Das Fragment in der Kinder- und Jugendliteratur
Am Beispiel diaristischer Texte
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Title
- Copyright
- About the author
- About the book
- This eBook can be cited
- Inhaltsverzeichnis
- Fragmentierung eines Tagebuchs
- Einleitung: Der Blick zurück und nach vorn
- Das Fragment als Forschungsgegenstand
- Definitionen
- Historie des Fragments
- Forschungsstand und Typologisierung
- Eingrenzung des Forschungsgegenstandes
- Forschungsmethodik und -fragen
- Diaristische Fragmente
- Diaristische Aufzeichnungen und das Tagebuch
- Zeit und Ich im Tagebuch
- Die Funktionen des Tagebuchs
- Tagebuch und Fragment
- Einordnung der ausgewählten Texte im Genre Tagebuch
- Diaristischer Fragmentarismus und konstruierte Identitäten
- Entstehungs- und überlieferungsgeschichtliches Fragment: Die Tagebücher der Anne Frank
- Eine Begegnung mit dem Original
- Biographische Hintergründe, Objektbiographie und Inhaltsübersicht
- Privates Dokument oder öffentliche Literatur
- Ein entstehungsgeschichtliches Fragment
- Ein überlieferungsgeschichtliches Fragment
- Materialitätsanalyse
- Textanalyse – Fragmentierung auf personaler, sozialer und politischer Ebene
- Funktionen der Tagebücher von Anne Frank
- Das Fragment als ambivalentes Artefakt
- Die Fragment-Fiktion: Davide Morosinottos Verloren in Eis und Schnee
- Biographische Hintergründe und Überblick über das Werk
- Ein Buch aus vielen Händen
- Die paratextuelle und die materielle Dimension
- Charakterisierung des Romans
- Das fragmentierte Objekt als Motiv und erste Hinweise auf eine Fragment-Fiktion
- Der Roman als Fragment-Fiktion
- Fragment-Fiktion und Heldengeschichte
- Der fragmentarische Stil: Nils Mohls An die, die wir nicht werden wollen
- Biographische Hintergründe und Objektbiographie
- Die paratextuelle und die materielle Dimension
- Charakterisierung von An die, die wir nicht werden wollen
- Hinweise auf einen fragmentarischen Stil
- Literarische Selbstzuschreibung: „Fragmente meiner Autobiografie als Seefahrer“
- Fragment und fraktale Identität
- Funktionen des Fragmentarischen in der Kinder- und Jugendliteratur – Resümee und Ausblick
- Identitätskonstruktion und Fragmentierung
- Fragment und Erinnerungskultur
- Das Fragment aus der Zukunft
- Forschungsausblick
- 9. Literatur- und Abbildungsverzeichnis
1. Fragmentierung eines Tagebuchs
Francesco Marzano1 sitzt am 30. Juni 2023 auf einem Barhocker im Folkwang Museum in Essen. Er liest auf Italienisch aus einem seiner Tagebücher vor. Immer wenn er eine Seite beendet hat, reißt er diese aus dem Tagebuch heraus, zerknüllt das Blatt und wirft es zu Boden. Er ist Teil einer Ausstellung unter dem Titel 54 Hours Performances, bei der Studierende die Ergebnisse ihrer Arbeit aus einem Workshop der Künstlerin Marina Abramović vorstellen. In einem kommentierenden Text zu dem Beitrag von Marzano ist zu lesen:
Ich bin von Erinnerungen besessen. Permanent dokumentiere ich Erlebnisse und sammle Materialien, um meine Erinnerungen nicht entfliehen zu lassen. Ich hänge an der Vergangenheit fest und das hindert mich daran, den gegenwärtigen Moment auszuleben. Um ein neues Kapitel aufzuschlagen, lese ich alle meine Tagebücher der letzten zehn Jahre laut vor, die ich seit dem Schreiben nicht mehr gelesen habe. Ich zerreiße sie Seite für Seite und zerknülle sie. Auf ihnen stehen meine persönlichsten Sehnsüchte und Ängste geschrieben, aber auch banale Szenen des alltäglichen Lebens. Sie werden ein letztes Mal heraufbeschworen. (Marzano 2023)
Er nennt seine Performance Tabula Rasa. Diary Pieces.
Als Museumsbesucherin spüre ich die Ambivalenz dieses Aktes der Zerstörung, in dem zugleich der Blick zurück und der Blick nach vorn eingefangen ist. Am Ende des Museumstages liegen auf der einen Seite des Barhockers die zerknüllten Seiten und die leeren Tagebuch-Umschläge auf dem Boden verstreut. Auf der anderen Seite des Hockers harren vierzehn weitere Hefte oder Bücher des Leseaktes und der anschließenden Fragmentierung, denn die Performance wird noch weitere acht Tage fortgesetzt werden. In der Gegenwart des Lese-Momentes erfährt das Tagebuch eine Transformation: Es wird Klang und Teil einer Kommunikation zwischen Marzano und den auf einer Bank ausharrenden Besucher:innen. Durch das mir nur in einzelnen Wörtern verständliche Italienisch und die auf Englisch eingeblendeten, computergenerierten Untertitel entsteht für mich ein Verfremdungseffekt. Meine Wahrnehmung des Originals ist angesichts der sprachlichen Hürde nur bruchstückhaft. Ich begreife, dass Marzano von seiner Familie, von Treffen mit Freund:innen und dem gemeinsamen Anschauen von Filmen erzählt. Ich nehme also einen Ausschnitt aus seinen Erinnerungen auf und trage sie mit mir aus dem Museum hinaus. Es bleibt auch eine Erinnerungsspur an den Klang der Wörter und das optische Bild von Marzano, der ganz in Schwarz gekleidet ist. Ob dieser Kleidungsstil existentialistisch oder als Ausdruck der Trauer um seine Tagebücher zu deuten ist, bleibt offen.
Hier wird ein absichtlicher Fragmentierungsvorgang als Auseinandersetzung mit einer individuellen Lebensproblematik ausgeführt und zugleich als Angebot zum Wahrnehmen, Reflektieren, Kommunizieren und Erinnern gemacht. Die Performance zeigt das Tagebuch als Hort der Erinnerungen, die losgelassen werden müssen. Das Loslassen ist allerdings ein in die Zukunft gewandtes Projekt, um sich auf die Gegenwart neu einlassen zu können. So wird der Fragmentierungsprozess des Tagebuchs selbst zu einem Moment einer neuen bewussten Identitätskonstruktion. Zugleich entsteht in den Museumsbesucher:innen, die sich auf die Performance einlassen, eine eigene neue Erinnerungsspur.
Meine Begegnung mit dieser Performance stand am Ende eines zweijährigen Forschungsprojektes über das Fragment und Fragmentierungsprozesse. Es war für mich also ein glücklicher Zufall. Marzanos Performance berührte noch einmal die unterschiedlichen Aspekte, die in meinem Schreibprozess ins Zentrum gerückt waren: Reflexionen über den Zusammenhang von Fragmentierungsprozessen und Tagebuch, Erinnerung sowie das Konstruieren von Identität. Das Ergebnis lege ich nun in diesem Buch vor.
1 Geboren 1992 in Bari.
2. Einleitung: Der Blick zurück und nach vorn
Fragmentierungserfahrungen sind im menschlichen Leben allgegenwärtig: das fehlende Puzzleteil, das verblassende Polaroid-Foto, die bröckelnde Hausfassade, die öden Senken, die der Braunkohletagebau hinterlässt, oder die Schneise der Holzfäller, die den Regenwald zerstückelt. Mal ist es der langsam zersetzende Zahn der Zeit, mal ein Unfall oder Zufall, oftmals sind es die Menschen selbst, die Fragmentierungsprozesse durch zerstörerische oder kriegerische Handlungen bewirken. Das Fragmentarische hat aber auch eine andere Seite, die aufscheint, wenn wir eine Burgruine sehen oder die Überreste eines antiken Mosaiks. Es löst Gedanken darüber aus, wie die Burg oder das Mosaik aussahen, bevor sie zerfielen, wie der in Bruchstücken überlieferte Text wohl fortgesetzt werden sollte oder werden könnte. Es ist die ambivalente Anmutung des Fragments, das einerseits Trauer über die Fragilität der Existenz und andererseits eine kreative Spannung, einen Schaffens- und Erfindungsdrang auslösen kann.
Fragmentierung ist eine grundlegende Erfahrung allen Lebens, insofern sollte die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen ein lebenslanger Prozess sein. So liegt der Gedanke nahe, dies müsse sich entsprechend auch in der Kinder- und Jugendliteratur niederschlagen – und zwar nicht nur auf einer thematischen Ebene, also in der Behandlung von naheliegenden Themen wie Krieg oder Tod, sondern ebenso in materieller und formal-ästhetischer Qualität. Dies ist die Hypothese, auf der die vorliegende Studie basiert. Sie kann an zahlreiche literaturwissenschaftliche Beiträge anknüpfen, die sich mit dem Fragment in der Literatur auseinandergesetzt haben.
Einer der ersten Schritte dieser Untersuchung bestand darin, nach Beispielen in der Kinder- und Jugendliteratur zu fahnden, die selbst Fragmente sind, sich als Fragment bezeichnen oder das Fragment zu einem zentralen Motiv machen. Hinweise auf fragmentarisch überlieferte Beispiele der frühen Kinder- und Jugendliteratur finden sich im Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur von 1570–1750 (vgl. Brüggemann 1991: 1615). Auch gibt es Texte, die die Bezeichnung „Fragment“ schon im Titel tragen. Hier wären Friedrich Spachs Fragmente aus der Brieftasche eines Weltbürgers zu nennen, eine Publikation Für Jünglinge, die er 1791 veröffentlichte (vgl. Brüggemann 1982: 1532). Darin enthalten sind Exzerpte aus Texten berühmter Männer wie Immanuel Kant, Christoph Martin Wieland, Christian Fürchtegott Gellert und Heinrich von Kleist. Heute würden diese Texte wohl eher als Auszüge denn als Fragmente bezeichnet werden. Exempel für fragmentarische kinder- und jugendliterarische Texte aus jüngerer Zeit, die aufgrund des Todes der Schreibenden nicht beendet wurden, sind Michael Endes Aufzeichnungen zu Rodrigo Raubein und Knirps, sein Knappe (2019) oder Siobhan Dowds unvollendetes Skript zu Sieben Minuten nach Mitternacht (2011).2 Schon diese ersten Beispiele verweisen auf sehr unterschiedliche Verwendungen des Fragment-Begriffs. Es ist nicht nur das teilweise verloren gegangene oder zerstörte Artefakt, sondern auch das nicht beendete Werk. Typologisch wird hier das überlieferungsgeschichtliche von dem entstehungsgeschichtlichen Fragment unterschieden. Während das eine im Prozess der Überlieferung fragmentiert wurde, konnte das andere nicht vollendet werden. Bei Spach (1791, s. o.) wiederum bezeichnet das Fragment eine Editionspraxis, er verwendet den Begriff für Textauszüge. Ein weiterer Typus des Fragments ist das konzeptionelle Fragment, also Artefakte, bei denen der Fragment-Status bewusst herbeigeführt oder simuliert wurde.
Die unterschiedlichen Typen des Fragments sollen auch in der vorliegenden Untersuchung abgebildet werden, wobei Fragmentierung als Editionspraxis nur am Rande eine Rolle spielen wird. Ausgewählt wurden drei Exempel der Kinder- und Jugendliteratur: Die Tagebücher der Anne Frank (1942–1944), die sowohl entstehungs- also auch überlieferungsgeschichtlich fragmentiert wurden. Als Beispiele für das konzeptionelle Fragment dienen Verloren in Eis und Schnee (2018), ein Jugendroman von Davide Morosinotto, in dem er die Fiktion fragmentarisch überlieferter Texte entwickelt, und Nils Mohls Buch An die, die wir nicht werden wollen (2022), in dem er das Fragmentarische zum stilistischen Prinzip erhebt. Alle drei Beispiele tragen diaristische Züge. Hierdurch wurde nicht nur die Vergleichsmöglichkeit verbessert, es reduziert auch die theoretischen Erörterungen zu den zu betrachtenden Genres auf ein überschaubares Maß und ermöglicht eine stärkere Kohärenz in der Darstellung. Mit der Entscheidung für diaristische Texte rückte eine Forschungsperspektive in den Blick, die sich mit dem kulturanthropologischen Verständnis des Fragments verbinden lässt: Das Tagebuch ist in der Moderne ein Ort der Selbst-Suche (vgl. Runschke 2020: 37 f.), insbesondere das Jugend-Tagebuch – gleich ob faktual oder fiktional – dient der Identitätskonstruktion. Wird diese Funktion unter dem Fokus von Fragmentierungsprozessen betrachtet, ergibt sich ein Spannungsfeld, das gegebenenfalls neue Perspektiven für die Kinder- und Jugendliteratur eröffnet. Eine erste Folgerung wäre etwa, dass diaristische Fragmente vermutlich die Persönlichkeitsbildung als ein nicht abschließbares Projekt darstellen, sondern einen von Brüchen und Abbrüchen gezeichneten Prozess zeigen. Die Bildungsfunktion solcher Beispiele läge eher in der Entwicklung von Ambiguitätstoleranz als in der Konstruktion einer festen Vorstellung von sich selbst.
Details
- Seiten
- 214
- Erscheinungsjahr
- 2024
- ISBN (PDF)
- 9783631919644
- ISBN (ePUB)
- 9783631919651
- ISBN (Hardcover)
- 9783631919637
- DOI
- 10.3726/b21882
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2024 (August)
- Schlagworte
- Fragment Russland Niederlande Zweiter Weltkrieg Holocaust Materialitätsforschung Materialität diaristisch Narratologie Fragmentierung Tagebuch Kinderliteratur Jugendliteratur Anne Frank Davide Morosinotto Nils Mohl Identität
- Erschienen
- Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 214 S., 22 farb. Abb., 4 s/w Abb.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG