Strafverfahren vor dem estnischen Landgericht
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- § 1. Grundsätze des allgemeinen Gerichtsverfahrens
- 1. Das Prinzip des adversarischen Hauptverfahrens
- 2. Beweiswürdigung
- 3. Das Recht, bei der Verhandlung seines Falles anwesend zu sein
- 4. Grundsatz des fairen und gerechten Verfahrens
- 5. Grundsatz der Offenheit der Verhandlung
- § 2. Gerichtliche Vorverfahren in allgemeinen Verfahren auf der Grundlage von Entscheidungen des Strafsenats des Staatsgerichtshofs
- § 3. Allgemeine Bedingungen für die Verhandlung im allgemeinen Verfahren
- 1. Leitung und Ordnung der Hauptverhandlung (StVGB § 266)
- 2. Maßnahmen gegen eine Person, die gegen die Verfahrensregeln der Verhandlung verstößt (§ 267 StVGB).
- 3. Grenzen des Verfahrens auf der Grundlage der Beschlüsse des Strafsenats des Staatsgerichtshofs (§ 268 StVGB)
- 4. Vollständigkeit der Verhandlung einer Strafsache im allgemeinen Verfahren (§ 2681 StVGB)
- 5. Teilnahme des Angeklagten an der Verhandlung (§ 269 StVGB)
- 6. Anwesenheit des Staatsanwalts und des Verteidigers bei der Verhandlung (§ 270 StVGB)
- 7. Verhandlung ohne einen Zeugen, ein Opfer, einen Sachverständigen oder einen Gutachter (§ 271 StVGB)
- 8. Vertagung der Verhandlung (§ 273 StVGB)
- 9. Einstellung des Strafverfahrens in der Verhandlung (§ 274 StVGB)
- 10. Antrag auf Beschleunigung des Verfahrens (§ 2741 StVG)
- 11. Beendigung des Strafverfahrens in der Verhandlung wegen Ablaufs einer angemessenen Frist (§ 2742 StVGB)
- 12. Festsetzung eines Freiheitsentzugs (§ 275 StVGB)
- 13. Hinterlegung von Aussagen nach Übermittlung der Anklageschrift an das Gericht (§ 2762 StVGB)
- 14. Vorbereitung auf das Kreuzverhör (gemäß § 2763 StVGB)
- § 4. Feststellung der Identität des Beschuldigten und Aufklärung über seine Rechte und Pflichten während der Verhandlung (§ 279 StVGB)
- § 5. Gerichtliche Untersuchung
- 1. Beginn der gerichtlichen Untersuchung (§ 285 StVGB)
- 2. Anordnung der Beweisaufnahme (§ 286 StVGB)
- 3. Allgemeine Voraussetzungen für die Zulassung von Beweismitteln (§ 2861 StVG)
- 4. Zulässigkeit von Aussagen, die bei einem früheren Kreuzverhör in derselben oder einer anderen Strafsache gemacht wurden (§ 2862 StVGB).
- 5. Vernehmung von Zeugen (§ 287 StVGB)
- 6. Durchführung der Vernehmung (§ 2871 StVGB)
- 7. Kreuzverhör (§ 288 StVGB)
- 8. Suggestivfragen (§ 2881 StVGB)
- 9. Rechte des Opfers, eines zivilrechtlich Beklagten, Dritter und des Angeklagten im Kreuzverhör (§ 2882 StVGB)
- 10. Überprüfung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen (§ 289 StVGB)
- 11. Frühere Aussagen eines Zeugen als Beweismittel vor Gericht im Falle eines Kreuzverhörs (§ 2891 StVGB)
- 12. Mögliches Problem der Beweiskraft von hinterlegten Aussagen
- 13. Besondere Regeln für die Vernehmung eines minderjährigen Zeugen (§ 290 StVGB)
- 14. Besonderheiten bei der Aussage eines minderjährigen Zeugen im Ermittlungsverfahren (§ 70, § 2901 StVGB)
- 15. Frühere Zeugenaussagen vor Gericht ohne die Möglichkeit eines Kreuzverhörs (§§ 291 und 294 StVGB)
- 16. Antrag auf erneute Vernehmung eines Zeugen im Rahmen einer gerichtlichen Untersuchung
- 17. Vernehmung eines Sachverständigen (§ 2921 StVGB)
- 18. Vernehmung des Angeklagten (§ 293 StVGB)
- 19. Sachverständigenbeweis vor Gericht (§ 295 StVGB)
- 20. Vorlage einer Aufzeichnung, eines Beweises oder eines Dokuments als Beweismittel (§ 296 StVGB).
