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Zwischen Diktatur und Europa

Joaquín Ruiz-Giménez und der spanische Katholizismus, 1936–1977

von Stephanie Mayer-Tarhan (Autor:in)
©2017 Dissertation 370 Seiten

Zusammenfassung

Der Spanische Bürgerkrieg (1936–1939) endete mit dem Sieg der aufständischen Generäle. In der bis zum Tode General Francos im Jahre 1975 bestehenden Diktatur war die katholische Kirche neben dem Militär, der faschistischen Falange und den Monarchisten eine der wesentlichen Stützen des Regimes. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs standen insbesondere die transnational organisierten katholischen Laien im Spannungsverhältnis zwischen der Diktatur und dem sich parallel vollziehenden Europäischen Integrationsprozess. Die Auswirkungen dieser Situation auf das Verhältnis zum Regime werden in der Biographie des katholischen Laien Joaquín Ruiz-Giménez (1913–2009) deutlich. Der ehemalige Bildungsminister unter Franco wandelte sich zum entschiedenen Kritiker des Regimes.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Die Erforschung der Franco-Diktatur und der katholischen Kirche in Spanien
  • Offene Fragen und die Biographie Joaquín Ruiz-Giménez’
  • Begriffe und Methoden
  • Thesen und Forschungsfragen
  • Archive und Quellen
  • Aufbau
  • I. Überblick
  • I.1 Das Verhältnis Spaniens zu Europa im Franquismus (1936–1977)
  • I.1.1 Der Franquismus
  • I.1.1.1 Der „Neue Staat“ Francos
  • I.1.1.2 Die internationalen Beziehungen der Franco-Diktatur
  • I.1.2 Die „Familien“ des Franquismus
  • I.1.2.1 Falange
  • I.1.2.2 Die „katholische Familie“
  • I.2 Joaquín Ruiz-Giménez: Lebensweg (1913–2009)
  • I.2.1 Familie und Privatleben
  • I.2.2 Das Verhältnis zum Katholizismus als Student
  • I.2.3 Der Spanische Bürgerkrieg (1936–1939)
  • I.2.4 Wissenschaftliche Sozialisierung in der Zweiten Republik (1931–1936) und wissenschaftliche Karriere im Franquismus
  • II. Der Weg nach Europa
  • II.1 Transnationaler Katholizismus und „Nationalkatholizismus“: Ein unauflösbares Spannungsverhältnis? (1939–1956)
  • II.1.1 Pax Romana unter dem Vorsitzenden Ruiz-Giménez (1939–1946)
  • II.1.1.1 Pax Romana: Organisation, Hintergründe und Ziele
  • II.1.1.2 Pax Romana in Spanien
  • II.1.1.3 Der Europäische Regionalkongress in London 1945: Die Gründung des Hilfswerks für osteuropäische Studierende
  • II.1.1.4 Ruiz-Giménez als Vorsitzender von Pax Romana (1939–1946)
  • II.1.1.5 Pax Romana und die europäische Aussöhnung
  • II.1.2 Die Internationalen Katholischen Gespräche von San Sebastián (1947–1957)
  • II.1.2.1 Hintergründe
  • II.1.2.2 Teilnehmer an den Gesprächen und die Haltung Ruiz-Giménez’
  • II.1.2.3 Die Zeitschrift Documentos
  • II.1.2.4 Die Conversaciones: Teil der autocrítica?
  • II.1.3 Ruiz-Giménez als Botschafter beim Heiligen Stuhl (1948–1951)
  • II.1.3.1 Die Annäherung an die Kurie
  • II.1.3.2 Die „Europapolitik“ Ruiz-Giménez’ in Rom
  • II.1.3.3 Die Verhandlungen über das Konkordat
  • II.1.3.4 Das Konkordat
  • II.1.4 „Europa“ für Ruiz-Giménez und den spanischen Katholizismus in den 1950er Jahren: Projektionsfläche oder Kontrastfolie? (1939–1956)
  • II.1.4.1 Das CEDI
  • II.1.4.1.1 Das CEDI und der Abendlanddiskurs (1953–1956)
  • II.1.4.1.2 Ruiz-Giménez und das CEDI
  • II.1.4.2 Das Internationale Komitee zur Verteidigung der christlichen Kultur (CIDCC)
  • II.1.4.2.1 Das CIDCC
  • II.1.4.2.2 Ruiz-Giménez und das Internationale Komitee zur Verteidigung der christlichen Kultur
  • II.2 Das Konzil als Wendepunkt: von der „vorkonziliaren“ zur postkonziliaren Krise
  • II.2.1 Die „vorkonziliare Krise“ Ruiz-Giménez’: Zwischen Dialog und Konfrontation
  • II.2.1.1 Die politische Krise Ruiz-Giménez’
  • II.2.1.2 Der Versuch der Flucht in die Wissenschaft: Salamanca 1956–1960
