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Narrenglanz des Naturalismus. Rudolf Rittner (1869–1943)

Schauspieler, Dramatiker und Kooperationspartner von Otto Brahm und Gerhart Hauptmann

by Jana Tunkova (Author)
Thesis 342 Pages
Series: Wechselwirkungen, Volume 29

Summary

Einer der bekanntesten Schauspieler des deutschsprachigen Raumes um 1900, der Dramatiker, Regisseur und Filmschauspieler Rudolf Rittner, war gleichzeitig einer der besten Freunde Gerhart Hauptmanns und mit vielen Prominenten um 1900 wie Arthur Schnitzler, Hermann Bahr, Lovis Corinth u. a bekannt. Dank der erstmaligen Verarbeitung/Bearbeitung seines Nachlasses erscheinen hier neue Informationen zu vielen Persönlichkeiten der Zeit sowie zum Naturalismus selbst, zu dem sich Rittner in seinen Tagebüchern äußerte.

Table Of Contents

  • Deckblatt
  • Halbtitelseite
  • Titelblatt
  • Copyright-Seite
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Der Glanz des Schauspielers Rittner
  • 1.1. Konservatorium in Wien (1881–1888)
  • 1.2. Die ersten Theaterengagements (1888–1891)
  • 1.2.1. Residenztheater in Hannover (1888/1889)
  • 1.2.2. Königlich-städtisches Theater in Olmütz (1889/1890)
  • 1.2.3. Karlsbad, Pressburg und Temesvar (1890/1891)
  • 1.3. Der Darsteller des modernen Dramas in Berlin (1891–1907)
  • 1.3.1. Residenztheater und Freie Bühne (1891–1894)
  • 1.3.2. Deutsches Theater unter Otto Brahm (1894–1904)
  • 1.3.3. Lessingtheater unter Otto Brahm (1904–1907)
  • 2. Zwischen europäischer Metropole und provinzieller Land-Idylle
  • 2.1. Hinter den Kulissen der Brahmschen Bühnen
  • 2.1.1. Freie Bühne und Deutsches Theater
  • 2.1.2. Lessingtheater
  • 2.2. Rittners Entscheidung gegen die Bühne
  • 2.3. Rittners Comeback
  • 2.3.1. Die Rückkehr in die Großstadt als Nachfolger Brahms
  • 2.3.2. Zwischen Berühmtheit und Geborgenheit: Film und Rundfunk
  • 2.4. Die schlesische und die geistige Heimat Rittners
  • 3. Narrenglanz und andere Dramen
  • 3.1. Rittners Dichterweg
  • 3.2. Inszenierte Dramen
  • 3.2.1. Wiederfinden. Ein Schauspiel in drei Akten (23.3.1901)
  • 3.2.2. Lorenzo di Medici (14.2.1903)
  • 3.2.3. Narrenglanz. Ein Spielmannsdrama in vier Akten (2.3.1907)
  • 3.3. Einakter aus dem Nachlass
  • 3.3.1. Dorf-Weihnachtsspiel (1905)
  • 3.3.2. Die Kälte (1912)
  • 3.3.3. Der Gedenktag (1913)
  • 3.4. Narrenglanz-Interpretation
  • 3.5. Epilog. Zu Naturalismus und Moderne
  • Resümee
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Anhang: Theaterrollen Rittners
  • Personenregister
  • Narrenglanz des Naturalismus. Rudolf Rittner (1869–1943)

