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Briefe aus Lagern und Gefängnissen 1939–1945

Ausgewählte Probleme

von Lucyna Sadzikowska (Autor:in)
©2024 Monographie 228 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch widmet sich der Analyse der bisher veröffentlichten Lagerkorrespondenz, sowohl der offiziellen als auch der inoffiziellen, die in Form von Sammelausgaben oder einzelnen Briefen vorliegt. Die Autorin betont dabei die hauptsächlich dokumentarische Bedeutung dieser Korrespondenz, die sich auf den Zeitraum von 1939–1945 erstreckt. Die untersuchten Briefe wurden von polnischen Gefangenen in verschiedenen europäischen Konzentrationslagern verfasst und fungieren primär als wertvolle soziologische Quelle. Mit besonderem Augenmerk auf hermeneutische Methoden hat die Autorin diese Briefe vor allem für Philologen aufbereitet. Das zentrale Anliegen dieser Publikation besteht darin, den Lagergefangenenbrief in seinen theoretischen und praktischen Facetten zu durchleuchten und systematisch zu erfassen. Es scheint, dass der ethische Stellenwert dieser Briefe, der in den Studien zum Erbe des Zweiten Weltkriegs häufig noch unterschätzt wird, von besonderer Bedeutung ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Erster Teil
  • Der Brief. Die Korrespondenz. Eine Forschungsstudie
  • Zweiter Teil
  • Die offizielle Korrespondenz aus Lagern und Gefängnissen
  • Verfasser und Empfänger der offiziellen Korrespondenz
  • Die Thematik
  • Zum Inhalt der Korrespondenz
  • Die Sprache der Korrespondenz
  • In Erwartung des Todes
  • Die Bedeutung der offiziellen Korrespondenz
  • Dritter Teil
  • Die inoffizielle Korrespondenz aus Lagern und Gefängnissen: Kassiber, geheime und linke Briefe
  • Absender und Empfänger der inoffiziellen Korrespondenz
  • Die Themen der Kassiber, geheimen und linken Briefe
  • Die Sprache der Kassiber
  • In Erwartung des Todes
  • Judenvernichtung im Lichte der Kassiber aus dem KZ Majdanek und KZ Auschwitz
  • Informationen und Berichte über die Evakuierung des Lagers und der Häftlinge
  • Die Bedeutung der Kassiber, geheimen und linken Briefe
  • Zusammenfassung
  • Von der inoffiziellen und offiziellen Lagerkorrespondenz zu den literarischen Briefen Gustaw Morcineks
  • Bibliografie

Vorwort

Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist immer besser dokumentiert, unter anderem dank der Entdeckung neuer Quellen und ihrer Bearbeitung. Dies schafft ein Umfeld für innovative Forschungen, etwa über Gepflogenheiten, das Alltagsleben oder über Beziehungen der Menschen z.B. zu Dingen und Tieren, was bisher von der Geschichte ausgeklammert wurde. Ein gesondertes Thema stellt der Einfluss auf diese Forschung der holocaust studies dar, die in den letzten Jahren die langjährigen systematischen Studien über den Zweiten Weltkrieg übertroffen haben.

Die „Zeit der Verachtung“ wird in eingehenden Abhandlungen1, Artikeln, Monografien, Ausstellungen2, biografischen Skizzen ehemaliger KZ-Häftlinge, Beiträgen, Erinnerungen und Berichten3 behandelt. Die Zahl von Quellenzeugnissen, die sich in die zeitgenössischen Trends einfügen, eine so genannte „Lebensgeschichte” zu schreiben, welche sich nicht aus politischen Abkommen und großen Schlachten zusammensetzt, sondern vor allem aus Schicksalen von Menschen, Familien und Kindern – einer Schilderung dessen, was sie vor dem Hintergrund des Weltgeschehens erlebt haben4, nimmt kontinuierlich zu. Man kann immer noch besondere Schriftstücke auffinden und erneut lesen, wie z.B. veröffentlichte Briefe5 von Häftlingen der Konzentrationslager (Auschwitz-Birkenau6, Majdanek, Dachau usw.), die ein äußerst interessantes und bewegendes Bild vermitteln, das auf die Kategorie der Literatur des persönlichen Dokuments verweist. Die Texte sind immer noch lebendig und rufen viele Emotionen hervor. Zugleich beziehen sie sich auf das Konzept der als persönliches Gedächtnis verstandenen Erinnerung, die nicht immer mit offiziellen Daten und geschichtlichen Bilder übereinstimmt.

Die Lektüre und Analyse solcher Quellen wie der offiziellen und inoffiziellen Lagerbriefe7, die eine Art Dokument des Lagerlebens darstellen8, wird unter anderem dank genetischer Kritik9 zu einer notwendigen und möglichen Aufgabe. In persönlichen Dokumenten kann die in den Geisteswissenschaften grundlegende individuelle Perspektive erfasst werden. Die Auseinandersetzung mit den veröffentlichten originalen Lager- und Gefängnisbriefen hängt eng mit der Erforschung des polnischen Kulturerbes zusammen. Daher scheint es, dass heutzutage die Auffindung und Veröffentlichung von Quellen aus privaten Beständen zur ausdrucksstärksten Darstellungsweise der historiografisch-epistolografischen Perspektive der offiziellen und inoffiziellen Lagerbriefe werden sollte, um sie dann mit der individuellen, authentischen Perspektive der von der Gefangenschaft im Lager betroffenen Menschen in Verbindung zu bringen. Konkrete Schicksale polnischer Häftlinge in ihrer menschlichen, tragischen Dimension (Tod durch Erschöpfung, in der Gaskammer usw.) sollten auf neutraler Ebene nahegebracht und geschildert werden. Es besteht kein Zweifel daran, dass die auf die Lagerkorrespondenz bezogene Narration eine aufdringliche Ideologisierung des Themas bzw. die Hervorhebung geltender Interpretationswege vermeidet. Stattdessen kann sie der Friedenserziehung10 (allgemein als „Erziehung zum Frieden“ bekannt) der jungen Generation dienen.

Aus der von mir analysierten, offiziellen und inoffiziellen Lagerkorrespondenz, die bisher in Form von gesammelten oder einzelnen Briefen veröffentlicht wurde, geht das Bild von Häftlingen11 hervor – von Menschen, die unschuldig ins Lager verbracht wurden – die nur dank ihrer unerschütterlichen Hoffnung, den Naziterror zu überstehen, den Lebenswillen nicht aufgaben. Man kann feststellen, dass die Briefe – als Ergebnis eines dynamischen Verhältnisses zwischen der existentiellen und historischen Lage und dem Akt des Schreibens – ein mehrdimensionales Porträt der Häftlinge und der Adressaten ihrer Briefe zum Ausdruck bringen. Die offizielle Lagerkorrespondenz, auch wenn sie ein eklatantes Beispiel für die Einschränkung der freien Meinungsäußerung des Absenders durch die Zensur darstellt, ist voller Herzlichkeit, und die sich verschlechternde Lebenssituation des Häftlings wird kaum erwähnt. Neben den aktuellen, sowohl für das Einzelschicksal der bestimmten Familie, als auch im Hinblick auf eine breitere historische und geschichtliche Perspektive wichtigen Fragen findet sich darin ein Ausdruck der Zustimmung zum Leben, einem Leben im Vorhof der Hölle. Einer solchen Haltung liegen verschiedene Ursachen zugrunde: Verzweiflung, Hoffnung, Glaube, Abstumpfung, Passivität. Maria Iwaszkiewicz merkte im Vorwort zum Band Jarosław Iwaszkiewicz. Listy do córek [Jarosław Iwaszkiewicz. Briefe an die Töchter] an, dass es eine menschliche Sache ist, Illusionen zu haben12. Sie meinte, dass die Korrespondenz ihres Vaters deswegen interessant ist, weil sie eigentlich eine Beschreibung von Illusionen zum Inhalt hat, die später völlig zerronnen sind, von Unternehmungen, die sich im Alltag nicht niedergeschlagen haben13. Das Gleiche trifft auf Briefe zu, die Häftlinge aus Lagern und Gefängnissen an ihre Frauen, Mütter, Schwestern oder Angehörigen schickten. Sie bieten ebenfalls eine bewegende Sammlung von Illusionen eines Gefangenen in der Todesfabrik. Deshalb halte ich es für angemessen und zielführend, die bisher veröffentlichten Briefe der Häftlinge u.a. als sprachliches Zeugnis der Vergangenheit zu präsentieren. In Teoria listu [Die Theorie des Briefes] behauptet Stefania Skwarczyńska, dass ein Brief aus dem Leben „Kräfte schöpfe“ und in seinem Dienst stehe. Die Lagerkorrespondenz lässt eine gegenteilige Feststellung zu: da „schöpfte” das Leben Kräfte aus den Briefen. Viele Gefangene betonten, dass ein Brief von der nächsten Person am allerwichtigsten für sie war: „Liebste, bitte schreibe mir 2 x im Monat. Das ist das Schönste und Wichtigste, was Du für mich tun kannst. (Brief von Franciszek Ogon an seine Frau Maria). Der größte Wert dieser Briefe, die sich zwischen der intimen, häuslichen und teilweise öffentlichen (gemeint ist das Lager) Sphäre bewegen, ergibt sich aus der Tatsache, dass sie in einer relativ vollständigen Form erhalten sind und dass man auf der Grundlage ihres Inhalts eine „Gedankenkarte“ wiederherstellen und den Geisteszustand der Opfer des Faschismus rekonstruieren kann. Darüber hinaus kann man den Versuch unternehmen, alle Anzeichen der Isolierung eines Häftlings von seinen Angehörigen unter Bedingungen, die zu psychischem Verfall und körperlicher Vernichtung führen, zu erkennen. Die Lagerbriefe, welche einen Gebrauchswert haben, sind nicht nur eine Warnung, sondern vor allem ein Zeugnis der Menschenwürde angesichts der Gewalt sowie ein Beweis für die Treue zu seinen Grundsätzen und Gefühlen. Sie bringen die Wahrheit über die aus der Perspektive eines Individuums geschilderte Lagerhölle nahe, erinnern an das Grauen der NS-Zeit, rufen die Fakten jener tragischen Jahre ins Gedächtnis zurück, warnen vor Gefahren, die der Menschheit durch eine (nicht nur nationalsozialistische) Ideologie drohen, bewahren vor dem Vergessen und der Manipulation. Sie können auch inspirieren, öffnen und unscheinbar dabei helfen, sich mit grundlegenden Fragen auseinanderzusetzen. Anna Pawełczyńska stellte fest:

Wenn sich jedoch im Menschen allmählich das tiefe Bedürfnis des Verstehenwollens entwickelt, wenn er dazu fähig ist, sich von seiner kleinen Stabilisierung zu lösen, wenn es ihm gelingt, sich von den gesellschaftlich sanktionierten persönlichen Ambitionen und Egoismen zu befreien, dann nimmt er damit das Risiko eines sehr viel schwereren, aber doch vielleicht reicheren Lebens auf sich. Das Verstehen der letzten Situationen ermöglicht, dem Leben und dem Tod mutiger in die Augen zu blicken und ebenso den Menschen vor der Geschichte zu sehen. Dies zu verstehen gibt die Möglichkeit, kognitiv zu erfassen, daß die Fähigkeit Terror zu verüben und Verbrechen zu begehen sowie die Fähigkeit gegen die Gewalt zu kämpfen die Geschichte der einander nachfolgenden Generationen gestalten. Einzig und allein die psychischen und historischen Phänomene unterscheiden sich, in denen dieser Kampf seinen Ausdruck findet14.

Es ist auch erwähnenswert, dass „lebendige“ Briefe, gefüllt mit Episoden aus dem Alltagsleben und der häuslichen Routine, oft bloße Signale oder – heute kaum noch verständliche – Anspielungen auf Sachen, die dem Empfänger bekannt sind, Berichte und Ankündigungen aus der primären, dieser Form der Kommunikation bereits in den ältesten Zeiten zugeschriebenen Aufgabe resultieren.

Gleichzeitig spiegelt sich in der Korrespondenz eine große Zuneigung und Fürsorge der Schreibenden wider, sowie ihre Sorge um die Nächsten, das Land und die Sprache. Aus den Briefen sticht das Wahre und Schöne heraus.

