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Steuerung von Fluchtmigration

Ein Vergleich des politischen und rechtlichen Rahmens der EU und Australiens unter besonderer Beachtung individueller Flüchtlings- und Menschenrechte

von Cathleen Laitenberger (Autor:in)
©2023 Dissertation 318 Seiten

Zusammenfassung

Diese Arbeit zieht einen Vergleich des politischen und rechtlichen Rahmens der EU und Australiens zur Steuerung von Fluchtmigration. Problematiken rund um Flucht und Migration sind stets aktuell und global. So sind Boote gefüllt mit Menschen, die auf der Suche nach Schutz gefährliche Routen über das Meer auf sich nehmen nicht nur eine Erscheinung im Mittelmeer, sondern auch Australien erlebt dieses Phänomen. In Diskussionen um die europäische Flüchtlingspolitik wurde hinsichtlich des Umgangs mit Flüchtenden auf das in Australien etablierte System verwiesen und überlegt, ein vergleichbares System in der EU zu implementieren. Die Arbeit geht der Frage nach, ob solche möglichen Mechanismen zur Steuerung von Fluchtmigration auch in der EU implementiert werden könnten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • A. Einführung
  • B. Gang der Arbeit
  • I. Methodik
  • II. Gang der Untersuchung
  • C. Historische Einführung – Fluchtbewegungen und Entwicklung der Flüchtlingspolitik
  • I. Fluchtbewegungen im Lauf der Zeit
  • 1. Flucht als historische sowie globale Problematik
  • 2. Flucht als europäische Problematik
  • 3. Flucht als Problematik in Australien
  • 4. Zwischenfazit
  • II. Entwicklung der Flüchtlingspolitik
  • 1. Entwicklung der globalen Flüchtlingspolitik
  • a. Ad hoc-Maßnahmen zur Bewältigung der Fluchtbewegungen in Folge des Ersten Weltkriegs
  • b. Der UNHCR, die Genfer Flüchtlingskonvention und andere Mechanismen in Folge des Zweiten Weltkriegs
  • c. Neue Ansätze ab Mitte der 1970er Jahre: Dauerhafte Lösungen und ‚complementary protection‘
  • d. Entwicklung von Maßnahmen zur Steuerung und Regulierung von Flüchtlingsbewegungen
  • 2. Entwicklung der Flüchtlingspolitik auf europäischer Ebene
  • a. Entwicklung der Flüchtlingspolitik im Rahmen des Europarates
  • aa. Weiterentwicklung der Maßnahmen des Europarates durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
  • bb. Weitere Maßnahmen des Europarates
  • b. Entwicklung der Flüchtlingspolitik im Rahmen der Europäischen Union
  • aa. Rechtsetzungs- und Politikkompetenz der Europäischen Union in Flüchtlings- und Asylangelegenheiten
  • aaa. Römische Verträge
  • bbb. Vertrag von Maastricht
  • ccc. Vertrag von Amsterdam
  • ddd. Vertrag von Lissabon
  • bb. Politikprogramme der Europäischen Union in Flüchtlings- und Asylangelegenheiten
  • aaa. Das Tampere-Programm 1999
  • bbb. Das Haager Programm 2005
  • ccc. Das Stockholmer Programm 2009
  • ddd. Die Leitlinien von Ypern 2014
  • eee. Die neue Europäische Agenda für Migration
  • fff. Strategische Agenda 2019-2024
  • 3. Entwicklung der Flüchtlingspolitik auf australischer (nationaler) Ebene
  • a. Flüchtlingspolitik in der Ära der ‚White Australia‘-Politik
  • b. Die ersten Boat People – Flüchtlinge des Vietnamkriegs
  • c. Die zweite Welle an Boat People – Flüchtlinge aus Kambodscha
  • d. Der Zeitraum der Jahrtausendwende – Entwicklung der restriktiven Flüchtlingspolitik
  • 4. Zwischenfazit
  • D. Normativer Rahmen der Flüchtlingspolitik
  • I. Die grundlegende Problematik: Schutz des Individuums vs. Schutz der staatlichen Souveränität
  • II. Universelle Regelwerke
  • 1. Die Genfer Flüchtlingskonvention
  • a. Subjektive Rechte in der Genfer Flüchtlingskonvention
  • b. Der territoriale Anwendungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention
  • c. Kein Recht auf Asyl in der Genfer Flüchtlingskonvention
  • d. Kritik an der Genfer Flüchtlingskonvention
  • 2. Schutz durch universelle Menschenrechte
  • 3. Soft Law-Instrumente des universellen Flüchtlingsschutzes – insbesondere der Globale Pakt für Flüchtlinge
  • III. Regelwerke auf europäischer Ebene
  • 1. Regelwerke des Europarates
  • a. Die Europäische Menschenrechtskonvention
  • b. Weitere Übereinkommen des Europarates
  • 2. Regelwerke der Europäischen Union
  • a. Schnittstellen von Unionsrecht und Internationalem Menschenrechtsschutz
  • b. Unionales Primärrecht
  • aa. AEUV
  • bb. EUV
  • cc. EU-Grundrechtecharta
  • c. Unionales Sekundärrecht
  • aa. Regelwerke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
  • bb. Novellierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
  • IV. Regelwerke in Australien
  • 1. Federal Migration Act 1958 und Migration Regulations 1994
  • 2. Keine unmittelbare Bindung Australiens an die Genfer Flüchtlingskonvention und andere internationale Verträge