Einleitung

Diese Monographie muss sich, um Interesse an Rudolf Rittner zu erwecken, im Titel mit den Namen zweier Prominenter behelfen, denn Rittner selbst ist beinahe in Vergessenheit geraten. Der Bezug des weniger bekannten Namens auf zwei Prominente mag dabei auf den ersten Blick wie eine Verlegenheitslösung wirken. Auch scheint die aktuelle Forschung die Hypothese, dass Rittner als Kooperationspartner Hauptmanns und Brahms gelten könne, zu widerlegen. In Peter Sprengels Biographie Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum spricht bereits ein flüchtiger Blick ins Register gegen diese Annahme, denn Brahm wird darin fünfmal häufiger erwähnt als Rittner. Doch zeitgenössische Quellen, wie etwa Hauptmanns Tagebücher, liefern andere Einsichten: In den Tagebüchern 1897 bis 1905 wird Hauptmanns Brotgeber Brahm nur anderthalbmal so oft wie Rittner erwähnt, in den Tagebüchern 1906 bis 1913 dominieren die Notizen über Rittner.1

Wegner und Strindberg –

Schwächlinge!

Stärke Ibsen Björnson Turg[enjew]

Tolstoi, Mahler, Rittner, Balsac[.]2

Der Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann stellte Rittner auf dieselbe Stufe mit Dichtern wie Lew Nikolajewitsch Tolstoi und Honoré de Balzac oder mit Gustav Mahler als einem der größten zeitgenössischen Komponisten – also mit solchen Persönlichkeiten, bei denen er Stärke“ feststellte und die für ihn einen markanten Einfluss auf die Prägung der modernen Kultur hatten. Nicht geringer schätzte Otto Brahm Rittners Bedeutung ein: [M]it Rittner trat vielleicht der am meisten typische Vertreter jener Zeit in unseren Kreis; und im Großen wie im Kleinen, da wo er sich weitete, wie an seinen Grenzen erschien er als eine Reinkultur des neuen Jahrzehnts.“3

Wer war also dieser so Geschätzte? Rudolf Rittner (*1869 Weißbach, heute Bílý Potok in Tschechien, 1943 ebenda) war Theater- und Filmschauspieler, Hörspielsprecher, Dramatiker, Theaterleiter und -regisseur. Nach den Anfängen als Musikstudent trat er am Wiener Konservatorium in die Schauspielschule über. Angekommen 1891 als Schauspieler in Berlin, wurde sein Talent innerhalb von drei Monaten von drei bedeutenden Persönlichkeiten erkannt:4 vom Theaterkritiker Paul Schlenther, vom jungen Naturalisten Gerhart Hauptmann und von Otto Brahm, dem Leiter des Vereins Freie Bühne, der ihn ans Deutsche Theater und später ans Lessingtheater verpflichtete. Rittner wurde zum besten Interpreten Hauptmanns, dessen fünfzehn Figuren, davon zehn in Uraufführungen, er schuf. Als Florian Geyer wurde er in einer seiner berühmtesten Rollen von Lovis Corinth porträtiert. Er gestaltete Figuren Henrik Ibsens, August Strindbergs und war Darsteller in Erstaufführungen vieler Stücke ihm persönlich bekannter deutscher Dramatiker wie Max Halbe, Otto Erich Hartleben, Georg Hirschfeld, Hermann Sudermann, Ernst von Wolzogen sowie der Autoren der Wiener Moderne Arthur Schnitzler, Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal. Rittner war Hauptrepräsentant und Mitgestalter des Naturalismus auf der Bühne; sein natürlicher, moderner Stil half bei der Durchsetzung des zeitgenössischen Dramas.

In der Zeit des Aufstiegs Max Reinhardts schloss er mit diesem einen günstigen Vertrag ab. Dieser sollte ab 1909 gelten, nach dem Ablauf seiner Zusammenarbeit mit Brahm. Trotz seines Ruhmes gab Rittner auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn nach der Verständigung mit Brahm und Reinhardt aber seinen Abgang vom Theater bekannt und kehrte 1907 in sein Heimatdorf Weißbach in Österreichisch-Schlesien zurück. Hier wollte er sich seiner erfolgversprechenden Karriere als Dramatiker widmen. Sein Schauspiel Wiederfinden war von Brahm am Deutschen Theater uraufgeführt worden, ebenso hatten der Schwank Lorenzo di Medici und das Spielmannsdrama Narrenglanz ihre Premieren in Berlin erlebt. 1912 zog Rittner als Nachfolger Brahms nach ­Berlin zurück und war als Co-Direktor und Regisseur tätig. Er inszenierte einige Dramen Hauptmanns, der selbst als Hausdramatiker und Regisseur unter dem Direktoriumsmitglied Rittner wirkte. Ab den 1920er Jahren avancierte Rittner zum Kino-Charakterstar in Filmen etwa von Ludwig Berger oder Fritz Lang und arbeitete für den Rundfunk.

