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Geschichtstourismus

von Eugen Kotte (Band-Herausgeber:in) Steven Zurek (Band-Herausgeber:in)
©2023 Sammelband 238 Seiten

Zusammenfassung

Der Band beschäftigt sich mit der historischen Entwicklung des Geschichtstourismus und thematisiert auch die Aufbereitung von Vergangenheit in konsumentenorientierten Geschichtsnarrativen. Dabei sind unterschiedliche Medien vor, während und im Nachgang der touristischen Reisen relevant. Überdies sind touristische Erwartungen zwischen Freizeitgestaltung und Bildungsinteressen von Bedeutung. Für einen nicht nur ökonomisch bestimmten,
sondern auch nachhaltigen, zeitgemäßen Geschichtstourismus werden integrative und partizipative Modelle diskutiert. Konkretisiert werden derartige Überlegungen unter anderem für historischen Themenstraße und Grenzregionen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • Geschichtstourismus in der Moderne: Annäherungen an die Entstehung eines Massenphänomens seit dem 18. Jahrhundert
  • Alles nur Fiktion? Imaginationen von (Zeit-)Geschichte unter den Bedingungen der Tourismusindustrie
  • Wahrnehmungsräume durch Geschichtstourismus. Zur Dimension von kommunikativer Raumproduktion im Kontext von Heritage Traveling
  • Geschichtstourismus und historische Exkursionen
  • Geschichtstourismus als mediales Phänomen: Strategien der touristischen Aneignung „historischer“ Orte und ihre Wechselbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert
  • Vom Wert historischer Themenstraßen – In-Wert-Setzen und Wertschöpfung durch touristische Kooperationen am Beispiel der Eisenstraße
  • Geschichtstourismus in Grenzregionen. Das Beispiel der Grafschaft Bentheim
  • Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Eugen Kotte / Steven Zurek

Einleitung

In den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit einem historischen Phänomen der Moderne, das seit dem 19. und dann v. a. im 20. Jahrhundert zum Geschäftsmodell einer umfassenden Branche und zeitgeschichtlich gar zum Ventil menschlicher Sehnsüchte avanciert ist, in auffälliger Weise zugenommen. Dabei ist es nicht allein die Geschichtswissenschaft, die sich – vornehmlich in ihren Subdisziplinen der Geschichtsdidaktik und der Public History – dem Thema des Geschichtstourismus widmet, indem sie seine historische Entwicklung aufarbeitet1, seine Varianten identifiziert2, seine Authentizitätsversprechen prüft und seine Verheißung einer „Zeitreise“, die eine (zumindest vorübergehende) Flucht aus alltäglicher Mühsal verspricht, unter Rückgriff auf die Geschichtstheorie konterkariert3. Im Bereich der Raumplanung beispielsweise wurden schon früh Überlegungen angestellt zur Nutzung des Geschichtstourismus als Instrument wirtschaftlicher Impulse für die regionale Entwicklung, freilich gekoppelt an Aspekte der „Lernenden Region“ in einem integrativen Konzept, das nachhaltiges Wirtschaften ermöglicht4. In intensiver Weise ist der Geschichtstourismus auch Beobachtungsfeld der Europäischen Ethnologie, die zwar auch das ökonomische Wachstumspotenzial des Tourismus für die besuchten Regionen taxiert; aber in jüngerer Zeit immer mehr Wert darauf legt, die Systeme Kultur und Tourismus in einem partizipativen Verständnis der Einbindung nicht nur von Besucherinnen und Besuchern, sondern auch von Bewohnerinnen und Bewohnern erfolgreich zusammenzubringen, um sowohl kulturellen als auch sozialen und wirtschaftlichen Nutzen für die entsprechenden Regionen zu generieren5.

