Katharina Hackers literarisches Œuvre
Geschichte in Geschichten
Zusammenfassung
Der Sammelband bringt erstmals die literaturwissenschaftliche Forschung zu Katharina Hackers Werk auf ein neues, öffentlichkeitswirksames Niveau und zeigt die Anschlussfähigkeit des Werks der Autorin an aktuelle philologische und kulturwissenschaftliche Debatten.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Umschlag
- Schmutztitel
- Literarisches Leben heute
- Titelseite
- Copyright-Seite
- Inhaltsverzeichnis
- Geschichte in Geschichten. Eine Einleitung
- Meine Bücher sind Suchbücher. Über den Atem der Sprache, Freundlichkeit und eine noch nicht gespielte Komödie
- I Raum- und Zeiterfahrungen: Erzählen und Erinnerung
- Akkumulierte Zeit. Verfall, Raumpoetik und Sprachkritik in Katharina Hackers Der Bademeister
- Schweigend erinnern, redend vergessen: Katharina Hacker und die Dialektik von Erinnern und (Ver)schweigen in der Thematisierung der NS- und DDR-Vergangenheit
- Zu Geschichte(n), Erinnerung und Generation in Katharina Hackers Eine Dorfgeschichte (2011)
- II Brüchige Lebenswelten: Leben im Zeichen der Krise
- „umgeben von fortschreitenden Katastrophen“ – Aktualität als katastrophische Generationenerfahrung im Werk von Katharina Hacker
- Auf der Suche nach dem guten Leben. Sozial-ökologische Utopien in Katharina Hackers Jugendbuch Alles, was passieren wird
- Trauern mit Tieren in Katharina Hackers Adoleszenzroman Alles, was passieren wird
- Tier und Sprache. Suchbewegungen zwischen Nähe und Distanz im Werk Katharina Hackers
- III Im literarischen Dialog: Deutsch-jüdische Geschichten
- Literarischer Versuch über ein Gespräch. Katharina Hackers Eine Art Liebe (2003)
- Unsere Jakobsleiter. Jüdisches Leben zwischen Tel Aviv und Berlin in Katharina Hackers Skip
- „Wir sprachen Deutsch und Hebräisch durcheinander und merkten nicht, ob es die eine oder die andere Sprache war.“ Zur hebräischen Sprache als literarischem Element im Werk Katharina Hackers
- Katharina Hacker – Werke, Auszeichnungen, Forschungsliteratur (Stand Juni 2024)
- Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger
Literarisches Leben heute
Herausgegeben von Kai Bremer, Christian Dawidowski und Olav Krämer
Band 11
Inhaltsverzeichnis
Franz Fromholzer und Corinna Schlicht
Ein Gespräch mit Katharina Hacker
II Brüchige Lebenswelten: Leben im Zeichen der Krise
Alexandra Pontzen
Markus Schwahl
Sophia Wege
Trauern mit Tieren in Katharina Hackers Adoleszenzroman Alles, was passieren wird
Corinna Schlicht
Tier und Sprache. Suchbewegungen zwischen Nähe und Distanz im Werk Katharina Hackers
III Im literarischen Dialog: Deutsch-jüdische Geschichten
Hans-Joachim Hahn
Literarischer Versuch über ein Gespräch. Katharina Hackers Eine Art Liebe (2003)
Franz Fromholzer
Unsere Jakobsleiter. Jüdisches Leben zwischen Tel Aviv und Berlin in Katharina Hackers Skip
Judith Müller
Katharina Hacker – Werke, Auszeichnungen, Forschungsliteratur
Franz Fromholzer und Corinna Schlicht
Geschichte in Geschichten. Eine Einleitung
Geschichte in Geschichten
Unter dem Titel Geschichte in Geschichten. Katharina Hackers literarisches Oeuvre fand vom 26. bis 28.09.2023 am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen eine internationale Konferenz statt, die sich dem Werk der Gegenwartsautorin erstmals auf umfassende Weise widmete. Die Konferenz rückte dabei das im Werk der Autorin vorzufindende Spannungsverhältnis von Zeitgeschichte einerseits und individuellen Lebensgeschichten andererseits in den Mittelpunkt des literaturwissenschaftlichen Interesses. Hackers Romane und Erzählungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die allgemeine Geschichte in kaleidoskopartig verdichtenden persönlichen Geschichten