Zum Schauspieler Rittner gibt es dank seiner glänzenden Karriere zahlreiche Kritiken, Aufsätze und Lexikoneinträge. Eine gründliche theaterwissenschaftliche Arbeit legte 1961 Hans-Adolf Schultze vor, dessen Verdienst es ist, in seiner Dissertation Rudolf Rittner (1869–1943). Ein Wegbereiter Gerhart Hauptmanns auf dem Theater neben Verewigung einiger Zeugenaussagen5 Rittners Einfluss auf Hauptmanns Bühnenerfolg hervorgehoben zu haben. Bekräftigt von Schultzes Ergebnissen ist es eines der Ziele dieser Arbeit aufzuzeigen, dass Rittners Einfluss noch weitgreifender ist. Es wird geklärt, welche Rolle er am Theater Brahms und für dessen Stilbildung hatte und dass seine Arbeit für Otto Brahm und Gerhart Hauptmann vielmehr als eine symbiotische Zusammenarbeit gesehen werden kann. Eine Einsicht hinter die Kulissen und die damit zusammenhängende Neubewertung von Rittners Einfluss wird möglich durch die seitdem erschienenen Quelleneditionen wie etwa die bereits genannten Tagebücher Hauptmanns, Brahms Briefwechsel mit Hauptmann und Schnitzler und vor allem die wichtigste Quelle, auf die sich diese Arbeit nun stützt: Rittners wiederentdeckter Nachlass. Dieser galt nach der Vertreibung der Sudetendeutschen als verschollen, befand sich jedoch, wie Schultze feststellen konnte, die ganze Zeit über in Rittners Haus. 1960 wurde der Nachlass vom Kreisarchiv Jeseník, seinem heutigen Aufbewahrungsort, übernommen, vorübergehend in Javorník deponiert und von dem Archivar und Germanisten Rudolf Zuber inventarisiert. Neben Tage- und Notizbüchern befinden sich hier Verträge mit Theater-, Film- und Rundfunkgesellschaften, Briefwechsel, Zeitungsausschnitte, diverse Dokumente, Fotografien, Dramen, Gedichte, Skizzen, Rittners Selbstporträt sowie zwei Schallplatten mit Passagen aus Hörspielen.

Wie bereits Schultze auf die Auswertung des Nachlasses in einer wissenschaftlichen Arbeit möglicherweise von tschechischer Seite“ hoffte,6 ist diese Monographie – wenngleich erst nach mehr als sechzig Jahren – die erste, in der Rittners Nachlass wissenschaftlich ausgewertet wird. Diese Auswertung ermöglicht die Bestätigung oder Widerlegung mancher Thesen. Gleichzeitig schafft sie eine solide Grundlage für die Rittner-Forschung, die im Hinblick auf den Kontrast zwischen der zeitgenössischen Popularität sowie dem hier demonstrierten Einfluss auf das Theater- und Literaturleben Berlins einerseits und der heutigen Absenz in der Forschungsliteratur andererseits notwendig ist. Neben der Betonung von Rittners Einfluss auf den dramatischen Erfolg Hauptmanns und seiner Initiative in der Prägung des naturalistischen Stils am Theater Brahms werden auch seine von ausgeprägtem theoretischem Bewusstsein zeugende Kommentare zur eigenen Epoche veröffentlicht. Darüber hinaus kommen hier neue Informationen zu den mit Rittner eng verbundenen kanonisierten Vertretern des Naturalismus und der Moderne zum Vorschein. Dadurch können weniger bekannte oder sogar unbekannte Facetten zum Theater Otto Brahms, zur Hauptmann- und Schnitzler-Forschung hinzugefügt und das bisherige Bild des Naturalismus und der Moderne um neue Perspektiven ergänzt werden.7

