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Bosnien als Herkunftsland – Berlin als ,,Heimat“: Identitätskonstruktionen junger Menschen bosnischer/bosniakischer Herkunft in Berlin

von Aldina Cemernica (Autor:in)
©2024 Dissertation 252 Seiten

Zusammenfassung

Aldina Čemernica erforschte mit der qualitativen Interviewmethode Identitätskonstruktionen junger Menschen bosnischer/bosniakischer Herkunft in Berlin. Während des Bosnienkrieges in den 1990er-Jahren flohen hunderttausende Menschen aus Bosnien und Herzegowina nach Deutschland. Die Autorin ging unter anderem der Frage nach, welche Auswirkungen die Flucht sowie Kriegsfolgen auf die jüngere Generation in der Diaspora haben. Sie analysierte dabei, welche Verortungen ihre Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in der pluralistischen Gesellschaft Berlins vornehmen und welche Rolle möglicherweise Fremd- und Selbstzuschreibungen im Kontext der Vorstellungen von europäischer Identität, der Vielfalt und der Muslime als die ,,Anderen" spielen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung: Die Vergessenen – Bosnische Geflüchtete in Deutschland
  • 1.1 Forschungsstand und Motivation
  • 1.2 Berlin als Forschungsort
  • 1.3 Auswahl der Methode
  • 1.3.1 Entwicklung der Fragebögen für die Interviews
  • 1.3.2 Die GesprächspartnerInnen und die Durchführung von Interviews
  • 1.3.3 Insiderin in der Forschung
  • 2 Theoretischer Rahmen und bosnische Muslime als Fallbeispiel
  • 2.1 Identitätskonstruktionen
  • 2.1.1 Minderheiten als Herausforderung für nationale Kulturen
  • 2.1.2 Kultur der Anderen: Anti-muslimische Diskurse in Europa
  • 2.2 Muslime vom Balkan
  • 2.2.1 Kampf um Anerkennung: Bosnische Muslime
  • 2.2.2 Die nationale Frage bei Bosniaken
  • 2.2.3 Das kulturelle Erbe der bosnischen Muslime
  • 2.3 Geflüchtete als Fremde
  • 2.3.1 Being Bosnian Muslim Refugee in Western World
  • 2.3.2 Bosnische Muslime in Deutschland
  • 2.4 Migration und Identitäten
  • 2.4.1 Diaspora: Nationalismus und Transnationalismus
  • 2.4.2 Forced displacement und Transnationalismus am Beispiel der Bosnischen Diaspora
  • 3. „Migrationshintergrund“ als Forschungsobjekt
  • 3.1 Migration als Generationsfrage in Deutschland?
  • 3.1.1 Im Fokus von Forschungen: Junge Menschen mit Migrationsgeschichte
  • 3.2 Integration und Muslime
  • 3.2.1 Zwischen Pluralisierung und Essentialisierung: junge Muslime in Deutschland
  • 3.3 Junge Menschen bosnischer Herkunft in Deutschland
  • 4 Empirische Forschung: Bosnien, das (un-)bekannte Land
  • 4.1 Sicht auf die Diaspora in Bosnien und Herzegowina
  • 4.1.1 Bosnien nach dem Krieg: Die Herkunftsorte
  • 4.2 Bosnienkrieg und Srebrenica in Berlin
  • 4.3 Ankunft in Berlin
  • 4.3.1 Als Geflüchtete aufwachsen
  • 4.3.2 Debatten über Geflüchtete
  • 4.4 Bosnier oder Bosniaken? Bosnisch oder Bosniakisch?
  • 4.4.1 Was ist bosnische und was deutsche Kultur?
  • 4.5 Sprachen als Lebenswelten
  • 4.6 Funktionen von Religion und Glauben
  • 4.7 Soziale Beziehungen und das Dazugehören
  • 4.7.1 Ausgrenzungserfahrungen in der Mehrheitsgesellschaft
  • 4.7.2 Gefühlslage und Zugehörigkeit
  • 5 FAZIT
  • ANHANG
  • LITERATUR

1 Einleitung: Die Vergessenen – Bosnische Geflüchtete in Deutschland

Das Jahr 2015 markierte auf dem europäischen Kontinent die „Flüchtlingskrise“. Hunderttausende Menschen machten sich auf den Weg über die sogenannte „Balkanroute“, um Schutz in den EU-Ländern zu suchen.1 Ein Hauptzielland für die Geflüchteten war Deutschland. Insgesamt 476.649 formelle Asylanträge wurden in dem Jahr beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gestellt.2 Bilder und Aufnahmen von Geflüchteten, die über Landschaften und Zugschienen, die Grenzen der südosteuropäischen Länder in Richtung EU passierten, weckten Erinnerungen an Geflüchtete aus dem ehemaligen Jugoslawien, die in den 1990er-Jahren nach Westeuropa flohen (vgl. Brunnbauer 2017: 4). In den deutschen Zeitungen wurden zum Teil Parallelen zwischen den Geflüchteten aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Situation im Jahr 2015 gezogen.3

Während der Fertigstellung dieser Arbeit, im Februar 2022, fing der Krieg in der Ukraine an. Binnen einer Woche nach dem Kriegsausbruch flohen bereits eine Million Menschen in die Nachbarstaaten und die Länder der EU. „Wieder Krieg in Europa“ hieß es in der deutschen Öffentlichkeit. Hinter dieser Aussage steckte die Auffassung, das sei der erste Krieg auf dem europäischen Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Gleichzeitig wurden Befürchtungen geweckt, Westbalkan könnte sich zum nächsten Brandherd entwickeln. Die Angst vor einem möglichen Übergreifen des Konfliktes führte zu Verunsicherungen bei den Menschen in Bosnien und Herzegowina. Das Land steckt ohnehin in der schwersten politischen und ökonomischen Krise seit dem Kriegsausbruch in den 1990er-Jahren. Die Bilder aus Ukraine erinnerten die EinwohnerInnen Sarajevos an die Belagerung ihrer Hauptstadt. Die Belagerung von Sarajevo dauerte 1.425 Tage und war damit die längste Belagerung einer Stadt im 20. Jahrhundert. Die ganze Situation verdeutlicht noch einmal, welche langwierigen Folgen Kriege für Länder und Regionen haben.

Der Zerfall Jugoslawiens in den 1990ern war besonders für das multireligiöse Bosnien und Herzegowina verheerend. In vielen Orten haben vor dem Krieg Muslime, Katholiken und orthodoxe Christen zusammengelebt. Der Krieg in Bosnien und Herzegowina hatte zum Ziel, durch Verbrechen, Diskriminierungen und Vertreibungen ethnisch homogene Orte im Land zu schaffen. Über zwei Millionen Menschen mussten ihr Heim verlassen. Davon waren rund eine Million Binnenvertriebene, mehr als 1,2 Millionen sind ins Ausland geflohen (Melcic/Vetter 1999: 528). Deutschland nahm die höchste Zahl an Geflüchteten aus Bosnien und Herzegowina auf. Einige Quellen geben die Zahl mit rund 320.000 an (Valenta/Ramet 2011: 4). Andere gehen von mehr als 345.000 bosnischen Geflüchteten in Deutschland aus (Melcic/Vetter 1999: 528). Die Mehrheit von ihnen waren bosnische Muslime. Sie wurden in den westlichen Gesellschaften überwiegend positiv aufgenommen. In erster Linie lag dies daran, dass sie als „weiße Europäer“ und als „säkular“ wahrgenommen wurden (Coughlan 2011, Behloul 2011).

In den meisten Fällen bekamen bosnische Geflüchtete in Deutschland eine Duldung erteilt. Dabei handelte es sich um einen temporären Schutz aus humanitären Gründen. In den Jahren 1991 bis 1995 nahm Berlin 29.294 bosnische Geflüchtete auf, im Oktober 2000 befanden sich nur noch 7.454 in der Stadt, aufgrund der Rückführung und freiwilliger Rückkehr nach Bosnien und Herzegowina (vgl. Mihok 2001: 145).

Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Dayton im Dezember 1995 endete der Krieg in Bosnien. Deutschland und Bosnien und Herzegowina vereinbarten ein Rückkehrabkommen, welches im Januar 1997 in Kraft trat. Deutschland hatte eine allgemeine Rückkehrpflicht eingeführt mit „dem Verweis darauf, dass die hohen Unterstützungskosten von Flüchtlingen besser zur Wiederaufbauhilfe in Bosnien eingesetzt werden könnten“ (Bendiek 2004: 82). Die freiwillige Rückkehr wurde durch die finanzielle Förderung im Rahmen der REAG/GARP-Programme unterstützt.4 Im Jahr 2000 befanden sich noch ungefähr 30.000 bosnische Geflüchtete in Deutschland, „ca. 50.600 sind weitergewandert (spez. in die USA, nach Kanada und Australien) und 5.156 Menschen wurden abgeschoben“ (Bendiek 2004: 83). Bei der Innenministerkonferenz im November 2000 wurde entschieden traumatisierten bosnischen Geflüchteten, die sich in psychologischer Behandlung befanden, sowie ihren Familien ein Bleiberecht in Deutschland zu ermöglichen:

„Das Resultat war die Verabschiedung der sogenannten Traumatisiertenregelung, in der festgelegt wurde, dass alle traumatisierten Flüchtlinge, die während des Krieges in Bosnien nach Deutschland eingereist waren und sich aufgrund einer kriegsbedingten Posttraumatischen Belastungsstörung seit spätestens dem 31.12.2000 in therapeutischer Behandlung befanden, eine Aufenthaltserlaubnis erhalten sollten, die dann ohne weitere Prüfung erneut um zwei Jahre verlängert würde. Formal wurde damit traumatisierten Bosnierinnen und Bosniern ein Daueraufenthalt ermöglicht, denn nach den vier Jahren mit einer Aufenthaltsbefugnis konnten sie eine Aufenthaltserlaubnis erhalten“ (Will 2009: 24).

Im Jahr darauf bekamen bosnischen Geflüchtete, die sich seit sechs Jahren in Deutschland aufhielten und seit mehr als zwei Jahren sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, die Möglichkeit eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen.5

Seit dem Krieg der 1990er-Jahre wird von einer Bosnischen Diaspora gesprochen, aufgrund der Tatsache, dass eine große Anzahl an Menschen Bosnien und Herzegowina für immer verlassen hat. Die Geschichte Bosniens ist von Abwanderungswellen geprägt. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches verließen hunderttausende bosnische Muslime ihre Heimat, zumeist in Richtung Türkei. In den 1960er- und 1970er-Jahren kamen im Rahmen der Anwerbeabkommen Facharbeitskräfte aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Westeuropa und vor allem in die Bundesrepublik Deutschland. Dies waren die sogenannten Gastarbeiter.

Die Zahl der bosnischen Auswanderer wächst, aufgrund der hohen Massenabwanderung nach dem Bosnienkrieg kontinuierlich. Die schwierige politische und ökonomische Lage im Land hat zu hoher Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit geführt. Nach neuesten Statistiken sind von 2013 bis 2018 mehr als 173.011 Personen aus Bosnien und Herzegowina emigriert.6 Zu den Auswanderern zählen insbesondere junge, hochqualifizierte Menschen. In vielen Fällen nennen die jungen Menschen als Gründe für die Auswanderung die Suche nach einer Arbeitsstelle und den Wunsch nach einer guten Hoch-schulbildung (vgl. Subašić 2016: 93). Mittlerweile verlassen ganze Familien das Land, so dass immer mehr Dörfer und Landstriche in Bosnien und Herzegowina ohne Bewohner bleiben. Ein Hauptzielland für bosnische Emigranten ist Deutschland. Die statistischen Angaben vom bosnischen „Ministerium für Menschenrechte und Flüchtlinge“ für das Jahr 2012 zeigen, dass Bosnien und Herzegowina mit 1.471.594 Auswanderern die zweithöchste Emigrationsrate in Europa hat. Die Gesamtzahl der Emigranten aus Bosnien und Herzegowina sowie ihrer Nachkommen beträgt über 1.700.000.7 Die meisten Menschen bosnisch-herzegowinischer Herkunft leben in den Ländern der Europäischen Union: In Kroatien an die 300.000, Deutschland 240.000, Österreich 150.000, Slowenien 150.000, Schweden 80.000, Schweiz 60.000; danach folgen die USA mit 350.000, Kanada mit 50.000 und Australien mit um die 60.000 bosnischen Auswanderern.8

Die Biografien erfolgreicher junger Menschen bosnischer Herkunft erregen in den letzten Jahren weltweit Aufmerksamkeit. Das prominenteste Beispiel ist Alma Zadić, die im Jahr 2020 mit 35 Jahren zur Bundesministerin für Justiz in Österreich ernannt wurde. Die Juristin wurde in der bosnischen Stadt Tuzla geboren und flüchtete im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern nach Österreich. Sie ist die erste Person mit Migrationshintergrund, die in Österreich ein Ministeramt bekleidet. Zeitungen griffen die Tatsache auf, dass die Ministerin eine Geflüchtete war. Der österreichische Standard titelte Vom Flüchtlingskind zur Justizministerin.9 Die renommierte amerikanische Zeitung The New York Times widmete einen Artikel der österreichischen Justizministerin unter der Überschrift A Onetime “Refugee Child” Takes On Austria’s Far Right. Die Autorin gibt im Text die Auszüge aus einem Interview mit der Ministerin wieder, in dem sie über ihre Erfahrungen spricht und darüber, was es für sie bedeutet immer noch als Flüchtlingskind definiert zu werden: „I had been in Austria for 25 years, I was a lawyer, I had a Ph.D., I was neither a refugee nor a child and I realized: This is what defines me still, […].“10

Aufgrund ihres bosniakischen Hintergrunds betonen österreichische Rechtsextreme kontinuierlich, dass die Ministerin eine „Muslimin“ sei, obwohl sie sich selbst als Atheistin bezeichnet. Das Beispiel von Alma Zadić zeigt somit zum einen die ganze Tragweite des „Geflüchteten-seins“, denn unabhängig davon, wie lange die Flucht her ist, werden die ehemaligen Geflüchteten ständig mit ihrem Schicksal konfrontiert und über dieses definiert. Zum anderen spiegelt sich in dieser Geschichte das Verhältnis zu Muslimen wider und in diesem Fall zu Bosniaken. Obwohl die Ministerin selbst nicht durch Religion definiert werden möchte, wird sie von außen weiterhin auf das „Muslimischsein“ reduziert.

1.1 Forschungsstand und Motivation

Im Jahr 2011 erschien das Buch The Bosnian Diaspora: Integration in Transnational Communities als erstes umfassendes Werk, in dem verschiedene Studien zu bosnischen MigrantInnen in der westlichen Welt und den Nachbarstaaten Bosniens zu finden sind. In den Forschungen zu Menschen bosnischer Herkunft standen aufgrund des Bosnienkrieges vor allem der Aufenthaltsstaus, die Erinnerungen und das Trauma der bosnischen Geflüchteten im Mittelpunkt (Al-Ali 2001, 2002, Dimova 2006, Franz 2005, Grünenberg 2005, Haveric 2009, Heyken 2004, Kelly 2001, Lennertz 2011, Halilovich 2013, Mihok 2001, Mosselson 2006, Pfohman 2014, Wight 2000, Will 2009).

Die Aufenthaltssituation und die Traumatisierung der bosnischen Geflüchteten in Berlin sind umfassend in zwei empirischen Forschungsarbeiten untersucht worden: in der Vergleichsstudie zwischen bosnischen Geflüchteten in Berlin und Chicago von Shannon Colleen Pfohman (2014) und in der Doktorarbeit von Anne-Kathrin Will Verhandeln + Behandeln = Psychologisierung menschlicher Leidenserfahrungen. Therapieerfahrungen bosnischer Flüchtlinge in Berlin (2009).

Der bosnisch-australische Anthropologe Hariz Halilovich erforschte, welchen Einfluss der Krieg und die Flucht auf das Leben der bosnischen Geflüchteten in Australien, Westeuropa und Nordamerika haben. Seine Forschungen sind im Buch Places of Pain: Forced Displacement, Popular Memory and Trans-local Identities in Bosnian War-torn Communities (2013) erschienen.

Wenn es um junge Geflüchtete aus Bosnien geht, sind insbesondere Arbeiten der amerikanischen Bildungsforscherin Jacqueline Mosselson zu erwähnen. In ihrer Forschungsarbeit Roots & Routes: A re-imagining of refugee identity constructions and the implications for schooling (2006) führte sie halb- strukturierte Interviews mit 15 weiblichen Geflüchteten aus Bosnien und Herzegowina im Alter zwischen 15 und 24 Jahren, die Schulen in New York City besuchten. Anhand ihrer Ergebnisse entwickelte Mosselson die Hypothese vom roots & routs Paradigma:

„I suggest that, for refugees, because of the added component of their experiences of, and responses to, war trauma, identity can be better characterized by their descriptions of where they came from (roots) since the country of their youth no longer exists as they knew it, and their responses to their ethnic diasporic communities as epitomizing their future directions (routes)“ (Mosselson 2006: 22).

Demnach verläuft der Prozess der Identitätskonstruktionen bei Geflüchteten nicht linear, sondern entwickelt sich innerhalb des Paradigmas unterschiedlich, abhängig von individuellen Erfahrungen und davon, wie sie sich zu ihrer Community und ihrem Herkunftsland positionieren: „Thus, all the refugees defined themselves from within the frameworks of Bosnia and the Bosnian community“ (Mosselson 2006: 24). Hier stellt Mosselson gegensätzliche Paare von Verhaltensweisen heraus: multicultural & transient; nostalgic & loyalist; nonchalant & pragmatic (Mosselson 2006: 23).11 Mosselson sieht somit den Integrationsprozess in enger Verbindung zum Herkunftsland und der bosnischen Community.

Empirische Forschungen, die spezifisch junge Menschen bosniakischer Herkunft in Deutschland eingehender behandeln, gibt es bisher nicht in größerem Umfang. Die vorliegende Forschungsarbeit soll diesen jungen Menschen eine Stimme geben. Die Forschung basiert auf der Methode der Problemzentrierten Interviewtechnik (PZI). Zum Zeitpunkt der Interviews waren die Interviewpartner zwischen 17 und 35 Jahre alt. Es handelt sich zum einen um Personen, die bei ihrer Ankunft in Deutschland im Kindes- oder Säuglingsalter waren, zum anderen handelt es sich um Personen, die als Nachkommen bosnischer Geflüchteter in Berlin geboren wurden.

Die folgende Arbeit stützt sich auf die Theorie vom Transnationalismus, greift aber auch die Überlegungen zur Super-Diversität von Steven Vertovec auf. Die Konzepte von Kultur und Identität werden ebenfalls behandelt, weil es hier um ein Kollektiv – bosnische Muslime (Bosniaken) – geht, welches aufgrund seiner religiösen Zugehörigkeit seit Jahrhunderten Marginalisierung und Ausgrenzung im kulturellen, nationalen und sprachlichen Sinne erfährt. Dies hat unter anderem zu einer massiven Abwanderung und Bildung einer Bosnischen Diaspora beigetragen. Das Trauma des Krieges und der ethnischen Säuberung setzt sich auch bei der jüngeren Generation der Bosniaken in Berlin fort. Dies wird durch die schwierige Lage in Bosnien verstärkt sowie durch die schleppende Auseinandersetzung mit den Kriegsverbrechen, vor allem dem Genozid in Srebrenica. Hier kann beobachtet werden, inwieweit die Transgenerationale Traumatisierung möglicherweise eine Rolle spielt. Die transgenerationale Trauma-Weitergabe ist vor allem bei Kindern von Überlebenden des Holocaust beobachtet worden. Darunter wird im Allgemeinen „die Übertragung eines Traumas, das eine bestimmte Person erfahren hat, auf deren Kinder und die nachfolgenden Generationen verstanden.“12

Einige ForscherInnen haben schon zuvor festgestellt, dass sich Geflüchtete von Migranten in der Frage nach dem Verhältnis zum Herkunftsland unterscheiden (vgl. Wahlbeck 1998). Die Erfahrungen der Geflüchteten in der Heimat und die Situation vor Ort sensibilisieren ihr Verhältnis zum Herkunftsland und ihre politischen Einstellungen:

„In the case of refugees, political allegiances and relations in the country of origin obviously have a special significance. It can be argued that the very strong political orientation towards the ‘homeland’ is different from the relations other migrants have towards their countries of origin. Thus, it can also be argued that the concepts of transnationalism and deterritorialisation are not enough if one wants to describe the specific refugee experience that distinguishes the refugee from the ordinary migrant. Obviously, refugee research needs a new conceptual framework in which the refugees’ deterritorialised and transnational social relations can be described. There is reason to believe that the concept of diaspora can provide this conceptual framework“ (Wahlbeck 1998: 9).

In diesem Sinne soll in dieser Arbeit ein historischer Überblick zu bosnischen Muslimen gegeben werden, um die Komplexität der Begriffe Nation, Ethnie und Kultur sowie das Verhältnis zu Diaspora und Europa in diesem Fall zu beleuchten. Dabei kann festgestellt werden, dass die Bosnische Diaspora, wie andere Diasporen auch, kein homogenes Konstrukt ist. Der Soziologe Rogers Brubaker verwies darauf, dass die Identifizierungen und Verortungen von Menschen zu Ethnie oder Nation einer kognitiven Perspektive bedürfen, die die Prozesse erklärt, wie diese konstruiert werden (Brubaker 2006: 17 ff.). Dies sind keine bloßen Entitäten, sondern vielmehr eine Art von Perspektiven, die zu Sicht- und Verhaltensweisen führen:

„What cognitive perspectives suggest, in short, is that race, ethnicity, and nation are not entities in the world but ways of seeing the world. They are ways of understanding and identifying oneself, making sense of one’s problems and predicaments, identifying one’s interests, and orienting one’s action. They are ways of recognizing, identifying, and classifying other people, of constructing sameness and difference, and of ‘coding’ and making sense of their actions“ (Brubaker 2006: 81).

Nicht nur das Erbe der Flucht und des Genozids sind relevant für die Arbeit. Vor allem die Begrifflichkeiten Identität und Heimat spielen in Verbindung mit der Migration immer noch eine wichtige Rolle, sowohl aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft wie auch der Menschen mit Migrationsgeschichte. Zuweilen bedingen sich diese und beeinflussen gegenseitig. Die Diskurse in Deutschland zu Migranten und auch zu Muslimen werden in diesem Zusammenhang betrachtet sowie Debatten zur pluralistischen Gesellschaft.

Details

Seiten
252
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631901304
ISBN (ePUB)
9783631901311
ISBN (Paperback)
9783631901250
DOI
10.3726/b20775
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (April)
Schlagworte
Postmigrantische Gesellschaft Transnationalismus Integrationsforschung Diversität Fluchtforschung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2024. 252 S., 3 farb. Abb., 3 Tab.

Biographische Angaben

Aldina Cemernica (Autor:in)

Aldina Čemernica studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin Slawistik, Germanistische Linguistik und Kulturen Mittel- und Osteuropas. Im Jahr 2022 promovierte sie an der Sprach- und literaturwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist derzeit tätig als Referentin bei der Landeskommission Berlin gegen Gewalt. Ihre Forschungsinteressen umfassen Diversität, Migration, Flucht, Identität sowie Erinnerungskultur.

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Titel: Bosnien als Herkunftsland – Berlin als ,,Heimat“: Identitätskonstruktionen junger Menschen bosnischer/bosniakischer Herkunft in Berlin