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Die Entwicklung der Brünhild-Figur bis zum Ausgang des Mittalters

Eine Studie zur Intertextualität

von Marie-Barbara Vieuxtemps (Autor:in)
©2023 Dissertation 756 Seiten

Zusammenfassung

In dieser Studie wird anhand der rationalen Philologie die Entwicklung der historischen Frankenkönigin Brunichildis († 613) zu einer literarischen Figur in drei Hauptvarianten untersucht: Im Nibelungenlied erscheint Brünhild als Königin, in den isländischen Texten als Walküre, in den kontinental-skandinavischen als Burgherrin. Es gilt als gängige Annahme, dass Heldenlieder lange vor der schriftlichen Fixierung mündlich überliefert wurden. Der rationalen Philologie zufolge begann dagegen die schriftliche Tradition mit dem Nibelungenlied. Laut der Schriftlichkeitsthese beruht dieses Epos allein auf Handschriften und gelangte frühzeitig nach Skandinavien. Dort diente es zuerst als Vorlage für Snorris Edda, welche wiederum die Lieder-Edda und die Völsungasaga anregte, später für die norwegische Thidrekssaga und die schwedische Didrikskrönikan.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Thema, Problematik und Aufbau der Arbeit
  • 1.2 Erläuterung einiger Grundbegriffe
  • 1.3 Zitierte Ausgaben
  • 2 Forschungsgeschichte
  • 2.1 Die (Wieder-) Entdeckung der Handschriften und die ersten Ausgaben
  • 2.2 Die Romantiker
  • 2.3 Die Kritik an den romantischen Hypothesen
  • 2.4 Andreas Heuslers Stemma und seine Erweiterungen
  • 2.5 Friedrich Panzers Stemma und seine Erweiterungen
  • 2.6 Die Hypothesen der ‚Oral-Poetry‘
  • 2.7 Nibelungenwerkstatt oder Dichterschule
  • 2.8 Die Frage nach einem Original und der Datierungsversuche
  • 2.9 Die These der Schriftlichkeit
  • 3 Methode: Theoretische Analyse zur ‚rationalen Philologie‘
  • 3.1 Allgemeine Fragestellung
  • 3.2 Radikale Infragestellung jeder Mündlichkeitsform?
  • 3.3 Entwicklung einer aliteralen bis zu einer literalen Gesellschaft
  • 3.4 Stärken und Schwächen des Gedächtnisses
  • 3.4.1 Das Gedächtnis des Menschen
  • 3.4.2 Das kollektive Gedächtnis
  • 3.4.3 Dunbars Zahl
  • 3.5 Historische Forschung als Basis
  • 3.5.1 Geschichte als Wissenschaft
  • 3.5.2 ‚Rethinking‘
  • 3.5.3 Einschränkungen
  • 3.5.4 Die notwendige Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Rationalität
  • 3.5.5 Rekonstruktionsversuche
  • 3.5.6 Quellenforschung
  • 3.5.7 Rezeptionsästhetische Fragen
  • 3.6 Geschichte und Mythos
  • 3.7 ‚Gegenwartsreportage‘
  • 3.8 Zirkelschlussartige Beweisführungen
  • 3.9 Eine nicht ganz neue Denkweise
  • 3.10 Wie war es wirklich?
  • 3.11 Datierungsfragen
  • 3.12 Grenzen
  • 3.12.1 Fragmentarische Überlieferung
  • 3.12.2 Selektierungsvorgang
  • 3.12.3 Inkohärenzen und Inkonsistenzen
  • 3.13 Grundlegende Änderungen
  • 3.14 Autoritätstopoi und fingierte Mündlichkeit
  • 3.15 Rettung vor dem Aussterben?
  • 3.16 Bildzeugnisse
  • 3.17 Kein Rückgriff auf Mündlichkeit
  • 3.18 Zusammenfassung der Methode
  • 4 Ikonographische und literarische, für die weitere Arbeit nicht berücksichtigte Denkmäler
  • 4.1 Ikonographie
  • 4.2 Literarische Denkmäler
  • 5 Die lateinischen historiographischen Texte – die Königin Brunichildis
  • 5.1 Venantius Fortunatus’ Gedichte
  • 5.2 Epistulae Austrasicae
  • 5.3 Gregor von Tours’ Decem Libri Historiarum
  • 5.4 Epistolae Wisigothicae
  • 5.5 Addimenta ad Isidori chronica maiora
  • 5.6 Marius von Avenches’ Chronik
  • 5.7 Sisebuts Vita Desiderii
  • 5.8 Bobbios Vitae Sanctorum Columbani
  • 5.9 Fredegarii Chronicon
  • 5.10 Vita Romarici
  • 5.11 Liber Historiæ Francorum
  • 5.12 Paulus Diaconus’ Historia gentis Langobardorum
  • 5.13 Vita Desiderii Cadurcae urbis episcopi
  • 5.14 Wettis Vita Sancti Galli
  • 5.15 Walafrids Vita Sancti Galli
  • 5.16 Ermenrichs Vita Sancti Galli
  • 5.17 Ados von Vienne De passione Sancti Desiderii
  • 5.18 Ratperts Casus Sancti Galli
  • 5.19 Aimoins Historiæ Francorum Libri IV
  • 5.20 Vita Hugonis monachi Aeduensi
  • 5.21 Chronicon Novaliciense
  • 5.22 Marianus Scotus’ Chronicon
  • 5.23 Bernolds Chronicon
  • 5.24 Chronicon Hugonis Virdunensis
  • 5.25 Sigeberti Gemblacensis chronographia
  • 5.26 Hugo von Fleurys Chronik
  • 5.27 Annales Colbazenses
  • 5.28 Auctarium Garstense
  • 5.29 Allgemeiner Vergleich
  • 5.30 Handschriftenverkehr und Skriptorien
  • 6 Von der historischen Brunichildis bis zur Brünhild des NL und der Klage
  • 6.1 Der literarhistorische Kontext
  • 6.1.1 Die Überlieferung
  • 6.1.2 Der Werkkomplex
  • 6.1.3 Entstehungsort
  • 6.1.4 Struktur
  • 6.1.5 Gattung
  • 6.1.6 Datierung
  • 6.1.7 Inkonsistenzen und Brüche
  • 6.1.8 Die Rolle der gesellschaftlichen Organisation
  • 6.1.9 Die Entwicklung der Heldendichtung bis um 1200
  • 6.2 Analyse der Brünhild-Figur
  • 6.2.1 Der Sinn des Auftrags der Niederschrift des Nibelungenlieds und der Klage
  • 6.2.2 Ihr Vorname
  • 6.2.3 Ihre Familie
  • 6.2.4 Ihre Herkunft
  • 6.2.5 Die Königin in Worms
  • 6.2.6 Kleider, Farben und Waffen
  • 6.2.7 Zahlen
  • 6.2.8 Vorbekanntschaft
  • 6.2.9 Brautwerbung und doppelter Betrug
  • 6.2.10 Hochzeit und Tränen
  • 6.2.11 Der kleine Siegfried
  • 6.2.12 Die hinterlistige Einladung
  • 6.2.13 Die Entdeckung des Betrugs
  • 6.2.14 Der Mord an Siegfried
  • 6.2.15 Brünhilds Reaktion nach dem Mord
  • 6.2.16 Herrschaftsprinzipien: Idoneität oder Erbschaftskönigtum?
  • 6.2.17 Vergleich der Herrschaftsauffassungen
  • 7 Von Nibelungenlied und Klage bis zu Þiðrekssaga und Didrikskrönikan
  • 7.1 Der literarhistorische Kontext
  • 7.1.1 Überlieferung der Þiðrekssaga und der Didrikskrönikan
  • 7.1.1.1 Þiðrekssaga
  • 7.1.1.2 Didrikskrönikan
  • 7.1.2 Datierungen
  • 7.1.3 Entstehungsorte
  • 7.1.4 Verfasserfrage bzw. Schreiber
  • 7.1.5 Die Rolle der Kirche
  • 7.1.6 Die Rolle der Hanse
  • 7.1.7 Håkon IV. als Auftraggeber
  • 7.1.8 Håkons IV. Freundschaft zu Kaiser Friedrich II.
  • 7.1.9 Karl Knutsson
  • 7.1.10 Die damalige Literaturproduktion
  • 7.1.11 Höfisierung, Vergröberung und Gattungsfrage
  • 7.1.12 Die Intertextualität der TS und der DK mit anderen Werken
  • 7.2 Analyse der Brünhild-Figur
  • 7.2.1 Die Vorstellung der Brünhild-Figur
  • 7.2.2 Ihr Vorname
  • 7.2.3 Ihre Familie
  • 7.2.4 Ihre schwäbische Herkunft
  • 7.2.5 Burgherrin und Pferdehändlerin
  • 7.2.6 Kleider, Waffen und ‚Crossdressing‘
  • 7.2.7 Seherfähigkeiten
  • 7.2.8 Vorbekanntschaft und Verlobung
  • 7.2.9 Brautwerbung
  • 7.2.10 Jungfräulichkeit
  • 7.2.11 Die Hochzeit
  • 7.2.12 Die Brautnacht
  • 7.2.13 Die Unfruchtbarkeit der Ehe
  • 7.2.14 Der Königinnenzank und die Entdeckung des Betrugs
  • 7.2.15 Der Mord
  • 7.2.16 Brynhilds Reaktion nach dem Mord
  • 7.2.17 Brynhilds Leben nach dem Mord
  • 7.2.18 Vorläufige Schlussfolgerung zum Vergleich TS-DK
  • 8 Von Nibelungenlied bis zu den isländischen Texten
  • 8.1 Der literarhistorische Kontext
  • 8.1.1 Die Überlieferung
  • 8.1.1.1 Snorra Edda
  • 8.1.1.2 Lieder-Edda
  • 8.1.1.3 Völsungasaga
  • 8.1.2 Datierungen
  • 8.1.3 Entstehungsorte
  • 8.1.4 Besonderheiten der isländischen Texte
  • 8.1.4.1 Snorra Edda
  • 8.1.4.2 Lieder-Edda
  • 8.1.4.3 Völsungasaga
  • 8.1.5 Der literarhistorische Kontext in Island
  • 8.1.6 Die Rolle der Goðar – die politische Organisation in Island
  • 8.1.7 Die Rolle der Hanse
  • 8.1.8 Die Rolle der Kirche in Island
  • 8.1.9 Heidnische Reminiszenzen oder christliche Kritik des Heidentums?
  • 8.1.10 Der Handschriftenverkehr
  • 8.1.11 Die Gattungsfrage: Skaldik, Edda und Saga
  • 8.1.11.1 Die Skaldik
  • 8.1.11.2 Die eddische Dichtung
  • 8.1.11.3 Die Sagas
  • 8.1.12 Die Intertextualität und die Intermedialität SE – LE – VS zu anderen Denkmälern
  • 8.1.12.1 Die Intermedialität
  • 8.1.12.2 Die Intertextualität
  • 8.2 Analyse der Brünhild-Figur
  • 8.2.1 Ihr Vorname: Brynhild, Hild oder Sigrdrífa?
  • 8.2.2 Ihre Familie bzw. Abstammung
  • 8.2.3 Ortsangaben
  • 8.2.3.1 Frankenland
  • 8.2.3.2 Hunnenland
  • 8.2.3.3 Dänemark
  • 8.2.3.4 Saxland und das Gebiet der Gjukungen am Rhein
  • 8.2.3.5 Hindarfjall, Waberlohe und Heimirs Hof
  • 8.2.4 Ihre Runenkunde und Seherfähigkeiten
  • 8.2.4.1 Seherfähigkeiten in Bezug auf Personen
  • 8.2.4.2 Seherfähigkeiten in Bezug auf Bildung
  • 8.2.4.3 Seherfähigkeiten: Traumdeutung und Schicksalsprophezeiung
  • 8.2.5 Kleider, Gestaltentausch, Waffen und ‚Crossdressing‘
  • 8.2.6 Verlobung(en)
  • 8.2.7 Strafe und Brautwerbung
  • 8.2.8 Betrug an Brynhild
  • 8.2.9 Jungfräulichkeit oder Tochter
  • 8.2.9.1 Keuschheitsmotiv
  • 8.2.9.2 Áslaug
  • 8.2.10 Königinnenzank und Entdeckung des Betrugs
  • 8.2.11 Mord an Sigurð
  • 8.2.11.1 Verbrechen und Ehrverletzung
  • 8.2.11.2 Vorwand
  • 8.2.11.3 Betttod
  • 8.2.11.4 Waldtod
  • 8.2.12 Brynhilds Reaktion
  • 8.2.13 Selbstmord
  • 8.2.14 Sippenmentalität, Unabhängigkeit und/oder Untertänigkeit
  • 8.2.15 Fazit
  • 9 Fazit und Ausblick
  • 9.1 Fazit
  • 9.2 Ausblick
  • 10  Abbildungsverzeichnis
  • 11  Bibliographie