Seine Stellung innerhalb der zeitgenössischen Kultur formulierte Rittner selbst so: Ich kam, 22jährig, in die damals recht forsche ‚Realisten‘-Gruppe u. war ihnen allen gut befreundet, dem Hauptmann, Schlenther, Brahm, Halbe, Hartleben, Hirschfeld usw.“8 In Zeitungsartikeln zu den Heidelberger Festspielen von 1929, wo er als Regisseur wirkte, wird Rittners Name gleich hinter demjenigen des Thomas Mann hervorgehoben. Außer den bereits genannten Persönlichkeiten hatte er Kontakt zu Samuel Fischer, Lou Andreas-Salomé, ­Stefan Zweig, zum Politiker Walter Rathenau oder dem norwegischen Maler Edvard Munch. Er war befreundet mit dem schlesischen ­Grenzgänger ­Hermann Stehr, dessen Bedeutung für die Moderne ebenfalls erst jüngst gewürdigt wurde. Else Lasker-Schüler, Christian Morgenstern, Felix Salten, Carl Hauptmann, Adolf Paul und andere widmeten Rittner ihre Bücher. In seinem Nachlass befindet sich die Korrespondenz mit zahlreichen Prominenten. Allein ein Blick auf die Kontakte Rittners lässt seine Stellung in der Moderne als zentral erscheinen. Die essenzielle Rolle Rittners in der Kultur der Jahrhundertwende darzulegen, ist eines der Ziele dieser Arbeit.

Doch Rittner war nicht nur eine wichtige Person im damaligen kulturellen Netzwerk, sondern auch ein Künstler sui generis und wird in der vorliegenden Monographie in der ganzen Vielfalt der künstlerischen Bereiche präsentiert, in denen er wirksam war. Neben seiner Karriere als Schauspieler wird er hier als Dramatiker vorgestellt und die Qualität seines dramatischen Œuvres aufgezeigt: Auch er schrieb nämlich Stücke und gar keine unbegabten“.9 Ab den 1910er Jahren wurde er als Schriftsteller in die Literaturlexika aufgenommen und erlebte nach einer Pause eine Wiederentdeckung im Rahmen der Forschun- gen zur regionalen deutsch-mährischen Literatur am Lehrstuhl für Germanistik der Palacký-Universität in Olmütz (tsch. Olomouc). Eine Einordnung unter die deutschsprachigen Autoren aus Mähren und Österreichisch- Schlesien ist legitim,10 wobei das Schlesische besonderes Augenmerk verdient, da es in seinem Leben und Werk als Heimat eine große Rolle spielte.11 Rittners Intention war es u. a., Weißbacher Volksmärchen und schlesische Sagen zu schreiben sowie Aufführungen seines Dorf-Weihnachtsspiels in lokale Gasthäuser zu bringen. In der Diplomarbeit von Barbora Zuberová, der Tochter des Archivars Zuber, sowie unter dem Stichwort Rittner im Lexikon deutschmährischer Autoren wird Rittner jedoch lediglich als regionaler Autor vorgestellt und seine Texte autorenorientiert interpretiert; in Jörg Krappmanns Habilitationsschrift über die regionale Literatur in Böhmen und Mähren taucht er in einer ähnlich biographisch motivierten Weise nur am Rande auf.12 Die vorliegende Arbeit ist dagegen die erste, in der Rittners Werk nicht nur über seine Person oder regionale Zugehörigkeit, sondern vor allem im Vergleich zu moderner, kanonisierter Literatur interpretiert wird. Im Mittelpunkt steht dabei die Interpretation von Narrenglanz, deren Ziel es ist, Rittner als einen bemerkenswerten Autor des Naturalismus und der Moderne zu rehabilitieren.