- 21. Erhebung zusätzlicher Beweise im Zuge einer gerichtlichen Untersuchung (§ 297 StVGB)
- § 6. Prozessführung und letztes Wort des Beschuldigten
- 1. Ablauf der Hauptverhandlung (§ 299 StVGB)
- 2. Inhalt der Hauptverhandlung (§ 300 StVGB)
- 3. Letztes Wort des Angeklagten (§ 303 StVGB)
- § 7. Urteil auf der Grundlage der Entscheidungen des Strafsenats des Staatsgerichtshofs
- § 8. Abspracheverfahren
- 1. Grundlage für die Anwendung des Abspracheverfahrens
- 2. Von der Staatsanwaltschaft eingeleitetes Abspracheverfahren (§ 240 StVGB)
- 3. Einleitung des Abspracheverfahrens auf Antrag der verdächtigen oder beschuldigten Person (§ 242 StVGB)
- 4. Protokoll über die Zustimmung der zivilrechtlich Beklagten und Dritter zur Anwendung des Abspracheverfahrens (§ 243 StVGB)
- 5. Verhandlung des Abspracheverfahrens (§ 244 StVGB)
- 6. Übergabe zur Hauptverhandlung im Abspracheverfahren (§ 2451 StVGB)
- 7. Teilnehmer an der Verhandlung (§ 246 StVGB)
- 8. Anhörung in einem Abspracheverfahren (§ 247 StVGB)
- 9. Urteile in einem Abspracheverfahren (§ 248 StVGB)
- 10. Beginn des Abspracheverfahrens bei der Gerichtsverhandlung (§ 250 StVGB)
- § 9. Abgekürztes Verfahren
- 1. Grundlage für die Anwendung des abgekürzten Verfahrens (§ 233 StVGB)
- 2. Antrag auf Anwendung des abgekürzten Verfahrens (§ 234 StVGB)
- 3. Übergabe zur Hauptverhandlung im abgekürzten Verfahren (§ 2351 StVGB)
- 4. Teilnehmer an der Verhandlung (§ 236 StVGB)
- 5. Gerichtliche Untersuchung im abgekürzten Verfahren (§ 237 StVGB)
- 6. Einleitung des abgekürzten Verfahrens im gerichtlichen Verfahren (§ 2371 StVGB)
- 7. Urteil in einem abgekürzten Verfahren (§ 238 StVGB)
- § 10. Strafbefehlsverfahren
- 1. Gründe für die Anwendung des Strafbefehlsverfahrens (§ 251 StVGB)
- 2. Der Hauptteil der Anklageschrift im Strafbefehlsverfahren (§ 252 StVGB)
- 3. Gerichtsbeschlüsse in einem Strafbefehlsverfahren (§ 253 StVGB)
- 4. Urteil in einem Strafbefehlsverfahren (§ 254 StVGB)
- 5. Rechtsbehelf gegen ein im Strafbefehlsverfahren ergangenes Urteil und Verhandlung im ordentlichen Verfahren (§ 255 StVGB)
- § 11. Beschleunigtes Verfahren
- 1. Gründe für die Anwendung des beschleunigten Verfahrens (§ 2561 StVGB)
- 2. Protokoll über das beschleunigte Verfahren und Anklageschrift im beschleunigten Verfahren (§ 2562 StVGB)
- 3. Gerichtsverfahren im beschleunigten Verfahren (§ 2564 StVGB)
- 4. Gerichtsbeschluss im beschleunigten Verfahren (§ 2565 StVGB)
- Literaturverzeichnis
§ 1. Grundsätze des allgemeinen Gerichtsverfahrens
1. Das Prinzip des adversarischen Hauptverfahrens
Im Laufe der Reform des Strafverfahrens hat sich der Gesetzgeber dafür entscheiden, das Hauptverfahren als ein adversarisches Verfahren auszugestalten. Er erhoffte sich hierbei hauptsächlich eine Steigerung der Verfahrenseffizienz8. Aus dem Erläuterungsschreiben zum Entwurf des StVGBs 594SE geht hervor, dass aus diesem Grund der aktive Einsatz der Verfahrensbeteiligten für wichtig gehalten wurde, d. h. dass der Staatsanwalt anklagt, der Verteidiger verteidigt und das Gericht aufgrund der von diesen Verfahrensbeteiligten vorgelegten Beweismitteln die Entscheidung in der Strafsache fällt9. Bei der Abfassung des Gesetzbuchs wurde viel Sorgfalt auf die Gewährleistung der verfahrensbezogenen Neutralität des Richters bzw. Auf die Absicherung des Prinzips verwendet, wonach der Richter die Entscheidung lediglich aufgrund der im Hauptverfahren dargelegten Beweismittel fällt10. Allerdings hat man sich nicht für das rein adversarische Hauptverfahren entschieden11. Bei der Erarbeitung des Entwurfs zum StVGB 594SE diente im Hintergrund der italienische Strafprozess als Vorbild12.