  • II.2.1.3 Die religiöse Krise: Die Bedeutung des Pontifikats Johannes XXIII. für das Denken und Handeln Ruiz-Giménez’
  • II.2.2 Das Zweite Vatikanische Konzil und die Bedeutung für das Euro-pabild Ruiz-Giménez’ (1962–1965)
  • II.2.2.1 Das Zweite Vatikanische Konzil und die Rolle der Laien
  • II.2.2.2 Ruiz-Giménez als Sachverständiger und peritus beim Konzil
  • II.2.2.3 Die Begegnung Ruiz-Giménez’ mit den Bischöfen auf dem Konzil
  • II.2.2.4 Die Begegnung mit den europäischen Laien und Beobachtern beim Konzil
  • II.2.2.5 Von De Libertate Religiosa zu Dignitatis Humanae: Die Debatte um die Religionsfreiheit
  • II.2.2.6 Gaudium et spes: Die Kirche in der Welt von heute
  • II.2.2.7 Die Konzilsrezeption in Spanien
  • II.2.2.8 Die Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils für das Denken Ruiz-Giménez’: Zwischen „Nationalkatholizismus“ und „Europa“
  • II.2.3 Die Rückwirkungen des Konzils auf den spanischen (Laien-) katholizismus: Die Cuadernos para el Diálogo (1963–1976)
  • II.2.3.1 Gründung, Zielsetzung und Ausrichtung der Cuadernos para el Diálogo
  • II.2.3.2 Inhaltliche Ausrichtung der Cuadernos
  • II.2.3.3 „Europa“ in den Cuadernos
  • II.2.3.3.1 Explizite Europabezüge
  • II.2.3.3.2 Implizite Europabezüge: Religionsfreiheit und Neubewertung des Kirche-Staat-Verhältnisses
  • II.2.3.4 Weitere Formen des Dialogs: Die Rückwirkungen des Konzils auf die Haltung Ruiz-Giménez’ zum Regime
  • II.3 Europapolitische Konzeptionen des spanischen Laienkatholizismus zwischen Regimenähe und Regimekritik (1957–1975)
  • II.3.1 Der franquistische Europadiskurs
  • II.3.1.1 Das Opus Dei und die franquistische Europapolitik
  • II.3.1.2 Die ACNP und die franquistische Europapolitik
  • II.3.2 Der regimekritische Europadiskurs
  • II.3.2.1 Der CFEME
  • II.3.2.2 Die AECE bis zur Vizepräsidentschaft Ruiz-Giménez’
  • II.3.2.3 Der Kongress von München
  • II.3.2.4 Ruiz-Giménez als Vizepräsident der Asociación Española de Cooperación Europea (1968–1976)
  • II.3.2.5 Konzilsrezeption und Europagedanke in der AECE
  • II.3.3 Pax Romana-MIIC: Die zweite Präsidentschaft Ruiz-Giménez’ (1966–1971)
  • II.3.3.1 Entwicklung der transnationalen Organisation zwischen der ersten und der zweiten Präsidentschaft Ruiz-Giménez’ (1946–1966)
  • II.3.3.1.1 Strukturelle Entwicklung
  • II.3.3.1.2 Inhaltliche Entwicklung
  • II.3.3.2 Die zweite Präsidentschaft Ruiz-Giménez’ bei Pax Romana – MIIC (1966–1971)
  • II.3.4 Justicia y Paz – Gerechtigkeit und Frieden
  • II.3.4.1 Die spanische Kommission Justicia y Paz
  • II.3.4.1.1 Entstehung und Aufbau
  • II.3.4.1.2. Europäische Kooperation
  • II.3.4.1.3 Entwicklung der spanischen JP-Kommission unter dem Vorsitz Ruiz-Giménez’
  • II.3.4.2 Die Europäische Konferenz Justitia et Pax
  • II.3.4.2.1 Entstehung und Aufbau
  • II.3.4.2.2 Das Verhältnis zwischen spanischer Kommission JP und Europäischer Konferenz JP
  • II.3.4.3 Die Amnestiekampagne 1975 als Beispiel der europäischen Zusammenarbeit der JP-Kommissionen
  • II.3.5 Ruiz-Giménez und die spanische und europäische Christdemokratie
  • II.3.5.1 Einordnung Ruiz-Giménez’ in die spanische Christdemokratie
  • II.3.5.2 Die IDC und ihr Europabild bis zum Tod Manuel Giménez Fernández’ (1959–1968)
  • II.3.5.3 Die Izquierda Demócratica unter dem Vorsitz Ruiz-Giménez’ (1968–1976): Neuausrichtung und Umbenennung
  • II.3.5.4 Die spanische Christdemokratie und Europa
  • II.3.5.5 Ruiz-Giménez und die europäische Christdemokratie
  • III. Ausblick und Schlussbemerkungen
  • III.1 Ausblick: Leben und Wirken Ruiz-Giménez’ in Transición und Demokratie (1975–2009)
  • III.1.1 Die politische Rolle Ruiz-Giménez’ in der Transición
  • III.1.2 Das Verhältnis Ruiz-Giménez’ zu „Europa“ in der Transición
  • III.2 Schlussbemerkungen
  • IV. Quellen- und Literaturverzeichnis
  • V. Zeittafel