Dieses gestiegene, interdisziplinäre Interesse richtet sich auf eine lediglich in der Corona-Pandemie eingebremste, vorher und nachher aber stetig wachsende Wirtschaftsbranche. Deren Aktivitäten, Erscheinungen und auch Belastungen kommt das durch den deutsch-schweizerischen Philosophen Hermann Lübbe in Zeiten von Globalisierung, hoher und schneller Mobilität, vielfachen Migrationsvorgängen, subjektiven Empfindungen von Unübersichtlichkeit und Kontrollverlust schon vor Jahrzehnten konstatierte Bedürfnis nach Entschleunigung, Geborgenheit und Selbstverortung6 ebenso zugute wie der ihm entsprechende, nun schon – in unterschiedlichen medialen Konjunkturen – fast ein halbes Jahrhundert andauernde „Geschichtsboom“7. Als förderlich erwies sich überdies die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fortschreitende Demokratisierung des Reisens insbesondere in west- und dann auch mitteleuropäischen Staaten8, die von Einkommensverbesserungen, erhöhten Möglichkeiten individueller Mobilität sowie der Festschreibung garantierter Urlaubsansprüche nebst daran gekoppelter Freizeitvorstellungen begleitet war9 und sich unter anderem in der gestiegenen erheblichen Nachfrage nach geschichtstouristischen Möglichkeiten10 und einer entsprechenden Ausweitung der Angebote seit den 1980er Jahren niederschlug11. Dieser Entwicklung des modernen Geschichtstourismus widmet sich die Neuzeithistorikerin Angela Schwarz (Siegen) im einleitenden Beitrag. Sie beleuchtet die wesentlichen Stufen mit den sich verändernden Möglichkeiten und Bedingungen des Reisens, der mehrfachen Wandlungen unterworfenen gesellschaftlichen Wahrnehmung und Wertschätzung von Geschichte sowie den ebenfalls sich entwickelnden medialen Präsentationen von geschichtstouristischen Zielen und weist auf die Abhängigkeit des immer breitere und heterogenere Schichten der Bevölkerung erfassenden Phänomens des Geschichtstourismus vom aufklärerischen Bildungsideal, dann von zunehmender Verwissenschaftlichung der Geschichtsbefassung und schließlich von Bedürfnissen nach einer verklärten Vergangenheit. Das Zusammenspiel mit dem diese geistigen Bewegungen begleitenden Wandel in technischen, gesellschaftlichen, publizistischen und organisatorischen Bereichen erleichterte das Reisen (auch in finanzieller Hinsicht) immer stärker, sodass letztlich hochproblematische Aspekte der Vermassung und Standardisierung des Geschichtstourismus unübersehbar wurden.

Hinzu kommt die in der Postmoderne beobachtbare, zunehmende Veränderung der Übermittlung historischen Wissens vom Text über das Bild zum Simulacrum, durch die das Publikum – Bewohner/innen wie Besucher/innen – aus der vorherrschenden Rezeption nun in eine alle Sinne erfordernde, aktive Teilnahme wechselt (und dieses auch erwartet)12. Auf diese Weise erklärt sich auch, dass die kulturwissenschaftliche Forschung Formen des partizipatorischen Geschichtstourismus in ihrem Potenzial für die Erhaltung historischen Kulturguts hervorhebt13 und mittlerweile auch in geschichtswissenschaftlichen Beiträgen geschichtstouristische Angebote unter einer performativen Perspektive, die aktive Raumaneignung einschließt, wahrgenommen werden14. Diesem Aspekt widmet sich besonders die Kulturwissenschaftlerin Katja Drews (Hildesheim – Göttingen – Holzminden), die die Frage aufwirft, wie mit der Polarität der durch Geschichtstourismus konstruierten Zeit- und Raumkonzepte einerseits und der Lebenspraxis der in touristischen Zielgebieten lebenden Menschen andererseits umgegangen sowie durch Kulturtourismus soziale und kulturelle Nachhaltigkeit in den Zielregionen unter partizipativer Einbindung der Bevölkerung erreicht werden kann.

Umstritten ist allerdings die Bildungsfunktion des Geschichtstourismus, die aufgrund des oftmals als Motiv anzutreffenden geschichtlichen Interesses zumindest von einem Teil der Besucher/innen und auch der Bewohner/innen erwartet werden dürfte. Während verschiedentlich Vertreter/innen der geschichtswissenschaftlichen Forschung der Touristikbranche unterstellen, nicht von Bildungsbedürfnissen der Kund/inn/ en, sondern lediglich als „Gefühlsdienstleister“15 von deren Erlebnisverlangen auszugehen16, betonen andere Stimmen den Bildungsanspruch, die Geschichtsvermittlung und die Erinnerungsarbeit, die mit Geschichtstourismus einhergehe17. Entsprechend werden von kulturwissenschaftlicher Seite die ausbaufähigen Vermittlungsaspekte des Kulturtourismus betont18, und aus der Raumplanung kommen Forderungen nach Qualitätskriterien, z. B. für touristische Organisationsformen wie Themenstraßen19. Diese Diskussion um Bildungsaspekte und Vermittlungsstrategien des Geschichtstourismus verdeutlichen, dass das bisher in Abgrenzung zu Angeboten aus der Touristikbranche in der Geschichtsdidaktik formulierte Konzept des HisTourismus, in dem das zur Lebensform erhobene Reisen mit gesteigerter Aufnahmebereitschaft der Teilnehmer/innen20 als Vermittlungsmodus in didaktischer Reflexion erfasst und systematisiert wird21, durchaus an den vom Geschichtstourismus geschaffenen Möglichkeiten partizipieren kann. Und wenn dies für eine „Geschichtsdidaktik des Reisens“22, deren Zielgruppe aus geschichtlich interessierten Laien besteht, konstatiert werden kann, ist es wohl in mindestens gleichem Maße anzunehmen für die historische Exkursion als Organisationsform der akademischen Lehre oder auch des Schulunterrichts, deren entscheidendes Merkmal im Aufsuchen meistens gegenständlicher historischer Zeugnisse besteht23, die oftmals (z. B. im Falle musealer Ausstellungsexponate, geschichtlicher Ensembles oder historischer Bauwerke) auch geschichtstouristisch von hohem Interesse sind. Mit den Chancen und Möglichkeiten, die sich durch die Inanspruchnahme geschichtstouristisch geförderter Infrastruktur und Angebote für historische Exkursionen im schulischen und universitären Kontext bieten können, beschäftigt sich der Geschichtsdidaktiker und Neuzeithistoriker Eugen Kotte (Vechta). Nicht nur die motivationsfördernde Auseinandersetzung mit Geschichte „vor Ort“ ist es, die sowohl Geschichtstourismus als auch historische Exkursionen nutzen; auch erleichtert gerade die ökonomische Ausrichtung des Tourismus maßgeblich den Erhalt des Historischen Erbes, das – bei aller Notwendigkeit kritischer Reflexion der in der Erhaltungsstrategie eingeschriebenen Narration – auch historische Exkursionen erst ermöglicht. Insofern stellt sich die Frage, ob Tourismus und Bildung – wie so gerne behauptet – wirklich ganz grundsätzlich Gegensätze darstellen oder nicht eher Wechselwirkungen festzustellen und in der geschichtsdidaktischen Nutzung der Verbindung von Erlebnis und Erkenntnis auch durchaus wünschenswert sind.

Geschichtstourismus ist damit zu einem interdisziplinär untersuchten und diskutierten Forschungsfeld geworden, in dem ökonomische Interessen ebenso wie kulturelle Erhaltungsstrategien und Bildungsvermittlungsansprüche wirksam sind. Er bedient nicht nur die Sehnsüchte der ihrem Alltag entfliehenden Kundinnen und Kunden, sondern stärkt – insbesondere in partizipativen Varianten – die Identität der Bewohnerinnen und Bewohner besuchter Regionen. Auf diese Weise trägt Geschichtstourismus zu einer nachhaltigen Entwicklung auch ländlicher Regionen bei, die bei Wahrung ökologischer Erfordernisse, ökonomischer Stabilität und sozialer Teilhabe vor dem Hintergrund gegenwärtiger Bedingungen Perspektiven aufzeigt, die zukünftige Aussichten nicht gefährden, sondern eröffnen24. Dabei wird insbesondere Kultur (hier in Form des materiellen wie immateriellen kulturellen Erbes) als Ressource und Entwicklungspotenzial betrachtet, durch das einerseits Alleinstellungsmerkmale von Regionen (Imagebildung) herausgestellt werden, andererseits aber die Verbindung zu den Besucher/inne/n bereits Bekanntem (Translokalität) ermöglicht wird25. Gleichzeitig werden die Bewohner/inn/en in die kulturtouristische Inwertsetzung des kulturellen Erbes der Region aktiv involviert26, so dass die touristischen Angebote auch sozialräumlich integriert werden. Diesem Aspekt der Regionalentwicklung widmet sich die Raumplanerin Kim Meyer-Cech (Wien), die die (auch ökonomische) Bedeutung historischer Themenstraßen und die mit ihnen verbundene Wertschöpfung durch integrative Kooperationen mit Blick auf die niederösterreichische Eisenstraße expliziert. Touristische Nutzung des kulturellen Erbes trägt zum Erhalt architektonischen wie immateriellen Kulturguts bei, so dass – bei Bildung intersektoraler und integrativer Netzwerke aus Investor/inn/en, Veranstalter/innen, Tourist/inn/en und Bewohner/innen (letztere organisiert in Vereinen, Initiativen, Kommunen usw.) – wichtige Impulse für die Regionalentwicklung gesetzt werden können.

Mit derartigen integrativen Konzepten entsteht – kulturwissenschaftlich gesprochen – ein Thirdspace, der den Bewohner/inne/n ihre Region durch die gesteigerte Außenwahrnehmung als attraktiv erscheinen lässt, während die Besucher/innen das spezifische Kulturangebot in der ebenso nach außen tretenden Identität der Einheimischen wahrnehmen.27 Durch das Moment der Teilhabe von Bewohner/inne/n und Tourist/inn/en wird die „multivokale Konstruktion von Räumen“28 erkennbar, in der der Interessensausgleich durch Aushandlungsprozesse unter den beteiligten Akteuren garantiert wird, so dass die nachhaltige Entwicklung vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Erfordernisse ohne Beeinträchtigung der Möglichkeiten zukünftiger Generationen gesichert erscheint.

Diese Zusammenhänge werden seit einigen Jahren intensiv in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen ergründet, nachdem die Interdependenz von historisch-kulturellem Erbe und Wirtschaft im Geschichtstourismus über lange Zeit in den nun beteiligten Wissenschaften ignoriert wurde29. Dabei konzentrieren sich die Positionen (bisweilen auch nach disziplinär vorgezeichnetem Erkenntnisinteresse) in unterschiedlicher Weise prioritär an den (nicht nur, aber auch ökonomischen) Entwicklungspotenzialen für eher strukturschwache Regionen30, der Entstehung neuer Raumkonstruktionen mit innovativen Effekten für die regionale Kultur durch die Interaktion von Einheimischen und Tourist/inn/en31, der touristischen, narrativ basierten Konstruktion von Räumen32, der Inszenierung von Geschichte mit Erlebnisqualität33, den Authentizitätsversprechungen der Tourismusbranche und den Authentizitätserwartungen ihrer Kund/inn/en34, den „Zeitreise“-Verlockungen der Tourismuswerbung35, den Bildungsansprüchen des Geschichtstourismus36 oder schließlich der geschichtsdidaktischen Reflexion des Reisens als Bestandteil der Erwachsenenbildung37. Dieser Band soll unterschiedliche Positionen und Schwerpunkte der Diskussion zumindest ausschnitthaft erfassen und zueinander in Beziehung setzen, damit das Spektrum und der Diskursraum, in dem sich die erst einige Jahre existente interdisziplinäre Forschung zum Geschichtstourismus bewegt, erfasst werden kann. Der Sammelband soll als dauerhafter Nachklang der an der Universität Vechta im Wintersemester 2021/2022 unter dem Titel „Geschichtstourismus“ veranstalteten Ringvorlesung durch den ermöglichten Abgleich der Positionen die interdisziplinäre Diskussion beleben. Dabei werden folgende Kernbereiche der wissenschaftlichen Auseinandersetzung in gleich mehreren Beiträgen angesprochen:

Das Authentizitätsversprechen: Einer der am meisten hervorgehobenen Vorzüge des Geschichtstourismus ist sein Beitrag zum Erhalt des historischen kulturellen Erbes38. Demgegenüber ist aus der Geschichtswissenschaft geäußert worden, dass beispielsweise die Restaurierung baulicher Überreste immer Selektionskriterien unterworfen sei, die unter anderem die bei einem historischen Gebäude durch Umbauten und Umwidmungen verschachtelten Zeitschichten beträfen, so dass hier „Zeitmanagement39“ betrieben werde, um diese Objekte zu Sehenswürdigkeiten zu qualifizieren. Fraglos haftet fast allen Gebäuden eine Geschichte der Veränderungen und Umnutzungen an, die – wenn sie am Objekt nachvollzogen werden kann – ebenso interessant und aussagekräftig sein kann, wie der (möglicherweise durch Zeichnungen rekonstruierbare oder durch Überreste vorstellbare) Urzustand. Unter dieser Maßgabe wird in der Geschichtsdidaktik auch in diesen Fällen von „‚gegenständlichen‘ Quellen“40 und „Realanschauung“41 gesprochen, wohl wissend, dass die Vergangenheit auch am „historischen Ort“ bestenfalls in Relikten sichtbar ist.