aufscheinen lässt: „Überall gab es Geschichten, solche, die man erzählt bekam, solche, die man selbst miterlebte, wieder andere, die sich nur andeuteten. Manchmal nahm man sie wahr, manchmal schien alles stumm oder anders ohne Leben“1, so liest man etwa in dem 2015 erschienenem Roman Skip, der vom Umzug des gleichnamigen Protagonisten von Tel Aviv nach Berlin erzählt. Neben einer ganzen Fülle an israelischen und palästinensischen Lebensgeschichten schildert der Roman auch das politische Geschehen in Israel vor und nach der Ermordung Jitzchak Rabins. Das Geschichtenerzählen, Versprachlichung und Sprache schlechthin stellt die Schriftstellerin folglich den Abgründen der Geschichte gegenüber: „Die Sprache ist unsere Verbündete gegen unsere absterbenden Herzen, gegen eine ärmlich werdende Welt.“2 Die Sensibilisierung für das Erzählen von Geschichte(n), aber eben auch für das Verschweigen und das Verstummen zeichnet in diesem Sinne Hackers Werk aus. Das Nicht-Erzählen gleicht dabei einem Verlust an Leben, eine abgründige Dimension des Verschweigens, der es wiederum erzählend nachzuspüren gilt. Den unterschiedlichen Strategien mit Zeitgenossenschaft und individuellen Erfahrungen umzugehen, begegnet Hacker mit unterschiedlichen Erzählweisen, so stehen sich etwa der von Verdrängung geprägte manische Monolog des Bademeisters aus dem gleichnamigen Roman und die ökonomisierte Verwaltung von Geschichte etwa durch die Figuren Isabelle und Jakob in Die Habenichtse gegenüber; dort resümiert Jakob als Anwalt für Restitutionsangelegenheiten: „Oft schienen die Gesichter entrückt, die Augen wie überwachsen von den Ablagerungen der Geschichte, die er, Blatt für Blatt, Grundbucheintrag für Grundbucheintrag, nachzuvollziehen versuchte.“3 Nicht selten klingen hier auch religiöse Vorstellungen von einem Buch des Lebens an, wie sie im Judentum zu finden sind. Der Niederschrift von Geschichten wird eine rettende und heilende Bedeutung zugewiesen. „Ich denke mir das so: der Beginn einer Geschichte und das Ende einer Geschichte versuchen, ein großes, imaginäres Gleichgewicht in der Welt zu retten.“4
Geschichte in Geschichten – das lässt sich so gewendet auch als ein literarisches Programm begreifen, den Katastrophen erzählerisch gegenüberzutreten, gegen Resignation und Vergessen aufzubegehren. „Manchmal denke ich jetzt, dass ich nie wissen werde, wie meine Geschichte zu erzählen wäre. Wir haben eine Idee davon zu erzählen, was uns geschehen ist. Aber wann tun wir es? Wer hört uns zu?“ (S. 233), das fragt sich der Protagonist Skip im gleichnamigen Roman und hat mit dem Erzählen begonnen zu revoltieren gegen Starre, Leere und Kälte, die ihn bedrohen. „Geschichte in Geschichten“ ist so gelesen auch ein Versuch, zu retten und zu trösten, wo es keinen Trost zu geben scheint: im sinnlosen Sterben Unschuldiger, angesichts des mörderischen Treibens, mit dem uns Geschichte schonungslos konfrontiert. So heißt es auch im Paratext zu ihrem 2022 zuletzt erschienenem Roman Die Gäste, der vom Erbe eines Berliner Cafés in Pandemiezeiten erzählt: „Das wird eine andere Geschichte, tröstete ich ihn, sie steht in einem anderen Buch“5. Erzählen erweist sich folglich als prinzipiell unabschließbarer Prozess, ein fortwährendes Hinzufügen, das der Trostlosigkeit ‚der‘ Geschichte entgegengestellt werden kann. Wer aufhört, Geschichten zu erzählen, hört auf, sich eine Zukunft vorzustellen: „Wie sieht ein Gesicht aus, das begreift, alle Geschichten sind zu Ende?“6, so wird Ariadne in Morpheus oder der Schnabelschuh befragt, als über ihr Leben entschieden wurde. Ein solches Ende der Geschichten erscheint in Hackers Werk jedoch nicht vorstellbar, der Faden des Geschichtenerzählens reißt nicht ab.
Ein kurzer Überblick über Katharina Hackers literarisches Werk
Katharina Hacker hat in den vergangenen gut 25 Jahren ein umfangreiches Werk vorgelegt. 1997 erscheint ihr Debüt Tel Aviv. Eine Stadtgeschichte, in dem die Autorin ihre Zeit in der israelischen Metropole literarisch verarbeitet. Bereits im Jahr darauf veröffentlicht sie die Erzählsammlung Morpheus oder Der Schnabelschuh, in der antike Mythen wie Sisyphos, Ariadne, Morpheus oder Charon auf originelle Weise in neue Kontexte gerückt werden. Es folgt im Jahr 2000 der erste Roman Der Bademeister, in dem von deutsch-deutscher Geschichte am Beispiel der biographischen Brüche eines Bademeisters erzählt wird. 2003 publiziert Hacker den von Saul Friedländer inspirierten Roman Eine Art Liebe. Hierin formuliert der Jerusalemer Rechtsanwalt Moshe Fein gegenüber einer in Israel lebenden Studentin, der Erzählerin des Romans: „Ich schenke dir diese Geschichte“. 2006 schließlich wird die Autorin einem breiten Publikum bekannt: Der mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Roman Die Habenichtse (2006), der die Geschehnisse von 9/11 vielschichtig aus der Perspektive eines nach London gezogenen Ehepaares und ihres Umfelds erzählt, wird zum großen Erfolg. An dieses Werk, das inzwischen auch in einer Reclam-Ausgabe vorliegt7 und in schulische Lehrpläne Eingang gefunden hat,8 schließen sich die Folgeromane Alix, Anton und die anderen (2009) und Die Erdbeeren von Antons Mutter (2010) an. Hacker erprobt druckgraphisch neue Erzählverfahren.9 Themen wie Demenz und Altern in einer Leistungsgesellschaft geraten – wiederum im Kontext generationellen Erzählens – in den Blick. Unmittelbar nach dem vielbeachteten Roman Die Habenichtse legte Hacker darüber hinaus Prosagedichte vor, ein Formexperiment, das unter dem Titel Überlandleitung 2007 veröffentlicht wurde. Das höchst innovative Experimentieren mit traditionellen Gattungen setzte die Autorin 2011 fort, als mit Eine Dorfgeschichte ein literarisches Erfolgsmodell des 19. Jahrhunderts eine Aktualisierung und kritische Befragung vor den Hintergrund des 20. und 21. Jahrhunderts erfuhr: Deutsche Kriegsverbrechen sowie Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg werden in einem dörflichen Mikrokosmus erinnert, wobei verschwiegenen und verfälschten Erinnerungen besondere Aufmerksamkeit zuteilwird. 2015 erscheint der ungewöhnliche Roman über den jüdischen Architekten Skip Landau, der nach dem Tod seiner Frau mit einer neuen Liebe von Tel Aviv nach Berlin zieht – in einem deutschsprachigen Roman wird die israelische Zeitgeschichte der letzten Jahrzehnte kenntnisreich vergegenwärtigt, wobei Hacker globale Katastrophen und Terroranschläge aus der Perspektive Landaus erzählt, der auf geheimnisvolle Weise zu den Gewaltopfern kurz vor ihrem Tod gerufen wird.
Einem ganz anderen Genre wendet sich Katharina Hacker 2021 zu: Sie legt mit Alles, was passieren wird einen Roman für Jugendliche vor, der sich der Herausforderung stellt, in der Gattung der Kinder- und Jugendliteratur Tod und Trauer zu verhandeln. Auch hier wird „Geschichte in Geschichten“ zum Thema: How to write an adventure tale – so lautet die Aufgabe, die der Ich-Erzählerin in der Schule gestellt ist. „Auf so einen dämlichen Einfall kommen nur Lehrer“10, so denkt sich die Protagonistin Iris genervt, um dann von ihrer türkischen Mitschülerin zu erfahren, welchen politischen Schwierigkeiten die Verwandten ihrer Mitschülerin ausgesetzt sind. Im Schulleben warten hier Abenteuergeschichten, die stets einen Bogen zur Zeitgeschichte spannen.
In den letzten Jahren hat die Schriftstellerin zwei Essaybände vorgelegt – Darf ich dir das Sie anbieten? von 2019 und Über Leben mit Tier von 2023. Die Bände, die Notizbüchern gleichen und auch freien Raum für Eintragungen der Leserinnen und Leser bereitstellen, enthalten präzise Beobachtungen, Aphorismen, kurze Geschichten, Reflexionen oder auch tagebuchartige Einträge – Minutenessays mithin, wobei Hacker in der Kurzprosa neue Schreibmodelle erprobt, die zum Fortschreiben, Um- und Neuerzählen auffordern. Die Vielseitigkeit ihrer Erzählkunst entfaltete sie auch in ihrem vorerst letzten Roman Die Gäste von 2022, einem Pandemie-Roman, der von den Gästen eines Berliner Cafés berichtet, das die Ich-Erzählerin geerbt hat. Liebesbeziehungen, Freundschaften, ja Freundlichkeit in Zeiten der Krise werden zum Thema eines Romans, der das Gast-Sein zu einer verstörenden existentiellen Erfahrung gestaltet. Doch auch hier wird das Café zum tröstenden Ort des Geschichtenerzählens in Zeiten der Pandemie: „Im Café, sagte Robert zu mir, fangen die Geschichten nur an, sie gehen anderswo weiter.“11
Die Autorin selbst begreift ihre Werke dabei als ‚Lebensmittel‘: „Bücher sind zum Leben da“, so äußerte sich Katharina Hacker gegenüber dem Magazin Cicero. „Voller Spuren sollten wir sie zurücklassen, mit Kaffeeflecken und Knicken. „man soll reinschreiben, Eselohren machen“12. Und so verknüpft die Autorin ihre Lektüreerlebnisse von Franz Kafka, Virginia Woolf, William Gaddis, Julio Cortázar, Samuel Joseph Agnon, Robert Musil und anderen immer auch mit Freundschaften, mit Lebensabschnitten und Liebesgeschichten.
Zum Stand der Forschung. Perspektiven und Desiderata
Hacker stellt ihre Figuren in globale Kontexte,13 so dass unterschiedliche Herkünfte und Lebensläufe aufeinandertreffen, sich begegnen, in ihrer Fremdheit sichtbar werden und auf Verständigungsmöglichkeiten hin befragt werden.14 Geschichten der Emigration, der Flucht, der Selbstfindung in einer globalen Arbeitswelt lassen unterschiedliche Lebensentwürfe in ihrer Brüchigkeit und Gefährdung erscheinen,15 gehen sie doch mit einer oft radikalen Selbstbefragung der Lebensentscheidungen einher.16 Ob in London, Paris, Tel Aviv oder Berlin – die globale Dimension von Hackers Erzählkunst ist immer auch eine Frage nach dem richtigen Leben und der gesellschaftlichen Verantwortung der Individuen.17
Die „Suche nach einer akkumulierten Zeit“ (Katharina Hacker) entfaltet sich im Werk der Autorin auf vielschichtige Weise, insbesondere auch in Generationenporträts. Deutsche Biografien der Nachkriegszeit, die schmerzlich familiäre Erinnerungen offenlegen,18 in der Hälfte ihres Lebens angekommene Frauen und Männer, deren Existenz dennoch auf unsicherem Grund zu stehen scheint,19 Elterngenerationen, die sich mit ihren dörflichen Kindheitserfahrungen konfrontiert sehen20 – gerade am Modell generationellen Erzählens macht Katharina Hacker deutlich, wie sehr die Prozesshaftigkeit von Erinnern und Vergessen,21 das Weitergeben von Lebenserfahrung und das Scheitern familiärer Entwürfe in generationellen Konzepten – und Konflikten – erzählt werden kann.22
Katharina Hacker, die in Freiburg und Jerusalem Judaistik studierte, hat sich in ihrem Werk intensiv mit der jüdisch-deutschen Geschichte und der Shoa auseinandergesetzt.23 In ihren Werken Tel Aviv, Eine Art Liebe und Skip etwa spielen deutsch-jüdische Biografien eine zentrale Rolle. Die Erinnerung und das Vergessen der Shoa in den Familiengeschichten sind von evidenter Bedeutung für die deutsche Gesellschaft der Gegenwart.24 Für das Verständnis ihres literarischen Schaffens lässt sich die Rezeption wichtiger deutsch-jüdischer Autorinnen und Autoren als zentral erachten.25
Details
- Seiten
- 250
- Erscheinungsjahr
- 2025
- ISBN (PDF)
- 9783631929803
- ISBN (ePUB)
- 9783631929810
- ISBN (Hardcover)
- 9783631929797
- DOI
- 10.3726/b22535
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2025 (Juli)
- Schlagworte
- deutsch-jüdische Geschichte Deutschunterricht Erinnerung und Vergessen Shoa deutsche Gegenwartsliteratur Katharina Hacker animal studies Sprachkritik Gattungspoetik 9/11 Adoleszenzroman Generationenroman
- Erschienen
- Berlin, Bruxelles, Chennai, Lausanne, New York, Oxford, 2025. 250 S.
- Produktsicherheit
- Peter Lang Group AG