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Einleitung

Die Erforschung der Franco-Diktatur und der katholischen Kirche in Spanien

Der Spanische Bürgerkrieg endete 1939 mit dem Sieg der aufständischen Generäle, an deren Spitze sich im Verlaufe des Kriegs Francisco Franco setzen konnte. Der 1. April 1939 war zugleich der Beginn der fast vierzigjährigen franquistischen Diktatur.1 Die katholische Kirche stellte neben dem Militär, der faschistischen Partei Falange sowie den Monarchisten eine der „Familien“2 des Franco-Regimes.3 Die ← 15 | 16 → Unterstützung der spanischen katholischen Kirche für die Aufständischen hatte bereits im Bürgerkrieg begonnen. Mit dem Hirtenbrief der spanischen Bischöfe aus dem Jahre 1937, der den Bürgerkrieg zum „Kreuzzug“ erklärte, wurde sie zur wichtigsten herrschaftslegitimierenden Instanz für die Putschisten.4 Nach dem Ende des in den Augen der Bischöfe als „Kreuzzug“ geführten Bürgerkrieges sahen diese nun die Gelegenheit gekommen, die „Evangelisierung“5 Spaniens in Angriff zu nehmen.6 Im Konkordat des Jahres 1953 wurde die katholische Religion schließlich erneut zur Staatsreligion erklärt.7 Nicht nur die Bischöfe, auch die katholischen Laien in Spanien waren eng mit dem Regime verbunden. Der spanische Laienkatholizismus organisierte sich in der Nachkriegszeit zu einem Großteil in der Katholischen Aktion und in der Asociación Católica Nacional de Propagandistas (ACNP)8. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sah Franco die Notwendigkeit gekommen, dem Regime ein anderes Außenbild zu verleihen. Angesichts der christdemokratischen Ausrichtung anderer westeuropäischer Länder verband der Diktator mit der Einbindung der Mitglieder der ACNP in die Regierung die Hoffnung, die internationale Isolation durchbrechen zu können, in der sich Spanien durch die Kooperation mit den Achsenmächten im Zweiten Weltkrieg befand.9

