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Die Handlungsformen in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik - die EU als handlungsfähiger globaler Akteur?

Eine dogmatische und empirische Analyse der Praxis des außenpolitischen Handelns der EU in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik

von Kirsten Windle-Wehrle (Autor:in)
©2023 Dissertation 488 Seiten

Zusammenfassung

Anders als die staatliche Außenpolitik unterliegt die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung – eine koordinierende Zuständigkeit, bei der die Mitgliedstaaten innerhalb des durch die EU-Verträge gesteckten Rahmens weitgehend frei bleiben. Die Mitgliedstaaten sind jedoch dazu verpflichtet, auf eine kohärente Politikgestaltung zu achten und im Geiste gegenseitiger Loyalität einheitlich aufzutreten. In diesem Spannungsfeld zwischen begrenzter Einzelermächtigung und staatlicher Flexibilität liegen die Handlungsformen, in denen die Union und die Mitgliedstaaten im Rahmen der GASP tätig werden. Die Autorin ordnet die in der GASP bestehenden Handlungsformen einer allgemeinen Systematik der Handlungsformlehre zu und eruiert inwiefern diese dem Leitprinzip der außenpolitischen Kohärenz innerhalt der GASP dienlich sind.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einführung
  • Erster Teil: Das auswärtige Handeln der Europäischen Union
  • I. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
  • A. Grundlagen und Entwicklung der GASP
  • B. Europäische Außenpolitik und GASP
  • C. Grenzen der europäischen Außenpolitik?
  • D. Umfang der GASP
  • 1. Bestimmung anhand von Art. 2 Absatz 4 AEUV i.V.m. Art. 24 Absatz 1 EUV
  • 2. Bestimmung anhand Art. 4 Absatz 2 EUV
  • 3. Bestimmung anhand Art. 3 Absatz 2 AEUV
  • 4. Bestimmung anhand der außenpolitischen Ziele
  • 5. Bestimmung anhand der Kompetenzverteilung
  • a) Allgemeines zu den Kompetenzarten
  • b) Überschneidungen der Kompetenzen
  • (1) Small Arms and Light Weapons
  • (2) Relevanz von SALW nach Lissabonner Reformen?
  • c) Zwischenstellungnahme
  • 6. Bestimmung anhand nationaler Außenpolitiken
  • 7. Zwischenergebnis
  • E. Ziele der GASP
  • F. Träger der GASP
  • 1. Akteure der GASP
  • a) Europäischer Rat
  • b) Rat der Europäischen Union
  • c) Generalsekretariat
  • d) Hohe Vertreter
  • e) Europäischer Auswärtiger Dienst
  • f) Sonderbeauftragter
  • g) Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee
  • h) Ausschuss der ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten
  • i) Ratsarbeitsgruppen
  • j) Ratsvorsitz
  • k) Europäische Kommission
  • l) Europäisches Parlament
  • 2. Rolle der Mitgliedstaaten
  • 3. Drittstaaten
  • G. Handlungsformen innerhalb der GASP
  • 1. Art. 25 EUV
  • a) Allgemeine Leitlinien
  • b) Strategische Interessen
  • c) Beschlüsse
  • (1) Aktionen
  • (2) Standpunkte der Union
  • (3) Durchführungsmaßnahmen
  • d) Systematische Zusammenarbeit
  • 2. Übereinkünfte mit Drittstaaten
  • 3. Abstimmung
  • 4. Handlungsformen sui generis
  • 5. Weitere einzelne Handlungsformen
  • 6. Ehemalige Handlungsformen
  • a) Gemeinsame Strategien
  • b) Gemeinsame Aktion
  • c) Entscheidung
  • 7. Handlungen im Wege der Kooperation
  • a) Allgemeines zu Wegen der Kooperation
  • b) Verstärkte Zusammenarbeit nach Art. 20 EUV
  • H. Beschlussfassung in der GASP
  • I. Justiziabilität der GASP
  • II. Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
  • A. Grundlagen der GSVP
  • B. Struktur
  • C. Ziele
  • D. Umfang
  • 1. Sachlicher Anwendungsbereich
  • 2. Geographischer Anwendungsbereich
  • 3. Inhaltlicher Umfang
  • E. Akteure der GSVP
  • 1. Mitgliedstaaten
  • 2. Europäischer Rat
  • 3. Rat der Europäischen Union
  • 4. Hoher Vertreter
  • 5. Europäischer Auswärtiger Dienst
  • 6. Europäisches Parlament
  • 7. Europäische Kommission
  • 8. PSK, EUMC und EUMS
  • 9. Weitere Gremien und Akteure
  • F. Handlungsformen innerhalb der GSVP
  • 1. Beschlüsse
  • a) Beschlüsse über die Einleitung von Missionen
  • b) (Zivile) Missionen
  • c) (Militärische) Operationen
  • d) Gemischte Missionen
  • 2. Übereinkünfte mit Drittstaaten
  • 3. Instrumente sui generis
  • 4. Handlungen im Wege der Kooperation
  • a) Engere Zusammenarbeit
  • b) Ständige Strukturierte Zusammenarbeit
  • c) Beistandsklausel
  • G. Beschlussfassung in der GSVP
  • III. GASP im Verhältnis zu anderen internationalen und regionalen Akteuren
  • A. NATO
  • B. Verhältnis zu den Vereinten Nationen
  • C. Europarat
  • D. Weitere für die GASP/GSVP relevante Akteure
  • 1. Afrikanische Union und Arabische Liga
  • 2. AKP-Staaten und lateinamerikanische Staaten
  • 3. EWR- bzw. EFTA-Staaten
  • 4. ECOWAS
  • 5. IGAD
  • 6. Organisation für Islamische Zusammenarbeit
  • 7. OECD
  • 8. OSZE
  • 9. Union für den Mittelmeerraum (UfM)
  • 10. WTO
  • 11. Weitere regionale Partner
  • Zweiter Teil: Kohärenz durch Handlungsformen in der GASP?
  • I. Rechtsförmliche Bedeutung der Handlungsformen in der GASP
  • A. Begriff der Handlungsform
  • B. Handlungsformenlehre
  • C. Hintergrund im Staatsrecht und Völkerrecht
  • D. Typische Merkmale einer Handlungsform
  • 1. Formale Identität
  • 2. Rechtsregime
  • 3. Wirkungsmodus
  • 4. Gültigkeitsregime
  • 5. Kontrollregime
  • 6. Lenkungsregime
  • E. Klassische Funktionen der Handlungsformenlehre
  • F. Unionales System der Handlungsformen
  • 1. Allgemeines
  • 2. Besonderheiten
  • a) Rechtsordnung als Handlungsrahmen
  • b) Ordnungsfunktion
  • c) Kompetenzzuweisung
  • d) Gleichrang der Organe
  • e) Handlungsformenhierarchie
  • f) Formenwahlermessen
  • g) Handlungsformschaffung
  • h) Rechtsschutzgesichtspunkte
  • i) Zwischenergebnis
  • G. Übertragung der Handlungsformenlehre auf die GASP
  • 1. Grundlagen der Handlungsformenlehre der GASP
  • a) Rechtsordnung als Handlungsrahmen
  • b) Ordnungsfunktion
  • c) Kompetenzzuweisung
  • d) Gleichrang der Organe
  • e) Rechtswirkung
  • f) Handlungsformenhierarchie
  • g) Formenwahlermessen
  • h) Handlungsformschaffung
  • i) Rechtsschutzgesichtspunkte
  • j) Zwischenergebnis
  • 2. Spezielle Funktionen der Handlungsformenlehre innerhalb der GASP
  • a) Ausdruck der Gewaltenteilung
  • a) Kompetenzab- und -eingrenzung
  • b) Festlegung von Verfahren und der internen Organisation
  • c) Schaffung von Rechtsklarheit und Rechtssicherheit
  • d) Bestimmung des Verhältnisses zur Rechtsform
  • e) Effektivitätssteigerung
  • f) Bestimmung von hierarchischen Ebenen
  • g) Festlegung von Konkretheitsstufen
  • h) Strukturierung des gesamten Kooperationsmechanismus
  • i) Etablierung von langfristigen Strukturen
  • j) Umsetzung völkerrechtlicher Pflichten
  • k) Unionaler Beitrag zur Entwicklung des Völkergewohnheitsrechts
  • l) Ausprägung als Rechtsgemeinschaft
  • m) Bestimmung des Haftungsadressaten
  • n) Anpassung der Realität an das Recht
  • o) Überwachung der Rechtsordnung
  • p) Selbstregulierung der Organe
  • q) Verfestigung der Organqualität
  • r) Begründung von Handlungspflichten der Mitgliedstaaten
  • s) Begründung des Handlungswahlrechts der Mitgliedstaaten
  • t) Festlegung der Finanzierung
  • u) Informationsgewinnung
  • v) Autoqualifizierung
  • w) Erzeugung von Erwartungen
  • x) Neuorganisation des nationalen Verfassungsstaats
  • 3. Zusammenfassung
  • H. Zwischenstellungnahme
  • II. Praktische Bedeutung der Handlungsformen in der Praxis der GASP
  • A. Quantitative Analyse der Praxis der GASP
  • 1. Grundlagen der empirischen Analyse
  • a) Datenbank der empirischen Analyse
  • (1) EUR-Lex
  • (2) Öffentliches Register Europäischer Rat / Rat der Europäischen Union
  • b) Basis
  • c) Variablen der Auswertung
  • (1) Form
  • (2) Organ
  • (3) Teilbereiche
  • 2. Quantitative Ergebnisse der empirischen Analyse
  • a) Formenwahlpraxis nach Datenbank
  • b) Anteil GASP/GSVP im EUR-Lex
  • c) Anteil GASP/GSVP im öffentlichen Register
  • d) Gesamtanteil GASP/GSVP aus EUR-Lex und öffentlichem Register
  • e) Anteil nach Erlassorgan
  • (1) Anteil nach Erlassorgan insgesamt
  • (2) Anteil nach Erlassorgan im Bereich der GASP
  • (3) Anteil nach Erlassorgan im Bereich der GSVP
  • f) Anteil systematisierter Handlungsformen
  • (1) Anteil der einzelnen Handlungsformen in der GASP
  • (2) Anteil der einzelnen Handlungsformen i.R.d. GSVP
  • g) Anteil sui generis-Handlungsformen
  • (1) GASP
  • (2) GSVP
  • h) Schlussfolgerung
  • 3. Konsequenz aus der quantitativen Analyse: sui generis-Maßnahmen als neue Handlungsformengattung?
  • a) Berichte
  • b) Planziele
  • 4. Schlussfolgerungen und Zwischenstellungnahme
  • B. Inhaltliche Auswertung der Praxis der GASP
  • 1. Neukategorisierung (Kognition)
  • a) Disziplinierende Maßnahmen
  • b) Transitmaßnahmen
  • c) Demokratisierungsmaßnahmen
  • d) Friedensschaffende und -erhaltende Maßnahmen
  • e) Konvergenzmaßnahmen
  • f) Präparatorische Maßnahmen
  • g) Interne Maßnahmen
  • h) Informelle Maßnahmen
  • i) Subsequente Maßnahmen
  • j) Strategische Maßnahmen
  • k) Finanzmaßnahmen
  • 2. Anpassung an die Anforderungen der Handlungsformenlehre?
  • 3. Schlussfolgerungen
  • Dritter Teil: Liegt eine kohärente Außenpolitik vor?
  • I. Der Begriff der Kohärenz
  • A. Unionskonforme und völkerrechtliche Auslegung
  • B. Zwischenstellungnahme
  • C. Bisherige Literatur und ihre Ergebnisse
  • D. Konkrete Auslegung des Begriffs „Kohärenz“
  • 1. Grammatikalische Auslegung
  • 2. Systematische Auslegung
  • 3. Historische Auslegung
  • 4. Teleologische Auslegung
  • 5. Zusammenfassung
  • II. Verhältnis zwischen Kohärenz und der Handlungsformenlehre
  • Vierter Teil: Schlussfolgerungen, englischsprachige Zusammenfassung und abschließende Stellungnahme
  • I. Schlussfolgerungen insgesamt
  • II. Englischsprachige Zusammenfassung (Summary)
  • III. Abschließende Stellungnahme
  • Literaturverzeichnis