Dass der Prozess der Rehabilitierung bereits ins Rollen geriet, bezeugt Jörg Krappmann gleich in seinen nächsten Rittner-Artikeln im Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder (2017), Der Naturalismus in Österreich-Ungarn Ein mährischer“ Naturalismus? (2018)13 und in Kulturelle Zirkulation im Habsburgerreich (2019), in denen er die Forschungsergebnisse der dieser Monographie vorausgehenden Dissertation (2015) wiedergibt. Während er zunächst Rittners Aussonderung aus der bereits genannten Publikation Allerhand Übergänge (2013) mit einer Parallele zu Robert Reß erklärt hatte, der nur dank der Verbindung zu Arno Holz in die Literaturgeschichte aufgenommen worden sei, und sich mit der bloßen biographisch motivierten Nennung des Schauspielers Rudolf Rittner“ begnügt, dessen Werk kaum mit dem Naturalismus in Verbindung“ stehe,14 wird Rittner nun auch von ihm als ein bemerkenswerter Autor des Naturalismus und der Moderne anerkannt.15

Um die Lücke in der literaturwissenschaftlichen Rezeption Rittners zwischen den 1930er Jahren und seiner Rehabilitierung im 21. Jahrhundert zu erklären, seien an dieser Stelle kurz einige Gründe genannt, die sich negativ auf die kontinuierliche Rezeption auswirkten. Für eine der Ursachen sorgte Rittner 1907 selbst mit seinem Rückzug vom kulturellen Zentrum in die Abgeschiedenheit der Provinz. Das dem Christen unrichtig aufgesetzte Etikett Jude“16 wirkte in der Zeit des zunehmenden Antisemitismus abwertend. Die politischen Nachkriegsänderungen auf der Landkarte Mitteleuropas hatten einen negativen Einfluss auf die Zusammengehörigkeit der europäischen Kultur: Rittners Geburtsort gehörte danach nicht mehr dem deutschsprachigen Raum an, und Rittner wurde 1928 Staatsbürger der Tschechoslowakischen Republik. In den Wirren des Zweiten Weltkriegs ging das Manuskript einer von Fritz Reimann verfassten Biographie über Rittner verloren.17 Rittners Haus wurde 1946 enteignet, sein Nachlass und Kunstgegenstände auf Archive, Museen und Schlösser zerstreut18 und sein Heimatort durch den Eisernen Vorhang zur einsamen Insel, die ihren Bezug zur deutschsprachigen Kultur verlor. Die Kontinuität der Aufnahme Rittners in die Schriftstellerlexika und Literaturgeschichten, in denen er zu Lebzeiten präsent war, riss ab. Ausländischen Forschern wurde das Visum und damit der Zugang zum Nachlass verweigert, die deutsche Sprache und das Stigma des Sudetendeutschen behinderten wiederum Forschungen von tschechoslowakischer Seite. Die wenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die sich in der Tschechoslowakei bis 1989 mit Rittner auseinandersetzten, wurden durch seine Verbindung zu Hauptmann und dessen Verbindung zu den russischen Autoren, wie etwa Tolstoi, legitimiert.

Somit entstand eine Lücke in der Forschung, aus der sich die Schwierigkeiten ableiten lassen, die die Entstehung dieser Monographie begleiteten. Einerseits mangelte es an wissenschaftlichen Arbeiten, andererseits gab es eine Fülle an unbearbeiteten Quellen. Um ausreichende Informationen über eine mehr als fünfzigjährige aktive Schaffenszeit einer Persönlichkeit in diversen Kunstgebieten zu erhalten, war nicht nur die Beschaffung der Primär- und Sekundärliteratur nötig, sondern auch und vor allem die Arbeit mit den nur spärlich gesichteten Archivquellen. In dem vor einem halben Jahrhundert inventarisierten Nachlass waren die wichtigen Informationen nicht leicht zu finden. Weiteres Quellenmaterial zu Rittner liegt verstreut in mehreren Institutionen in Mitteleuropa. Die Auswertung der Archivquellen überstieg mit der Breite der notwendigen Vorarbeiten den Rahmen einer gewöhnlichen Dissertation. Für die Arbeit mit den Tagebüchern und einigen Briefen war etwa zuerst ein langwieriger Entzifferungs- und Transkriptionsprozess notwendig. Die erst 2014 durch das Archiv durchgeführte, leider nicht ganz präzise, Re- Inventarisierung des Nachlasses – auf meine Anregung hin wurden noch 2024 einige der Fehler behoben – machte nach größtenteils abgeschlossener Recherche eine Umarbeitung der Quellenverweise notwendig. Weiter wurden aus der Presse neue Daten gesammelt und ausgewertet; für das zeitgenössische Echo wurde im Vergleich zu Schultze nicht nur die deutsche, sondern auch die österreichisch-ungarische Presse miteinbezogen. Nach einer intensiven akribischen Vorarbeit konnten mit diesen Daten und der erstmaligen wissenschaftlichen Auswertung des Nachlasses neue wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden.19 Das methodische Vorgehen erlaubt es, bisherige, oft irrig gehegte Meinungen zu revidieren. Die vorliegende Monographie hat, auf diesen Ergebnissen aufbauend, das Ziel, Rudolf Rittner in seiner ganzen künstlerischen Vielfalt vorzustellen und ihm den gebührenden Platz in der Kultur der Jahrhundertwende zuzuweisen.

Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel zeigt den Ruhm des Schauspielers Rittner. Beginnend mit dem Studium am Konservatorium wird im zweiten Unterkapitel zu seiner Wirkung an Provinzbühnen mit dem Schwerpunkt auf Theater in Olmütz übergeleitet. Dieser Fokus ist deswegen von Bedeutung, weil Schultze seinerzeit die Forschung in der Tschechoslowakei versagt war. Und als sich die Olmützer Theaterwissenschaft nach der Wende Projektarbeiten zum deutschen Theater in Mähren vornahm, blieb das Wirken des berühmten Schauspielers unbemerkt. Das darauffolgende Unterkapitel präsentiert Rittner als einen der prominentesten Schauspieler in Berlin von 1891 bis 1907. Im Hintergrund wird durch die Einsicht ins Repertoire der Berliner Theater um 1900 mit den damals gespielten, heute oft vergessenen Dramen und Autoren ein Einblick in die literaturgeschichtlichen Kontexte und in die Thematik der Moderne vermittelt. Einige Bemerkungen beziehen sich auf die Relation zwischen den Zentren Berlin und Wien.

Das zweite Kapitel enthüllt aufgrund von Selbstzeugnissen Rittners, Brahms, Hauptmanns aber auch Schnitzlers die Vorgänge hinter den Kulissen der Brahmschen Bühnen. Einige Beispiele illustrieren ferner die Medienkonkurrenz und die Differenzen zwischen dramatischer Dichtung und theatralischer Inszenierung. Weiter werden Rittners Motive für den Abgang offengelegt, behandelt wird seine Nachfolgerschaft Brahms als Co-Direktor des Lessing- und des Deutschen Künstlertheaters sowie seine Arbeit in neuen Medien. Das Kapitel über Film hat keine filmwissenschaftliche Analyse von Rittners Schauspielkunst in den heute schwer zugänglichen Filmen zum Ziel, sondern fasst die Grunddaten und Filmrezensionen mit Rittners persönlichen Aussagen zusammen. Ein besonderes Interesse gilt den Initiatoren und den Motiven zur schauspielerischen Wiederkehr Rittners. Den Abschluss des Kapitels Zwischen europäischer Metropole und provinzieller Land-Idylle bildet die Analyse von Rittners Beziehung zur Heimat und seiner Position zwischen Zentrum und Provinz.

Im dritten Kapitel wird Rittners Dichterweg von den Anfängen bis zum Narrenglanz-Höhepunkt dargestellt. Mit der Konzentration auf Rittners dramatische Tätigkeit werden sowohl publizierte und inszenierte Stücke als auch bisher unbekannte Einakter aus dem Nachlass vorgestellt. Die ausführliche Analyse des mehrfach rezensierten Spielmannsdramas Narrenglanz soll die eminente Stellung Rittners in der Literatur der Moderne belegen. Abschließend werden seine Kommentare zur zeitgenössischen Literatur publiziert und einige Betrachtungen zum Naturalismus formuliert.

Im Anhang befindet sich eine nach Dramatikern geordnete Liste von Theaterrollen; das Personenregister mit Werkregister, Lebensdaten und Berufsangaben hilft, die Fußnoten von allzu ausführlichen biographischen Angaben zu entlasten und skizziert größtenteils Rittners kulturelles Netzwerk.

Danksagung

An dieser Stelle möchte ich mich vor allem bei der internationalen Doktorandenschule im Rahmen des Vladimir-Admoni-Programms des DAAD unter der Leitung von Prof. Dr. Manfred Weinberg sowie für dessen produktive Doktorandenkolloquien an der Karls-Universität Prag bedanken. Mein besonderer Dank gilt PD Dr. Matthias Schöning für die Betreuung während der Studienaufenthalte an der Universität Konstanz. Die Anregung, über Rudolf Rittner zu promovieren, verdanke ich Doc. Jörg Krappmann, Ph. D. und der Forschungsstelle für die deutsch-mährische Literatur der Palacký-Universität Olomouc. Dr. Thomas Schneider bin ich dankbar für die Durchsicht der Finalversion. Dem gesamten Peter-Lang-Verlag, namentlich Frau Viktoria von Wickede für die Korrekturen, und allen Herausgebern, vor allem Prof. Wynfrid 
Krigleder, danke ich für die Aufnahme in die Reihe Wechselwirkungen und eine gute Zusammenarbeit an der Publikation. Jaroslav Rudiš und Martin Becker bin ich für die Möglichkeit der Teilnahme an den abenteuerlichen Dreharbeiten für den Tschechischen und Mitteldeutschen Rundfunk dankbar, die Rittner in der Öffentlichkeit popularisierten. Weiter bedanke ich mich bei den folgenden Institutionen: beim Staatskreisarchiv Jeseník und dessen Personal, das mir bei der Forschung in Rittners Nachlass entgegenkam, beim Austauschprogramm Aktion Tschechien – Österreich, das mir das Studium in Wiener Archiven, Bibliotheken und an der Universität Wien ermöglichte, sowie beim Deutschen Literaturarchiv Marbach, wo ich dank Kurt-Tucholsky- Stipendium zwei Monate unter großartigen Bedingungen forschen durfte. Mein persönlicher Dank gebührt Rainer und Olivera aus Kleinbottwar, der Deutsch-Tschechischen Vereinigung in Konstanz, Katharina Hertfelder, ­Markus Reich, Dr. Gerd Katthage sowie allen, die zu dieser Buchpublikation beigetragen haben.

  1. 1 Auch wenn hier Brahm wegen seines Todes Ende 1912 im Nachteil sein mag.

  2. 2 GH, 9.5.17, Tagebücher 1914–1918, S. 188. Wegner“: Schauspieler Paul Wegener, mit dem sich Hauptmann am 8.4.17 über Strindberg unterhielt, vgl. ebd., S. 387.

  3. 3 OB: Kritische Schriften (KS), S. 472.

  4. 4 Vgl. Hans-Adolf Schultze: Der Schauspieler Rudolf Rittner (1869–1943), S. 29.

  5. 5 Dieser Verdienst gilt auch der Urenkelin von Rittners Freunden Viktor und Hede Skumowitsch Andrea Pompe und ihrer Diplomarbeit Rudolf Rittner – ein Schauspieler des Naturalismus, Uni. Wien, 1988.

  6. 6 Sch, S. 15.

  7. 7 Vgl. Tunková: Naturalismus. Eine Provinzluft aus Schlesien, Germanoslavica 2022, Nr. 1, S. 110–126 und Dies.: Hauptmann, Schnitzler und Sudermann umgedreht. Vergessene Aspekte der Rezeption, Schnittstelle Germanistik, 2023, Nr. 2, S. 141–159.

  8. 8 RR: Hauptgesichtspunkte für die biographischen Daten, Institut für Theaterwiss., FU Berlin, Theaterhistorische Sg., Inv.Nr. 5458.

  9. 9 Bab: Kränze dem Mimen, S. 312.

  10. 10 Dass er in die deutsch-mährische Literaturszene eingebunden war, belegen die Widmungsexemplare des gebürtigen Brünners Richard Schaukal in Rittners Bibliothek; Národní muzeum, depozitář Terezín.

  11. 11 Vgl. dagegen die Tendenz, mit dem Schlesier Rittner den mährischen Naturalismus“ zu proklamieren (s. hier FN 13) und ihn in das nordmährische[] Dorfleben“ umzusetzen; Krappmann, in: Handbuch der dt. Literatur Prags und der Böhmischen Länder, S. 163. Auch in Rittners Tagebüchern kommt Mähren“ gar nicht vor, während Schlesien“ und schlesisch“ etwa hundertmal erwähnt werden.

  12. 12 Vgl. Krappmann: Allerhand Übergänge, S. 173.

  13. 13 Vgl. Austriaca 86 (2018). Online: https://journals.openedition.org/austriaca/592 (12.10.2020). Die übernommene Interpretationsweise, dass Rittner mit Narrenglanz eine Bilanz des Naturalismus vorlegte, wird darin ohne Dramenanalyse unschlüssig mit Rittners Tagebucheintrag begründet, in dem sich dieser zum Naturalismus äußert (s. hier S. 277 f).

  14. 14 Krappmann: Allerhand Übergänge, S. 173.

  15. 15 Vgl. Handbuch der dt. Literatur Prags und der Böhmischen Länder, S. 162 f. Die Parallelen zwischen Rittners Werk und Nietzsche wurden übernommen, jedoch geraten hier einige Nietzsche-Zitate sowie diejenigen aus den Tagebüchern Rittners in unlogische Zusammenhänge. Einmal wird dabei die fiktive Figur des Narren mit dem Autor verwechselt. Rittners Wirken in literarischen Rezitationssendungen und Hörspielen Reportagen“ zu nennen ist ebenfalls ungenau.

Details

Pages
342
ISBN (PDF)
9783631925720
ISBN (ePUB)
9783631925737
ISBN (Hardcover)
9783631925713
DOI
10.3726/b22263
Language
German
Publication date
2025 (July)
Keywords
Schlesien Literatur um 1900 Drama Theater Otto Brahm Gerhart Hauptmann Moderne Naturalismus
Published
Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2025. 342 S., 2 farb. Abb., 10 s/w Abb.
Product Safety
Peter Lang Group AG

Biographical notes

Jana Tunkova (Author)

Jana Tunková studierte Germanistik und Kunst, promovierte am Germanistik-Institut der Palacký-Universität in Olomouc (Tschechien) im Fach Neuere deutsche Literatur. Sie war Doktorandin der internationalen Wladimir-Admoni-Doktorandenschule, absolvierte Stipendien an den Universitäten Konstanz, Potsdam, Wien, an der Universität für angewandte Kunst in Wien, sowie im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Während ihrer PostDoc-Stelle hielt sie am Germanistik-Institut der Palacký-Universität Lehrveranstaltungen v. a. im Rahmen des Programms Deutsch als Sprache der Geisteswissenschaften: Kunstgeschichte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Kunst um 1900, Naturalismus, Moderne, Drama und Theater, Literatur aus den Böhmischen Ländern und Archivforschungen.

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