1 Einleitung

1.1 Thema, Problematik und Aufbau der Arbeit

„Die Geschichte der Nibelungen ist das Königsproblem der deutschen Philologie seit ihrem Anfang.“1 Das schrieb vor über 60 Jahren Hugo Kuhn. Trotz der großen Fortschritte der Forschung in vielen Bereichen fordern manche ungelösten Rätsel die Literaturwissenschaftler bis heute noch heraus.

Eines dieser Rätsel betrifft die Entwicklung der Brünhild-Figur. In der überaus reichen Nibelungenforschung ist sie selten Gegenstand einer eigenen Untersuchung: Die letzte Brünhild-Monographie, diejenige von Theodor Andersson, entstand 1980. Ein anderes Problem der Nibelungenforschung ist das der Methode. Die Ergebnisse zur Forschung eines Themas hängen selbstverständlich von der gewählten Methode ab. So soll diese Dissertation auch dazu dienen, eine schon angewandte, aber noch nicht theoretisch untersuchte Methode zu überprüfen: Die ‚Rationale Philologie‘ (im Folgenden RP).

Die Wahl der Brünhild-Figur als eine Schlüsselfigur zum Verständnis der Nibelungensage allgemein wurde von Andersson schon folgendermaßen hervorgehoben: „No more important key exists to our understanding of Germanic literature than the legend of Brynhild.“2 Die Nibelungensage allgemein und besonders die Brünhild-Figur wurden bisher anhand unterschiedlicher Forschungsansätze untersucht, die alle in einem Punkt übereinstimmen: Sie beruhen auf der Hypothese, nach welcher eine mündliche Überlieferung des Stoffes im Hochmittelalter in unterschiedlichen Räumen Europas verschriftlicht wurde. Die Forschungsansätze zur Mündlichkeit erbrachten unterschiedliche Ergebnisse zur Entstehungsgeschichte der Nibelungensage und zur Intertextualität zwischen den Varianten, je nachdem ob etwa von Freiprosa- oder Buchprosatheorie, von Oral-Poetry z.B. ausgegangen wurde.3 Diese Thesen mündeten in verstrickte Debatten in Bezug auf Stemma und Intertextualität, v.a. deswegen, weil es den verschiedenen Mündlichkeitsthesen an empirisch überprüfbaren Beweisen mangelt. So gab die jüngste Forschung die Frage nach Stemma und Intertextualität weitgehend auf, um sich auf Figurenanalysen oder andere spezifische Themen zu konzentrieren. So soll das erste Kapitel dieser Dissertation die Entwicklung der Forschungsansätze vor Augen führen, von der Wiederentdeckung der Handschriften im 18. Jahrhundert bis heute. Die Menge der Veröffentlichungen verbietet es, eine vollständige Darstellung zu schildern. Deshalb sollen nur die Hauptthesen und -ergebnisse erläutert werden, um die hier gewählte Methode in forschungsgeschichtlicher Hinsicht zu verorten.

Danach soll eine Untersuchung der von Peter Andersen entwickelten Methode, der RP, vorgenommen werden, nach welcher auf die Hypothese einer langen mündlichen Überlieferung verzichtet werden soll. Hingegen soll sich der Forscher allein auf eine schriftliche Überlieferung konzentrieren. Tatsächlich hat Andersen die RP schon seit 20084 angewandt, mit m.E. vielversprechenden Ergebnissen. Da die RP bis jetzt als ‚Axiom‘ benutzt wurde, ist es die erste Aufgabe dieser Dissertation, sie gründlich unter die Lupe zu nehmen, um ihren Anwendungsbereich zu definieren. Das zweite Kapitel soll also einer theoretischen Diskussion gewidmet sein. Ziel ist, den Spekulationsgrad der früheren Methoden so viel wie möglich zu reduzieren, selbst wenn jedem Forscher bewusst ist, dass man Spekulationen unmöglich komplett ausschalten kann, einfach aus dem Grund, dass jede Forschungsarbeit gezwungenermaßen auf Hypothesen beruht. Ziel ist aber auch, so viel wie möglich empirisch überprüfbare Beweise zu liefern, um die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse zu sichern und die Plausibilität der Ausgangshypothese zu untermauern.

Erst nach der Beschreibung der Forschungsgeschichte und der theoretischen Grundlagen kann die RP auf die Brünhild-Figur angewandt werden. Aber die erste intensive Lektüre von Forschungsarbeiten in Bezug auf die Nibelungensage hat eine bedeutsame Hürde ans Licht gebracht: Die ikonographischen Denkmäler und bestimmte Texte – die Ramsund-Ritzung (um 1000) oder die Runen auf dem Stein von Rök (9. Jahrhundert) z.B. – sind unumstritten viel älter als die ab ca. 1200 verfassten Texte. Dennoch werden sie im Hinblick auf den Inhalt der jüngeren Texte gedeutet. Um den Inhalt dieser später entstandenen Texte als traditionell alt zu bestätigen, werden wiederum diese älteren ikonographischen Elemente herangezogen. Um solche zirkelschlussartigen Beweisführungen zu vermeiden, sollen die Denkmäler, die häufig in Forschungsarbeiten auftauchen, kurz erarbeitet und diskutiert werden, um zu erklären, weswegen sie in der weiteren Argumentation keine Berücksichtigung finden.