  • 3. Keine verfassungsrechtlich normierten Grund- und Menschenrechte auf australischer Nationalebene
  • V. Systematische Einordnung der Flüchtlingsregime
  • 1. Einteilung des Völkerrechts in Teilrechtsgebiete
  • 2. Bisherige Ansichten in der Literatur zur Einordnung des Flüchtlingsrechts
  • 3. Das Flüchtlingsrecht als eigenständiges Teilrechtsgebiet
  • a. Abgrenzbarer Lebensbereich des Flüchtlingsrechts
  • b. Eigenständiger Regelungsgehalt des Flüchtlingsrechts
  • c. Eigene Struktur der Genfer Flüchtlingskonvention
  • VI. Zwischenfazit
  • E. Mechanismen
  • I. Personeller Schutzbereich des Flüchtlingsrechts
  • 1. Personeller Schutzbereich des universellen Flüchtlingsrechts
  • a. Die Flüchtlingsdefinition nach der Genfer Flüchtlingskonvention
  • aa. Entstehung der Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention
  • bb. Kritik an der Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention
  • b. Erweiterte Auslegung durch den UNHCR
  • 2. Personeller Schutzbereich des Flüchtlingsrechts der Europäischen Union
  • a. Entwicklung des europäischen Schutzbereichs des internationalen Schutzes
  • b. Ausgestaltung des personellen Schutzbereichs in der Europäischen Union
  • 3. Personeller Schutzbereich des australischen Flüchtlingsrechts
  • a. ‚Reguläre‘ Flüchtlinge gemäß Migration Act 1958
  • aa. Die Flüchtlingsdefinition des Migration Act 1958
  • bb. Der erweiterte australische Schutzbereich
  • b. Unauthorised maritime arrivals gemäß Migration Act 1958
  • 4. Zwischenfazit
  • II. Asyl
  • 1. Allgemeines zu Asyl
  • 2. Asyl in der Europäischen Union
  • a. Grundsätzliches zum Asyl in der Europäischen Union
  • b. Antragstellung auf Schutz in der Europäischen Union
  • c. (Verfahrens-)Vorschriften für den Zeitraum der Antragstellung
  • d. Zuerkennung und Umfang des Schutzstatus in der Europäischen Union
  • e. Ingewahrsamnahme
  • aa. Einschub: Ingewahrsamnahme nach universellem Recht
  • bb. Ingewahrsamnahme nach EU-Recht
  • 3. Asyl in Australien
  • a. Grundlegendes zum Asyl in Australien
  • b. Antragstellung auf Schutz in Australien
  • c. Verfahrensvorschriften für den Zeitraum der Antragstellung
  • d. Zuerkennung und Umfang des Schutzstatus in Australien
  • e. Ingewahrsamnahme
  • 4. Zwischenfazit
  • III. Resettlement-Programme
  • 1. Grundsätzliches zum Resettlement-Programm
  • 2. Resettlement in Australien
  • a. Geschichte des australischen Resettlement
  • b. Resettlement als Teil des australischen humanitären Programms
  • c. Das australische Resettlementverfahren
  • d. Kritik am australischen Resettlement-Programm
  • 3. Resettlement in der Europäischen Union
  • a. EU-spezifische Relocation
  • b. Das Resettlement
  • aa. Ad hoc-Resettlement-Maßnahmen
  • bb. Resettlement-Framework
  • 4. Zwischenfazit
  • F. Vergleich praktischer Problempunkte
  • I. Boat People
  • 1. Australiens Abwehrprogramm
  • a. Ausgliederung australischen Hoheitsgebietes aus der Migrationszone
  • aa. Der Mechanismus
  • bb. Rechtliche Erwägungen – Verstoß gegen den Grundsatz des Non-Refoulement
  • b. Maritime interdiction on sea-Maßnahmen
  • aa. Der Mechanismus
  • bb. Rechtliche Erwägungen – Vereinbarkeit mit internationalem Recht
  • aaa. Vereinbarkeit mit den Regelungen des Seerechts
  • bbb. Vereinbarkeit mit dem Grundsatz des Non-Refoulement
  • ccc. Vereinbarkeit mit dem Verbot der Kollektivausweisung
  • c. Die offshore processing centres
  • aa. Der Mechanismus
  • bb. Rechtliche Erwägungen
  • aaa. Australische Verantwortlichkeit für die Boat People in den offshore processing centres
  • bbb. Verletzung von Verfahrensvorgaben bzw. -vorschriften
  • 2. Europas Abwehrprogramm
  • a. Maritime Einsätze auf dem Mittelmeer und dem Atlantik
  • aa. Der Mechanismus
  • aaa. Nationalstaatliche push back-Operationen vor 2009
  • bbb. FRONTEX-koordinierte maritime Einsätze auf dem Mittelmeer
  • bb. Rechtliche Erwägungen
  • b. Schließung von Häfen
  • aa. Der Mechanismus
  • bb. Rechtliche Erwägungen – Verstoß gegen den Grundsatz des Non-Refoulement und gegen Vorschriften des Seerechts
  • c. Abkommen mit Nachbarstaaten
  • aa. Der Mechanismus
  • bb. Rechtliche Erwägungen – die Legalität der EU-Türkei-Vereinbarung
  • cc. Rechtliche Erwägungen – die Legalität der Abkommen mit Libyen
  • dd. Erwägungen hinsichtlich des Abkommens mit Marokko
  • 3. Zwischenfazit
  • II. Verteilungsprobleme
  • 1. Verteilung der Schutzberechtigten in Australien
  • 2. Verteilung der Schutzberechtigten in der Europäischen Union
  • 3. Zwischenfazit
  • III. Rückführung von nicht schutz- und aufenthaltsberechtigten Personen
  • 1. In Australien
  • 2. In der Europäischen Union
  • 3. Zwischenfazit
  • G. Abschließendes Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Urteilsverzeichnis
  • Verträge und Gesetze