In § 14 des estnischen Strafverfahrensgesetzbuches (StVGB) ist der Grundsatz des adversarischen Verfahrens verankert13. Nach § 14 Abs. 1 werden die Aufgaben der Anklage und der Verteidigung sowie die Aufgaben des Strafverfahrens von verschiedenen Verfahrensbeteiligten wahrgenommen. Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ergibt sich, dass eine klare Aufgabenteilung zwischen den verschiedenen Verfahrensbeteiligten im gerichtlichen Verfahren von grundlegender Bedeutung ist. Die genaueren Grenzen zwischen den verschiedenen Funktionen hängen weitgehend von dem genauen Inhalt der einen oder anderen Funktion und von den Zuständigkeiten der einen oder anderen Funktion ab. Es sei darauf hingewiesen, dass in Gerichtsverfahren, die auf dem Untersuchungsgrundsatz beruhen, das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung bestimmt. Im adversarischen Verfahren ist die Beweisaufnahme und -führung im Wesentlichen Sache der Parteien. Der Strafsenat des Staatsgerichtshofs hat klargestellt, dass im Gegensatz zu Strafverfahren, die auf dem Untersuchungsgrundsatz beruhen, im adversarischen Verfahren die Staatsanwaltschaft für die Anklageerhebung und die Beweisführung zur Unterstützung der Anklage zuständig ist. Das Gericht ist ein unparteiischer Richter, dessen Aufgabe in erster Linie darin besteht, die Einhaltung der Beweisregeln in der Verhandlung zu gewährleisten, die erhobenen Beweise zu bewerten und darüber zu entscheiden (RKKKo 31.01.2014, 3-1-1-7-14, Ziff. 11.1; RKKKo 3-1-1-91-07, Ziff. 6.1).14
Die Hauptaufgabe des Gerichts15 in estnischen Strafverfahren besteht darin, über Strafsachen zu entscheiden. Das Gericht hat keine staatsanwaltschaftliche Funktion. Nach § 14 Abs. 2 des StVGB entbindet der Verzicht auf eine Anklage das Gericht von der Verpflichtung zur Fortsetzung des Verfahrens. Wird die Anklage mit der Begründung fallen gelassen, dass das Verhalten des Angeklagten den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit erfüllt, ist das Fallenlassen der Anklage ein Grund für die Einstellung des Strafverfahrens. In den anderen Fällen ist der Verzicht auf die Anklage die Grundlage für einen Freispruch. Der Strafsenat des Staatsgerichtshofs hat klargestellt, dass das Gericht aufgrund des Grundsatzes des adversarischen Verfahrens, der die Verpflichtung des Gerichts beinhaltet, den Fall innerhalb der Grenzen der Anklage zu verhandeln (§§ 14, 268, 301 des StVGB), weder das Recht noch die Pflicht hat, die Richtigkeit und Berechtigung der Rücknahme der Anklage durch den Staatsanwalt zu überprüfen (RKKKm 2.10.2007, 3-1-1-49-07, Ziff. 6). Es ist wichtig zu beachten, dass das Gericht nicht über die Grenzen der Anklage hinausgehen darf (siehe RKKKo 12.02.2008, 3-1-1-91-07, Ziff. 6.1.). Der Strafsenat des Staatsgerichtshofs hat den Standpunkt vertreten, dass das Gericht bei der Verhandlung einer Strafsache in einer Situation, in der die Anklageschrift unvollständig ist, nach dem Grundsatz des adversarischen Verfahrens gemäß § 14 Absatz 1 des StVGB nicht befugt ist, die Anklageschrift von sich aus zu ändern oder zu ergänzen oder den Staatsanwalt aufzufordern, eine neue Anklageschrift einzureichen oder eine bestehende Anklageschrift zu ändern (RKKKo 1.04.2008, 3-1-1-101-07, Ziff. 16.1). Es sei darauf hingewiesen, dass § 268 Abs. 6 StVGB vorsieht, dass das Gericht bei der Urteilsverkündung die Qualifikation der Straftat auf der Grundlage desselben Sachverhalts ändern kann, wenn der Angeklagte ausreichend Gelegenheit hatte, sich gegen diese Qualifikation zu verteidigen. Der adversarische Charakter des Verfahrens (§ 14 StVGB) verlangt nicht, dass das Gericht in vollem Umfang an die rechtlichen Argumente der Verfahrensbeteiligten gebunden ist. Vielmehr hat das Gericht gemäß § 306 Abs. 1 Ziff. 3 StVGB bei der Urteilsfindung unter anderem darüber zu entscheiden, ob die Tat einen Straftatbestand erfüllt und nach welchem Abschnitt, Paragrafen und Unterabschnitt des Strafgesetzbuches sie zu qualifizieren ist. Die Zuständigkeit des Gerichts für die strafrechtliche Beurteilung der Handlung einer Person beschränkt sich also nicht auf die Prüfung, ob die Handlung mit der in der Anklageschrift genannten Vorschrift des Strafgesetzbuches übereinstimmt, sondern umfasst auch eine aktive Rolle des Gerichts bei der Feststellung der materiellrechtlichen Situation (RKKKo 28.11.2019, 1-17-5210, Ziff. 34). Ist das Gericht der Auffassung, dass die in der Anklageschrift angeführte Vorschrift nicht anwendbar ist, muss das Strafgericht prüfen, ob das Verhalten der Person möglicherweise einer anderen Vorschrift des Strafgesetzbuches entspricht (RKKKo 11.06.2018, 1-17-1629, Ziff. 33).
Offensichtlich gibt es keinen Grund, von der Vorstellung auszugehen, dass im estnischen Strafverfahren der Versuch der Wahrheitsfindung keine Bedeutung hat. Es gibt keinen Grund, an der Notwendigkeit zu zweifeln, den tatsächlichen Sachverhalt der Straftat so genau wie möglich zu ermitteln. Daher sollte dieser Aspekt bei der Ausgestaltung des Verfahrensrechts nicht außer Acht gelassen werden. Die Frage nach dem Modell des Strafverfahrens ist mit der Frage nach der Suche nach der Wahrheit verbunden16. Die Wahl eines auf adversarischen Elementen beruhenden Gerichtsverfahrens in Estland war gerechtfertigt. Unter dem Gesichtspunkt des adversarischen Aspekts verdienen sicherlich die Bestimmungen des § 297 Abs. 1 StVGB Beachtung, die die Möglichkeiten des Gerichts bei der Prüfung und Erhebung von Beweisen aufzeigen. Ausgehend vom § 297 Abs. 1 StVGB kann das Gericht während der Hauptverhandlung nach Abschluss der Beweisaufnahme von Amts wegen die Erhebung ergänzender Beweise anordnen.
Der Strafsenat des Staatsgerichtshofs hat in seinem Urteil zur Rechtssache Nr. 3-1-1-67-06 unter anderem präzisiert, in welchem Fall und zur Feststellung welcher Tatsachen das Gericht von dieser Möglichkeit Gebrauch machen kann. Der Hof ist in diesem Fall der Meinung, dass entgegen der Ansicht des Bezirksgerichts das Landgericht Beweise von Amts wegen hätte erheben sollen, soweit die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweise nicht zu einer Verurteilung ausreichten. Unter Bezugnahme auf § 14 StVGB, der das Prinzip des adversarischen Strafverfahrens festlegt und vorsieht, das die Anklage- und Verteidigungsfunktion sowie die Funktion der Entscheidungsfindung im Strafverfahren voneinander getrennt sind, betont er, dass diese Trennung auch das Beweisverfahren kennzeichnet. Die Beweisbeibringungslast tragen Staatsanwalt und Verteidiger, das Gericht muss in der Regel das Urteil lediglich aufgrund der vorgelegten Beweise fällen. Nach § 297 Abs. 1 i.V.m. § 307 StVGB bildet das Recht des Gerichts, von Amts wegen eine ergänzende Beweiserhebung anzuordnen oder eine zur Entscheidung der Strafsache wichtige Tatsache ergänzend zu erläutern, eher die Ausnahme, und wenn ein Gericht von diesem Recht keinen Gebrauch macht, kann ihm daraus kein Vorwurf gemacht werden. Eine derartige Beweiserhebung müsste aktualisiert werden, wenn das Gericht den Parteien erläutern will, welche ergänzenden Beweise zur Lösung der zum Beweisgegenstand gehörenden Fragen dem Gericht vorgelegt werden müssten. Die von Amts wegen angeordnete Beweiserhebung müsste in erster Linie zur Feststellung solcher Tatsachen dienen, die für die Feststellung des Tatbestands, der Rechtswidrigkeit und der Schuld keine primäre Bedeutung haben, die jedoch – ausgehend von den Anforderungen, die nach § 306 und §§ 311–314 StVGB an das Gerichtsurteil gestellt werden – nicht übersehen werden dürfen17.