All das fügt sich meiner Meinung nach zu einer interessanten und zugleich erschütternden epistolografischen Studie zusammen. Die Briefe selbst haben einen wahren historischen Wert, sind nicht nur ein hervorragendes Anschauungsmaterial, sondern auch ein klares Lob der einfachen menschlichen Solidarität, ein deutlicher Ausdruck des Liebesgefühls und eine heftige Anklage gegen das unmenschliche, totalitäre System. Es ist hervorzuheben, dass die gewöhnliche menschliche Einheit und Moral in dem Kampf um Würde, Überleben und das Auftreten gegen die verbrecherischen Taten von großer Bedeutung sind15.

In gewisser Weise ist die Korrespondenz der Gefangenen eine Art Wiedersehen mit ihren Angehörigen, das in vielen Fällen nie wirklich stattgefunden hat. Die Projektion eines Ereignisses aus der Zukunft, ein konkretes Treffen mit der Familie, hat gleichzeitig eine zerstörerische, reinigende und tröstende Kraft. (In seinem Brief vom 14. Mai 1944 schrieb Franciszek Ogon: Ich kann es nicht begreifen, dass ich sie nicht mehr wiedersehen werde, wenn ich eines Tages wiederkomme [Marias verstorbene Mutter – L.S.]). Hier ein längeres Fragment eines Briefes vom 9. Juli 1944, das die Quintessenz des Häftlingsdaseins zu sein scheint:

Warum schreibst Du mir nicht von Deinen Sorgen? Geteiltes Leid ist halbes Leid, oder hast Du kein Vertrauen mehr zu mir? Du und die Kinder – Ihr seid doch das Allerliebste, was ich habe. Das Bewusstsein, dass Du so viele Sorgen hast und ich Dir nicht beistehen kann, ist sehr schwer für mich. Aber ich weiß, dass Du durchhalten wirst, denn nach dem Regen kommt immer der Sonnenschein. Ich lebe auch nur mehr durch die Hoffnung, dass ich einst zu Euch zurückkehren und Dir alles vergelten kann, denn das, was ich von Dir erhalten habe, ist die Güte selbst, die belohnt werden muss.

Es ist bemerkenswert, dass die offiziellen und inoffiziellen Briefe der KZ- Häftlinge einen Einblick in die „erlebte Welt“ der Gedanken, Gefühle und Werte gewähren. Sie enthüllen eine Welt voller Liebe und Treue. Man findet darin Themen, die in der damaligen Wirklichkeit wurzeln: das Streben nach Wahrheit, die Analyse moralischer Normen, das Verständnis von Patriotismus, Ziele des Nationalsozialismus, die Organisation des Familienlebens in Freiheit, das Vorbild eines Bürgers, der immer noch an das Kriegsende und die Heimkehr glaubt. Die Briefe sind Zeugnisse einer schweren Zeit, in welcher der Gefangene manchmal nur stillschweigend seinen Willen, ein Mensch zu bleiben, im Einklang mit seinen persönlichen Werten zu leben, manifestieren konnte.

Und da das Thema der Stille und Sprachlosigkeit angesprochen wurde, sollte man anmerken, dass das Stillschweigen angeblich der angemessenste Ausdruck der Erinnerung ist. Es kann als Verrat gedeutet werden, Dokumente bzw. persönliche Briefe posthum einem breiteren Leserkreis zugänglich zu machen16. Damit werden ihre Autoren unwillkürlich einem Urteil ausgesetzt; man schreibt ihnen irgendwelche Beweggründe zu, interpretiert sie voreilig, ohne zu versuchen, die in einem anderen Kontext und in einer anderen Wirklichkeit verwendeten Worte zu verstehen. Das auf die Enthüllung von „Geheimnissen“ der in Lagern und Gefängnissen Einsitzenden abgezielte Handeln ist aber ganz anders motiviert. Ist es denn akzeptabel, über die „gewöhnlichen ungewöhnlichen” Opfer der Konzentrationslager zu schweigen, welche durch die Hölle gegangen sind, um Zeugnis über die Schreckenszeit abzulegen? Es scheint die Pflicht nachfolgender Generationen zu sein, die Erinnerung an diese Ereignisse zu pflegen, um sie als Mahnung zu bewahren. Die Lektüre der erhaltenen Korrespondenz, von deren Verfassern manchmal nur Briefe als handfeste Beweise für ihre Existenz übrig geblieben sind, ist ein Prozess des imitierenden Hineinwachsens17 oder der Verwurzelung der Zeugen in der Geschichte, in einer breiteren Perspektive. Dadurch wird ihrem Leiden, ihrer Gefangenschaft und schließlich ihrer Existenz ein Sinn verliehen. Es ist nicht zu leugnen, dass biografisches Material und persönliche Dokumente eine wichtige Wissensquelle über einen Menschen, die Zeit, in der er lebt, die Werte, die er schätzt und an denen er sich im Leben orientiert, darstellt.

Die offiziellen und inoffiziellen Briefe von Lagerhäftlingen können nicht als „große“ Literatur eingestuft werden. Die Korrespondenz hat hauptsächlich einen dokumentarischen Wert, was ihre Schönheit und Aussagekraft ausmacht. Und obwohl sie als Informationsquelle gewisse Grenzen hat, liefert sie unwiderlegbare Beweise, z.B. für Gedanken an den Ehepartner, die Eltern, Kinder, Geschwister, Verwandte und Freunde. Der direkte und indirekte Eingriff der Geschichte hat den informativen Wert der Korrespondenz von KZ-Häftlingen als eines persönlichen Dokuments eingeschränkt.

Wahrscheinlich fragen sich viele Leser, ob es noch möglich ist, etwas Neues über die KZ-Gefangenschaft zu schreiben. Ich bin zutiefst überzeugt, dass es notwendig ist, das Thema immer wieder aufzugreifen, um auf eine unaufdringliche Art und Weise zu warnen, zu belehren und zum Nachdenken über die gegenwärtigen Bedrohungen der Zivilisation anzuregen. Während alle statistischen Daten über die Organisation der Konzentrationslager, des Lebens usw. bereits ausführlich und sorgfältig analysiert und beschrieben zu sein scheinen, und literarische Erinnerungen18 – identifiziert und veröffentlicht, scheint die Epistolografie der KZ-Häftlinge noch immer unvollständig und unerforscht zu sein. Dabei gemeint sind zahlreiche Briefsammlungen, die in Privat- bzw. Familienarchiven aufbewahrt werden. Dank der bisher veröffentlichten Korrespondenz19 ehemaliger Häftlinge ist ein breites Wissen über die inneren und individuellen Mechanismen, die es ihnen ermöglichten, die Hölle des Konzentrationslagers zu überleben, verfügbar. Vielleicht existieren noch andere Briefe von Häftlingen aus der Todesfabrik, die darauf warten, aufgefunden und veröffentlicht zu werden, was den Zugang zu neuen, vom historischen Kontext wichtigen Informationen gewähren würde. Und obwohl es scheinen mag, dass der heutige Wissensstand über die Todesfabriken vollständig ist, muss betont werden, dass eine genaue Kenntnis der Tatsachen keineswegs mit einem echten emotionalen oder gar intellektuellen Engagement der modernen Leser gleichzusetzen ist. Interessant und sehr begehrt sind Dokumente, die in der KZ-Gefangenschaft entstanden sind, solche, an denen die Zeitperspektive keine Spuren hinterlassen hat (sie wurden „inmitten der Geschehnisse“, zur damaligen Zeit und unter damaligen Bedingungen verfasst). Die nach der Befreiung der Lager erfassten und aufgezeichneten Aussagen der Häftlinge erschöpfen das Thema nicht – die Fragen mehren sich und die Wissbegier wird immer neu geweckt. Man kann davon ausgehen, dass die in der Gefangenschaft entstandenen Briefe – im Gegensatz zu Erinnerungen20 – von unschätzbarem Wert sind, weil sie authentische Mittel zur Bewältigung der Wirklichkeit durch Zeugen der Unterdrückung darstellen. Darin wurden – je nach Möglichkeit, in einigen Fällen21 mittels verschlüsselter Nachrichten, um die Lagerzensur zu umgehen – der Werteverfall, aber auch mutige und heldenhafte Taten wahrheitsgetreu festgehalten. Die Briefe belegen die Wahrheit und haben eine informative Funktion. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass sie, wenn auch nur in begrenztem Maße, den Gefangenen geholfen haben, mit Worten gegen Unwahrheit, Grausamkeit und das Böse zu kämpfen. Die bisher bearbeitete Korrespondenz stellt – quasi nebenbei – eine polyfone Lagerepistolografie dar, vor allem aber sagt sie viel über den psychischen Zustand der Schreibenden, ihre Wünsche, Gefühle, das Leben, das sie „in der Freiheit“ zurückließen, über ihr tragisches Schicksal und die gewöhnliche Ungewöhnlichkeit ihrer Nächsten.

Es ist nicht einfach, über die offiziellen und inoffiziellen Briefe der Inhaftierten zu schreiben, denn die Sammlungen unterscheiden sich in mancher Hinsicht von anderen Dokumenten dieser Art. Die Korrespondenz der Häftlinge regt zum Nachdenken an, bewegt, quält, wird dem Leser lästig oder belegt die Wahrheit, welche immanent, offensichtlich, ja „hautnah“ ist, und zwar dass sich KZ-Häftlinge mit jeder Minute ihres Lebens gleichsam dem Tod nähern22. Die Briefe sind authentisch, selbst in Bezug auf die schwierigsten Fragen, die mit dem Ableben und Vergehen der Zeit verbunden sind (eingefangen im Rhythmus der Jahreszeiten, Feiertage, Geburten weiterer Kinder). Ein Kommentar scheint überflüssig zu sein. In jedem Fall sollte man sich bei der Lektüre der Briefsammlungen, die um die menschliche Angelegenheiten kreisten, bewusst auf die Wortwahl konzentrieren. Dies verlangt von dem Autor und dem Leser Aufmerksamkeit und Feinfühligkeit, also den tiefsten Respekt vor dem Leben. Diese Art des persönlichen und in der damaligen Zeit einzig verfügbaren Tagebuchs, das ein überwältigendes Bedürfnis aufzuzeichnen und zu kommunizieren offenbart, ähnelt einem Seismografen, der die affirmative, auf die Markierung seiner Präsenz in der Welt ausgerichtete Haltung des Absenders zum Ausdruck bringt. Der Autor, oft ein junger gebildeter Pole, der in ein Konzentrationslager eingewiesen wird, unterhält mit unglaublicher Ausdauer während der gesamten Gefangenschaft einen Briefwechsel mit seinen Nächsten. In den Briefen erkundigt er sich nach dem Geschehen in der Welt, aus der er brutal herausgerissen wurde, und bedauert insbesondere die Unmöglichkeit, am Leben seiner Kinder, Eltern, Geschwister und Landsleute teilzuhaben.

Tymon Terlecki stellte fest, dass der Tod das Aufzwingen einer unwiderruflichen, unüberwindbaren, endgültigen Distanz bedeutet – dies könnte als eine seiner Definitionen gelten23. Der Tod von Häftlingen in der Einsamkeit des Lagers kann eine solche Distanz aufzwingen. Es scheint jedoch, dass die Korrespondenz der Gefangenen diese Distanz zu überbrücken vermag, denn sie ist ein Beweis dafür, dass der hinter Stacheldraht verbrachte Lebensabschnitt – manchmal die letzte Phase des Daseins – eine wichtige, bittere, nüchterne und authentische Lektion ist, welche die Leser in Erstaunen versetzen kann. Außerdem kann die Lektüre der Briefe verschiedene Aspekte im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg näher bringen, Unkenntnis abbauen und die Leser so eng wie möglich mit dem Autor verbinden, da sie den Absender indirekt in damalige Gegebenheiten, d.h. in das soziale, kulturelle, wirtschaftliche und politische Umfeld einbindet und persönliche Dinge berührt. Deswegen ist das eine äußerst wichtige Lektion für den heutigen Leser.

Details

Seiten
228
Jahr
2024
ISBN (PDF)
9783631914878
ISBN (ePUB)
9783631914885
ISBN (Hardcover)
9783631914496
DOI
10.3726/b21746
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (Februar)
Schlagworte
Konzentrationslager Gefängnisse offizielle inoffizielle Korrespondenz Kassiber geheime und linke Briefe
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2024. 228 S.

Biographische Angaben

Lucyna Sadzikowska (Autor:in)

Lucyna Sadzikowska ist Polonistin und Literaturprofessorin an der Schlesischen Universität in Katowice, Polen. Sie forscht auf den Gebieten der persönlichen Dokumentationsliteratur, der Buchwissenschaft, der Werke oberschlesischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen und der Literatur des Zweiten Weltkriegs.

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