Abkürzungsverzeichnis

Abs.

Absatz

ACT

Australian Capital Territory

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

AEMR

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

a. F.

alte Fassung

Art.

Artikel

AsylG

Asylgesetz

bzw.

beziehungsweise

EAG

Europäische Atomgemeinschaft

EG

Europäische Gemeinschaft

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EMRK

Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention)

EU

Europäische Union

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EU-Grundrechtecharta

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

EUV

Vertrag über die Europäische Union

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

EWR

Europäischer Wirtschaftsraum

FRONTEX

Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache

GEAS

Gemeinsames Europäisches Asylsystem

GFK

Genfer Flüchtlingskonvention 1951

GG

Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

IGH

Internationaler Gerichtshof

IPbpR

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

IPwskR

Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

IRO

International Refugee Organisation

Montanunion

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl

NGO

Non-governmental Organization (Nichtregierungsorganisation)

OSZE

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

PACE

Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Parlamentarische Versammlung des Europarates)

PPV

Permanent Protection Visa

Protokoll 1967

Protokoll über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967

RL

Richtlinie

SAR

International Convention on Maritime Search and Rescue (Internationale Konvention über die Suche auf See und Seenotrettung)

Schengen II

Übereinkommen zur Durchführung des Schengener Abkommen

SOLAS

International Convention for the Safety of Life on Sea (Internationales Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See)

SRSG

Special Representative of the Secretary General on Migration and Refugees (Sonderbeauftragter des Generalsekretärs für Migration und Flüchtlinge)

SRÜ

UN-Seerechtsübereinkommen

TPV

Temporary Protection Visa

UN

United Nations (Vereinte Nationen)

UN-Charta

Charta der Vereinten Nationen

UNHCR

United Nations High Commissioner for Refugees (UN-Hochkommissar für Flüchtlinge)

vgl.

vergleiche

VO

Verordnung

A. Einführung

Der medialen Präsenz der Berichterstattung über Flüchtlinge kann man sich – so scheint es – seit Jahren nicht entziehen. Die Intensität dieser Berichterstattung erfuhr jedoch mit der ‚Corona-Krise‘ eine Zäsur. Seit Februar 2020 stand und steht im Zentrum jeglicher Berichterstattung der Umgang mit der globalen Pandemie. Gleichwohl fanden und finden sich in den Nachrichten Berichte über Flüchtlinge, wenn auch in ihrem Ausmaß nicht vergleichbar mit der Berichterstattungslage vor der weltweiten Gesundheitskrise.