Die überaus enge Verbindung der spanischen katholischen Kirche mit dem franquistischen Regime wurde bereits seit den 1960er Jahren als „Nationalkatholizismus“ ← 16 | 17 → bezeichnet.10 Die analytische Unschärfe des ursprünglich der franquistischen Propaganda entstammenden Begriffs und seine unkritische Übernahme in zahlreiche Studien zur Geschichte des Franquismus hat dabei zu Unklarheiten und Fehlinterpretationen geführt.11 Álvarez Bolado, der sich in den 1970er Jahren in einer bis heute vielbeachteten Untersuchung ausführlich mit dem Begriff auseinandergesetzt hat, beschreibt damit „die Hoffnung der spanischen kirchlichen Hierarchie jener Jahre, einen neuen nationalen und katholischen Konsens mittels der politischen Aktivität des zurückeroberten Staates“ zu schaffen.12 Der „Neue Staat“ habe im Rahmen dieses „nationalkatholischen Experimentes“ den gesamten politischen Apparat und dessen Ressourcen in den Dienst der Kirche gestellt. Im Gegenzug habe Franco von der Kirche nicht nur die moralische Legitimation des Staates erwartet, sondern darüber hinaus die Bindung der Gläubigen an das politische System des Franquismus.13 Die Überzeugung bedeutender Mitglieder der ACNP und der spanischen Katholischen Aktion von der Interessenkongruenz zwischen Kirche und franquistischem Staat führte zur Auflösung der eigenen Jugendorganisationen, da man diese in einem Staat, der die katholische Religion zum obersten Maßstab erklärte, für obsolet erklärte.14 Álvarez Bolado sieht das Scheitern dieses „Experimentes“ bereits in dessen Konzeption angelegt: Eine moderne Kirche könne ihre Legitimität nicht aus der Nostalgie für eine idealisierte Vergangenheit beziehen.15 Kritik an dem Begriff des „Nationalkatholizismus“ ist in der Folge aus unterschiedlichen Fachdisziplinen laut geworden. So ist der Terminus als „Kunstbegriff“ abgelehnt worden, der „nur bei bestimmten Werken von überwiegend franquistischen Schriftstellern und deren Gegnern […] auftaucht […]“16. Aus rechtsphilosophischer Sicht ist demgegenüber der Vorschlag geäußert worden, den politischen Katholizismus in der Franco-Diktatur über die „Rolle, die [die] katholische Kirche auf völkerrechtlicher und auf Landesebene innerhalb Spaniens rechtlich gespielt hat“17 zu erfassen. Die neueste Franco-Biographie von Carlos Collado Seidel hat zudem erneut gezeigt, dass es eine völlige Übereinstimmung der Ziele des franquistischen Staates und der Kirche nicht gegeben hat, da das Kalkül Francos auf dessen „Herrschaftspragmatismus“ fußte.18 Für die Einordnung der ← 17 | 18 → Rolle der katholischen Kirche innerhalb des franquistischen Herrschaftsgefüges bedeutet dies, dass sich Franco des Katholizismus ebenso bediente, wie er dies im Falle der Falange oder der Monarchisten tat, ohne sich die Perspektive einer der miteinander konkurrierenden Gruppierungen zu eigen zu machen.

Neben der Frage nach der konzeptionellen Ausrichtung des Begriffes „Nationalkatholizismus“ stellt sich im Hinblick auf das damit beschriebene enge Verhältnis zwischen Kirche und Staat auch die Frage nach dessen Entwicklung im Verlauf der Diktatur. Während die geschichtswissenschaftliche Forschung in der jungen spanischen Demokratie sich auf die Aufarbeitung der Diktatur konzentrierte19, haben insbesondere mit dem Jahrtausendwechsel zahlreiche nach Regionen und Gruppierungen differenzierende Studien das Bild einer Kirche nachhaltig korrigiert, die als monolithischer Block eine Einheit mit der Franco-Diktatur gebildet habe oder diese in Gänze unterstützt und legitimiert habe.20 Es besteht heute Konsens darüber, dass es im Verlaufe der Diktatur eine zunehmende Distanzierung der spanischen Kirche vom Regime gegeben hat.21 Die Beziehungen waren von Beginn an nicht frei von Spannungen: Der Primas von Spanien bis 1940, Kardinal Gomá, rief nach dem Bürgerkrieg in einem Hirtenbrief, dessen Verbreitung vom Regime untersagt wurde, zu Vergebung und Versöhnung auf; die katholischen Basken befürworteten gar größtenteils die Republik.22 Die Diskussion um die Rolle ← 18 | 19 → der Kirche im Franquismus befasst sich daher zunehmend mit Ausmaß, Zeitpunkt und Gründen, aus denen sich die Kirche letztlich vom Regime abwandte. Während manche Studien die Distanzierung von Teilen der spanischen Kirche vom Regime als logische Konsequenz einer sich bereits ab den 1950er Jahren in kirchlichen Kreisen abzeichnenden Tendenz deuten23, sehen andere darin lediglich eine Distanzierung taktischer Art. Dies gilt besonders für die zunehmende Kritik von Seiten der Kirche am Regime ab Mitte der 1960er Jahre. Denn dass Franco noch weitere zehn Jahre leben und sich an der Macht halten würde, war zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar. Die Sorge um die Zukunft der eng an das Regime gebundenen spanischen Kirche angesichts der ungeklärten Nachfolge des Caudillo bewegte sicherlich nicht wenige Kirchenvertreter, sich in diesen Jahren neu zu orientieren.24 Mariano Delgado betont demgegenüber die Intention des spanischen politischen Katholizismus bereits in der Nachkriegszeit, die franquistischen Strukturen zu liberalisieren, „um sie von innen her für eine Entwicklung zu größerer Freiheit in Angleichung an die in Europa herrschenden christdemokratischen Vorstellungen zu bereiten.“25 Delgado ist der Ansicht, man könne „durchaus sagen, dass Franco den politischen Katholizismus benutzte, solange er ihm dienlich schien (1945–1957), dass er ihn aber fallen ließ, als die demokratischen Erwartungen zu groß wurden“26. Javier Muñoz Soro hingegen zieht aus seinen kulturhistorischen Betrachtungen des spanischen politischen Katholizismus den Schluss, die Nationalkatholiken seien mit dieser Intention gescheitert. Statt Institutionen zu schaffen sei es ihnen lediglich gelungen, eine „apertura limitada“, eine begrenzte Öffnung des Regimes, zu erreichen. Dies wiederum habe vielmehr einer Legitimierung des Regimes, insbesondere in der Außenwirkung, gedient.27 Muñoz Soro lehnt sowohl die zeitgenössische als auch historische Zuschreibung der Bezeichnung „christdemokratisch“ für die spanischen katholischen Politiker der ACNP als ahistorisch, da mit den Bedingungen der Diktatur unvereinbar, ab.28 ← 19 | 20 →

Bereits Guy Hermet arbeitete in seinen älteren, vielbeachteten Studien zum Katholizismus in der Franco-Diktatur die Funktion der Kirche als „Volkstribun“ heraus, die mit den ihr zugestandenen Freiräumen als Wortführer und Sammelbecken regimekritischer Gruppierungen in den 1950er und 1960er Jahren diente.29 Dieses Urteil, das sich insbesondere auf die katholischen Arbeiterorganisationen bezieht, wird durch neuere Untersuchungen gestützt.30 So sieht Feliciano Montero García, Autor grundlegender Studien zur Katholischen Aktion in Spanien und den spanischen Laienorganisationen, Teile der Kirche für die letzten Jahre der Diktatur in tatsächlicher Opposition zum Regime. Dabei handelte es sich auch nach Meinung Montero Garcías insbesondere um katholische Arbeiterorganisationen wie die Hermandad Obrera de Acción Católica (HOAC)31 und die Juventud Obrera Cristiana (JOC).32 Diese Organisationen, die Teil der spezialisierten Katholischen Aktion sind, orientierten sich in den 1960er Jahren an den Arbeiterpriestern in Frankreich. Sie arbeiteten teils eng mit oppositionellen Gruppierungen und den verbotenen Gewerkschaften zusammen, bis hin zur Kooperation mit Organisationen marxistischer Prägung. Die subversiven, gegen das Regime gerichteten Aktivitäten reichten hier von der Bereitstellung von Kirchen für das Abhalten geheimer Treffen oder Gesprächskreise bis hin zu öffentlichen Stellungnahmen gegen das Regime. In den Arbeiterorganisationen war es oftmals kein Sinneswandel dort bereits engagierter Laien, der zur Konfrontation mit dem Regime und mit der kirchlichen Hierarchie führte. Vielmehr fand hier ein Generationswechsel statt, in dessen Verlauf verstärkt junge Katholiken das Wort ergriffen, die den Bürgerkrieg nicht mehr bewusst miterlebt hatten.33