Beginnt die Entwicklung der Brünhild-Figur unumstritten mit den unter der Herrschaft der Frankenkönigin Brunichildis (um 540–613) verfassten Texten, so sollen die im 6. und zu Beginn des 7. Jahrhunderts stammenden lateinischen Briefe, Chroniken und Viten an erster Stelle untersucht werden. Von den Decem Libri Historiarum des Bischofs Gregor von Tours bis zu den Annales Colbazenses, deren Teil bis 1150 am Erzbischofsitz von Lund verfasst wurde, über Kolumbans’, Desiderius’ und Gallus’ Viten z.B. erstrecken sich die lateinischen Textzeugnisse über die gesamte Zeitspanne von dem Leben der historischen Frankenkönigin bis zur Entstehung des Nibelungenlieds (im Folgenden NL) und der Klage (Kl) um 1200. Die weiteren historischen Textzeugnisse werden nicht mehr ausführlich erarbeitet, da sie für die deutschsprachigen und skandinavischen Texte nicht mehr relevant sind. Ziel des fünften Kapitels ist es, zu versuchen, durch die literarische Behandlung der Figur in diesen Texten eine Entwicklungslinie und -logik zu entdecken, welche sich in den nächsten Werken entweder verfolgen lässt oder eine völlig andere Richtung einschlägt.

Es folgen danach also drei Kapitel, welche die Entwicklung der Brünhild-Figur im deutschsprachigen Raum und in Skandinavien verfolgen. Gruppiert werden die Texte je nach Rolle der Brünhild-Figur, um eine katalogartige Liste der Texte zu vermeiden – was der Fall mit einer strengen chronologischen Untersuchung gewesen wäre. Brünhild herrscht als isländische Königin in den mittelhochdeutschen Texten, d.h. des NL und der Klage, in den isländischen Texten, d.h. in der Snorra Edda (SE), der Lieder-Edda (LE) und der Völsungasaga (VS), tritt sie als Walküre auf, in der höchstwahrscheinlich norwegischen Þiðrekssaga (TS) und der schwedischen Didrikskrönikan (DK) wird ihr die Rolle einer Pferdehändlerin gegeben. Die Diskussion verfolgt dann innerhalb jeder Gruppe die chronologische Entstehung der Texte. Dabei werden die Verfassungsdaten jedes Werks mit besonderer Aufmerksamkeit o.ä. diskutiert.

In jedem dieser Kapitel soll systematisch vorangegangen werden: Zuerst sollen der postulierte Platz der Texte in dem auf Schriftlichkeit beruhenden Stemma erarbeitet und anhand einer ausführlichen Untersuchung des historischen Kontexts Argumente zur Untermauerung der Hypothese der RP erbracht sowie die Grenzen der Anwendung der Methode diskutiert werden. Erst im zweiten Teil soll die Brünhild-Figur diskutiert werden, im Hinblick auf die im ersten Teil erläuterten Rahmendaten. Dies ermöglicht einen sowohl textimmanenten als auch kontextbezogenen Deutungsvorschlag der Brünhild-Figur in den jeweiligen Textgruppen.

Das sechste Kapitel über die mittelhochdeutschen Texte steht am Anfang dieser drei Kapitel. Das NL und die Klage sind die ersten Texte, die Brünhild zu einer literarischen Figur verwandeln: Brünhild wird darin bewusst fiktiv eingesetzt und den Mord an Siegfried, dem Drachentöter, als Auslöser des berühmten Burgundenunterganges geschildert. Es sollen Argumente erbracht werden, die den stemmatischen Vorrang o.ä. ersten Platz des NL und der Klage als Werkkomplex im Stemma untermauern, denn die Entstehung des Textes des NL und der Klage könnte als Anfang der Entwicklung der Nibelungensage betrachtet werden. Danach soll in diesem Zusammenhang die Brünhild-Figur untersucht werden. Die Möglichkeit, dass eine verschlüsselte Botschaft im NL-Klage in Bezug auf die Herrschaft der Staufer und insbesondere der Kaiserin Konstanze von Sizilien im ausgehenden 12. Jahrhundert vorliegt, soll gründlich erforscht werden. Dafür soll Greimas semiotisches Viereck herangezogen und auf die Brünhild-Figur angewandt werden, um dadurch die verschlüsselte Botschaft, um Brünhild entziffern zu können. Das semiotische Viereck von Algirdas Julien Greimas, wodurch die Struktur der Konzepte einer Erzählung zum Vorschein kommt, kann den unterschwelligen Sinn der Entwicklung der Brünhild-Figur in den verschiedenen Texten ans Licht bringen und dadurch weitere Ergebnisse für die Argumentation liefern.

Das Kapitel über die kontinentalskandinavischen Texte handelt in erster Linie von der norwegischen TS, die um die Titelfigur Þiðrek eine Vielfalt an Rittern aus der gesamten europäischen höfischen Literatur schart. Die DK, eine schwedische Übertragung der TS, kürzt den Text erheblich und nimmt quantitativ wenige, aber qualitativ wichtige Veränderungen in der Figurenkonstellation vor. Dieses siebte Kapitel stelle ich an vorletzter Stelle, um im nächsten Kapitel den Einfluss der norwegischen TS auf die isländische VS zu diskutieren. Die Möglichkeit einer Aufnahme des NL und der Klage und ihrer Bearbeitung in der TS im Rahmen der Herrschaft Håkons IV. soll im Kontext der Literaturproduktion in Norwegen diskutiert werden, analog soll die Übersetzung der DK ins Altschwedische und ihre Bearbeitung kontextbezogen gedeutet werden.

Das achte Kapitel über die isländischen Werke, welches die Eddas – die SE und die LE – und die bekannteste der Vorzeitsagas – die VS – behandelt, steht an letzter Stelle aus dem eben genannten Grund, aber auch weil der isländische Zweig des Stemmas derjenige ist, der die meisten Schwierigkeiten bringt. Alle vorigen Kapitel könnten nützliche Argumente zur Plausibilisierung und/oder Begrenzung des Ausgangspostulats der Schriftlichkeit nach der RP hinzufügen. Die schon 2008 von Kevin Wanner erarbeiteten Argumente über den Impuls zur Niederschrift der SE auf Grundlage von Bourdieus Theorie der Kapitalsorten,5 wonach der Besitz gewisser Anteile der vier verschiedenen Kapitalsorten über die Position des Individuums innerhalb der Gesellschaft entscheidet, soll kritisch erarbeitet werden. Wanners These kann wie folgt zusammengefasst werden: Snorri reiste nach Norwegen, weil die Skaldik – das kulturelle Kapital in Island – in Norwegen in materielles und soziales Kapital umgewandelt werden sollte; nach seiner Rückkehr nach Island sollte es als symbolisches Prestige anerkannt werden. In dem Sinne verfasste Snorri die SE, um dem Markt der einheimischen Literatur mehr Gewicht zu geben und importierten Literaturtrends entgegenzuwirken. So sollte in Island der Aufschwung des landesinternen Konsums von dieser Gattung neu gefördert werden. Analog soll die Entwicklung der LE analysiert werden, um herauszufinden, ob sich Parallelhandlungen in der Entstehung der Gedichte beobachten lassen. Die Kombinierung von Greismas Vierecks und Bourdieus Theorie der Kapitalsorten und ihre Anwendung auf die Brünhild-Figur könnten interessante Ergebnisse liefern. Weiter soll die etwas später – um 1260–70 – entstandene VS in Hinblick auf die Unterwerfung Islands unter der norwegischen Krone gedeutet werden und die Hypothese der Entstehung eines politischen Werkkomplexes VS-Ragnarr Saga Loðbrókar [im Folgenden RS] zugunsten des norwegischen Königs untermauert und/oder begrenzt werden.

Folgende Skizzen fassen die Stemmata der vorliegenden Hauptthesen zusammen: Links eine Zusammenfassung der unterschiedlichen Mündlichkeitstheorien – auf ihre groben Gemeinsamkeiten reduziert –, rechts das hier untersuchte Ausgangspostulat:

Abb. 1:Vergleich der Stemmata

Abb. 1:Vergleich der Stemmata

Die Divergenzen zwischen den auf dem Mündlichkeitspostulat beruhenden Theorien werden im Kapitel über die Forschungsgeschichte diskutiert. Ein Forscher bemerkte in seiner Rezension zur letzten Brünhild-Monographie von Andersson Folgendes: „The task of a work like The Legend of Brynhild is one that cannot be adequately performed, but cannot be left unattempted. We can’t really do it, but we can’t let it alone.“6 So liegt auf der Hand, dass die hier unternommene Doppelaufgabe keine leichte ist, aber nach den ersten Ergebnissen der RP konnte ich eine neue Analyse unter diesem Blickwinkel nicht unbeachtet lassen. Es soll dadurch ein doppeltes Ziel erreicht werden: Erstens soll die RP als Methode ausführlich untersucht werden, um ihre Ergebnisse mit denen anderer Methoden vergleichen zu können, zweitens soll ihre Anwendung auf die Brünhild-Figur zu einem neuen Deutungsvorschlag der Texte führen.7

1.2 Erläuterung einiger Grundbegriffe

In dieser Arbeit wird der Begriff ‚Brünhild-Figur‘ als Gesamtbezeichnung für die literarische Figur benutzt. Im Kapitel über die isländischen Texte wird diskutiert, ob es sich um eine oder um mehrere Figuren handeln könnte.

Die Handschriften haben für den Vornamen ‚Brünhild‘ viele Schreibungen: u.a. Brünhild, Prunhild, Brynhild und Brynilla. Für die historische Frankenkönigin trifft man auf Namensformen wie Brunehildis, Brunichildis, oder sogar verkürzt Bruna. Die verschiedenen Formen des Namens werde ich im Laufe meiner Arbeit untersuchen, es muss aber zuerst eine Wahl getroffen werden, um leicht zu unterscheiden, ob es sich um die Frankenkönigin oder pauschal um die literarische Figur handelt. So habe ich mich für die Namensform ‚Brunichildis‘8 für die Frankenkönigin westgotischer Herkunft entschieden. ‚Brünhild‘ hingegen ist die bekannteste gängige deutsche Schreibung für die literarische Figur als Gesamtbegriff. Die unterschiedlichen Schreibungen der Texte werden behalten, wenn es sich um die Figur eines bestimmten Textes handelt.

Der Begriff ‚Mittelalter‘ – der die Zeitspanne von ca. 500 bis ca. 1500 beschreiben soll – wird bis heute in der Forschung behalten aus dem einfachen Grund, dass noch kein besserer Begriff gefunden wurde.9 Im Laufe dieser Arbeit betone ich deshalb jedes Mal die untersuchten Jahrhunderte, selbst wenn ich den Begriff Mittelalter noch benutze.

Der Begriff ‚höfisch‘ wird in dreifacher Weise verstanden: Literarhistorisch gesehen bezieht sich ‚höfisch‘ zuerst auf den Hof als gesellschaftlichen Ort der Literaturproduktion und -rezeption;10 dann bezieht sich dieser Begriff auf das Gesellschaftsideal,11 in dem der höfische Ritter in höfischer Kleidung und höfischem Umgang im Mittelpunkt steht und die höfische Liebe als die höchste der Tugenden betrachtet; letztens bezeichnet ‚höfisch‘ den Gattungsbegriff der höfischen Lyrik und Epik, belegt in Süddeutschland seit 1160.12 Es ist nicht die Aufgabe dieser Arbeit andere Vorschläge zu erarbeiten, der übergreifende Begriff ‚höfisch‘ wird ohne genauere Bezeichnung übernommen.

Komplizierter wird es mit den Begriffen ‚Mythos‘, ‚Märchen‘ und ‚Sage‘: Diese seien „ohnehin nur unscharf definierbar“.13 Ziel dieser Arbeit ist es auch nicht, eine bessere Definition zu geben als die, die schon in der früheren Forschung vorgeschlagen wurden. Besonders stütze ich mich auf Bruce Lincolns Definitionen, ein Mythos (von griech. ‚Erzählung‘) lasse sich in drei Kategorien einteilen im Vergleich zu anderen Diskursen:14

  • → positive assertion: primordial truth, sacred story
  • → negative assertion: lie, obsolete worldview
  • → inbetween: pleasant diversion, poetic fancy, story for children

Dass im Laufe der Zeit eine Erzählung von der einen Kategorie zu einer anderen wandert, liegt auf der Hand. Wenn nötig, erläutere ich in den entsprechenden Abschnitten die Definition erneut, um Missverständnisse zu vermeiden. Genauso unscharf ist der Begriff ‚Sage‘, und der Unterschied zwischen ‚Sage‘ und ‚Mythos‘15 bleibt bis heute äußerst schwierig. Ich übernehme aus praktischen Gründen den Begriff ‚Nibelungensage‘, worunter die „dichterische [sowie] ‚nicht-dichterische‘16 Überlieferung des Nibelungenstoffes verstanden wird.

Die meisten Personen, welche die Feder in der Hand hielten, um die hier untersuchten Texte auf Pergament zu bringen, landen in der Grauzone zwischen Dichter, Verfasser, Bearbeiter, Kompilator und/oder Übersetzer. Die Hypothese einer Schreiberwerkstatt wird im Kapitel Forschungsgeschichte diskutiert. Es ist nicht Ziel dieser Arbeit zu entscheiden, welche Bezeichnung man dem einen oder dem anderen verleihen könnte, – Vorschläge für die Person, die z.B. die TS zusammenstellte, gehen vom neutraleren ‚Schreiber‘ bis zum negativ konnotierten ‚Kompilator‘ hin über den umstrittenen ‚Verfasser‘.17 Diskutieren werde ich die Anwendung solcher Begriffe deshalb nicht und übernehme die Begriffe, die in der Forschung am meisten auftauchen.

Letztens wird im Laufe der gesamten Arbeit der Begriff ‚Intertextualität‘ nach Genettes Theorie18 verwendet: Intertextualität wird als das Verständnis der Beziehung zwischen zwei oder mehreren Texten verstanden, wodurch der eine Text im anderen auftaucht. Der Hypotext fungiert als Quelle für den nehmenden Hypertext. Im Mittelalter gab es kein Zitieren im heutigen Sinne mit Doppelpunkt, Anführungszeichen und Fußnoten, sondern eine Übernahme mancher Passagen des Hypotextes ohne explizites Zitieren. Der Begriff Intertextualität wird hiermit nur im Kontext des mittelalterlichen Denkens übernommen und beschreibt das ganze Spektrum von der wortwörtlichen Übernahme mancher Sätze bzw. ganzer Abschnitte bis zur Entlehnung mancher Motive bzw. Stoffbestandteile. Im letzten Fall wirkt Intertextualität insofern, als diese Andeutung die Wahrnehmung einer Beziehung zwischen dem Hypotext und dem Hypertext beim Leser voraussetzt und diese auch meistens verstanden wird.19

1.3 Zitierte Ausgaben

Das NL samt Klage wird aus Heinzles Ausgabe von 2013 zitiert, mit Berücksichtigung der Änderungen in den Schreibformen des Namens der Brünhild-Figur nach Reicherts online-Transkription der NLB-Fassung. Heinzles zweisprachige, moderne deutsche Ausgabe ist die einzige, die der mittelalterlichen Überlieferung gemäß das Epos mit der Klage beinhaltet.20

Guðni Jónssons Ausgabe aus dem Jahr 1954, welche Bertelsens Ausgabe aus den Jahren 1905–1911 normalisierte, wird für die TS benutzt. Fine Erichsen gab 1924 die einzige deutsche Übersetzung heraus.21

Die Universität Lund versorgte unter Lars-Olof Delsings Aufsicht die online-Transkription von Hyltén-Cavallius’ Ausgabe der Handschrift A der DK von den Jahren 1850–1854, welche für die Zitate des altschwedischen Textes herangezogen wird. Da zwei Hände diese Handschrift geschrieben haben, werden in dieser Arbeit die Zitate mit DKA und DKB wiedergegeben. Die einzige vollständige deutsche Übersetzung fertigte 1989 Ritter-Schaumburg an, darin werden die Schreibformen der verschiedenen Namen der Figuren je nach DKA und DKB berücksichtigt und wie angegeben geändert.

Die heutige maßgebliche Edition der SE ist Anthony Faulkes’ Ausgabe 1998–2012: 1998: Skáldskaparmál, 2005: Prolog und Gylfaginning, 2007: Háttatál, letztendlich edierte Faulkes 2012 die Uppsala Edda. Zitiert wird die deutsche Übersetzung nach der Reclam-Ausgabe von Arnulf Krause von 2010.

Die maßgebliche Ausgabe der LE ist Bugges Edition vom Jahre 1867, die Zitate werden nach Guðni Jónssons Ausgabe von 1949, welche Bugges Edition normalisiert, geschrieben.22 Zitiert wird die deutsche Übersetzung der Lieder nach der Reclam-Ausgabe von Arnulf Krause von 2010.

Die maßgebliche Ausgabe der VS bleibt bis heute die von Magnus Bernhard Olsen aus den Jahren 1906–1908. Die moderneren Übersetzungen von Diedrichs 1923 – erneut 1993 herausgegeben –, und Finchs zweisprachige Ausgabe von 1965 werden in dieser Arbeit benutzt. Finchs abweichende Kapitelzählung wird in Klammern angegeben.


1 Kuhn 1952: 152.

2 Andersson 1980: 19.

3 Zu diesen Begriffen vgl. Punkte 2.4 und 2.6.

4 Vgl. Andersen 2008ab; 2009abc; 2011, 2015, 2018 (u.a.).

5 Vgl. Wanner 2008. Bourdieu unterscheidet zwischen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und symbolischen Kapitalsorten. Dazu vgl. Bourdieu u.a. 1982, 1983 und 1992. Vgl. Punkt 8.2.14 für die Anwendung auf die Brünhild-Figur.

6 Brown 1981: lxx.

7 Vgl. Weddige 2008: 216 zu den drei Hauptfragen: warum (Ursprung); wann (Entstehung); wie (Entwicklung).

8 Namensform entnommen aus DLH VI, 4: „Brunichildis regina“, vgl. Punkt 5.3.

9 Für eine Diskussion der für die deutsche Literaturgeschichte unbrauchbaren, dreiteiligen Periodisierung in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter und für einen Vorschlag einer in literaturgeschichtlicher Hinsicht sinnvollere Periodisierung vgl. Brunner 2007: 35–39; für eine ähnliche Bemerkung in Bezug auf den skandinavischen Raum vgl. Glauser 2016: 6–22.

10 Vgl. Hofliteratur: höfische Literatur, Hofdichter: höfische Dichter, Hofpublikum: höfisches Publikum: Begriffserläuterung folgt Bumke 1986: 81.

11 Ebd.

12 Diese Terminologie ist für Lyrik unumstritten, für die Epik des 12. Jahrhunderts aber ist die Periodisierung ‚vor-‘, ‚früh-‘ und ‚hochhöfisch‘ noch umstrittener Gegenstand von Forschungsarbeiten, dazu vgl. Bumke 1986: 82.

13 Ehrismann 1996: 369.

14 Zusammengefasst nach Lincoln 2000: ix.

15 Genauso ergeht es den Gattungsbegriffen: Reichert 2005: 461 f.: „Wenn von literarischen Gattungsunterschieden zwischen Heldendichtung und Artusdichtung, Heldenepos und höfischem Roman gesprochen wird, stößt man auf Schwierigkeiten.“ Die umstrittenen Fragen zu den Texten werden in den jeweiligen Kapiteln erarbeitet.

16 Vgl. Steger 1996: 343.

17 Als Beispiel dafür, wie schwierig diese Frage ist, kann folgende Definition herangezogen werden: Mundal 2007: 344: Der Verfasser „kann viel aus eigener Fantasie ergänzt haben, [er] stellt sich nicht selber als Schöpfer seines eigenen Werkes dar, sondern als Vermittler von Traditionen.“ Später bemerkt die Autorin: „Dies sagt über das Alter dieser Traditionen überhaupt nichts aus.“ Ebd. S. 369. Für weitere Beispiele und die Debatte darüber vgl. ebd.

18 Vgl. Genette 1982 und 1994.

19 Vgl. Genettes Bücher 1982 und 1994. Dazu vgl. auch u.a. Riffaterre 1980. Von mir zusammengefasst.

20 Lachmanns Ausgabe nach A von 1851 (Nachdrucke 1878, 1948, 1959) bietet auch das NL samt Klage.

21 Erichsen Übersetzung (1924), sowie Haymes (1988), Lecouteux (2001) und Andersen (2002) stützen sich auf Ungers Ausgabe. Ich benutze in dieser Arbeit die Kapitelzählung nach Jónssons Ausgabe vom Jahre 1954.

22 Die von Neckel vom Jahre 51983 ist fast identisch, selbst wenn in einigen Gedichten die Strophenzählung abweicht.

2 Forschungsgeschichte

Eine Forschungsgeschichte über die Thesen zu der Entstehung der Texte meines Corpus und zu den unterschiedlichen Methoden könnte leicht ein ganzes Buch füllen. Die folgenden Seiten zielen keineswegs auf Vollständigkeit ab, hier werden dennoch die wichtigsten Beiträge zu diesem Zweig der Nibelungenforschung allgemein vorgestellt, sowie die Haupttendenzen skizziert. Die Thesen zur stemmatischen Lage können im Großen und Ganzen in sechs Gruppen geteilt werden:

  1. 1. Die Romantiker
  2. 2. Die Kritik an der romantischen These
  3. 3. Andreas Heuslers Stemma und seine Erweiterungen
  4. 4. Friedrich Panzers Stemma und seine Erweiterungen
  5. 5. Die These der sogenannten ‚Oral-Poetry
  6. 6. Die durch die RP vertretene These der Schriftlichkeit

Zwei Textgruppen – die skandinavische und die deutsche – bilden das Corpus dieser Arbeit. Ich verfolge hier keine strenge chronologische Bearbeitung der Texte, denn dies würde ein Hin und Her zwischen den Textgruppen verursachen. In jedem Abschnitt werden die Texte und die Forschungsansätze zu diesen Texten je nach Gruppe behandelt, wodurch gezwungenermaßen gewisse chronologische Sprünge in den Darstellungen in Kauf genommen werden müssen.

2.1 Die (Wieder-)Entdeckung der Handschriften und die ersten Ausgaben

Bevor sich die Gelehrten mit den verschiedenen Hypothesen zur Überlieferung des Nibelungenstoffes befassten, mussten sie zuerst Zugang zu den Texten haben. Die Wiederentdeckung der jeweiligen Handschriften ermöglichte schrittweise die Veröffentlichung der Texte.

Zuerst betrafen die Datierungsversuche die Edda, denn schon 164223 wurde die LE im Norden von Island von einem Bauern namens Björn Jónsson wiederentdeckt. Dieser Bauer schrieb Nockut Litit Samtak vm Runer (Kleiner Traktat über Runen),24 in dem er mehrere Strophen aus dem Sigrdrífumál25 und dem Hávamál zitierte. Dies ist der älteste gedruckte Beleg für die Benutzung der LE.

1665 veröffentlichte der dänische Historiker Peder Hansen Resen die dreisprachige Edition Edda Islandorum an. Chr. 1215 Islandice Conscripta, worin er die Herkunft der Lieder Völuspá und Hávamál untersuchte. Es war in erster Linie eine Edition der SE mit dänischer und lateinischer Übersetzung, aber Resen äußerte sich auch zu manchen Liedern, die in der LE überliefert sind und behauptete, der Autor des Hávamáls sei Óðinn selbst26 – genauer gesagt, derjenige aus Uppsala.27 Ein genaueres Datum vermochte Resen nicht zu geben. Er war der Meinung, dass die LE älter sei als die SE: „ Der Verfasser der jüngeren Edda ist vermutlich Snorri Sturluson, der diese Edda aus der früheren des Sæmund28 sammelte, durch Zusätze vermehrte und mit sicherem Überblick auf die Dichtungslehre anwandte.“29 Die These unterstützte er nicht mit weiteren Indizien (o.ä.).

Thormod Torfæus konnte später als Amtsschreiber des Königs Friedrich III. von Dänemark und Norwegen auf viele Handschriften der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen zurückgreifen, vor allem, weil er als Isländer die Sprache der Handschriften verstand und v.a. weil die Handschriften damals in Kopenhagen aufbewahrt wurden. 1711 gab er die vier Bände seiner norwegischen Geschichte heraus. Im ersten Band kombinierte Torfæus seine Quellen und gliederte die Hauptfiguren des Nibelungenstoffes in die norwegische Geschichte ein.30

1689 veröffentlichte Thomas Bartholin31 sein Werk Antiqvitatum Danicarum de causis contemptae a Danis adhuc gentilibus mortis libri tres. Darin befanden sich altnordische Textabdrucke einiger eddischer Heldenlieder, welche aber nur bruchstückhaft blieben. Da seine Zeitgenossen kein Altnordisch mehr verstanden, legte Bartholin eine lateinische Übersetzung einzelner Strophen oder -teile bei. Das Werk richtete sich zwar an das dänische Publikum, erreichte aber später den deutschsprachigen Raum: Dieses Werk besaßen die Brüder Grimm und es diente als Ausgangspunkt für ihre Forschungsarbeiten. Darin vertritt Bartholin die These, dass weder Saemundr noch Snorri die Edda geschrieben hätten, da sie nur alte Traditionen verschriftet hätten. Dennoch gab Bartholin auch zu, dass alle Gedichte nicht desselben Alters sein können: Hávamál stamme von Óðinn selbst,32 Grógaldr aber könne wegen des Satzes „tote Christin“33 nur nach der Christianisierung entstanden sein.

So waren noch Ende des 18. Jahrhunderts die meisten Stücke der LE dem breiten Publikum unbekannt. Bjarne Fidjestøl bemerkt diesbezüglich in seinem wichtigen Werk The Dating of Eddic Poetry. A Historical Survey and Methodological Investigation: „The bulk ft he Eddic poems were still unknown 150 years after the discovery of the manuscripts.“34

Die 1777 veröffentlichte Übersetzung der SE ins Deutsche von Jacob Schimmelmann war ein erster Schritt in Richtung Popularisierung dieses Textes für den deutschsprachigen Raum. Schimmelmann betrachtete die SE „ohne Zweifel nach der Bibel [als] das allerälteste Buch der Welt“35 und sei zu Noahs Zeiten entstanden.

Für Skandinavien sind weitere Ausgaben für die Popularisierung der Texte relevant: 1783–1785 veröffentlichte Bertel Christian Sandvig eine dänische Übersetzung der LE in zwei Bänden.36 1786 publizierte Jón Ólafsson eine ebenfalls dänische Übersetzung einzelner Strophen der eddischen Heldenlieder in einem Handbuch über altnordische Dichtkunst.37 1787 gab die Arnamagnäanische Kommission den ersten Band der Edda Sæmundar hinns fróda38 heraus, in dem nur die Götterlieder der LE veröffentlicht wurden. Der lateinische Kommentar zur LE beinhaltete nur Strophenteile oder seltene Strophen der Heldenlieder. Von 1778 bis 1801 wurden dann nicht weniger als sieben Bände von Skúli Þórðarson Thorlacius herausgegeben: In den auf Latein geschriebenen Bänden 3, 4 und 7 der Antiqvitatum Borealium observationes miscellanea befanden sich einige Götterlieder und Strophen bzw. Strophenzeilen der eddischen Heldenlieder. 1798 gab Rasmus Nyerup das Buch Udsigt over Nordens ældste Poesi heraus, in dem allerdings nur einige ins Dänische übersetzte Strophen der LE zu lesen waren. Nyerup veröffentlichte 1807 das erste Verzeichnis der LE. Das breite skandinavische Publikum brauchte solche Übersetzungen, um die Texte zu verstehen: „In fact very few non-Icelanders in this period, if any, were able to read Old Norse texts […].“39

Für den deutschsprachigen Raum war die 1789 veröffentlichte Übersetzung Friedrich David Gräters Nordische Blumen das erste Buch, in dem die deutschsprachige Leserschaft eine Auswahl von Gedichten der LE lesen konnte. Gräters Meinung über sein eigenes Buch war sehr bescheiden: „Was ich hier dem Publikum übergebe, ist eine kleine Sammlung von Uebersetzungen und Abhandlungen, die man als Beytrag zur näheren Kenntniß der nordischen Kunst und Mythologie ansehen kann.“40

Die NL-Forschung hatte inzwischen schon mit der Wiederentdeckung des Epos im Jahre 1755 begonnen. Diese Wiederentdeckung verdanken wir Johann Jacob Bodmer, der damals in der Bibliothek des Grafen von Hohenems – im heutigen Vorarlberg – die heute sogenannte C-Handschrift fand. Von dieser Handschrift publizierte Bodmer 1757 v.a. den zweiten Teil des NL unter dem Titel Chriemhilden Rache mit der angeschlossenen Klage.

Bodmers Schüler Christoph Heinrich Myller besorgte 1782 – erst drei Jahrzehnte später – die erste vollständige Ausgabe des NL und widmete sie 1784 zusammen mit anderen mittelhochdeutschen Texten – darunter dem Parzival – dem preußischen König Friedrich II. dem Großen. Dieser reagierte darauf äußerst negativ in einem oft zitierten Brief vom 22.2.1784, in welchem er das gesamte Band als „elendes Zeug“, das keinen „Schuss Pulver wert“ sei, bezeichnete. Diese Geringschätzung der mittelalterlichen Literatur ist aber auf eine „aufklärerische […] Mittelalterfremdheit […] und [einen] aufkommende[n]‌ Neuhumanismus“ zurückzuführen,41 welcher sich vor allem zur Antike und eben nicht zum Mittelalter hinwandte. Die erste Gesamtausgabe des NL fand bei der damaligen Leserschaft eine überaus begrenzte Aufmerksamkeit.

Diese Übersicht macht deutlich, dass die Nibelungensage in den skandinavischen Ländern etwas bekannter war und von Gelehrten schon mehr bearbeitet wurde als im deutschsprachigen Raum. Dies war nicht allein auf die Schwierigkeit der Texte selbst zurückzuführen, sondern auch auf die Geringschätzung mancher deutscher Gelehrten.

Johann Christoph Adelung drückte sich in einer Rezension in Bezug auf Myllers Ausgabe des NL von 1782 folgendermaßen aus: „Das mittelhochdeutsche Gedicht sei in einer „unausstehliche[n]‌ Sprache [verfasst]. Kurz, von Seiten der Dichtung verdienen alle diese Überbleibsel nicht die mindeste Aufmerksamkeit.“42 In Bezug auf die Edda befasste sich 1797 Adelung mit Snorris43 eigenartiger Geschichtsschreibung und fragte skeptisch, ob es denn die darin zitierten Dichter und ihre aufgezeichneten Gedichte wirklich jemals gegeben habe.44 Da er keine Beweise fand, ergab die logische Schlussfolgerung folgendes:

[…] außer dem Snorro [kennt] niemand diese Dichter, ein paar allenfals ausgenommen, […] niemand [hat] ihre Gedichte gesehen […]. wenn man alles zusammen nimmt, und dabey bedenkt, daß sich Sprache, Geist und Ton in allen diesen Gedichten so ziemlich gleich ist, ungeachtet sie oft mehrere Jahrhunderte von einander entfernt sind, so wird Snorri sehr verdächtig, dass er, wo nicht alle, doch die meisten […] in den langen Winterabenden bloß zum Vergnügen selbst gedichtet hat.45

Dass diese Jahrhunderte überbrückt wurden, bezweifelte er gleichfalls: „Diese ununterbrochene Reihe von mehr als hundert Dichtern ist hier ebenso verdächtig […].“46 Dagegen wandte Nyerup 180747 ein, dass Adelungs Spätdatierung falsch sei, denn Saxo berichtete schon im 12. Jahrhundert von alten Mythen und schrieb v.a. über die bekannte Grimilda-Stelle.48 Das Alter der LE schränkte Adelung erheblich ein: „In den Gedichten selbst ist keine Spur eines hohen Alters zu finden, auch aus der Sprache läßt sich dergleichen nicht folgern.“49 Über die uralte Datierung der Gedichte durch die oben genannten Gelehrten schrieb er humorvoll:

Das Havamal kann kein anderer als Odin selbst verfertigt haben, und die göttliche Vǫluspa! ja, die ist von der Erythräischen Sibylle noch vor dem Trojanischen Kriege gedichtet, und von Odin und seinem Gefolge aus Asien mitgebracht worden. Sollte man nicht eher glauben, Fieberkranke fantasiren, als Gelehrte des 17ten Jahrhunderts urtheilen zu hören? Und, wer sollte es glauben, so viele Gedichte des 18ten hallen noch diese Thorheiten nach.50

Die genannten Abhandlungen blieben zu diesem Zeitpunkt noch im Großen und Ganzen im engen Kreis der Gelehrten, die schon damals für sehr unterschiedliche Standpunkte, Datierungsvorschläge und Entstehungsgeschichten der verschiedenen Texte argumentierten.51 Erst als die Texte der Nibelungenberlieferung besser erschlossen waren, fingen die Philologen langsam an, sich mit dem Zusammenhang der einzelnen Textzeugnisse zu befassen. Die Untersuchungen zum Nibelungenstoff fingen also erst in der Romantik an.

2.2 Die Romantiker

August Wilhelm Schlegel hielt 1802–1804 weltweit die ersten Vorlesungen zu diesem Thema. Seine Berühmtheit als Romantiker gewährte ihm einen bedeutenden Einfluss auf seine Epoche. Seine Stellung zur Poesie allgemein war von der Vorstellung geprägt, dass sich in ihr das Göttliche sich mit dem Menschlichen vermengt. Poesie wächst von selbst aus diesem Boden heraus:

[…] die Schönheit des Gedichts zu verstehen, sind wir fähig, weil auch ein Theil des Dichters, ein Funke seines schaffenden Geistes in uns lebt und tief unter der Asche der selbstgemachten Unvernunft mit heimlicher Gewalt zu glühen niemals aufhört. […] So blüht auch Poesie von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor, wenn der erwärmende Strahl der göttlichen Sonne sie trifft und befruchtet.52

In seiner Berliner Vorlesung über das NL und das ‚Straßburger Heldenbuch‘ – in der er übrigens Friedrich von der Hagen als Zuhörer erwähnte53 – formulierte er erstmals die Hypothese, wonach zwei Autoren den Werkkomplex NL-Klage geschrieben haben: Die Klage sei „ein altdeutsches an den Schluß der Nibelungen sich anschließendes, aber in einer andern Form abgefaßtes, und sichtlich von einer andern Hand herrührendes Gedicht“.54

Für Schlegel war die Existenz der NL-Sage vor der Zeit Karls des Großen eine „Evidenz“.55 Der Stoff der Sage soll laut Schlegel nämlich durch die Jahrhunderte und durch die geographischen Räume mündlich weitererzählt worden sein. So drückte Schlegel damals zum ersten Mal die Mündlichkeitsthese aus: „Früher hätten sie [die Heldengedichte] sich also mündlich fortgepflanzt“.56 In Bezug auf das NL postulierte Schlegel eine verlorene Siegfried-Dichtung: „So muß es ein Epos von den jugendlichen Thaten Siegfrieds vor seiner Vermählung mit der Chriemhilde gegeben haben“.57 Eine Brünhild-Dichtung wurde zu diesem Zeitpunkt schon vermutet. Dies sagte Schlegel, obwohl er dann auch zugab, die mündliche Überlieferung solcher Volkslieder wäre im 6. oder 7. Jahrhundert unwahrscheinlich gewesen, denn solche Sänger hätten damals nicht existiert: „Man hat […] Himmel und Erde bewegt, um den ältesten Germaniern Barden zu schaffen, die sie nun einmal nicht gehabt haben.“58

Somit beeinflusste Schlegel mit seiner Herangehensweise die jüngeren Forscher. Das NL stufte er als ein quasi-mystisches Stück ein und stellte menschliche dichterische Schöpfungsprozesse in Frage: „[…] solch ein Werk ist zu groß für einen Menschen, es ist die Hervorbringung der gesamten Kraft eines Zeitalters. […] Es herrscht nur ein Gemüth durch das Ganze.“59 Ein vom ihm geschildertes Überlegenheitsgefühl der Deutschen tauchte in seiner Interpretation von 1803 schon auf:

[…] dies Gedicht [ist] in beinahe vollkommener Integrität (Kleinigkeiten ausgenommen), als Lücken von einzelnen Versen, corrupte Lesarten [usw.] und Ursprünglichkeit auf uns gekommen, dass so schwerlich eine andere europäische Nation ein solches Denkmal alten Ruhmes, von vielleicht mehr als 1200 Jahren her aufzuweisen hat.60

Nicht nur Schlegels romantische Weltanschauung, sondern auch die Homerforschung spielte eine wesentliche Rolle in der Vorstellung dessen, wie die Entstehungsgeschichte des NL hätte aussehen können. Um eine Entstehungsgeschichte zu analysieren, dachte man in der Romantik in großzügigen Modellen, die ganze Völker, ja sogar einen ganzen Kontinent umschlossen.

Der produktivste Autor dieser Zeit war Friedrich Heinrich von der Hagen. Erst über 20 Jahre nach Myllers Ausgabe des NL gab von der Hagen 1807 die erste vollständige Übersetzung des mittelhochdeutschen Epos ins Neuhochdeutsche heraus. Diese Veröffentlichung war für den Erfolg des NL entscheidend und ab diesem Jahr verbreitete sich das Epos sehr rasch sowohl in den Kreisen der Gelehrten als auch bei breitem Publikum. 1810, nur drei Jahre später, gab von der Hagen den mittelhochdeutschen Text des NL heraus.

Von der Hagen analysierte den Ursprung des Stoffes wie folgt: Da der Hauptschauplatz der Ereignisse die sogenannten germanischen Räume waren und historisch bewiesene Namen in den verschiedenen Texten dieses Stoffes auftauchten, dachte er einen ‚deutschen‘ Ursprung gefunden zu haben: „So scheint ein gewisser Grundstoff, der zu jener Zeit darin gewachsen, wohl ursprünglich Deutsch.“61 Aber dieser uralte germanische Stoff veränderte sich während der Völkerwanderungszeit drastisch und mischte sich mit Sagen anderer Völker:

Im Fortfluß der Zeiten, bei der wechselnden Trennung und Vermischung der Völkerschaften, gestaltete sich die unerschöpfliche alte Fabel [gemeint hier ist das NL] natürlich nach Ort und Zeit mannigfaltig um, knüpfte sich anderen an, verschmolz damit, oder wurde frei fortgedichtet, und also vielfach gestaltet, vertauschte sie sich auch wol wieder hin und her, oder mischte und versetzte sich auch gegenseitig.62

Dieses Hin- und Herwandern der Sagenstoffe erstreckte sich angeblich über Jahrhunderte zwischen Deutschland und Skandinavien: Mindestens fünfmal63 soll der Austausch stattgefunden haben – wie er auf diesen fünffachen Austausch kommt, bleibt unklar. Textimmanente Indizien wurden untersucht, um das Alter des Stoffes einzuschätzen. In den Liedern zeige sich, so von der Hagen, „das hohe Alter […] auch in ihrer Form“,64 denn die beobachtbare Alliteration oder Buchstabenreim sei das „eigenthümlich Nordische“.65 Dass in der Romantik ein Einvernehmen darüber bestand, den nordischen Texten den Vorrang den deutschen gegenüber zu geben, beruhte lediglich darauf, dass man die skandinavischen Texte mythologischer – also älter – empfand als die deutschen. Die größere Übereinstimmung der nordischen Texte miteinander zeige, dass diese „poetisch und genealogisch so fest mit der alten Mythologie verwachsen“66 waren, so dass man daran nicht zweifeln konnte. Das NL wurde „fremden Einflüssen von allen Seiten her von je an mehr ausgesetzt“67 und sei deswegen „meist im christlichen Kostüm“.68 Dies schrieb dieser Berliner Professor, obwohl er zugab, dass die TS mit dem NL öfters übereinstimmt69 als mit den anderen Texten.

Trotz der Schwierigkeit der altnordischen Sprache gab von der Hagen schon 1812 eine altnordische Textausgabe aller Heldenlieder heraus aber ohne deutsche Übersetzung, so dass dieses Buch in Deutschland so gut wie unbrauchbar war. Er erzielte zwar somit die erste Ausgabe aller Gedichte der LE, aber an Kritik fehlte es nicht, da diese Ausgabe viel zu schnell verfertigt wurde. Gräter kritisierte ihn folgendermaßen:

Es müßte mit einem Wunder zugehen, wenn der Hr. Herausg. Die hier mitgetheilten Originale aus dem 2ten Theil der Sämundinischen Edda alls bereits verstehen sollte. Auch der geborene u. gelehrte Isländer versteht nicht alles ohne Studium. Kein Wunder daher, daß der Druck nicht fehlerlos ist.70

Von der Hagen gab 1814 eine Teilpublikation der ins Deutsche übersetzten Heldenlieder.71 Diese Anhäufung von Ausgaben wichtiger Werke vonseiten des deutschen Professors zeigt die Konkurrenz, die zwischen ihm und u.a. den Brüdern Grimm stattfand. Die damaligen Gelehrten standen unter Zeitdruck. Von der Hagen gab „Teil-Publikationen [heraus], um Konkurrenten auszumanövrieren und für sich die Ehre der Erstveröffentlichung zu erringen“.72 Die Editionen blieben demzufolge bedeutungslos, weil ungenau, unbearbeitet und unkommentiert. Es fehlten Strophenteilung und Verszählung, Interpunktion wurde nicht einmal hinzugefügt.

Hagen verstand selber fast noch nichts vom Altnordischen und sein Verdienst als erster Herausgeber der zweiten Hälfte der Edda beschränkt sich lediglich darauf, dass er eine Abschrift des Textes […] zum Druck beförderte.73

Auch die Brüder Grimm scheuten sich nicht vor Kritik gegen den Professor:

Was Hagen geliefert, ist in der That blos geschehen, um uns zuvorzukommen. Er hat nur den isländ. Text ohne alle Erklärung und Critik so fehlerhaft abdrucken lassen, dass dieses Buch völlig unbrauchbar ist.74

Die moderne Forschung hat von der Hagens Arbeit nicht anders bewertet. Adolf Stoll schrieb 1929 herabwürdigend, von der Hagen sei „ein flüchtiger Vielschreiber [gewesen], wird er heute nur noch anerkannt wegen seines erfolgreichen Strebens, für altdeutsche Literatur anzuregen und sie zu verbreiten“.75

Die Brüder Grimm befassten sich zur selben Zeit mit denselben Fragen. Für seine Analysen entwickelte Jacob Grimm eine Theorie über Poesie und arbeitete in Bezug auf NL und Edda mit der Dichotomie Natur- versus Kunstpoesie: Naturpoesie sei aus dem Volk hervorgegangen, sie sei mündlich verbreitet worden und gehöre dem Volk.

Für Jacob ist ein Gedicht an sich existierend, er geht von einer autonomen Seinsweise von Literatur aus. Das beinhaltet die Annahme, daß der ‚Geist‘, nachdem er sich einmal im Gedicht objektiviert hat, selbst existiert und auf keinen Leser verwiesen ist.76

Alle Sagen waren demzufolge vom Volk, einer Art „kollektiver Autorschaft“,77 entsprungen, so verteidigte Jacob Grimm 1807 die Ansicht einer Kollektivpoesie des Volkes und vertrat die These einer Autogenese des Epos: „Jedes Epos muss sich selbst dichten, von keinem Dichter geschrieben werden.“78

Schon 1801 hatte Friedrich Rühs in seiner Schrift über Skandinavien Versuch einer Geschichte der Religion, Staatsverfassung und Cultur der alten Skandinavier eine sehr einfache Theorie über die Entwicklung der Gedichte ausgedrückt: Je einfacher – umso älter:

Je älter die nordischen Poesieen sind, desto einfacher und ungekünstelter ist ihre Sprache, desto verständlicher ihr Inhalt. Alle diejenigen Geschichten, die sich durch Kraft und Feuer auszeichnen und wenigstens Spuren von Begeisterung an sich tragen, sind aus einem früheren Zeitalter. Diese Erscheinung läßt sich sehr natürlich erklären und kann einen Beleg zu dem Satze abgeben, daß ein Volk, je weiter es in seiner Cultur schreitet, auch desto leichter der Gefahr der Verbildung ausgesetzt ist.79

Mit dieser Methode im Hintergedanken, gekoppelt mit der Grimmschen Naturpoesie, sei demnach Poesie nur in Originalsprache vermittelbar – gegebenenfalls müsse der Leser die fremde Sprache lernen. Dies führte die Brüder Grimm dazu Altnordisch zu studieren.

Im Mai 1815 erschien das Werk der beiden Brüder Grimm: Lieder der alten Edda. Aus der Handschrift herausgegeben und erklärt durch die Brüder Grimm. Erster Band von 1815. Drei Jahre zuvor, 1812, – also im selben Jahr der von der Hagens altnordischen Textausgabe der Heldenlieder – erschienen schon einige Lieder, die sie ins Deutsche übersetzten, zusammenfassten und nacherzählten.

Das wichtigste Werk der Romantik war diesbezüglich die 1829 veröffentlichte Deutsche Heldensage, in der Wilhelm Grimm klare Stellungnahme zum Alter der LE nahm und für die stemmatische ist des nordischen Zweigs argumentierte. Beide Brüder waren der Meinung, dass die Gedichte der LE „großentheils dem achten Jahrhundert“80 angehören, gaben aber keine weitere Erklärung für diese Frühdatierung als die eigene „Überzeugung“81 ab.

Zwei Hauptargumente genügten laut Wilhelm Grimm, um diese These zu untermauern: Erstens sei der „Grundstoff deutsch“82 – Grimm berief sich dabei auf Thorlacius83 – und zweitens ließe die fehlende Übereinstimmung der Darstellungen von Kriemhilds Rache eine unüberschaubare Diskrepanz erscheinen, denn in den nordischen Texten rächt sie ihre Brüder an ihrem Gatten, wobei sie sich im NL an ihren Brüdern rächt. „Dies ist der Ansicht des Alterthums viel angemessener“,84 dachte Grimm. Das Sippenmotiv wäre demnach älter als das Liebesmotiv. Demnach könnte das Liebesmotiv erst ab diesem Zeitpunkt vorstellbar sein.

Einige Ausdrücke der eddischen Lieder mögen deutschen Ursprungs seyn und der nordischen Sprache nicht eigen, allein da sie gerade aus diesen Gedichten in die spätere nordische Poesie übergiengen und beide Sprachen in jener Zeit noch viel näher sich standen, so ist es äußert schwierig mit Gewissheit zu bestimmen.85

Grimm fasste hier diese Idee prägnant zusammen: „Die Sage ist einfacher und reiner als im Nibelungenlied.“86 Der Norden behielt also eine frühere Version des Stoffes: „Angenommen also diese eddischen Lieder gewähren ein Abbild der bei uns untergegangenen.“87 So entwickelte sich der Nibelungenstoff zuerst in der kollektiven, mündlich überlieferten deutschen Poesie, gelangte in den Norden, wo sie besser aufbewahrt wurde als im deutschsprachigen Raum.88 Die Niederschrift des NL sei demnach das Ende des Dichtungsprozesses. Die geschichtlichen Vorbilder lehnten die Brüder Grimm nicht ab, als Beispiel dient die Lex Burgundionum,89 in der die Namen der Burgundenkönige zu finden sind, aber diese Verbindung zur Geschichte war in ihrem Verständnis so locker, dass diesbezüglich nichts Weiteres gesagt werden kann.

Eine Brünhildsage sei der deutschen Dichtung fremd.90 Grimm benutzte auch hier die Episode der Meeresweiber, um seine Analyse zu bekräftigen: Die mythischen Frauen, denen Hagen am Donauufer begegnete, sind die im Norden beschriebenen Walküren, die eben die Fähigkeit hatten, Schwanenhemden anzuziehen. Die Schlussfolgerung ergab, dass Brünhild eben auch eine solche Walküre war und das Bild der übernatürlich kräftigen isländischen Königin des NL von dem der nordischen Walküre stammt, in dem das Motiv ausführlicher behandelt wird. Später – zu welchem Zeitpunkt ist unklar – kam dieses Motiv in den Süden, wo es im NL in solcher Form verschriftet wurde. Von der historischen Frankenkönigin blieb bei Grimm nichts übrig:

Ich übergehe ganz den austrasischen König Siegebert und dessen Gemahlin, die berüchtigte Brünhild, aus der zweiten Hälfte des 6ten Jahrhunderts, weil ich keine Hinweisung der Sage darauf entdecken kann; selbst die Namen stimmen nicht einmal völlig überein.91

Doch der Name der literarischen Figur Brünhild kann nicht von ungefähr kommen, denn diese Königin war die einzige namensgleiche historische Figur von einiger Bedeutung. Eine zweite Prinzessin oder Königin mit demselben Namen gab es in keinem anderen Reich. Dennoch wurde in der Romantik die historische Figur übersehen, nicht weil die Gelehrten sie nicht kannten, sondern weil sie eben der Auffassung waren, der Nibelungenstoff reiche mindestens bis in die Völkerwanderungszeit zurück. Dies hinderte sie, die Texte strenger ihrem historischen Kontext gemäß zu lesen und zu interpretieren. Dieser Standpunkt wurde erst später von anderen Gelehrten angenommen.92

Problematisch war bei Grimms Argumentation, dass er die Chronologie unbeachtet ließ, weil er in der Deutschen Heldensage „keinen Unterschied zwischen Quellen und Rezeptionszeugnissen“ machte.93 Ein kurzes Beispiel verdeutlicht dieses Problem: „Als Zeugnis Nr. 2 nach Jordanesʼ Getica aus der Mitte des 6. Jahrhunderts finden wir die erst im 13. Jahrhundert überlieferte LE.“94

Im Frühjahr 1816 hielt Karl Lachmann seine Habilitationsvorlesung an der Universität in Berlin Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Er entwickelte anschließend an die Homerthese von Friedrich August Wolf seine sogenannte Liedertheorie. In seiner Schrift Prolegomena ad Homerum von 1795 hatte nämlich Wolf zu zeigen versucht, dass Homers Ilias eigentlich eine Sammlung von verschiedenen Texten sei. Zuerst sollen Rhapsoden kurze Stücke mündlich überliefert und auch weitergedichtet haben. Diese Texte seien dann von verschiedenen Sammlern – oder Diaskeuasten – zu unterschiedlichen Zeitpunkten zusammengefügt worden. In diesem Verwandlungsprozess wurden die Texte auch inhaltlich verändert. Demnach sei die Aufgabe der Philologie, die angehäuften ‚Schichten‘ bis hin zum vermeintlichen Original zu rekonstruieren.

An dieses Modell hielt sich auch Lachmann. Vom NL dachte er zwanzig Lieder ausscheiden zu können, die als „echt“ – als ‚ursprünglich‘ – gelten könnten. Die Beweisführung lief folgendermaßen: Dadurch, dass der Nibelungenstoff schon überall bekannt war,95 sollten mündlich überlieferte Volkslieder vermutet werden: „[…] nirgends ist ihm anzusehen, dass es auf einer schriftlichen grundlage beruhet.“96 Die Frage nach einem Dichter im Sinne Grimmscher Kunstdichtung stellte sich Lachmann wohl, aber beantwortete sie negativ: „ich habe keine durch das ganze gedicht häufig wiederkehrende individualität finden können, und ich beharre daher auf der einfacheren meinung dass das werk eine sammlung von volksliedern sei.“97 So versuchte Lachmann diese Volkslieder wieder zu trennen, um an die Quellen des NL zu gelangen. Die ‚Nahtstellen‘ zwischen den Liedern ließen sich durch Inkonsistenzen in Ton und Inhalt beobachten, denn innerhalb der Lieder sollte ein einheitlicher Ton herrschen: „lücken habe ich innerhab der lieder nicht wahrgenommen“.98 Lachmann meinte durch diese Methode, im NL genau 20 romanzenartige Lieder99 gefunden zu haben und zwar streng symmetrisch 10 im ersten Teil und noch weitere 10 im zweiten Teil. Die 20 Volkslieder verteilten sich aber nicht auf das ganze NL: 879 Strophen seien nämlich unecht, von den 2316 Strophen der A-Fassung könnten lediglich 1437 Strophen als echt gelten. In diesem Versuch, die ursprünglichen Volkslieder wieder zu entdecken, schnitt der berühmte Professor diese ‚Schwachstellen‘ aus dem NL heraus und beseitigte dabei auch die Strophen, die er für ‚zu modern‘ hielt. Infolgedessen verschwand ca. ein Drittel des NL! Wolf hatte in seiner Homerforschung aber nicht versucht aus den homerischen Epen Einzellieder auszuscheiden. Lachmann ging mit diesem Versuch also einen Schritt weiter. Zusammenfassend: „Das Nibelungenlied ist entstanden durch die Summierung, die Addition ursprünglich selbständiger Einzellieder episodischen Inhalts, die auf verschiedene Verfasser zurückgehen.“100

Lachmann hielt die historischen Vorbilder für genauso unsicher wie Grimm. Historische Anhaltspunkte könnten nur „Zufall“101 sein, denn wenn z.B. Attila auftaucht, wo bleibt denn Aetius, der römische Heermeister, der in Gallien gegen die Attilas Hunnen Krieg führte? Dieser taucht nirgends auf und scheint willkürlich aus der Erzählung genommen zu sein. Attila hat außerdem mit dem nordischen Atli nichts mehr gemeinsam.102 Historisch gesehen ist es unmöglich, dass der aus dem Geschlecht der Amali stammende Theodorich zu Attila geflohen sein könnte.103 Dadurch, dass weder Attila mit der ursprünglichen Dietrichsage noch die Burgunden mit den Nibelungen etwas zu tun haben, drängte sich die Frage auf, wann denn diese Verschmelzung geschah.104

Details

Seiten
756
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631882092
ISBN (ePUB)
9783631882108
ISBN (Hardcover)
9783631882085
DOI
10.3726/b20907
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Oktober)
Schlagworte
Schriftliche Bearbeitung Empirismus Nibelungensage Frauenbild Rezeption
Erschienen
Peter Lang – Lausanne · Berlin · Bruxelles · Chennai · New York · Oxford, 2023. 756 S., 17 S/W-Abb.

Biographische Angaben

Marie-Barbara Vieuxtemps (Autor:in)

Marie-Barbara Vieuxtemps hat in Chambéry und Straßburg Germanistik und in Freiburg im Breisgau Nordistik studiert. 2021 wurde sie an der Universität Straßburg in einer Cotutelle mit der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität promoviert. Seit 2016 arbeitet sie als Deutschlehrerin in einem elsässischen Gymnasium.

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Titel: Die Entwicklung der Brünhild-Figur bis zum Ausgang des Mittalters
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