Abgesehen von dieser besonderen Nachrichtenlage der jüngsten Vergangenheit wird regelmäßig über Menschen berichtet, die ihre Heimat auf der Suche nach einem sicheren Leben verlassen. Insbesondere seit dem Bürgerkrieg in Syrien, der im Jahr 2015 begann und nach wie vor anhält, und der damit verbundenen Flucht der Bevölkerung in großer Anzahl erfährt die Problematik von Flucht und Vertreibung in der Europäischen Union (EU) eine besondere mediale, politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit.1 Dabei sind Problematiken rund um Flucht und Migration keine neuen oder regionalen Erscheinungen. Flucht und Migration waren und sind zeitlose und vor allem globale Themen.

In Zeiten erhöhten Aufkommens von Fluchtbewegungen wird der Problematik rund um Fluchtmigration regelmäßig erheblich neue Relevanz beigemessen. Ist im Regelfall die Anzahl der Schutzsuchenden, die ein Land aufsuchen, auf einem Niveau, an welches die bestehenden politischen und rechtlichen Systeme zur Steuerung der Fluchtbewegungen und zur Aufnahme dieser Menschen angepasst sind, so werden diese Systeme in Zeiten plötzlich ansteigender Anzahl an Schutzsuchenden auf ihre Belastbarkeit und Funktionsfähigkeit getestet. Selten halten die bestehenden Systeme einer erhöhten Belastung Stand. Dies zeigte sich zum Beispiel anhand des derzeitig implementierten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Dieses beinhaltet unter anderem mit der Verordnung (EU) Nr. 604/20132 (der sogenannten Dublin III-Verordnung) eine verbindliche Regelung zur Bestimmung der EU-mitgliedstaatlichen Zuständigkeit für die Prüfung von Asylanträgen. Aufgrund dieser Regelung waren Griechenland und Italien für die überwiegende Mehrheit der Schutzanträge zuständig. Die griechischen und italienischen nationalen Systeme zur Aufnahme von Schutzsuchenden waren aufgrund der Vielzahl der Anträge jedoch ausnahmslos überfordert. Die Folge war ein – so von der Presse und den Medien bezeichneter - ‚unregulierter Flüchtlingsstrom‘3 von Schutzsuchenden aus den griechischen und italienischen Staatsgebieten in andere EU-Mitgliedstaaten, der vor allem gesellschaftspolitisch kontroverse Ansichten hervorbrachte. Das bestehende EU-System, insbesondere jedoch die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-Verordnung), wurde kritisch in Frage gestellt und von einzelnen EU-Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, zeitweilig ausgesetzt.

Politiker4 in der EU setzten sich infolgedessen vermehrt mit den bisherigen Mechanismen und den rechtlichen Rahmengestaltungen der EU zur Steuerung von Flüchtlingsströmen auseinander und erklärten zum Ziel, neue Instrumente und Herangehensweisen im Zusammenhang mit dem Umgang von Schutzsuchenden entwickeln zu wollen. Eine tatsächliche Einigung hierzu dürfte jedoch aufgrund stark verschiedener Positionen schwerlich zu finden sein.5

Währenddessen wurden viele Vorschläge zur Novellierung des unionseuropäischen Vorgehens hinsichtlich Fluchtmigration in der Öffentlichkeit diskutiert. So schlug zum Beispiel bereits im Jahr 2016 der damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz vor, die Struktur der australischen ‚Sovereign Borders Solution‘ zur Abwehr von Booten, die Schutzsuchende sowie Migranten in die EU bringen, an der europäischen Mittelmeergrenze umzusetzen.6 Dies war kein neuer bzw. einmaliger Vorschlag; vielmehr wird der Gedanke eines dem australischen System im Umgang mit ‚unregulierten Migranten und Schutzsuchenden‘ vergleichbaren Vorgehens in der EU immer wieder aufgegriffen.7

Im Rahmen der Suche nach neuen Ansätzen zum Umgang mit gesellschaftspolitischen Problematiken wird, wie im Fall der EU und Australiens, häufig das Vorgehen von anderen Staaten adaptiert oder zumindest in seinen Grundzügen herangezogen.8 Vordergründig liegt das Augenmerk des Staates bzw. des Staatenverbundes, der ein fremdes, bereits bestehendes System adaptieren möchte, dabei zunächst auf den politischen Auswirkungen solcher vergleichbaren Ansätze. Erwogen wird, ob die Systeme und ihre Mechanismen im Ursprungsland im Ergebnis funktionieren und wie sie von der dortigen Gesellschaft angenommen werden. Rechtliche Erwägungen hinsichtlich der Systeme und Mechanismen werden regelmäßig als unliebsam und oft als beliebig empfunden und daher nachrangig diskutiert.

Jedoch sind es die rechtlichen Grundlagen solcher vergleichbaren Mechanismen, die bei der Erwägung zur Implementierung der jeweiligen Systeme in das eigene Rechtssystem besonderer Beachtung bedürfen. Dabei ist es nicht ausreichend, lediglich einzelne Maßnahmen, Mechanismen oder Instrumente gegenüberzustellen und rechtlich zu untersuchen. Um eine abschließende, aufschlussreiche Bewertung zu erhalten, müssen die Steuerungssysteme im Gesamten mit ihrem jeweiligen rechtlichen und politischen Rahmen gegenübergestellt werden.

Die Systeme der EU und Australiens zur Steuerung von Fluchtmigration stellen dabei einen besonders interessanten Vergleichsgegenstand dar. Nicht nur deshalb, weil bereits einzelne Elemente des australischen Steuerungssystems im Bereich der Migrations- und Flüchtlingspolitik zur Implementierung in der EU angedacht wurden, sondern auch aufgrund der grundsätzlichen Vergleichbarkeit der EU mit Australien bezüglich der faktischen Rahmenbedingungen, die die Migrations- und Flüchtlingspolitik prägen. Als demokratische, wirtschaftlich starke Regionen9 sind sowohl die EU als auch Australien Ziel vieler Migranten und insbesondere auch Schutzsuchender.10 Zwar unterscheiden sich die geographischen Gegebenheiten der Vergleichsobjekte – namentlich die besondere Insellage Australiens –, dies steht gleichwohl einer vergleichenden Betrachtung der Kontrollinstrumente zur Einwanderungssteuerung nicht abschließend entgegen.

Es stellt sich vielmehr die Frage, ob geschaffene Maßnahmen und Mechanismen des Flüchtlingsrechts und der Flüchtlingspolitik auch im jeweiligen anderen Rechts- und Politikregime der Staaten angewendet werden können.

Besondere Berücksichtigung gilt dabei den universellen,11 regionalen und nationalen Flüchtlings- und Menschenrechten.

Flüchtlings- und Menschenrechte jeder Ebene sind geprägt durch universelle Normen, die regelmäßig von der überwiegenden Mehrzahl an Staaten der internationalen Staatengemeinschaft respektiert und anerkannt werden. In der Ausformung und innerstaatlichen Umsetzung der einzelnen Regelungen, die auf diesen universellen Normen beruhen, ist jedoch jedem Staat ein souveräner Spielraum überlassen, der nur begrenzt durch universelle Rechtsprechung und verbindliche internationale Interpretationen der Normen geschlossen wird. Es ist diese Differenz der jeweils unterschiedlichen Verständnisse und Anwendungen der nationalen Flüchtlings- und Menschenrechte, die eine unterschiedliche Ausprägung und Ausformung der nationalen oder regionalen Steuerungssysteme bedingt, rechtfertigt oder für eine Einbeziehung in ein anderes Rechtssystem unvereinbar macht.

Ziel des Dissertationsvorhabens ist es, diesen Vergleich zwischen den jeweiligen rechtlichen und politischen Rahmen der Steuerungssysteme der EU und Australiens bezüglich Fluchtmigration zu ziehen.