Auch in den Reihen der Bischöfe finden sich bereits früh Beispiele für nonkonformes Verhalten, wenngleich im Frühfranquismus (1936–1956) nur sehr vereinzelt Kritik seitens der kirchlichen Hierarchie am Regime laut wurde. Wo diese geäußert wurde, bezog sie sich zumeist auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit. So wandten ← 20 | 21 → sich Kardinal Herrera Oria34, Kardinal Pla y Deniel35, Kardinal Enrique y Tarancón36 und andere Bischöfe bereits in der Nachkriegszeit angesichts der franquistischen Politik der Lebensmittelverknappung und der daraus folgenden Hungersnot an die Machthaber.37 Im Zusammenhang mit den Unruhen des Jahres 1956 setzten sich zunehmend Kirchenvertreter für die Verbesserung der sozialen Situation im Land ein.38 Weitere Konflikte resultierten aus regionalen Differenzen. So hatten bereits den Hirtenbrief des Jahres 1937 einzig Kardinal Vidal y Barraquer39, Bischof des katalanischen Tarragona, sowie Mateo Mugica Urrestarazu40, der Bischof des baskischen Vitoria, nicht unterzeichnet. Im Spätfranquismus ist der Fall des Bischofs Añoveros von Bilbao zu nennen, der im Jahre 1974 in einem Hirtenbrief das Recht ← 21 | 22 → der Basken auf das Leben der baskischen Kultur forderte, was – zu einem ohnehin kritischen Zeitpunkt zwei Monate nach der Ermordung der „grauen Eminenz“ des Franquismus, Carrero Blanco41, durch die ETA – zum offenen Konflikt mit dem Regime führte.42 Lannon bezweifelt ungeachtet dieser Beispiele für die Mehrheit der Bischöfe eine kritische Einstellung gegenüber dem Regime und verweist auf die „Krise der Katholischen Aktion“. Mit diesem Begriff wird die Absetzung der Leiter der spezialisierten Katholischen Aktion durch die spanischen Bischöfe im Jahre 1966 bezeichnet, mit der letztere dem zunehmenden politischen Engagement der katholischen Laien gegen das Regime entgegenzuwirken suchten.43 Zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Bildes der katholischen Kirche im Franquismus trägt die 2014 ebenfalls von Montero García herausgegebene Studie zu der Situation pro-republikanischer und demokratischer kirchlicher Akteure in Bürgerkrieg und Diktatur bei.44 Ohne die nähere Untersuchung dieser „zweifach vergessenen“ (Montero García) Priester und kirchennahen Akteure bliebe das Bild der spanischen Kirche im Franquismus unvollständig.45

In Bezug auf die Bedeutung der zunehmenden Regimekritik von Teilen der katholischen Kirche gesteht der international renommierte Forscher zu Bürgerkrieg und Franco-Diktatur, Julián Casanova, zwar zu, dass die Kirche ihre Haltung zum Regime im Laufe der Jahre geändert habe. Ihre Rolle für die Legitimierung des Regimes habe jedoch im Vergleich mit derjenigen beispielsweise des Militärs deutlich größere Relevanz besessen. Da die spanischen Bischöfe bereits mit dem Hirtenbrief des Jahres 1937 die Deutung des Bürgerkriegs als „Kreuzzug“ vorgaben und die Diktatur Francos in den ersten Jahren euphorisch begrüßten, in späteren Jahren politisch wie kirchlich unterstützten, habe die Kirche als Institution ungleich mehr für die Aufrechterhaltung der Diktatur getan, als die späte Distanzierung wettmachen konnte, so Casanova. Casanova betont die wichtige Rolle der Kirche für das Regime, dem durch diese Unterstützung eine Humanität zugeschrieben worden ← 22 | 23 → sei, die innenpolitisch wie auch international wesentlich zu dessen Anerkennung beigetragen habe. Wenngleich die Kirche später im Vergleich mit anderen beteiligten Gruppierungen wie dem Militär einen Wandel im Verhältnis zur Diktatur vollzogen habe, so sei dieser Beitrag zur Etablierung und Stärkung des Regimes doch wertvoller und weitreichender für das Regime gewesen als derjenige jeder anderen der franquistischen „Familien“.46

Neben der Frage nach Ausmaß und Zeitpunkt der Regimegegnerschaft der spanischen Katholiken besteht ein weiteres Forschungsfeld in der Frage nach den Gründen für die Abwendung der Kirche vom Regime. Hier muss der Blick über den spanischen „Nationalkatholizismus“ hinausgehen und die Bedeutung der Weltkirche für die Haltung der spanischen Bischöfe und Katholiken in den Blick nehmen. Bereits der Wechsel von Papst Pius XII. zu Johannes XXIII. markierte einen Wendepunkt, in dessen Folge sich das Verhältnis zwischen Regime und Heiligem Stuhl deutlich abkühlen sollte.47 Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) stellte den entscheidenden Einschnitt dar, der die Haltung vieler spanischer Katholiken zum Regime in Frage stellte. Wenngleich die spanischen Bischöfe auf dem Konzil zu den blockierenden Kräften zählten und oftmals auch bei ihrer Rückkehr nach Spanien wenig von den Erfordernissen der Anpassung ihrer Alltagspraxis an die Konzilsbeschlüsse wissen wollten, sah sich doch nun das Lager derjenigen innerhalb der Kirche, die sich für die innerspanische Aussöhnung einsetzten, deutlich gestärkt. Erst mit der Übernahme des Vorsitzes der Spanischen Bischofskonferenz durch Vicente Kardinal Enrique y Tarancón im Jahre 1971 jedoch begann sich diese Position in der kirchlichen Hierarchie durchzusetzen.48

Neben der maßgeblichen Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils stellte der Europäische Integrationsprozesses für die spanischen Katholiken eine Herausforderung dar, die sich auch auf ihre Haltung zum Regime auswirkte.49 So sah sich der spanische politische Katholizismus nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit einer (west-) europäischen Christdemokratie konfrontiert, deren politisches Projekt im Gegensatz zum spanischen Nationalkatholizismus in der europäischen Zusammenarbeit bestand.50 Die Frage nach der europäischen Annäherung zwischen kirchlichen Akteuren ist für den spanischen Fall oftmals mit dem Verweis auf die vermeintliche Isolation der spanischen Kirche im Franquismus und deren daraus resultierende Ausrichtung auf den Nationalkatholizismus unbeantwortet gelassen worden. Während zahlreiche Studien zu den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen Spaniens zu „Europa“ für die Zeit der Franco-Diktatur vorliegen, bleibt die ← 23 | 24 → Rolle der Kirche bei der Annäherung an „Europa“ weitgehend unberücksichtigt.51 Da dieses Bild der spanischen Kirche als eines monolithischen Blocks mit eindeutig identifizierbarem „nationalkatholischen“ Anliegen, der dazu noch über die gesamte Dauer der Diktatur hinweg unverändert bestand, mittlerweile als unhaltbar gelten kann, muss die Frage nach dem Verhältnis des spanischen Katholizismus zum sich parallel vollziehenden Europäischen Integrationsprozess neu gestellt werden. Damit verbunden können Rückschlüsse über die Abwendung der Kirche von der Diktatur getroffen werden.52

Für die spanische Opposition im In- und Ausland, in der ebenfalls zahlreiche aktive Katholiken vertreten waren, stellte der von demokratischen und rechtsstaatlichen Überzeugungen geprägte Europäische Integrationsprozess der Nachkriegszeit einen natürlichen Bezugspunkt ihrer Regimekritik dar.53 Anders verhielt es sich mit den dem Regime verbundenen Katholiken: In den Prozess der europäischen Annäherung und Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Verlauf den Kirchen die wichtige Rolle zukam, den Dialog über den gemeinsamen Glauben voranzutreiben54, waren die spanischen Bischöfe und Laien zunächst nicht involviert. Wenngleich ein reger Austausch mit christdemokratischen Politikern ← 24 | 25 → insbesondere aus Deutschland stattfand, wie Birgit Aschmann in ihrer Dissertation eindrucksvoll nachgewiesen hat,55 führte die Zusammenarbeit in Organisationen wie dem Centro Europeo de Documentación e Información (CEDI) [Europäisches Dokumentations- und Informationszentrum] oder dem Comité Internacional para la Defensa de la Civilización Cristiana (CIDCC) [Internationales Komitee zur Verteidigung der christlichen Kultur] in den 1950er Jahren nicht zum Überdenken eigener Positionen. Vielmehr wurde hier ein für das Regime vorteilhaftes Europabild kultiviert, welches Europa zum „Bollwerk gegen den Kommunismus“ erklärte. Innerhalb dieses Kontextes wurde Spanien unter Franco als „Wächter des Abendlandes“ dargestellt.56 Vor dem Hintergrund dieser steten Bezugnahme auf Europa bei grundsätzlich verschiedenen Europavorstellungen ist es zu verstehen, wenn der spanische Wirtschaftshistoriker Jesús M. Zaratiegui zugespitzt formuliert: „Una Europa para dos Españas“ [Ein Europa für zwei Spanien].57 Aschmann bezeichnet diese höchst unterschiedliche Funktion, die „Europa“ für die spanischen Gruppierungen auf beiden Seiten erfüllte, mit den Termini „Projektionsfläche“ auf der einen und „Kontrastfolie“ auf der anderen Seite.58

