollen Umgang der vorangegangenen Forschungen und des eigenen Selbstbewusstseins, eine neue und originelle Meinung zu erarbeiten.29 Insoweit hat der Verfasser nur das gemacht, [wie auch der große Gelehrte Al-Bîrûnî zu Recht gemeint hatte], was jeder in seiner Arbeit machen soll: Ergebnisse der Vorgänger mit Dankbarkeit zu begrüßen, deren Fehler selbstbewusst zu korrigieren und den zukünftigen Generationen das zu überlassen, was ihm als Wahrheit erscheint.30

Dementsprechend soll jedermann, ausgehend von dieser Grundlage, neue Theorien aufstellen, die ihm als Wahrheit erscheinen. Auf diese Wiese könnte die dauernde Bereitschaft, neuen Einsichten Raum zu geben,31 seien es eigene oder fremde,32 ermöglicht und gesichert werden. Die Arbeit verwendet deduktive, induktive und hermeneutische Methoden. Hier wird das Wesen der bewussten Fahrlässigkeit diskutiert und die These aufgestellt, dass die bewusste Fahrlässigkeit eigentlich als eine Form des bedingten Vorsatzes zu qualifizieren ist, die durch einen schuldauswirkenden Irrtum begründet werden kann.

D. Gang der Untersuchung

Im ersten Kapitel werden die Grundzüge der vom Verfasser der Arbeit entwickelten und vertretenen Ansichten erörtert und Grundkonzepte der strafrechtlichen Verantwortung aufgearbeitet, die hinsichtlich der auf der Hand liegenden Doktorarbeit wesentlich und wichtig sind. Dabei werden die Grundphänomene der Strafrechtsdogmatik, insbesondere der Vorsatz und die Fahrlässigkeit, in den Blick genommen. In diesem Zusammenhang befasst sich der Verfasser im zweiten Kapitel mit den Grundproblemen der Fahrlässigkeit – insbesondere hinsichtlich der bewussten Fahrlässigkeit – ausgehend vom Vorsatz, d. h. in Verbindung mit der fragwürdigen Beschreibung des Vorsatzes. Denn das wesentlichste und größte Problem der Fahrlässigkeit liegt eigentlich im Vorsatz, nämlich in der unzutreffenden Beschreibung des Vorsatzes.

Im Anschluss daran wird im dritten Kapitel das Wesen der angeblichen bewussten Fahrlässigkeit zur Diskussion gebracht und darauf eingegangen, ob wirklich eine Kategorie oder Erscheinungsform wie „bewusste Fahrlässigkeit“ anzunehmen ist; ob und in[wie]weit die „bewusste Fahrlässigkeit“ sowohl begrifflich als auch sachlich begründet ist und durchgeführt werden kann. Zudem wird hier eine eigene Vorgehensweise erarbeitet, die besagt, dass die bewusste Fahrlässigkeit ←26 | 27→in der Tat nichts anderes als die Subkategorie des Dolus eventualis ist, die einen schuldauswirkenden Irrtum darstellt, der im Schuldbereich hinsichtlich der Strafzumessung in Betracht gezogen werden soll.

Schließlich wird im vierten Kapitel der Ansatzpunkt der eigenen Ansicht des Verfassers bezüglich der Vorsatzbestimmung erörtert. Insoweit sollen die Kriterien bzw. Vorsatzindizien dieser neuen Theorie ausführlich und im Vergleich zu den vergangenen und gegenwärtigen Ansichten erklärt werden. Im Übrigen lässt sich die Vorsatzbestimmung der heute herrschenden Lehre aus den kriminologischen und kriminalpolitischen Perspektiven, nämlich hinsichtlich der präventiven Aufgabe des Strafrechts, kritisch diskutieren.

←27 |
 28→

1 Silving, JCLC 1960, V.51, 19 ff. (24, 32).

2 Haft, ZStW 1976, 365 ff. (372).

3 Hemmen, Über den Begriff, S. 1.

4 Maier, Die Objektivierung, S. 36.

5 Canestrari, GA 2004, 210 ff. (214).

6 Bauer, NStZ 2015, 241 ff. (241); Kölz-Ott, Eventualvorsatz, S. 8; Papageorgiou-Gonatas, ZStW 2006, 262 ff. (265), Fn. 6.

7 Binavince, Die vier Momente, S. 157-158; Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 4; Scheffler, JURA 1995, 349 ff. (352); Baumanns, Untersuchungen, S. 1.

8 Müller, Der dolus eventualis, S. 10.

9 Vogel/Bülte, in: LK § 15 StGB, Rn. 97; Canestrari, GA 2004, 210 ff. GA 2004, 210 ff. (210).

10 Dazu Köhler, Die bewusste Fahrlässigkeit, S. 22, 252, 261-262, 283, 356.

Details

Seiten
352
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631890875
ISBN (ePUB)
9783631890882
ISBN (MOBI)
9783631890899
ISBN (Paperback)
9783631890813
DOI
10.3726/b20235
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (November)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 352 S.

Biographische Angaben

Köroglu Kaya (Autor:in)

Köroglu Kaya ist Professor für die berufliche Fachrichtung Straf- und Strafprozessrecht an der Universität Ankara Yıldırım Beyazıt. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität zu Ankara und promovierte an der Universität zu Köln.

Zurück

Titel: Vorsatz in der Fahrlässigkeit
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
354 Seiten