Was hingegen noch stärkere Reaktionen hervorruft, ist das auf der Instandsetzung des historischen Erbes basierende Versprechen von Authentizität, das durch die touristische Werbung als Antwort auf die in der Postmoderne gesteigerte menschliche Sehnsucht nach „Anderzeiten und Anderweltlichkeit“42 gegeben wird. Angesichts der Feststellung, dass sich historische Authentizität nur an den Maßstäben der Vergangenheit orientieren und in ihren (in der Zeit veränderten) Überresten nicht mehr wirklich erforscht werden kann43, ist es erforderlich, einen differenzierteren Authentizitätsbegriff zu verwenden, der eine äußere, historische Authentizität von einer inneren, durch Glaubwürdigkeitsstrategien den Besucher/inne/n vermittelte unterscheidet44. Nachvollziehbar wird in diesem Sinne die Kritik an der im Geschichtstourismus „inszenierte[n]‌, populäre[n] Geschichte“45, die durch entsprechende „Erzählungen“46 fundiert wird; z. T. ist – vermutlich in Anlehnung an die Debatte um Hayden White47 – gar von „Fiktion“48 die Rede, die den Besucher/inne/n die Authentizitätsempfindung erst ermögliche.

All diese Überlegungen verweisen darauf, dass die Authentizität nicht innerhalb des an einem „historischen Ort“ erinnerten Ereignisses zu suchen ist und auch weniger im historischen Überrest oder geschichtlichen Zeugnis, sondern v. a. in der „sozialen Konstruktion des Ereignisses“49 – eine Feststellung, die auch Geschichtsdidaktiker teilen, wenn sie darauf verweisen, dass der „historische Ort“ überhaupt erst durch die Erkenntnisinteressen der Besucher/innen konstituiert wird50. Diese Einsicht wird durch die Vermutung untermauert, dass auch für die meisten Kulturtourist/inn/en das eigene Erlebnis wichtiger ist als die Originalität der aufgesuchten Orte und Objekte51. Mit der Authentizitätsproblematik befasst sich im vorliegenden Band insbesondere die Kulturwissenschaftlerin Sabine Stach (Leipzig). Dabei zentralisiert sie die Frage, wie der oft erhobene Anspruch auf Authentizität am besuchten Ort mit den Wünschen und Erwartungen der Besucherinnen und Besucher als zahlenden Gäste zu vereinbaren ist, gerade angesichts bereits bestehender, oftmals unterschiedlicher und nicht zuletzt durch massenmediale Präsentationen beeinflusster Geschichtsbilder. Konkret nimmt sie Deutungen historischen Geschehens und deren Vermittlung in Führungen in den Blick und analysiert die Rolle der Tour Guides, deren Aufgabe nicht nur die Vermittlung geschichtlicher Inhalte, sondern auch die Sicherstellung eines harmonischen Ablaufs der Tour und eine Zufriedenstellung der Teilnehmenden umfasst.

Die Zeitreiseillusion: Zurecht wird in der Geschichtswissenschaft konstatiert, dass die touristische Werbung an die Kund/inn/en häufig mit dem Versprechen appelliere, ihnen das Eintauchen in eine andere, frühere, oftmals als „besser“ apostrophierte Zeit zu ermöglichen52. Der bereits mit Blick auf Authentizitätsverheißungen genannte Begriff der „Fiktion“ ist angesichts solcher Illusionen, sich auf mehreren Zeitebenen gleichzeitig bewegen zu können, außerordentlich angemessen53. Erfolgreich kann eine solche Versprechung nur deshalb sein, weil die Besucher/inn/en ein Erlebnis in einem „zeitlich versetzten exotischen Raum“54 erwarten. Doch gerade hier setzt ein besonders gewichtiges Argument der Geschichtswissenschaft ein, indem auf die häufige Verwechslung von Vergangenheit und Geschichte (nicht nur im Geschichtstourismus) hingewiesen wird: Während erstere für immer abgeschlossen und damit unzugänglich ist, bedeutet letztere die deutend angelegte und narrativ organisierte Darstellung, Rekonstruktion und Vergegenwärtigung des Vergangenen55. Dieser Charakter von Geschichte als Deutungsgeschäft ist nicht nur geschichtstheoretisch erkannt worden, sondern wird auch in raumplanerischen Auseinandersetzungen mit dem Geschichtstourismus als Faktor der regionalen Entwicklung ernstgenommen56.

Der Bildungsanspruch: Angesichts kaum einlösbarer Authentizitätsverheißungen und geradezu irrationaler Zeitreisephantasien ist es verständlich, wenngleich hinterfragbar, dem Geschichtstourismus sämtliche Bildungsintentionen abzusprechen57. Entsprechend werden mit Bildungsansprüchen versehene Konzepte des Reisens an „historische Orte“ vom kommerziellen Geschichtstourismus nachdrücklich abgegrenzt58. Dennoch geht gerade die „Geschichtsdidaktik des Reisens“ von einem besonderen geschichtlichen Interesse ihrer Zielgruppe aus59, das – trotz aller Erlebnisorientierung – wohl auch bei einem Teil der Geschichtstourist/inn/en vorausgesetzt werden darf, auf das die Anbieter auch reagieren60. Nicht zuletzt deshalb ist die weitgehendere Aufforderung berechtigt, auch geschichtstouristische Destinationen auf ihre Eignung für historische Exkursionen zu prüfen61. Ergebnisse aus der Raumplanung zeigen jedenfalls, dass geschichtstouristische Offerten wie Themenstraßen in Exkursionsprogramme eingebunden werden62, und auch Exkursionsdidaktikerinnen und -didaktiker sehen derartige Einrichtungen als u. U. nützliche Lernangebote63.

Die Identitätsförderung: Schon angesichts der historischen Entwicklung des Geschichtstourismus wird darauf hingewiesen, dass das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung immer schon ein wichtiges Motiv für die Nutzung geschichtstouristischer Angebote gewesen sei. Der Besuch historischer Stätten habe sich identitätsstiftend ausgewirkt und sei beispielsweise im Kontext der Nationalbildung des 19. Jahrhunderts wesentlich gewesen64. Klingen derartige Befunde eher nach einer politischen Instrumentalisierung des Geschichtstourismus im 19. Jahrhundert, so ist angesichts der Schnelllebigkeit, der Entgrenzung und der Unübersichtlichkeit der Gegenwart davon auszugehen, dass das touristische Motiv der Verharrung und Verortung eher noch zugenommen hat.

Kulturwissenschaftliche Untersuchungen weisen darauf hin, dass integrative und partizipative Konzepte des Geschichtstourismus für die Bewohner/innen einer Region durchaus identitätsfördernd wirken können65. Die Einbindung der Einheimischen in die geschichtstouristischen Offerten in ihrer Region kann umso mehr gelingen, als verschiedene für den Tourismus genutzte Angebote aus der Praxis vor Ort erwachsen sind66 und nicht selten auf der einschlägigen Initiative regionaler und lokaler Vereine fußen67. Daneben wirkt die touristische Wertschätzung von Regionen umso deutlicher auf die Bewohner/innen zurück, als ihre Teilhabe an den geschichtstouristischen Angeboten nicht nur gesichert, sondern grundsätzlich ist68. Mit der Frage der geschichtstouristisch genutzten, in einer (bestimmten) Grenzregion traditionell empfundenen Identität befasst sich der Neuzeithistoriker Steven Zurek (Vechta). Nachdem er mit Hilfe von Ansätzen aus den Border Studies Grenzüberschreitung sowie internationale Interaktion und Interdependenz als besonders attraktive Merkmale in Grenzregionen herausgearbeitet hat, demonstriert er am Beispiel Grafschaft Bentheim mannigfaltige historische, in der Identitätsbildung wirksame und zu einem geschichtstouristischen Narrativ verdichtete Verflechtungen zu den Niederlanden, die in einer Vielzahl touristischer Destinationen repräsentiert werden.

Die Erlebnisqualität: Nicht nur das Zeitreise-Versprechen zielt auf die Erlebniserwartung der Geschichtstourist/inn/en, die ihnen bisweilen (noch vor dem geschichtlichen Interesse an den besuchten „historischen Orten“) als entscheidendes Motiv unterstellt wird. Bereits vor eineinhalb Jahrzehnten wurde im Rahmen einer mittlerweile sehr einflussreichen geschichtsdidaktischen Position „Geschichte als Event“69 zum postmodernen Leitmuster der Geschichtskultur erhoben, und so wird mit Blick auf den Geschichtstourismus nicht zu Unrecht gefolgert, dass in der Erlebnisgesellschaft auch Geschichte zur begehrten Ware geworden ist70, zumal in Beiträgen zur Raumplanung die Erlebnisorientierung als entscheidendes Kriterium geschichtstouristischer Angebote eingefordert wird71. Verstanden werden darunter – neben der bereits genannten Interaktivität und der ebenfalls schon erwähnten grundlegenden Narration – multimediale Vermittlungs- und Erkundungsmöglichkeiten, die indes auch wieder den angesichts der Zeitreise-Verheißung bereits thematisierten Geschichtsillusionen Vorschub leisten könnten, wie eben auch manche geschichtswissenschaftliche Stimme befürchtet72. Erlebnis wird dabei definiert als vom gewohnten Alltag abweichende, auf Neugier und Reizsuche reagierende Erfahrung; dieses Verständnis rekurriert auf die zweifelsohne von der Klientel (und wohl auch von teilhabenden Einheimischen) ersehnte „Gegenwirklichkeit“73, die – zumindest scheinbar – ein zeitweises Entkommen aus der Rastlosigkeit und Unübersichtlichkeit des Alltags, aber auch aus dessen Routine ermöglicht. In diesen Bereich dringen insbesondere die Neuzeithistorikerin Daniela Mysliwietz-Fleiß (Siegen) und der Neuzeithistoriker Jan Pasternak (ebenfalls Siegen) vor, indem sie in ihrem Beitrag die Rolle von spezifisch entwickelten Medien im Kontext des Geschichtstourismus und die durch diese beeinflusste Aneignung besuchter Räume durch Touristinnen und Touristen in diachroner Perspektive untersuchen. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie die Wahrnehmung von Touristinnen und Touristen durch mediale Präsentationen der aufgesuchten Orte beeinflusst oder gar gelenkt wird und welche Bedeutung den entsprechenden Medien bei der Schaffung von geschichtstouristischen Zielorten und -räumen zukommt. Die untersuchten Medien werden vier Kategorien zugeordnet, die vor, während und nach der Reise einen jeweils spezifischen Anteil an der geschichtstouristischen Konstruktion eines Ortes oder einer Region haben.

Da gerade das erlebnisorientierte Publikum der Gegenwart Erwartungen einer Abwechslung vom Alltag hegt, ist unter anderem die Geschichtsdidaktik aufgefordert zu reagieren74, und so finden sich z. B. in der „Didaktik des Reisens“ Anknüpfungspunkte, mit denen Geschichte als Erlebnis durch die Bewegung im Raum und die Anschauung vor Ort konkretisiert werden soll75. Aus ähnlichen Gründen wird die Motivationskraft von Exkursionen im Hochschul- oder Schulkontext hervorgehoben76.

Der nachhaltige Entwicklungsimpuls: Es sind insbesondere die Stimmen aus der Raumplanung, den Kulturwissenschaften und dem Kulturmanagement, aber auch aus der Europäischen Ethnologie, die die Bedeutung des Geschichtstourismus für eine nachhaltige Entwicklung nicht nur, aber vornehmlich strukturschwacher Regionen hervorheben77. Sie betonen dabei die Bedeutung partizipativer und integrativer Konzepte, die nicht nur die Besucher/innen im Auge haben, sondern auch die Bewohner/innen der betreffenden Region aktiv miteinbeziehen78, so dass im Zusammenspiel von touristischer Außenperspektive und regionaler Binnensicht Impulse für eine nachhaltige Entwicklung der Region gesetzt werden können. Entsprechend werden bei der geschichtstouristischen Aufbereitung des historischen kulturellen Erbes der Region die Interessen der Einheimischen einbezogen und ihre Vorstellungen Teil der Planung79. Was bereits in der Entwicklung des Geschichtstourismus mit der Interdependenz von Anbietern (meistens vor Ort), Medien und Konsument/inn/ en in einer bottom-up-Entwicklung als Spezifikum des Geschichtstourismus erkennbar wird, die ausgehandelten, veränderten und immer wieder neu ausbalancierten Geschichtskonstruktionen80, erweist sich unter den Bedingungen der Postmoderne als Vorteil einer „multivokalen Konstruktion“81 „dritter“ (touristischer) Räume, in der die über die Ressource Geschichte initiierte nachhaltige Entwicklung der Regionen wurzelt.