Weiter hat der Strafsenat des Staatsgerichtshofs in seinem Urteil zur Rechtssache Nr. 3-1-1-91-07 betont, dass das Gericht im adversarischen Hauptverfahren bei der Feststellung der zum Beweisgegenstand gehörenden Tatsachen im Wesentlichen an die Aufklärungsergebnisse der Parteien gebunden ist und gemäß § 60 Abs. 2 StVGB grundsätzlich nur durch die Parteien beigebrachten Beweistatsachen als nachgewiesen behandelt und dem Urteil zugrunde legen kann. Die Amtsermittlungsberechtigung nach § 297 StVGB hat im Hauptverfahren einen klaren Ausnahmecharakter und nur subsidiäre Bedeutung und das Urteil darf sich weder allein noch maßgeblich auf die auf Initiative des Gerichts erhobenen Beweise stützen18.
Im Zusammenhang mit den Entscheidungen des Strafsenats des Staatsgerichtshofs lässt sich vielleicht argumentieren, dass das Gericht nur äußerst wenige Möglichkeiten hat, sich an der Feststellung der für die Wahrheitsfindung wichtigen Tatsachen zu beteiligen, indem es von sich aus die Erhebung zusätzlicher Beweise anordnet. Im Zusammenhang mit dem Standpunkt, den der Staatsgerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache 3-1-1-67-06 eingenommen hat, ist es wichtig zu erörtern, ob es Gründe dafür geben könnte, die Beweiserhebung von Amts wegen durch das Gericht auch zur Feststellung der Tatsachen, die für die Bestimmung der Tatbestandsmerkmale, der Rechtswidrigkeit der Straftat und der Schuld von vorrangiger Bedeutung sind, für zulässig zu halten.
Der Strafsenat des Staatsgerichtshofs hat zu Recht festgestellt, dass die Beweislast bei der Anklage und der Verteidigung liegt und dass das Gericht seine Entscheidung grundsätzlich auf der Grundlage der ihm vorgelegten Beweise zu treffen hat (RKKKo 3-1-1-67-06). Diese allgemeine Regel sollte jedoch nicht bedeuten, dass es dem Gericht in jedem Fall untersagt sein sollte, von Amts wegen eine Beweisaufnahme anzuordnen, auch zum Zwecke der Feststellung von Tatsachen, die für die Feststellung der Tatbestandsmerkmale, der Rechtswidrigkeit der Tat und der Schuld von wesentlicher Bedeutung sind. Offensichtlich schließt § 60 Abs. 2 StVGB die Möglichkeit nicht aus oder schränkt sie nicht ein, dass das Gericht in Ausübung seiner Befugnisse von Amts wegen die Erhebung zusätzlicher Beweise anordnen kann. Die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens des Gerichts ist in § 297 Abs. 1 StVGB ausdrücklich vorgesehen. Diese Bestimmung sieht keine von der Bedeutung der Rechtssache abhängigen Beschränkungen vor.
In bestimmten Fällen kann die Eigeninitiative des Gerichts bei der Anordnung einer Beweisaufnahme für die Wahrheitsfindung von großer Bedeutung sein. Es ist wahrscheinlich, dass sich die Parteien bei der Entscheidung über die Frage nach der Notwendigkeit der Beweisführung und der Antragstellung auf ergänzende Beweiserhebung von strategischen Zielen leiten lassen. So kann beispielsweise ein wichtiger Zeuge existieren, dessen Ladung vor Gericht weder Staatsanwaltschaft noch der Verteidiger beantragt, weil diese das Risiko nicht eingehen wollen, dass die Aussage des Zeugen sich zu ihren Lasten19 auswirkt. Informationen über die Existenz eines solchen wichtigen Zeugen können während eines Ermittlungsverfahrens ans Licht kommen. In einem solchen Fall kann der Staatsanwalt ausgehend aus dem Standpunkt, dass die Staatsanwaltschaft gemäß § 17 Abs. 1 StVGB Partei des Gerichtsverfahrens ist, auf die Möglichkeit verzichten, einen Antrag auf zusätzliche Beweise zu stellen. Aus den Bestimmungen des § 285 Abs. 2 StVGB geht klar hervor, dass der Staatsanwalt in einem gerichtlichen Ermittlungsverfahren die Pflicht hat, Beweise zur Unterstützung der Anklage und der Strafverfolgung vorzulegen (RKKKo 3-1-1-91-07). Aus Sicht der Staatsanwaltschaft kann es für den Staatsanwalt zu problematisch sein, einen Zeugen zu laden, bei dem er nicht sicher ist, ob seine Aussage die Anklage stützen oder in Frage stellen würde. Auf der Grundlage der im Laufe der gerichtlichen Ermittlungen gewonnenen Informationen kann der Staatsanwalt zu der Auffassung gelangen, dass der Zeuge eher ein potenzieller Zeuge für die Verteidigung sein könnte. Als Verfahrensbeteiligter hat die Verteidigung im Strafverfahren eine einseitige Funktion, wie in § 47 Abs. 2 StVGB festgelegt. Der Verteidiger darf nicht durch einen Antrag auf Beweisaufnahme an der Feststellung der den Beschuldigten belastenden Tatsachen mitwirken. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass der Verteidiger die Ladung eines Zeugen nicht beantragt, wenn er nicht sicher sein kann, dass die Aussage des Zeugen für die Verteidigung günstig sein wird. Allerdings kann die Aussage eines solchen Zeugen für die Feststellung des wahren Sachverhalts von wesentlicher Bedeutung sein. In bestimmten Fällen wäre daher die Möglichkeit, den Sachverhalt im Rahmen eines Gerichtsverfahrens festzustellen, stark eingeschränkt, wenn das Gericht nicht in der Lage wäre, erforderlichenfalls von Amts wegen eine weitere Beweisaufnahme anzuordnen. Das Gericht sollte die Möglichkeit haben, von Amts wegen die Erhebung zusätzlicher Beweise anzuordnen, wenn es der Auffassung ist, dass die Möglichkeit besteht, dass sich die Wahrnehmung des Sachverhalts in seiner jetzigen Form ändert. Hält das Gericht es für erforderlich, von Amts wegen eine zusätzliche Beweisaufnahme anzuordnen, so sollte es dies auch tun können, um Tatsachen festzustellen, die für die Feststellung der Tatbestandsmerkmale, der Rechtswidrigkeit der Tat und der Schuld von wesentlicher Bedeutung sind. Die Anordnung einer Beweisaufnahme von Amts wegen ist keine Beweishandlung im gleichen Sinne wie die Beweisführung durch die Verfahrensbeteiligten. Das Gericht darf sich bei der Anordnung der Beweisaufnahme nicht von dem spezifischen Ziel leiten lassen, das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer beweiserheblichen Tatsache aus der Sicht der Anklage oder der Verteidigung zu beweisen. Ein solches Ziel kann von den jeweiligen Verfahrensbeteiligten verfolgt werden. Es ist verständlich, dass auch die vom Gericht von Amts wegen angeordnete Beweisaufnahme zur Feststellung einer beweiserheblichen Tatsache oder des Nichtvorliegens einer solchen Tatsache führen kann. Dabei kann das Gericht jedoch im Hinblick auf das Ziel der Wahrheitsfindung unparteiisch vorgehen. Das Gericht kann bei der Ausübung seiner richterlichen Tätigkeit von Amts wegen die Erhebung weiterer Beweise anordnen. Die Möglichkeit des Gerichts, auf diese Weise zu handeln, würde jedoch nicht bedeuten, dass es verpflichtet wäre, von sich aus eine zusätzliche Beweiserhebung anzuordnen, da es eine solche Verpflichtung im Gesetz nicht gibt.
Details
- Seiten
- 174
- Erscheinungsjahr
- 2024
- ISBN (PDF)
- 9783631924808
- ISBN (ePUB)
- 9783631924815
- ISBN (Paperback)
- 9783631924792
- DOI
- 10.3726/b22209
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2024 (Oktober)
- Schlagworte
- Strafbefehlsverfahren Abspracheverfahren Strafverfahren adversarische Hauptverhandlung Strafprozessrecht
- Erschienen
- Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2024. 174 S.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG