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Die Kunst der Gesetzgebung

von Andrea Kießling (Band-Herausgeber:in) Indra Spiecker gen. Döhmann (Band-Herausgeber:in)
©2023 Konferenzband 146 Seiten

Zusammenfassung

Was sind die Modalitäten der Gesetzgebung und werden diese wirklich eingehalten? Inwiefern sind welche Verfahrenselemente bzw. die Einbeziehung Dritter verfassungsrechtlich vorgeschrieben? Wie sind Omnibus-Verfahren und Sunset-Legislation einzuordnen? Welche Funktionen erfüllen verschiedene Verfahrensschritte wie z.B. die Anhörungen? Was ist davon zu halten, außerparlamentarische Kommissionen in das Gesetzgebungsverfahren einzubinden, wie es im Gesundheitsrecht immer wieder geschieht? Aus Anlass komplexer und überhasteter Gesetzgebungsverfahren im Gesundheitsrecht während der Corona-Pandemie wurden diese Fragen im Rahmen einer Tagung des ineges diskutiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Eilgesetzgebung und dilatorische Rechte
  • Der Gesetzgeber im Spannungsfeld zwischen Wissen und Wollen
  • Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen? Die Rolle von Kommissionen bei der Vorbereitung von Gesetzen im Gesundheitsrecht
  • Die Einbeziehung externer Expertise als Voraussetzung guter Gesetzgebung?
  • Gesetzgebung in der Krise: Politik zwischen Beschleunigung, informellem und formalisiertem Verfahren

Karsten Schneider1

Eilgesetzgebung und dilatorische Rechte

A. Einleitung

„Mal gehen Gesetzesvorhaben der Regierung der Opposition zu langsam, mal gehen sie weitaus zu schnell. Dann sagt man im Regelfall: Das wird hier alles durchgepeitscht. Das kennt jeder. Heute ist der Tag, wo es mal wieder zu schnell geht. Also wundern Sie sich gleich nicht, wenn die anschließenden Redner von ‚überfallartigen Aktionen‘ sprechen, von ‚Durchpeitschen‘ und allem, was damit zusammenhängt. […] Das, was wir heute machen, läuft alles nach den Regeln unserer Geschäftsordnung und ist völlig unspektakulär, vor allen Dingen rechtlich einwandfrei – vielleicht zu schnell, vielleicht zu langsam; ich warte einmal ab. Nur: Die Geschäftsordnung sieht es genauso vor.

Jetzt freuen Sie sich darauf, wie die Opposition trotz dieser rechtlich völlig einwandfreien Vorgehensweise versuchen wird, einen kleinen Skandal herbeizureden. Viel Spaß dabei.

Vielen Dank fürs Zuhören.“2

Mit diesen Worten – aus Anlass der Änderung der Parteienfinanzierung im Parteiengesetz3 – brachte ein Erster Parlamentarischer Geschäftsführer einer regierungstragenden Fraktion im Deutschen Bundestag am 8. Juni 2018 seine Sichtweise auf die alte Thematik der Eilgesetzgebung auf den Punkt. Oder besser gesagt: seine Sichtweise auf eine echte oder vermeintliche Nicht-Thematik.

Sämtliche Rechtsfragen der „Eilgesetzgebung“ müssen sich also die gravierende Vorfrage gefallen lassen, ob und inwieweit es sich überhaupt um Rechtsfragen handelt. Liegt etwa die Einordnung eines Gesetzgebungsverfahrens als „überfallartige Aktion“ lediglich im trügerischen Auge seiner Betrachter? Und ist ein subjektiv aufrichtig empfundenes „Durchpeitschen“ von Gesetzen womöglich nur ein politisches Gefühl?

Noch nie hat das Bundesverfassungsgericht einzelne Gesetzgebungsverfahren für grundgesetzwidrig erachtet, weil diese zu zügig oder zu zögerlich betrieben worden wären. Beide Rügen, also „Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit“ und „Unterschreitung der Mindestgeschwindigkeit“4 sind zwar vielfach vorgetragen worden, aber forensisch bislang immer erfolglos geblieben.5

In jüngster Zeit deuten sich hier allerdings tektonische Verschiebungen an: Der Zweite Senat hat das Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Parteiengesetzes, das der eingangs erwähnte Erste Parlamentarische Geschäftsführer aus der Teilnehmerperspektive noch so beschwichtigend kommentiert hatte, Mitte Oktober 2021 zum Anlass einer mündlichen Verhandlung genommen.6 Zwei Urteile stehen aus.7 Bereits jetzt ist jedoch absehbar, dass jedenfalls Teile der Richterbank durchaus Rechtsfragen erkennen und sehr ernsthaft darum ringen, praktikable verfassungsrechtliche Maßstäbe zu entwickeln. So hatten die Richterinnen und Richter für die zweitägige mündliche Verhandlung im Verfahren 2 BvE 5/188 sämtliche Ersten Parlamentarischen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer der Fraktionen sowie einen ehemaligen Direktor beim Deutschen Bundestages als sachkundige Auskunftspersonen zum Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens geladen.9

Wird also das bislang politisch gefühlte „Durchpeitschen“ von Gesetzen zukünftig rechtlich stärker domestiziert?

Das Gesetzgebungsverfahren, das der Zweite Senat zum Anlass genommen hat, sich erstmals vertieft der Thematik zu widmen, vereint mehrere Einzelaspekte, die typologisch der Eilgesetzgebung zuzuordnen sind:

- (1.) Faktor Zeit: Das gesamte Gesetzgebungsverfahren behandelte der Deutsche Bundestag innerhalb von neun Werktagen (die zwischen Verteilung des Gesetzentwurfs an die Mitglieder des Deutschen Bundestages und Schlussabstimmung im Plenum lagen).10

- (2.) Faktor Kurzfristigkeit: Der Innenausschuss führte bereits am vierten Werktag nach Verteilung des Gesetzentwurfs eine Anhörung von sieben Sachverständigen durch.11

- (3.) Faktor Terminierung: Die kurzfristig angesetzte öffentliche Anhörung begann montags um 10 Uhr; aus Sicht einer Fraktion scheiterte daran die Möglichkeit der Teilnahme von Sachverständigen aus südwestdeutschen Universitätsstädten.

- (4.) Faktor Flexibilisierung: Sowohl die erste Lesung als auch die zweite und dritte Lesung erfolgten jeweils nach kurzfristigen Änderungen der Tagesordnungen des Deutschen Bundestages, die jeweils in Geschäftsordnungsdebatten mit Regierungsmehrheit gegen die Stimmen der Opposition beschlossen wurden.12

- (5.) Faktor Vorratsbeschluss: Der Innenausschuss fasste seinen Beschluss, eine öffentliche Anhörung mit acht Sachverständigen innerhalb von fünf Tagen durchzuführen, bereits bevor der Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag in erster Lesung im Plenum beraten und federführend an den Ausschuss überwiesen worden war (Ausschussbeschluss vor Überweisung in den Ausschuss, sog. Vorratsbeschluss).13

Details

Seiten
146
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631908907
ISBN (ePUB)
9783631908914
ISBN (Hardcover)
9783631897034
DOI
10.3726/b21196
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Oktober)
Schlagworte
Krise Pandemie Eilgesetzgebung Gesundheitsrecht Entparlamentisierung Dilatorische Rechte Kommissionen Anhörungen Kießling/Spiecker (Hrsg.), Die Kunst der Gesetzgebung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 146 S.

Biographische Angaben

Andrea Kießling (Band-Herausgeber:in) Indra Spiecker gen. Döhmann (Band-Herausgeber:in)

Andrea Kießling ist Professorin für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Migrationsrecht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie ist geschäftsführende Direktorin des Instituts für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges). Indra Spiecker genannt Döhmann, LL.M. (Georgetown) ist Professorin für Öffentliches Recht, Informationsrecht, Umweltrecht und Verwaltungswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie ist Direktorin des Instituts für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges) und der Forschungsstelle Datenschutz ebendort sowie u.a. Mitglied der Acatech.

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Titel: Die Kunst der Gesetzgebung