Die Gliederung des Bandes orientiert sich am Konkretisierungsgrad der Beiträge. Nach dem einleitenden Beitrag von Angela Schwarz, in dem sie einen Überblick über die Entwicklung und die Veränderungen des Geschichtstourismus (der Moderne) gibt, nimmt sich Sabine Stach unter Verweis auf verschiedene ostmitteleuropäische Beispiele der Authentizitäts-, Fiktionalisierungs- und Narrativierungsproblematik an. Mit ebenfalls breitem Zuschnitt erläutert Katja Drews Geschichtstourismus als Teil eines Kulturtourismus, der mit einem partizipatorischen Konzept, das aktive Raumaneignung ermöglicht, auch zur regionalen Entwicklung (insbesondere ländlicher Räume) unter der Maßgabe ökologischer, sozialer und ökonomischer Nachhaltigkeit beiträgt.

Die nächsten beiden Beiträge konzentrieren sich stärker auf bestimmte Aspekte des Geschichtstourismus: Während Eugen Kotte sich mit Fragen eines auch für historische Exkursionen zu nutzenden Potenzials von Geschichtstourismus und der effizienzsteigernden Komplementarität von Erlebnis und Erkenntnis befasst, untersuchen Daniela Mysliwietz-Fleiß und Jan Pasternak auf unterschiedlichste Weisen medial erzeugte Präfigurationen, Wahrnehmungslenkungen und Verarbeitungsweisen bis hin zu Substituten geschichtstouristischer Aktivitäten, Erlebnisse und Wahrnehmungen.

Im letzten Teil des Bandes, dessen Beiträge allgemeinere Erörterungen auf ganz konkrete Beispiele beziehen, erörtert Kim Meyer-Cech historische Themenstraßen als Beitrag zur Regionalentwicklung und expliziert ihre Ausführungen sehr konkret am Beispiel der Niederösterreichischen Eisenstraße, während Steven Zurek Besonderheiten des Tourismus in Grenzregionen herausarbeitet und diese am Beispiel der Grafschaft Bentheim spezifisch aufspürt.

Am Zustandekommen dieses Bandes waren – neben den Autorinnen und Autoren, denen unser Dank an erster Stelle gebührt – weitere Personen in ganz grundlegender Weise beteiligt: die Mitglieder der Kommission für Forschung und Nachwuchsförderung der Universität Vechta unter dem Vorsitz des Vizepräsidenten Prof. Dr. Michael Ewig mit einem Zuschuss für die Finanzierung der zugrundeliegenden Vortragsreihe, die Mitarbeiterinnen der Bereiche Didaktik der Geschichte und der Neueren und Neuesten Geschichte an der Universität Vechta, namentlich Ludmilla Luft und Hannah Sandstede, im Rahmen der Redaktion sowie der Kollege Dr. Aaron Mitchell durch die Korrektur der englischsprachigen Abstracts. Ihnen allen sei hiermit unser herzlicher Dank ausgesprochen.

Ein Hinweis noch in redaktioneller Hinsicht: Da das Gendern schriftsprachlich von den Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes unterschiedlich umgesetzt wurde und wir keine Schreibweise verbindlich machen wollten, haben wir die Vielfalt der Umsetzungen beibehalten.

Vechta, im April 2023

Die Herausgeber


1 Vgl. Schwarz / Mysliwietz-Fleiß, Reise.

Details

Seiten
238
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631907832
ISBN (ePUB)
9783631907849
ISBN (Hardcover)
9783631906194
DOI
10.3726/b21139
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Dezember)
Schlagworte
Eugen Kotte Steven Zurek Geschichtstourismus Kulturtourismus Historische Exkursionen Historische Authentizität Historische Themenstraßen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 238 S., 23 s/w Abb.

Biographische Angaben

Eugen Kotte (Band-Herausgeber:in) Steven Zurek (Band-Herausgeber:in)

Prof. Dr. Eugen Kotte ist Neuzeithistoriker und Geschichtsdidaktiker, der sich insbesondere mit geschichtskulturellen Fragestellungen befasst. Er ist augenblicklich Sprecher der Geschichtswissenschaft an der Universität Vechta. Steven Zurek, M. A., hat mit einem landesgeschichtlich ausgerichteten Thema promoviert und ist z. Zt. Mitarbeiter des International Office der Universität Vechta.

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Titel: Geschichtstourismus