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Einführung

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union – ein System, um sich auf internationaler Ebene zu platzieren und um sich eine Identität zu verschaffen? Ein grundsätzlich guter und unionsrechtlich fortschreitender Gedanke, wenn nur nicht die primärrechtlichen Kompetenzen für die Ausübung der Außenpolitik weiterhin bei den Mitgliedstaaten lägen und die kohärente Ausführung der europäischen Außenpolitik auf dem internationalen Parkett durch manch nationalen Vorbehalt verhindert wird. Dass sich die EU dennoch zu einem internationalen Akteur entwickelt hat, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber gerade das Vorgehen einzelner Staaten ohne vorherige Absprache mit der EU kann zu Spannungen führen. Paradebeispiel ist Frankreichs einseitiges Unterstützen der von den Vereinten Nationen verhängten Flugverbotszone über Libyen. Zudem gibt der unbestimmte Charakter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die durch die sog. Intergouvernementalität geprägt ist, dem auswärtigen Handeln eine eigenständige Struktur innerhalb des unionalen Gefüges. Ein System sui generis, in dem die Koordination der nationalen Außenpolitiken auf europäischer Ebene das Kernelement einer erfolgreichen Exekutivgewalt darstellt. Die vermeintliche Lösung der simplen Koordinierung der einzelnen nationalen Außenpolitiken stellt aber zugleich auch den Schwachpunkt in der Effektivität der GASP dar. Die EU in ihrer Gesamtheit stellt weder einen klassischen Staatenbund noch einen Bundesstaat, sondern ein Gebilde eigener Art dar. Mittlerweile besteht die Union aus 27 Staaten und es erscheint evident, dass Staaten unterschiedlicher Größe und Bedeutung auch unterschiedlicher Auffassungen – insbesondere in Bezug auf die Außenpolitik – sind. Wäre dies nicht der Fall, so hätten der Integrationsprozess und die Entwicklung der Europäischen Union zu einem supranationalen Gebilde auch nicht so lange gedauert bzw. würde der Prozess nicht noch andauern.

Die Aufgabe der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik besteht vor allem darin, die Ressourcen der Mitgliedstaaten im Interesse einer gemeinsamen internationalen Unionsaußenpolitik wirkungsvoll zum Einsatz zu bringen. Hierbei steht die Union vor der Herausforderung nicht nur als Steuerungs- und Koordinierungsakteur der verschiedenen nationalen Ansichten, sondern auch als aktiver global Player zu agieren und als solcher wahrgenommen zu werden. Dabei ist die unionale Außenpolitik mehr als lediglich die Summe der einzelnen nationalen Politiken, sondern ein „Ganzes“, welches die Idiosynkrasien der Mitgliedstaaten und des supranationalen Eigengebildes der Union vereint – oder ←23 | 24→zumindest zu vereinen versucht. Diese Außenpolitik wird fortwährend nicht nur durch divergierende Interessen der einzelnen Regierungen oder auch durch institutionelle Veränderungen (z.B. durch einen Amtswechsel innerhalb einer nationalen Regierung) verkompliziert, sondern auch durch das Zusammenspiel von Intergouvernementalität und Supranationalität teils undurchdringbar gemacht. Das „Verfehlen“ einer effektiven Politik auf dem internationalen Parkett wird sodann von der Öffentlichkeit just als Fehler der Union angesehen. Das von Außenstehenden als gescheitertes Projekt verurteilte Verhalten der in den unionalen Organen vertretenen Mitgliedstaaten wird nicht allzu selten – auch oft vorschnell – einzig als Verfehlung der Union selbst gedeutet.2 Bei dieser unbedachten Annahme wird jedoch gerade nicht in Betracht gezogen, wie kompliziert das Vorgehen der Konsensfindung innerhalb der unionalen Organe ist und welches Maß an Sensibilität in der internationalen Außenpolitik von Nöten ist. Das unionale System versucht diesen Konflikt damit zu lösen, indem es das Vorgehen in der GASP durch gesonderte, von den sonst bestehenden unionalen Strukturen abweichende, vertragliche Vorgaben regelt. Dabei gelten für die Ausführung und die Umsetzung der GASP nicht nur gesonderte Verfahrensvorschriften, sondern es gibt zudem einen politikspezifischen Kanon an Handlungsformen, der sich von den übrigen Handlungsformen des unionalen Handelns unterscheidet. Diese politikspezifischen Handlungsformen wurden explizit und eigens für den GASP-Bereich konzipiert. Dabei stellt diese Systematisierung der Praxis der GASP in vertraglich vorgegebene Handlungsformen eine junge Entwicklung im Bereich der Außenpolitik dar. Denn die klassischen Außenpolitiken der Mitgliedstaaten werden gerade nicht in dogmatische Korsette gedrängt, aus denen sich Maßnahmentypen ergeben, auf die die zuständigen Organe zurückgreifen müssen. Ganz im Gegenteil, grundsätzlich wird die nationale Außenpolitik durch Informalität und Diplomatie geprägt. Folglich stellt das Handlungsformenkonzept des Titels V des Vertrages über die Europäische Union (EUV) ein für die (nationale) Außenpolitik fremdes Konzept dar, dessen Daseinsberechtigung sich noch erweisen muss. Mithin hat sich die ←24 | 25→vorliegende Arbeit zum Ziel gesetzt, dieses politikspezifische Handlungsformenkonzept der GASP rechtsdogmatisch und empirisch zu analysieren. Dabei soll die Arbeit einen Beitrag zu der Diskussion über die rechtsförmliche und praktische Bedeutung der in Art. 22 und 25 ff. EUV normierten Handlungsformen leisten. Im Rahmen der rechtsförmlichen Auseinandersetzung kommt es dabei auf die Ermittlung der Funktionen der systematischen Unterteilung des Handlungsformenkatalogs des Titels V des EUV an, wobei im Ergebnis eine Aussage über die Sinnhaftigkeit dieser Systematisierung getroffen werden soll. Dagegen soll im Rahmen der empirischen Untersuchung mittels einer stichprobenartigen Analyse der in Kraft befindlichen Rechtshandlungen ein Rückschluss auf die Verwendung der Handlungsformen in der Praxis gezogen werden. Dabei werden quantitative Aussagen über die Wahl der einzelnen Handlungsformen sowie die handelnden Organe getroffen.

Die Herausforderung dieser Arbeit lag u.a. darin, dass die Europäische Außenpolitik der GASP noch nie zuvor einer empirischen Analyse in Bezug auf die dogmatische Einordnung der vertraglich vorgegebenen Maßnahmentypen unterzogen wurde – zumindest gibt es keine aktuellen empirischen Analysen über den Inhalt der in Kraft befindlichen Rechtsakte im Rahmen der GASP – und somit auf keine Erfahrungssätze zurückgegriffen werden konnte. Darüber hinaus hängt die Ausarbeitung der dogmatischen Strukturen in der GASP durchaus auch davon ab, wie intensiv und detailliert man sich mit der europäischen Außenpolitik auseinandersetzt. Stellt man nicht auf die GASP als solche ab, sondern analysiert die Praxis im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem gesamten unionalen Handeln, d.h. sämtliche nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und dem EUV erlassenen Maßnahmen,3 übersieht man die Besonderheiten, die in dem intergouvernemental geprägten Bereich der GASP gelten.4 Überdies wurde die GASP durch den Vertrag von Lissabon wesentlich reformiert, so dass bereits bestehende Literatur nicht den aktuellsten Stand widerspiegelt. Denn der Vertrag von Lissabon hat die Außenpolitik – und damit auch die GASP – grundlegend umgestaltet. Zunächst hat die EU als solche Rechtspersönlichkeit erlangt und kann neben den Mitgliedstaaten völkerrechtliche Übereinkommen schließen. Zudem wurden die Kompetenzen des Hohen Vertreters, dem vereinfacht gesagt als „einzelner“ Person die gesamte ←25 | 26→Außenpolitik unterstellt ist, ausgeweitet. Darüber hinaus wurde der Europäische Auswärtige Dienst eingerichtet und dem Europäischen Parlament wurden mehr Mitwirkungsrechte als zuvor eingeräumt. Insbesondere die – vermeintliche – Auflösung der Säulenstruktur, wobei aber die Sonderstellung der GASP durch Normierung im EUV und nicht im AEUV formell aufrechterhalten wurde, erfordert eine neue Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der GASP-Handlungen zu der originären Zuständigkeit der Union. Denn trotz intergouvernementaler Sonderstellung der GASP gehört diese gemäß Art. 21 EUV zum unionalen Handeln auf internationaler Ebene und ist damit ein integraler Bestandteil des institutionellen Gefüges. Folglich unterliegt sie auch den rechtlichen Bindungen des Primärrechts, sofern und soweit nicht etwaige Sonderbestimmungen (wie z.B. verfahrensrechtliche oder kompetenzrechtliche) Abweichendes festlegen. Alle diese Neuerungen werden durch die vertragliche Umgestaltung der zur Verfügung stehenden Handlungsformen noch weiter verkompliziert. Zwar gibt es durchaus Parallelen zu den zuvor normierten Handlungsformen, doch muss eine „Andersbetrachtung“ der Typisierungen vorgenommen werden.

Die Arbeit ist in vier große Themenbereiche eingeteilt. Zunächst wird die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik als solche erklärt und beschrieben. Dabei wird der Versuch unternommen die Dimensionen der europäischen Außenpolitik einzugrenzen und daraus einen Schluss auf den Umfang der GASP zu ziehen. Hierbei wird u.a. auf relevante vertragliche Bestimmungen, auf die Zielsetzungen sowie auf die Kompetenzfrage hinsichtlich der Zuständigkeiten in der europäischen Außenpolitik eingegangen. Im weiteren Verlauf werden für das allgemeine Verständnis die Grundlagen der GASP dargestellt. Dabei spielen neben den Trägern der GASP die nach den Verträgen zur Verfügung gestellten Handlungsformen sowie die den Handlungsformen zugrundeliegenden Verfahrensvorschriften relevante Rollen. Eine kurze Darstellung der Justiziabilität ist des Weiteren von Nöten. Im Anschluss folgen Ausführungen zu der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die sich grob an den eben genannten Merkmalen ausrichten. Den Abschluss des ersten Teils bildet eine kurze Ausarbeitung des Verhältnisses der GASP bzw. der Union zu anderen internationalen Organisationen und Akteuren.

Der zweite Teil der Dissertation, der zugleich auch deren Schwerpunkt darstellt, befasst sich dann mit der bereits angekündigten Ausarbeitung der rechtsförmlichen und praktischen Bedeutung der sektorspezifischen Handlungsformen der GASP. Letzteres, dem eine empirische Auswertung der Praxis der GASP zugrunde liegt, soll Aufschluss darüber geben, welche Handlungsformen von welchen Organen in der Umsetzung und der Ausführung dieser Politik verwendet werden. Noch bevor es jedoch zur Darstellung der Ergebnisse ←26 | 27→dieser Analyse kommt, wird auf die rechtsdogmatische Ausgestaltung des vertraglich in Titel V des EUV normierten Handlungsformenkatalogs eingegangen. Hierbei stellt die Auseinandersetzung mit der rechtsförmlichen Bedeutung der sektorspezifischen Handlungsformen der GASP den Kernpunkt dieses Teils der Ausführungen dar. Zunächst wird die Handlungsform als Begriff der juristischen Lehre erörtert. Die dabei dargestellten Grundlagen der klassischen Handlungsformenlehre und die typischen Merkmale einer Handlungsform dienen als Basis für die Erörterung der Frage hinsichtlich des Bestehens einer unionalen Handlungsformenlehre und deren Übertragbarkeit auf den Rechtsrahmen5 der GASP. Nachdem festgestellt wird, dass der GASP-Bereich der Systematisierung nach den Vorstellungen der klassischen Handlungsformenlehre – wenn auch angepasst – offensteht, wird sich der Eruierung von besonderen, speziell auf den intergouvernemental geprägten Bereich der GASP bezogenen Funktionen, die sich aus der bestehenden Kategorisierung ergeben, gewidmet. Noch vor der Zwischenstellungnahme zu dieser Erörterung wird kurz und prägnant erläutert, warum eine Abgrenzung der Handlungsformen nach Politikbereichen innerhalb der GASP nicht sinnvoll erscheint. Den rechtsdogmatischen Ausführungen zur GASP-spezifischen Handlungsformenlehre, die mit der Zusammenfassung und Schlussfolgerungen zu diesem Teilabschnitt abschließt, folgt dann die Erörterung der praktischen Bedeutung der vertraglichen (und nichtvertraglich normierten) Handlungsformen. Anschließend werden die quantitativen Ergebnisse der vollzogenen empirischen Analyse der stichprobenartig erfassten GASP-Maßnahmen dargestellt. Im (Zwischen-)Ergebnis wird beurteilt, ob die systematische Unterteilung der in den Verträgen geregelten Handlungsformen für die GASP-Praxis sinnvoll ist und zweckmäßig erscheint. Die Ausführungen geben dabei u.a. Aufschluss darüber, welche Handlungsformen in der Praxis der GASP tatsächlich verwendet werden und welche Organe welche Handlungsform erlassen. Durch die hier vorgenommene Aufteilung in die Subbereiche GASP und GSVP wird zudem diesbezüglich eine getrennte Darstellung der quantitativen Analyse erreicht. Nachdem in der Auswertung festgestellt wird, dass die Praxis auf eine immense Zahl von nichtvertraglich normierten Handlungsformen (sog. sui generis-Maßnahmen) zurückgreift, wird ein Vorschlag zur Normierung zweier neuer Handlungsformen gemacht. Da dieser Vorschlag jedoch ←27 | 28→nicht die gänzliche Problematik der kritikwürdigen Systematisierung der GASP löst, wird im nächsten Abschnitt eine gänzliche Neukategorisierung der Maßnahmen – außerhalb des vertraglichen Handlungsformenkatalogs und der (klassischen) Handlungsformenlehre – aufgestellt. Die Neukategorisierung orientiert sich dabei vorrangig an dem Inhalt der stichprobenartig erfassten Maßnahmen. Die der empirischen Analyse zugrunde gelegten Maßnahmen werden nach dem Schwerpunkt ihres Inhalts neuen abstrakten Oberbegriffen zugeordnet. Dabei stellen diese Oberbegriffe die neuen Kategorien dar, die die bestehenden Handlungsformen möglicherweise ersetzen könnten. Im Folgenden werden die Vor- und Nachteile dieser Neukategorisierung in Bezug auf die Anforderungen der Handlungsformenlehre erörtert, wobei eine wertende Schlussfolgerung – in der der bestehenden Kategorisierung der Handlungsformen des Titels V EUV zugestimmt wird – den Abschluss dieses Teilbereichs bildet.

Noch bevor es zur abschließenden Stellungnahme zu den Ergebnissen und einer wertenden Zusammenfassung – sowohl in deutscher wie auch in englischer Sprache – dieser Arbeit kommt, wird im dritten Teil auf die Kohärenz als Begriffsbestimmung der europäischen Außenpolitik und deren Bedeutung für die GASP eingegangen. Es wird versucht, einen Zusammenhang zwischen den zuvor erörterten Funktionen des bestehenden Handlungsformenkatalogs und der Beurteilung des Vorliegens einer kohärenten Außenpolitik innerhalb der GASP zu finden. In diesem Zusammenhang bedarf es zunächst der Erörterung der Bedeutung des Begriffs der Kohärenz. Dies wiederum erfordert eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten, die für die konkrete Bestimmung des Kohärenzbegriffs von Relevanz sind. Daneben werden einige Auslegungsergebnisse verschiedener Rechtsgelehrten zu dem Kohärenzbegriff kurz angeschnitten und prägnant aufgezeigt. Dies vorangestellt, erfolgt eine wertende Stellungnahme zu dem vom Kohärenzbegriff vermittelten Inhalt, anhand dessen wiederum auf einen Zusammenhang zwischen Kohärenz und der Sinnhaftigkeit des GASP-spezifischen Handlungsformenkatalogs geschlossen werden soll.


2 Prominentes Beispiel sind die EU-Balkan-Politik in den neunziger Jahren und die aktuelle Ukraine-Krise; vgl. auch Rüger, Europäische Außen- und Sicherheitspolitik, S. 180 ff.; Kruse stellt zum Umfang der GASP simpel fest: „Inhaltlich umfasst sie alle Bereiche der Außenpolitik, sofern sie nicht durch den AEU-Vertrag geregelt wird, sowie alle mit der Sicherheit der Union in Zusammenhang stehenden Fragen der Friedenserhaltung“ – Der Europäische Auswärtige Dienst zwischen intergouvernementaler Koordination und supranationaler Repräsentation, S. 116.

3 Z.B. wie in der empirischen Analyse durch v. Bogdandy, Bast und Arndt – v. Bogdandy/Bast/Arndt, ZaöRV 2002, S. 77 ff.

4 Zu den Besonderheiten, die in der GASP gelten: 2. Teil, Abschnitt I „Rechtsförmliche Bedeutung der Handlungsformen in der GASP“.

5 Die Beschreibung „Rechtsrahmen“ wird hier verwendet, ohne dabei eine Aussage über die Qualifizierung der Bestimmungen der GASP als eigenständiger Rechtsordnung zu tätigen, vgl. hierzu: Wessel, The European Union’s Foreign and Security Policy: A Legal Institutional Perspective, S. 10 ff.

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I. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

Der erste Teil der Arbeit befasst sich mit der einleitenden Darstellung des auswärtigen Handelns der Europäischen Union. Im Rahmen dieser allgemeinen Erläuterungen folgt neben Ausführungen zu den Grundlagen und der Entwicklung der GASP auch eine Darstellung des Verhältnisses zwischen der allgemeinen Außenpolitik der Union nach Art. 3 Absatz 5 EUV einerseits und der GASP nach Art. 21 ff. EUV andererseits. Auch wird das Verhältnis der Außenpolitik zu den Mitgliedstaaten sowie zu anderen außenpolitischen Bereichen wie dem Handel, der Entwicklungszusammenarbeit und der Nachbarschaftspolitik beleuchtet. Hierbei wird man feststellen, dass die Verträge keine formale Definition hinsichtlich des Umfangs der GASP enthalten und sich damit eine konkrete Abgrenzung zu diesen Bereichen als problematisch erweist. Unter anderem wird hier auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Small Arms and Light Weapons eingegangen. Sodann werden die Rechtsgrundlagen und Ziele der GASP erläutert. Danach folgt die Darstellung der außenpolitischen Akteure und deren Zuständigkeiten, wobei auch die Rolle der Mitgliedstaaten betrachtet wird. Im Rahmen der Zuständigkeitsausführungen wird auf die klassische Abgrenzung zwischen den sog. high politics und den sog. low politics, die zugleich die Kompetenzabgrenzung zwischen Kommission und Rat der Europäischen Union betrifft, eingegangen. Dem anschließend werden die klassischen Handlungsmittel, die den Organen für die Ausführung der GASP zur Verfügung stehen, dargelegt. Dabei werden nicht nur die aktuell in den Verträgen normierten Handlungsformen, sondern auch die früheren und die nichtnormierten Handlungsformen beschrieben und wird auf die maßgeblichen Verfahrensvorschriften betreffend die Beschlussfassung eingegangen. Den Abschluss des Bereichs der GASP bilden die Ausführungen zur Justiziabilität.

Im weiteren Verlauf wird die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) als integraler Bestandteil der GASP im Allgemeinen dargestellt. Hierbei werden die Geschichte, die Grundlagen, der Umfang und die Institutionen sowie die in der GSVP zur Verfügung stehende Handlungsformen näher erläutert. Auch werden die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) und die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS), die den Beginn und den Rahmen der europäischen Sicherheitspolitik widerspiegeln, beschrieben. Neben der rudimentären Behandlung des Verhältnisses der GSVP zur NATO steht auch ←31 | 32→das Zusammenspiel mit anderen internationalen außenpolitisch agierenden Akteuren im Fokus.

A. Grundlagen und Entwicklung der GASP

Die Vorstellung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik begann mit der Idee einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die von Frankreich, den Benelux-Staaten, der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1952 geschaffen werden sollte.6 Der damals fortschrittliche Gedanke einer europäischen Armee, der einherging mit der westeuropäischen Einigung, scheiterte jedoch 1954 an der fehlenden Mehrheit im französischen Parlament.7 Damit waren die bereits erteilten Zustimmungen Deutschlands und der Benelux-Länder (Italien stand kurz vor einer Abstimmung) hinfällig geworden. Erst mit der Formulierung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) 1969/1970 auf Grundlage der Beschlüsse von Den Haag und des Davignon-Berichts wurde der engeren außenpolitischen Kooperation der sechs Mitgliedstaaten eine Form gegeben. Obgleich in den 60er Jahren weitere zweifelhafte Versuche der Gründung einer „Europäischen Gemeinschaft“ (wie das Projekt der Europäischen Politischen Gemeinschaft und die Fouchet-Pläne I und II im Jahr 1961) erfolgten, dauerte es tatsächlich bis 1969, um einen gemeinsamen Nenner unter den Gründungsstaaten zu finden.8 Umso überraschender war es, als sich die EPZ, in der die Entscheidungskompetenz bei den nationalen Vertretern der Regierungen lag, im Laufe der Zeit zu dem wichtigsten Instrument der Außenpolitik im Rahmen der Gemeinschaft entwickelte.9 Nicht zu verachten ist zudem, dass das Fundament für eine nichtwirtschaftliche Kooperation im Bereich der Außenpolitik geschaffen wurde – und das obwohl es zunächst für die Kooperation an einer ←32 | 33→vertraglichen Grundlage mangelte und die Zusammenarbeit lediglich auf freiwilliger Basis erfolgte.10 Mit der Verabschiedung des Reformvertrages der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1986/1987 wurde der EPZ dann endlich eine vertragliche Grundlage gegeben.11 Von diesem Zeitpunkt an wurden vermehrt außenpolitische Dialoge im Rahmen der EEA besprochen, so dass von da an die evidente Verbindung dieser politischen Kooperation und der Europäischen Gemeinschaft nicht mehr von der Hand zu weisen war.12 Dennoch, die konkrete Idee der Bezeichnung der politischen Kooperation mit dem Begriff der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik tauchte erst auf einer Regierungskonferenz in Dublin im Jahre 1990 auf.13 Dabei stand zwar weniger die Formulierung einer einheitlichen Politik im Vordergrund, doch wurde die Notwendigkeit der Annäherung und besseren Abstimmung mitgliedstaatlicher Positionen betont.14 Die Vergangenheit hatte nämlich gezeigt, dass eine effektive gemeinsame internationale Außenpolitik nur auf dem gemeinsamen Konsens der Mitgliedstaaten aufgebaut werden konnte. Die Regierungskonferenz in Dublin wird demnach gerne als Geburtsstunde der GASP der Europäischen Union bezeichnet.15 Die tatsächliche – erstmalige – vertragliche Fixierung der GASP erfolgte jedoch erst mit der Verabschiedung des Maastrichter Vertrages im Jahr 199216 und der Gründung der EG. Mit der Normierung trat die GASP dann in die Stellung der EPZ ein und ersetzte diese. Die damals noch bestehenden drei Säulen17 der Europäischen Union waren geschaffen worden und dem Rat als zum Handeln befähigtem Organ wurde eine entscheidende Funktion innerhalb der GASP übertragen.18 Auch wurden die ersten verbindlichen Handlungsformen für die ←33 | 34→Ausführung der GASP geschaffen.19 Durch diese Neuerungen unterschied sich die GASP im rechtlichen Sinne gewaltig von ihrer Vorgängerin, der EPZ.20

Im Jahre 1997 folgten dann die nächsten vertraglichen Änderungen. Der Vertrag von Amsterdam führte den Posten des Hohen Vertreters, der der Union auf internationaler Ebene vertreten sollte, für die GASP ein. Zudem wurde das vielversprechende Instrument der verstärkten Zusammenarbeit als neue Handlungsform normiert, welches aber überraschenderweise vorerst nicht für die GASP galt. Denn die Mitgliedstaaten waren der Ansicht, dass dieses Instrument sich nicht für die von verteidigungspolitischen Aspekten sowie institutionellen Neuerungen geprägten und fortwährend erweiterten Bereich der Außenpolitik eigne. Der 2003 folgende Vertrag von Nizza führte zu einer Änderung des Einstimmigkeitsprinzips. In vielen vergemeinschafteten Bereichen konnten nun Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit anstatt mit Einstimmigkeit gefasst werden. Dies galt wiederum nicht für die GASP – hier wurde an dem Erfordernis des Einstimmigkeitsprinzips weiterhin festgehalten. Auch der Vertrag von Lissabon änderte hieran nichts. Der im Jahr 2009 zuletzt in Kraft getretene Reformvertrag weitete u.a. die Kompetenzen des Hohen Vertreters aus und legte das Fundament für die Gründung des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Darüber hinaus wurde die vormals bestehende Säulenstruktur aufgelöst – was aber wenig an der Sonderstellung der GASP geändert hat. Allgemein sollten durch die Lissabonner Reformen die Visibilität, Effektivität, Kontinuität und Kohärenz der GASP verbessert werden.21 Ob dies tatsächlich der Fall ist, ist jedoch zweifelhaft. Heute ist die GASP, die nun auch die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfasst, ein Kompetenztypus, der neben den ausschließlichen, den geteilten und den Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungszuständigkeiten der Union eigenständig besteht,22 aber wie zu den Anfangszeiten weiterhin von der Dominanz der Mitgliedstaaten geprägt ist.

←34 | 35→

B. Europäische Außenpolitik und GASP

Ein grundlegender und für das Verständnis der GASP entscheidender Schritt in deren Darstellung sind das Zusammenwirken und die Abgrenzung der GASP zu der allgemeinen europäischen Außenpolitik.

Die GASP stellt unstreitig einen Teilbereich der europäischen Außenpolitik dar; jedoch ist die Europäische Außenpolitik ein weitläufiger Bereich, dessen Grenzen schwerlich zu erfassen sind. Der Begriff der europäischen Außenpolitik unterliegt keiner allgemeingültigen Definition, die das gesamte System auf einen Nenner bringen könnte. Für die Adressierung der Außenbeziehungen der Union werden vielmehr diverse verschiedene Definitionen verwendet.23 Es wird von der gemeinsamen Außenpolitik, den europäischen Außenbeziehungen,24 der Außenpolitik der Union,25 der europäischen Außenpolitik,26 der EU-Außenpolitik,27 dem auswärtigen Handeln,28 den Außenzuständigkeiten29 oder auch dem außenpolitischen Handeln30 gesprochen. Spricht man von der Außenpolitik der EU im Sinne der Verträge, so umfasst dies das gesamte auswärtige Handeln der Union, worunter auch das wirtschaftliche Handeln zu fassen ist. Also jegliches Verhalten der Union und der gemeinsam handelnden Mitgliedstaaten, das dazu bestimmt und geeignet ist, Wirkungen außerhalb oder auch innerhalb der Union zu entfalten.31 Es bezieht sich somit nicht auf das klassische Verständnis der außenpolitischen Diplomatie, wie es bei einem einzelnen (Mitglied-)Staat gesehen wird.32 Im nationalen Kontext galt nämlich für lange Zeit, ←35 | 36→dass die Außenpolitik sich nur auf sog. „high politics“, wie die ökonomische und militärische Stärke und die Fähigkeit Krieg zu führen,33 bezog. Nationale Außenpolitik sollte sich gerade nicht auf weiche Themen wie Wirtschaft, Entwicklung und Umwelt konzentrieren („low politics“).34 Weitete man den Akzent von den Verträgen dann noch auf ein weites pragmatisches Verständnis der europäischen Außenpolitik aus,35 d.h. Europäische Außenpolitik im weiten Sinne, so könnte man darin die Vernetzung aller außenpolitischen Akteure – also der Union, der Mitgliedstaaten, der Drittstaaten, der internationale Organisationen, der zwischenstaatlichen Akteure und der Nichtregierungsorganisationen – und deren Beziehung untereinander verstehen.36 Dies verdeutlicht wiederum, dass die Union dabei „nur“ eine von vielen Akteuren ist. Der weite und enge Aspekt der Außenpolitik ist jedoch von entscheidender Bedeutung für die Wahrnehmung der EU als außenpolitischer Akteur. Denn die Außenbeziehungen der Union sind gerade durch Interaktion und Kooperation mit anderen weltpolitischen Spielern gekennzeichnet37 und die nationale Außenpolitik der einzelnen Mitgliedstaaten muss konzeptionell an das europäische Verständnis der Außenpolitik angepasst werden. Darüber hinaus ist die Europäische Außenpolitik durch Mehrdimensionalität geprägt, wobei die GASP – mit ihrem Unterbereich der GSVP – einen integralen Teil von dieser darstellt. Die Europäische Außenpolitik im weiten Sinne umfasst daher neben der GASP auch die supranationalen38 ←36 | 37→Außenpolitiken sowie zahlreiche andere Politikfelder39. Vereinfacht gesehen lassen sich die Politikbereiche des europäischen auswärtigen Handelns aber in zwei Hauptkategorien unterteilen: Die Unionseigene („vergemeinschaftete“40 bzw. „supranationale“41) nach den Art. 205–222 AEUV und die intergouvernementale GASP unter Einschluss der GSVP nach Maßgabe der Artikel in Titel V des Lissabonner Vertrages.42 Bei dieser zweidimensionalen Betrachtungsweise stoßen wir zugleich auf einen Begriff, dessen Abgrenzung zur GASP von entscheidender Bedeutung ist, nämlich die sog. vergemeinschaftete Außenpolitik der Union. Unter den Begriff der vergemeinschafteten Außenpolitik fasst der AEU-Vertrag insbesondere die Gemeinsame Handelspolitik, die wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit mit Drittländern und die humanitäre Hilfe, der Erlass restriktiver Maßnahmen43 sowie das Aushandeln völkerrechtlicher Abkommen, die Unterhaltung von Beziehungen zu internationalen Organisationen und Drittländern und die gegenseitig geltende Verpflichtung zur Solidarität. Diese genannten Bereiche unterliegen – anders als die GASP – der ausschließlichen oder geteilten Kompetenz der Union.44 Die Union ersetzt – jedenfalls weitgehend – den Nationalstaat als Mitgliedstaat der Europäischen Union.45 In all diesen Bereichen können durch die Union Gesetzgebungsakte erlassen sowie internationale Übereinkünfte geschlossen werden.46 Die Union handelt ←37 | 38→jedoch nicht kontrolllos und völlig eigenständig, sie wird vielmehr durch die europäischen Gerichte überwacht. Insbesondere der EuGH wahrt das europäische Recht, indem er die Auslegung und die Anwendung der allgemeinen Verfahren und Grundsätze, auf die sich die Mitgliedstaaten mit der EU geeinigt haben, sichert.47 Für die GASP – die eben keine vergemeinschaftete Außenpolitik darstellt – gilt dagegen ein anderes System, nämlich das intergouvernemental geprägte System48, das auf einer zwischenstaatlichen Zusammenarbeit beruht und in dem die Mitgliedstaaten ihre staatliche Souveränität weiterhin bewahren. Die maßgeblichen Vorschriften finden sich nicht im AEUV, sondern im EU-Vertrag, explizit in Art. 23–46 EUV.49 Die GASP unterliegt dabei nicht der Führung der Europäischen Kommission und/oder des Europäischen Parlaments, sondern des Europäischen Rates und des Rates50, die jeweils aus Vertretern der Mitgliedstaaten bestehen. Die übrigen Unionsorgane sind, anders als bei den unionseigenen Bereichen der Außenpolitiken, kaum einbezogen. Innerhalb der GASP ist der Erlass von Gesetzgebungsakten ausgeschlossen und eine gerichtliche Kontrolle ist nur im eingeschränkten Maße möglich.51 Von der Intergouvernementalität darf jedoch nicht auf eine völlig losgelöste Außenpolitik der GASP durch ein souveränes Agieren der Mitgliedstaaten geschlossen werden. Diese sind nämlich im Geiste ihrer Loyalitätspflicht zur aktiven und vorbehaltlosen Unterstützung der GASP verpflichtet52 – was sich wiederum auf ihre nationalen Vertreter, die die Politikgestaltung der GASP in Brüssel vornehmen, auswirkt bzw. auswirken sollte.

←38 | 39→

Neben den vergemeinschafteten Außenpolitiken der Union und der GASP darf jedoch die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) nicht außer Acht gelassen werden. Zwar wird sie formal nicht in den Artikeln des außenpolitischen Handelns aufgelistet, jedoch ist sie auf Grund ihrer außenpolitisch motivierten Ausrichtung den Außenbeziehungen der Union zuzuordnen.53 Obwohl die ENP in der Praxis schon länger besteht, normierte der Lissabonner Vertrag erstmalig in Art. 8 EUV eine gesonderte Ermächtigungsgrundlage für diese.54 Die als grundlegendes Instrument zur Schaffung von Sicherheit und Stabilität in den Nachbarschaftsregionen angelegte Politik besteht aus bilateralen Aktionsplänen und politischen Dialogen, die sich auf alle EU-Politikbereiche beziehen und zugleich auswirken.55 Die Kompetenz zur Bestimmung der ENP liegt bei der Kommission, wobei die Durchführung der Politik nicht nur durch die Kommission, sondern auch durch den Europäischen Auswärtigen Dienst erfolgt56. Aber nicht nur organschaftlich besteht eine Verknüpfung der ENP mit der restlichen Außenpolitik im weiten Sinne. Der Wortlaut des Art. 8 EUV verdeutlicht insbesondere den inhaltlichen Kontext mit der allgemeinen europäischen Außenpolitik.57 Es geht um die Schaffung „enge[r], friedliche[r] Beziehungen“ auf Grundlage eines „Raum[s] des Wohlstands und der guten Nachbarschaft“. Aus dem Begriff der „Friedlichkeit“ können offensichtlich klassische außenpolitisch motivierte Ziele erkannt werden, welches die ENP mit den Zielen des allgemeingültigen Art. 21 Absatz 1 EUV verbindet. Durch die Erwähnung der Schaffung von „Wohlstand“ kann wiederum auf die außenwirtschaftlich motivierte Zielsetzung geschlossen werden.58 Diese Annahmen rechtfertigen die Qualifizierung der ENP als Teil der europäischen Außenpolitik.

Dass jedoch die eben genannten Bereiche die Außenkompetenzen der Union abschließend erfassen, erweist sich als Trugschluss. Neben dem bereits ←39 | 40→Genannten sind auch der vierte Teil des AEUV hinsichtlich der Assoziierung der Überseeischen Länder und Hoheitsgebiete und viele im dritten Teil verstreute Bestimmungen mit außenpolitischen Dimensionen sowie ungeschriebene Außenkompetenzen, die nun nach Art. 3 Absatz 2 und Art. 216 Absatz 1 AEUV gerade zugelassen sind, der Außenpolitik der Union zuzuordnen.59

Die oben beschriebenen einzelnen Kategorien des außenpolitischen Handelns werden seit den Lissabonner Reformen durch den allgemein geltenden Art. 21 EUV geregelt.60 Dieser bestimmt die grundsätzlichen Prinzipien und Ziele, nach denen das außenpolitische Handeln zu erfolgen und sich zu richten hat. Diese Vorgaben gelten sowohl in der GASP als auch in den vergemeinschafteten Außenpolitikbereichen. Art. 21 EUV bestimmt, dass in allen außenpolitischen Bereichen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Grundfreiheiten, Menschenwürde, Gleichheitssatz, Solidaritätsverpflichtung und Achtung der Grundsätze der Vereinten Nationen als Eckpfeiler des Agierens gelten. Die Grundnorm des Art. 21 EUV stellt dabei ein Novum in der europäischen Rechtsgeschichte dar, da nun erstmalig einheitliche Zielbestimmungen und Grundsätze für die Außenpolitik der Union bestimmt wurden. Es gilt nicht mehr wie in den früheren Verträgen eine getrennte Regelung für die GASP und die restliche Außenpolitik der Union. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die GASP formal in das System der EU-Rechtsordnung eingebettet und damit die vormals bestandene Säulenstruktur aufgelöst. Damit ist die GASP unter den Hut der gesamten europäischen Außenpolitik gefasst61 und ist erstmalig in der europäischen Geschichte mit den supranationalen Außenbeziehungen vertraglich verknüpft worden. Ein Über-/Unterordnungsverhältnis ist dahingehend jedoch ausdrücklich nicht geschaffen worden. Der AEUV und der EUV stehen sich vielmehr gleichrangig gegenüber.62 Dies wird auch mit dem allgemein geltenden Kohärenzgebot, nachdem sich die einzelnen Bereiche des auswärtigen Handelns (sowie die übrigen Politikbereiche) aufeinander abstimmen müssen, ←40 | 41→unterstrichen.63 In der Festlegung dieser gemeinsamen Zielbindung und in der Unterstreichung der Sicherung der Kohärenz spiegelt sich deutlich das Bemühen europarechtlicher Akteure wider, der Europäischen Union im Feld der Außenpolitik ein stärkeres Auftreten zu verleihen.64 Kritisch anzumerken ist jedoch, dass angesichts des Umfangs der Ziele viele Detailregelungen weiterhin offengeblieben sind. Zum Beispiel bleibt trotz der vertraglichen Normierung des auswärtigen Handelns in Art. 205 ff. AEUV und der GASP in Art. 23 ff. EUV die Frage übrig, was „Außenpolitik“ tatsächlich alles umfasst und wie die Bereiche des vergemeinschafteten außenpolitischen Handelns von der zwischenstaatlich ausgerichteten GASP abgrenzt werden können?65 Immerhin erwähnt Art. 21 Absatz 3 EUV noch die anderen „externen Aspekte übriger Politikbereiche“, für die die Grundsätze und die Zielbestimmungen auch gelten. Im praktischen Sinne stellt sich dessen ungeachtet die Frage, ob die gemeinsame Zielbindung überhaupt zur Vereinfachung und zur Effektivität der Außenpolitik beiträgt.

C. Grenzen der europäischen Außenpolitik?

Wendet man sich also erstmal der Problematik der Bestimmung und der Abgrenzung des Umfangs der gesamten europäischen Außenpolitik zu und nimmt man unkritisch an, dass dies durch eine territoriale Determination möglich ist, so gelangt man schnell zu dem Ergebnis, dass dies gerade nicht realisierbar ist. Denn die gesamte Europäische Außenpolitik im weiten Sinne ist nicht an territoriale Grenzen gebunden.66 Die Union geht mit ihrem Agieren weit über die geographischen Grenzen der Europäischen Union hinaus. Ihre Beziehungen erstrecken sich in alle Regionen der Welt.67 Die Tätigkeit bezieht sich auf die ←41 | 42→südliche und östliche Nachbarschaft, auf den Westbalkan, die Türkei und Westeuropa, Asien und den pazifischen Raum sowie Afrika und den amerikanischen Kontinent.68 Als exemplarisches Beispiel zur „Grenzenlosigkeit“ der europäischen Außenpolitik sei daneben zu erwähnen, dass die Union in vielen internationalen Organisationen mit einem eigenen Sitz vertreten ist69 – was natürlich auch die Globalität des Handelns der Union unterstreicht. Letzteres wurde vor allem mit den Lissabonner Reformen auf eine neue Ebene gehoben. Mit den Lissabonner Reformen hat die Union bekanntlich eigene Rechtspersönlichkeit erlangt.70 Damit rückt sie auch als Rechtsnachfolgerin in die Rechtposition der Europäischen Gemeinschaft (EG) in internationalen Organisationen ein und übernimmt entweder deren Beobachterstatus oder deren Mitgliedschaft.71 Dies verdeutlicht ihre Stellung auf dem internationalen Parkett, also in Bezug auf die Welt und eben nicht begrenzt auf Europa. Darüber hinaus ist wegen der ständigen Erweiterung durch Aufnahme neuer Mitgliedstaaten72 eine deutliche territoriale Grenzziehung überhaupt nicht möglich. Ungeachtet dessen lässt sich eine mögliche Begrenzung auf die territorialen Gebiete der Mitgliedstaaten auch nicht anhand der Vertragstexte rechtfertigen.73 Gerade die Normierung der allgemeinverbindlichen Ziele und Grundsätze in Art. 21 EUV spricht dagegen. Denn das Ziel der Union Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zu fördern ist vom Sinngehalt des Art. 21 EUV auf unionsexterne Kontexte zugeschnitten. Bekanntlich müssen die Mitgliedstaaten die genannten ←42 | 43→Ziele im Zeitpunkt des Beitritts verwirklicht und erfüllt haben.74 Beitrittskandidaten müssen sich demnach bemühen, die Ziele und Grundsätze im Laufe des Beitrittsprozesses zu verwirklichen. Demnach kann der Sinn der Vorschrift u.a. auch dahin ausgelegt werden, dass dieser sich auf die Veränderung der Verhältnisse im Inneren von Beitritts- bzw. Drittstaaten, also (noch) nicht unionsangehörigen Staaten, bezieht.75

Auch die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich die unionale Außenpolitik auf Gebiete konzentrierte, die außerhalb des Territorialgebiets der EU liegen. Exemplarisch sei die Außenpolitik im ehemaligen Jugoslawien und in Somalia oder der Ausbau der Wirtschaftsbeziehung mit den sog. Maghreb-Staaten erwähnt. Generell ist also davon auszugehen, dass die Werte, Grundsätze und Ziele des auswärtigen Handelns – und damit auch der GASP – von globalem Charakter gezeichnet und territorial unbegrenzt sind.76 Darüber hinaus ist der globale Ansatz der Außenpolitik notwendige Konsequenz der weltweiten Verflechtung von politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Aspekten.77 Dem globalen Ansatz spricht auch nicht entgegen, dass einige der Ziele eine regionale Akzentuierung innehaben. Art. 26 EUV verdeutlicht, dass die Festlegung von strategischen Interessen den Bereichen vorenthalten ist, in denen wichtige gemeinsame Interessen der Mitgliedstaaten bestehen.78 Die Verträge lassen es demnach zu, dass nationale Motive auf die unionale Außenpolitik Einfluss nehmen können.79 Zieht man die genannten Aspekte in Betracht, ist die erste Schlussfolgerung, dass das auswärtige Handeln keinesfalls auf das Territorium der Mitgliedstaaten begrenzt, sondern geographisch weltumfassend ist.80

←43 | 44→

Zur Begrenzung des Umfangs der Außenpolitik wäre des Weiteren an eine inhaltliche Abgrenzung zwischen nationalen und vergemeinschafteten Bereichen zu denken. Aber auch diese ist nicht möglich, da die Union die Außenpolitik der Mitgliedstaaten nicht vollkommen ersetzt.81 Die einzelnen Nationalstaaten bleiben weiterhin eigenständige Akteure in ihren nationalen Außenkompetenzen,82 dies insbesondere weil die nationale Außenpolitik zu dem Kernbestandteil der Staatlichkeit und der Souveränität eines autonomen Staats gehört.83 Dies spiegelt sich dementsprechend auch in der intergouvernementalen Politikgestaltung innerhalb der GASP wider. Andererseits sind bestimmte Bereiche auf Grund der Kompetenzübertragungen auf die Union für ein eigenständiges Handeln dieser offen bzw. können in manchen Bereichen die Mitgliedstaaten und die Union gleichzeitig handeln. Es handelt sich also um ein Nebeneinander der Unionspolitiken und der nationalen Außenpolitiken, ohne dass es zu einer Ersetzung des einen Akteurs durch den anderen Akteur kommt.

Ferner ist die Europäische Außenpolitik nicht mit der Außenpolitik eines einzelnen Staats gleichzusetzen.84 Im Gegensatz zu einem Einzelstaat verfügt die Union über keine auswärtige Gewalt im klassischen Sinne, sondern ist die Trägerschaft der in einem Verbund unterschiedlicher Akteure ausgeübten Außen- und Sicherheitspolitik.85 Auch fehlen der Union die klassischen Elemente einer nationalen Außenpolitik.86 Die Union verfügt eben nicht z.B. über die Kompetenz zur Bestimmung der Migrationspolitik, der Bildung einer Armee (zumindest noch nicht) oder des Anspruchs auf Erwerb oder Abtretung eines Hoheitsgebiets.87 Darüber hinaus unterscheiden sich nationale Außenpolitiken dadurch, dass sie zwischen Innerer Politik und Äußerer Politik differenzieren.88 ←44 | 45→Die Außenpolitik der Union versteht sich aber als viel umfassender, da sie auch wirtschaftliche, umweltpolitische und entwicklungspolitische Aspekte miteinbezieht,89 also gerade „high“ und „low politics“ miteinander verbindet. Dies zeigen auch die Inhalte der allgemeingültigen Ziele und Grundsätze des Art. 21 EUV, die sich z.B. auch auf umweltpolitische und gesellschaftsrechtliche Aspekte erstrecken.

Zu denken wäre noch eine Begrenzung nach klar definierten Sachbereichen und -materien. Aber auch dies ist angesichts der nicht klar definierten Strukturen in den EU-Verträgen nicht möglich. Dem primärrechtlichen Normenbestand fehlt es an einem kohärenten Bauplan.90 Zwar sind die einzelnen Bereiche in den Artikeln des AEUV und des EUV aufgelistet, doch ist angesichts der Möglichkeit weitere Politiken bzw. Maßnahmen zu ergreifen und möglicherweise Politikfelder zu erweitern91 eine statische Festlegung nicht realisierbar. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Europäische Außenpolitik von der Realität und deren Veränderungen abhängt.92 An der historischen Entwicklung lässt sich klar erkennen, dass die Schaffung außenpolitischer Vertragsgrundlagen häufig eine nachholende Kodifizierung der Praxis der Gemeinschaftsorgane und/oder der europäischen Rechtsprechung ist.93 Die Außenbeziehungen passen sich demnach an die Gegebenheiten der weltpolitischen Entwicklungen an und reagieren auf diese. Der Normenbestand stellt demzufolge das Ergebnis einer an politischen Bedürfnissen orientierten Entwicklung dar.94 Zudem ist die EU eben kein klassischer Bundesstaat, sondern wohl am ehesten ein Verbund souveräner ←45 | 46→Staaten, der durch die Verflechtung nationaler mit europäischen Politiken immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt wird. Eine strenge Abgrenzung zwischen einzelnen Sachbereichen könnte die Effektivität eines potenziellen Vorgehens gefährden. Ferner ist zu beachten, dass im Zuge des fortschreitenden Integrationsprozesses immer wieder neue Herausforderungen entstehen, die ein „Mehr“ an gemeinschaftlichem Handeln erfordern – insbesondere im Vergleich zu den frühen Anfängen der Europäischen Union. Oft sind dies gerade Gefahren, die ein einzelner Staat nicht mehr alleine abwenden kann95 und somit auf das gemeinsame Vorgehen innerhalb der EU angewiesen ist (z.B. internationaler Terrorismus). Angesichts dieser genannten Aspekte wird deutlich, dass eine Demarkation der Außenpolitik nach klar definierten Sachbereichen die notwendige Flexibilität der europäischen Außenpolitik nehmen würde und demnach nicht sinnvoll ist.

Schlussendlich lässt sich in diesem Abschnitt festhalten, dass die Außenpolitik der Union vereinfacht gesagt keinerlei Grenzen unterliegt – außer natürlich der Beachtung der Grundsätze, Prinzipien, Werte und Ziele der Europäischen Union und des Völkerrechts. Diese These wird mit dem Sinn und dem Zweck der europäischen Außenpolitik untermauert. Würde eine klar definierte Grenzziehung erfolgen – sei es in geographischer, sachlicher, zeitlicher oder sonstiger Hinsicht –, so würde das zu einer sich negativ auswirkenden Verengung des außenpolitischen Handelns führen, was wiederum drastische Auswirkungen auf die Effektivität der Außenpolitik haben könnte. Folglich wäre die Union nicht fähig sich auf dem internationalen Parkett eine führende Rolle zu verschaffen, was auf langfristige Sicht dazu führen könnte, dass die Union im außenpolitischen Geschehen in eine unbedeutende Nebenrolle gedrängt werden könnte.

D. Umfang der GASP

Wie bereits oben erwähnt, stellt die GASP nur eine Teilmenge des gesamten auswärtigen Handelns der Union dar, so dass eine Bestimmung des Umfangs der GASP notwendig und – auch im Sinne der wechselseitigen Verpflichtung zur Beachtung der jeweiligen Kompetenzen nach Art. 40 EUV – geboten erscheint. Wie auch die Festlegung von Grenzen für die Europäische Außenpolitik gestaltet sich die Abgrenzung der GASP von den übrigen Politikbereichen des unionsrechtlichen außenpolitischen Handelns alles andere als einfach.96 Nicht nur, ←46 | 47→dass die unionseigene Außenpolitik und die GASP grundsätzlich in einem Spannungsfeld zueinander stehen97, auch sind die Mitgliedstaaten trotz der Vereinheitlichung durch Lissabon die maßgeblichen Akteure auf dem Gebiet der GASP geblieben.98 Im Übrigen kann auch nicht einfach von dem Umfang der nationalen Außenpolitik eines Mitgliedstaats auf die Dimension der GASP geschlossen werden, u.a. weil diese von den allgemeinen Regeln des Völkerrechts und eben nicht vom Unionsrecht dominiert wird.99 Trotz allem ist die Abgrenzung essentiell100 – allein schon wegen der zum vergemeinschafteten Unionsrecht differierenden Entscheidungsmechanismen und des Ausschlusses der Zuständigkeit des EuGH innerhalb der GASP,101 – so dass sich ungeachtet dieser Komplexität einer differenzierenden Bestimmung des Umfangs anhand einer negativen Abgrenzung zumindest angenähert werden soll. Hierbei ist zu beachten, dass die Abgrenzung allein aus dem rechtswissenschaftlichen Kontext erfolgt und die politikwissenschaftlichen Aspekte außer Acht gelassen werden.102

1. Bestimmung anhand von Art. 2 Absatz 4 AEUV i.V.m. Art. 24 Absatz 1 EUV

Zuerst soll sich der Bestimmung des Umfangs durch eine Analyse der vertraglichen Grundlagen angenähert werden. Der Blick in die vertraglichen Grundlagen ←47 | 48→mag zunächst doch überraschen, da die Kompetenzen in der GASP recht kurz und undetailliert beschrieben werden.103 Nach Art. 2 Absatz 4 AEUV erstreckt sich die Zuständigkeit der Union auf das Erarbeiten und das Verwirklichen einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik. Damit wird (lediglich) klar, dass die GASP nun auch explizit die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfasst und beide Bereiche ein integraler Bestandteil der Außenpolitik der Union sind.104 Bei Art. 2 Absatz 4 AEUV handelt es sich aber nur um eine Zuweisung der Zuständigkeit, die erst durch Art. 24 Absatz 1 EUV näher konkretisiert wird.105 Dementsprechend muss auf letzteren Artikel näher eingegangen werden. Laut Art. 24 Absatz 1 EUV ist die Zuständigkeit der Union im Rahmen der GASP umfassend. Sie erstreckt sich auf alle Bereiche der Außenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union einschließlich verteidigungspolitischer Aspekte. Aus dem Wortlaut der genannten Artikel lässt sich aber mitunter nicht folgern, welche Bereiche die GASP konkret umfasst. Aus der Formulierung „alle Bereiche der Außenpolitik“ (die Betonung liegt dabei auf dem Wort „alle“) könnte man annehmen, dass der Umfang der GASP tatsächlich auch die weiteren außenpolitischen, nämlichen die supranationalen außenpolitischen Angelegenheiten umfasst.106 Dies wird aber durch die Existenz des Fünften Teils des AEUV, der gerade das exklusive auswärtige Handeln der Union bestimmt, evident widerlegt.107 Zudem gilt für die GASP die Besonderheit, dass das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung108 nicht im gleichen Umfang zur Anwendung kommt wie im AEUV-Bereich.109 Dies folgt einerseits daraus, dass die Union im Rahmen ihrer vergemeinschafteten Außenpolitiken einen weiten Ermessensspielraum dahingehend hat, welche außenpolitischen Themen sie aufgreifen will, und andererseits daraus, dass die Durchführung der ←48 | 49→GASP die Anwendung der Verfahren und den jeweiligen Umfang der Befugnisse der Organe im Rahmen der AEUV-Sachbereiche unberührt lässt110.111 Dementsprechend relativiert sich die wortlautbezogene umfangreiche Zuständigkeit und der Umfang der GASP wird zugleich beschränkt.

Dem Wortlaut des Art. 24 Absatz 1 EUV nach verbindet die GASP allerdings zwei Elemente zu einer Politik: das Auswärtige und die Sicherheit.112 Im Gegensatz zur Sicherheit, die in den Verträgen präzise definiert wird,113 wird Ersteres nicht näher erläutert.114 Aus der Begrifflichkeit kann jedoch gefolgert werden, dass es sich um das Auswärtige – also um das Äußere – und nicht um das Innere dieses Politikbereichs handelt. Fraglich ist jedoch, ob dies auch bedeutet, dass die GASP ausschließlich auf das gerichtet ist, was außerhalb des Institutionsgefüges passiert. Folgt man dieser Annahme, so wäre die GASP nur auf von außen kommenden Gefahren und Einwirkungen und nicht auf die innerstaatliche nationale Ordnung und innere Sicherheit gerichtet. Im Folgeschluss wäre dann die Union als supranationaler Akteur für solche Aspekte zuständig, die aus dem Inneren entstehen, also die das Funktionsgefüge der Akteure untereinander betrifft. Diese Annahme würde aber zugleich ausschließen, dass die Union in den supranationalen außenpolitischen Bereichen überhaupt mit anderen außenpolitischen Akteuren wie Drittstaaten und internationalen Organisationen agieren könnte – und dies widerspricht der eindeutigen Praxis der Union. Denn die Union geht in ihrem außenpolitischen Handeln in den vergemeinschafteten Bereichen weit über die Grenzen ihres Institutionsgefüges hinaus – sei es in geographischer Hinsicht oder in Bezug auf weitere außenpolitische Akteure des internationalen Weltgeschehens.115 Zudem ist stark zu bezweifeln, ob eine derartige Abgrenzung für die Kompetenzzuweisung zwischen der Union und dem Rat der Europäischen Union als Vertreter der Mitgliedstaaten als sinnvoll erachtet werden kann, da eventuelle Überschneidungen der Bereiche vollkommen ausgeblendet werden und somit die Effektivität des außenpolitischen Handelns beeinträchtigt werden könnte. Andererseits muss aber klargestellt werden, dass die Union im Inneren des Unionsgefüges keine „europäische“ GASP betreiben kann. Denn wie auch Art. 28 Absatz 1 EUV beschreibt, bezieht sich das Vorgehen in der GASP auf ←49 | 50→„internationale Situationen“. Internationale Situationen sind aber gerade keine Konflikte innerhalb der EU; und mit Mitteln der GASP darf im Übrigen auch keine Unionspolitik betrieben werden.116

Aus dem Wortlaut der oben genannten relevanten Bestimmungen lässt sich demnach schlussfolgern, dass die GASP verteidigungspolitische Aspekte einschließlich einer möglichen gemeinsamen Verteidigung umfasst. Aus dem soeben Beschriebenen kann entnommen werden, dass das operative Vorgehen der GASP nicht auf die Lösung innergemeinschaftlicher Konflikte, sondern grundsätzlich auf das von außen Kommende gerichtet ist. Die daraus mögliche Folgerung der Begrenzung des Zuständigkeitsbereichs der Kommission auf das „Innere“ wird jedoch abgelehnt. Infolgedessen trifft der zu Anfang genannte Ansatz, dass die GASP auf „das Äußere“ gerichtet ist, zumindest teilweise zu. Ob diese Auslegung auch in Zukunft aufrechterhalten werden kann, ist indes fraglich. Denn es ist nicht auszuschließen, dass es zu innereuropäischen Konflikten kommen kann, bei denen sich die Mitgliedstaaten solidarisch im Sinne der Beistandsklausel unterstützen müssen.

2. Bestimmung anhand Art. 4 Absatz 2 EUV

Bei der Durchsicht der Verträge nach weiteren vertraglichen Bestimmungen, die der Festlegung des Umfangs der GASP dienen, stoßen wir auf Art. 4 Absatz 2 EUV, der die Beziehung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten regelt. Der auf Achtung der Gleichheit der Mitgliedstaaten versierte Grundsatz stellt die äußerste Grenze für ein Handeln der Union dar117 und bestimmt den trotz EU-Mitgliedschaft verbleibenden Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten. Demzufolge ist Art. 4 Absatz 2 EUV auch bei der Auslegung und Anwendung von Kompetenzen zu beachten.118 Im Grundsatz verpflichtet Art. 4 Absatz 2 EUV die Union, bei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten die Gleichheit der Mitgliedstaaten sowie deren nationale Identität zu achten. Aus der Bestimmung ergibt sich außerdem, dass die Mitgliedstaaten ihre Souveränität zur Bestimmung und Wahrung ihrer territorialen Unversehrtheit sowie zur Aufrechterhaltung ihrer ←50 | 51→öffentlichen Ordnung und zum Schutz nationaler Sicherheit behalten. Mit den Lissabonner Reformen wurde der Anwendungsbereich der nationalen Identität um die grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen, die auch die regionale und lokale Selbstverwaltung umfassen, erweitert.119 Zudem wurde in S. 3 zusätzlich betont, dass die nationale Sicherheit weiterhin unter die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten fällt. Die späte Einführung des Satz 3 ist wohl auf die Sorge der Mitgliedstaaten vor einer schleichenden Souveränitätsunterwanderung durch Ausweitung der Unionskompetenzen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung zurückzuführen.120 Was jedoch im Einzelnen vom „Schutzbereich“ des Art. 4 Absatz 2 und insbesondere von dem Begriff der nationalen Identität umfasst ist, ist nicht abschließend geklärt.121 Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass die Bestimmung den Mitgliedstaaten und deren Verfassungsgerichten obliegt.122 Die meisten Verfassungsgerichte sind jedoch in der genauen Aufzählung von Sachbereichen zögerlich. Sie beschränken sich vielmehr auf bloße Feststellungen, dass die Union grundlegende Prinzipien ihrer Verfassungen nicht verletzen dürfe.123 Diese Zurückhaltung folgt u.a. aus dem Umstand, dass die nationalen Verfassungsgerichte bei der Auslegung des Begriffs im Spannungsverhältnis mit der Interpretationshoheit des EuGH für unionsrechtliche Begriffe stehen. Folglich können die Mitgliedstaaten nicht ←51 | 52→willkürlich über „ihren“ Bereich bestimmen. Die nationalen Verfassungsgerichte müssen bei ihrer Auslegung auf die europäischen Belange Rücksicht nehmen – und umgekehrt muss der EuGH im Rahmen von Streitigkeiten über den Begriff der nationalen Sicherheit den Verfassungsgerichten Interpretationsspielraum lassen.124