Vorweggenommen soll klargestellt werden, dass die folgende Untersuchung sich ausschließlich auf die Steuerung von Fluchtmigration – in Abgrenzung zur (Arbeits-)Migration - beziehen soll. Das eingegrenzte Untersuchungsfeld ist daher der Umgang mit Schutzantragstellern, die unter die Definition eines ‚Flüchtlings‘ entsprechend dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention, GFK)12 fallen. Es ist zwischen Flucht als Migrationsform, die sich alternativlos aus einer Nötigung zur Abwanderung aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen oder religiösen Gründen ergibt,13 und Migration als quasi freiwillige Wanderung zu unterscheiden. Problematiken bezüglich der Steuerung von freiwilliger Arbeitsmigration, und damit verbundener Wirtschaftsmigration, sollen keinen Bestandteil der Arbeit darstellen. Daneben steht die Einteilung als Binnenflüchtlinge, also jene Schutzsuchende, die das Staatsgebiet ihres Heimatlandes selbst nicht verlassen. Diese Personengruppe fällt jedoch per Definition nicht unter den Flüchtlingsbegriff der GFK und wird in den folgenden Ausführungen daher nicht näher beleuchtet.

Im Folgenden wird im Allgemeinen von Flüchtlingen gesprochen, ohne damit eine Aussage über den rechtlichen Status im Einzelfall zu treffen.14 Obgleich der Begriff des Flüchtlings regelmäßig im sprachlichen Gebrauch als selbstverständlich und als sich selbsterklärend verwendet wird, zeigen sich bei einer näheren Betrachtung allein der sprachlichen Verwendung des Flüchtlingsbegriffes in den verschiedenen Sprachen Unterschiede. Der Begriff Flüchtling sowie das englische Pendant des ‚refugees‘ ist in seinem üblichen sprachlichen Gebrauch nicht abschließend umschrieben und vor allem nicht universell gleichermaßen gültig.15

Dies verdeutlicht sich in verschiedenen sprachlichen Umschreibungen des Begriffs. Der Duden, als zentrales Rechtschreibwörterbuch der deutschen Sprache, der zudem das gesellschaftlich verbreitete Verständnis von deutschen Begriffen erfasst, umschreibt Flüchtling als „Person, die aus politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder ethischen Gründen ihre Heimat eilig verlassen hat oder verlassen musste und daher ihren Besitz zurückgelassen hat.“16 Im deutschen Rechtsverständnis besteht zudem ein Unterschied zwischen den Rechtsbegriffen des Flüchtlings und Asylsuchenden.17 Der Flüchtling wurde bereits als eine Person mit entsprechendem Schutzbedarf nach § 3 AsylG anerkannt, diese Anerkennung des Schutzbedürfnisses steht beim Asylsuchenden noch aus. Asyl im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG ist zudem ein spezifisches Schutzelement für politisch Verfolgte.

Das Oxford English Dictionary ist das umfangreichste Wörterbuch der englischen Sprache und stellt damit das Pendant zum deutschsprachigen Duden dar. Die sprachliche Umschreibung des ‚refugee‘ im Oxford English Dictionary stellt auffallend auf andere Anknüpfungspunkte für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft ab: „A person who has been forced to leave their country in order to escape war, persecution, or natural disaster“.18

Übereinstimmend in diesen sprachlich-gesellschaftlichen Definitionen prägt den Flüchtling der Umstand, seine Heimat verlassen zu müssen und dies nicht aus tatsächlich freiem Entschluss getan zu haben. Allerdings besteht schon hinsichtlich der die Flucht auslösenden Gründe – also namentlich aufgrund von individuellen Anknüpfungspunkten im deutschen Verständnis oder aufgrund alleiniger äußerer Einwirkungen im englischen Verständnis – eine deutliche Abweichung.

Trotz dieser sprachlichen Differenzierungen wird im Folgenden von Flüchtlingen oder Schutzsuchenden gesprochen, ohne damit im Allgemeinen einen rechtlichen Status festzulegen.


1 Vgl. Oltmer, Jochen: Flucht, Vertreibung, Asyl: Gewaltmigration und Aufnahme von Schutzsuchenden im 20. und frühen 21. Jahrhundert, in: Oppelland, Torsten (Hrsg): Das Recht auf Asyl im Spannungsfeld von Menschenrechtsschutz und Migrationsdynamik, 2017, S. 109.

2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung).

Details

Seiten
318
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631908952
ISBN (ePUB)
9783631908969
ISBN (Paperback)
9783631908891
DOI
10.3726/b21199
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Dezember)
Schlagworte
Völkerrecht Flüchtlingsrecht EU Australien Resettlement Flüchtlinge Boat-People
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 318 S.

Biographische Angaben

Cathleen Laitenberger (Autor:in)

Cathleen Laitenberger studierte Rechtswissenschaften an der Universität Passau und der Université François-Rabelais in Tours, Frankreich.

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Titel: Steuerung von Fluchtmigration