Wenngleich hat sich das BVerfG mit der Bestimmung des sog. unantastbaren Kernbereichs befasst. Das BVerfG bestätigte, dass der Begriff der verfassungsgemäßen Strukturen mit dem der Verfassungsidentität in Art. 23 Absatz 1 Satz 3 i.V.m. Art. 79 Absatz 3 GG übereinstimmt und dass Rechtsakte der europäischen Organe dementsprechend daran zu messen sind, ob sie den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität wahren.125 Zu dem unantastbaren Kernbereich gehören u.a. die Staatsstrukturprinzipien, die Grundrechte, das Fortbestehen der Staatlichkeit und das Bundesstaatsprinzip.126 Daneben gehören auch die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, das Strafrecht und die Sprache zu wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung.127 Der unantastbare Kernbereich setzt dabei die absolute Grenze für etwaige Verfassungsänderungen, die durch die Integration in die Europäische Union erfolgen, und führt bei Verstoß zu einer Rechtswidrigkeit des betreffenden Unionsrechtsaktes, unabhängig davon, ob es sich um einen Akt der Legislative, der Exekutive oder der Judikative handelt.128

Die gerichtlichen Interpretationsschwierigkeiten ungeachtet ist man sich in der Literatur einig, dass mit nationaler Identität nur die „wesentlichen“ staatlichen Festlegungen und Rechtsgüter gemeint sein können.129 Diese Annahme wird mit der dem Begriff „grundlegende“ (politische und verfassungsmäßige ←52 | 53→Strukturen) innewohnenden Bedeutung unterstrichen.130 „Grundlegend“ enthält eine Betonung auf „essentiell“, „von entscheidender Bedeutung“ und „fundamental“.131 Aber auch der Begriff „Identität“ enthält eine ähnliche Wertung, die ebenso auf entscheidende und bestimmte Merkmale abstellt. Demgemäß umfasst der Begriff der nationalen Identität nach den Literaturmeinungen vor allem die staatlichen Grundstrukturen, die Staatlichkeit an sich sowie die Souveränität der einzelnen Mitgliedstaaten.132 Gleichwohl wird durch die Akzentuierung auf „grundlegend“ deutlich, dass nationale Identität nicht im Sinne der klassischen Begrifflichkeit der staatlichen Souveränität, die eine umfassende Herrschaftsgewalt im Außen- und Innenbereich impliziert, verstanden werden kann.133 Dies widerspräche insbesondere dem europäischen Integrationsgedanken und der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten gegenüber der Union. Nicht zuletzt muss immer bedacht werden, dass die Mitgliedstaaten selbst Kompetenzen auf die Union übertragen haben.

Neben dem eben erläuterten Grundlegenden zählt Art. 4 Absatz 2 EUV selbst beispielhaft weitere Bereiche auf, die unter den Begriff der nationalen Identität zu fassen sind. Mit der sog. Staatsfunktionsgarantie sind die zentralen klassischen staatlichen Aufgaben eines Mitgliedstaats gemeint.134 Dabei bezieht sich die Wahrung der territorialen Unversehrtheit auf die Bedeutung im klassischen Völkerrecht,135 worunter vor allem das Verbot der Gewaltanwendung durch fremde (Mitglieds-)Staaten und damit auch das Verbot der Union in die territoriale Verfasstheit der Mitgliedstaaten einzugreifen, umfasst wird.136 Für eine Rechtfertigung von Einschränkungen des Unionsrechts aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung kann auf Fälle der Einschränkung von Grundfreiheiten nach den Normen des AEUV verwiesen werden.137 Demnach ist für die Auslegung des Begriffs der öffentlichen Ordnung vorzugsweise auf die ←53 | 54→Rechtsprechung des EuGH zu Art. 36 und Art. 52 AEUV zurückzugreifen.138 Hierbei ist zu beachten ist, dass der Begriff der öffentlichen Ordnung als Durchbrechung von unionsrechtlichen Vorschriften eng auszulegen ist.139

Der zuletzt beispielhaft aufgezählte Begriff des Schutzes der nationalen Sicherheit bezieht sich auf das fundamentale Bestandsinteresse des Staats und nicht der einzelnen Person.140 Ein Handeln der Union kann demzufolge nur eingeschränkt werden, wenn existenzielle Sicherheitsbelange des Mitgliedstaats betroffen sind.141

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Art. 4 Absatz 2 EUV – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerfG – die fundamentalen staatlichen Bereiche eines einzelnen Mitgliedstaats aus dem Bereich der GASP als intergouvernemental geprägte Unionskompetenz herausnimmt. Maßnahmen der GASP dürfen damit weder die staatlichen Grundstrukturen noch das Staatsterritorium betreffen – es sei denn, die Mitgliedstaaten einigen sich im Rat der Europäischen Union hierauf einstimmig. Eine genaue Bestimmung einzelner Sachbereiche ist durch Art. 4 Absatz 2 EUV aber nicht möglich – was, bedenkt man die Kompetenzübertragungen auf die Union, auch nicht verwunderlich ist. Insgesamt eignet sich Art. 4 Absatz 2 EUV demnach nur bedingt zur Determination des Umfangs der GASP. Die Norm erlangt vielmehr dann Relevanz, wenn es um Kompetenzstreitigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten im Einzelfall geht. Es sind Fälle, in denen es entweder um eine Kompetenzübertretung der Union oder um die Rechtfertigung einer Nichteinhaltung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten geht.

3. Bestimmung anhand Art. 3 Absatz 2 AEUV

Versuchen wir nun aber weitere Ansätze für die Bestimmung des Umfangs der GASP zu finden. Hierbei gelangen wir zu dem neu eingeführten Art. 3 Absatz 2 AEUV. Dieser bestimmt die ausschließliche Außenkompetenz der Union für den Abschluss internationaler Übereinkünfte in vier Fällen, wobei unter anderem die Rechtsprechung des EuGH zu impliziten ausschließlichen Vertragsschlusskompetenzen für externe Bereiche142 vertraglich kodifiziert ←54 | 55→wurde143. Art. 3 Absatz 2 AEUV bestimmt zwar nun deutlicher als in der Vergangenheit, in welchen Bereichen die Union die ausschließliche Kompetenz zum Abschluss internationaler Übereinkünfte hat, doch bleiben weiterhin viele Fragen offen. Absatz 2 spricht nämlich von der Ausschließlichkeit der Außenkompetenz, bestimmt aber nicht, wann explizit die Außenkompetenz(en) der Union vorliegen (und demnach nicht der Bereich der GASP betroffen ist). Eine konkrete Bereichsabgrenzung steht aus. Ein unwohles Empfinden, dass der Versuch der Kodifizierung der vorausgegangenen Rechtsprechung des EuGH missglückt ist, bleibt.144 Zudem bleibt der vertraglichen Fixierung dieser Kompetenz auch der Makel behaftet, dass eine schleichende (und zugleich weitläufige) Kompetenzerweiterung zu Gunsten der Kommission erreicht werden soll – also eine Bereichserweiterung zu Lasten der GASP. Die Norm hilft demnach nicht das Ausmaß der Außenkompetenzen der Union zu bestimmen145 – im Gegenteil, sie verwischt die immanenten Grenzen der Bereiche – und ist für die Bestimmung des Umfangs der GASP von untergeordnetem Interesse.

4. Bestimmung anhand der außenpolitischen Ziele

Des Weiteren mag man an eine Demarkation durch Bezugnahme auf die vertraglich fixierten Unionsziele denken. Aber auch dies führt zu keinem befriedigenden Ergebnis. Eine mögliche Abgrenzung nach den verfolgten Zielen ist seit der Normierung der allgemeingültigen Ziele in Art. 21 EUV offensichtlich nicht möglich.146 Im Gegensatz zu der Normierung im Vertrag von Nizza, der ←55 | 56→einen speziell auf die GASP normierten Zielkatalog enthielt, aus dem man sich zumindest Grenzen für den GASP-Bereich hätte herleiten konnte,147 gelten die aktuellen Ziele „säulenübergreifend“ für die gesamte europäischen Außenpolitik. Überdies, stellt man auf das Ziel der einzelnen Maßnahme, so stößt man auch hier auf weitere Schranken für eine mögliche Abgrenzung. Denn die Vergangenheit hat gezeigt, dass Maßnahmen des auswärtigen Handelns immer öfter „säulenübergreifend“ wirken148 und damit nicht konkret der GASP oder dem unionseigenen auswärtigen Handeln zuordenbar sind. Zuletzt fragt es sich, ob durch die verallgemeinerten Ziele die Entscheidung zur Bestimmung des Umfangs womöglich auf die Einzelfallentscheidung der Exekutive verlagert wurde. Was sich angesichts der Dominanz der Mitgliedstaaten in den zuständigen Entscheidungsgremien wohl nicht negativ auf den GASP-Umfang auswirken würde – immerhin wäre dann aber die Bestimmung des Umfangs der Entscheidung durch die Kommission entzogen und die Gefahr der schleichenden Kompetenzerweiterung erstmal gebannt. Aber selbst wenn dieser Annahme folgt, so trägt dies nicht zur vorliegenden allgemeinen Sachbereichsbestimmung bzw. -abgrenzung der GASP bei und kann demnach unbeachtet gelassen werden.

5. Bestimmung anhand der Kompetenzverteilung

Da die vorausgegangenen Ausführungen nur einen mäßigen Beitrag zu der klaren Bestimmung des Umfangs der GASP erbracht haben, ist in einem weiteren Schritt anhand der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten eine Differenzierung vorzunehmen. Möglicherweise lässt sich anhand des Umfangs der ausschließlichen unionalen Außenkompetenzen ein Rückschluss auf den Umfang der GASP ziehen.

Details

Seiten
488
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631892473
ISBN (ePUB)
9783631892480
ISBN (Paperback)
9783631892367
DOI
10.3726/b20331
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (März)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 488 S., 11 Tab.

Biographische Angaben

Kirsten Windle-Wehrle (Autor:in)

Kirsten Joy Windle-Wehrle studierte Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Ihren Schwerpunkt legte sie dabei auf die Internationalisierung und Europäisierung des Rechts. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Rechtsanwältin in Knazleien, arbeitet sie nun als Syndikusrechtsanwältin für einen Konzern.

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Titel: Die Handlungsformen in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik - die EU als handlungsfähiger globaler Akteur?
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