Offene Fragen und die Biographie Joaquín Ruiz-Giménez’

Wenn also für die katholischen Organisationen, die aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem Franco-Regime und dem wesentlich christdemokratisch geprägten Prozess der Europäischen Integration hervorgingen, bereits Studien vorliegen, ist dies für die beteiligten Personen nur vereinzelt der Fall. Der Wandel, dem das Verhältnis spanischer Katholiken zum Regime durch die Auseinandersetzung mit „Europa“ unterlag, ist jedoch oftmals nur biographisch zu erklären. Die frühe und enge Kooperation zahlreicher Mitglieder der spanischen katholischen ← 25 | 26 → Laienorganisationen mit dem Regime in der Nachkriegszeit ist seit den bis heute vielbeachteten Untersuchungen Javier Tusells eindrucksvoll belegt.59 Hier wird bereits deutlich, dass die Männer, die Francos Politik in der Nachkriegszeit ein „katholisches Außenbild“ verleihen sollten, aus einem kollektiven Selbstverständnis heraus handelten. Unter den bedeutenden Persönlichkeiten des spanischen Katholizismus haben sich einige Charaktere durch ihren Einsatz für den franquistischen Staat besonders hervorgetan. Zu nennen sind hier insbesondere der Vorsitzende der spanischen Katholischen Aktion (1940–1945), Alberto Martín Artajo60, der Direktor des Instituto de Cultura Hispánica (1948–1956), Alfredo Sánchez Bella,61 der spätere Außenminister Fernando María Castiella62 (1957–1969) sowie der Botschafter beim Heiligen Stuhl (1951–1953), Joaquín Ruiz-Giménez y Cortés. Ihnen ist gemein, dass sie Mitglieder der katholischen Laienorganisation Asociación Católica Nacional de Propagandistas (ACNP) waren und seit der Frühphase des Regimes verschiedene Schlüsselpositionen im „Neuen Staat“ innehatten: Alberto Martín Artajo wurde 1945 von Franco zum Außenminister ernannt. Alfredo Sánchez Bella war unter anderem Botschafter des Regimes bei der Dominikanischen Republik (1959–1962) sowie in Italien (1962–1969). Fernando María Castiella war von 1952 bis 1957 Botschafter beim Heiligen Stuhl und zeichnete für den Abschluss des Konkordats verantwortlich. Joaquín Ruiz-Giménez (1913–2009) hatte sowohl in den katholischen Laienorganisationen als auch im franquistischen Staat hohe Positionen inne. Er war Vorsitzender der transnationalen katholischen Studierendenorganisation Pax Romana (1939–1946 und 1966–1971), Vorgänger Sánchez Bellas als Direktor des Instituto de Cultura Hispánica (1946–1948), Botschafter beim Heiligen Stuhl (1948–1951) und Bildungsminister (1951–1956). Nach der Teilnahme am Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) als peritus wandte er sich zunehmend vom Regime ab und engagierte sich als Vizepräsident der regimekritischen Asociación Española de Cooperación Europea (AECE) (1968–1976) sowie im gleichen Zeitraum als Vorsitzender der linken christdemokratischen Partei (1968–1976) und der spanischen Kommission Justicia y Paz (Gerechtigkeit und Frieden) (1973–1976). In diesen Ämtern setzte er ← 26 | 27 → sich gegen das Regime und für ein demokratisches Europa ein. Als Herausgeber der Cuadernos para el Diálogo (Hefte für den Dialog) (1963–1976) war er einer der ersten und entschiedensten Verfechter des Gedankens der Versöhnung unter den Spaniern in der „katholischen Familie“. Mit Martín Artajo und Sánchez Bella war er über die ACNP eng verbunden, sie pflegten darüber hinaus einen regelmäßigen privaten Schriftverkehr. Während sich die Lebensläufe der Männer im Frühfranquismus dahingehend ähneln, dass sie alle hohe Ämter im franquistischen Regime innehatten und an das „nationalkatholische Experiment“ glaubten, setzte sich dieser Parallelismus ihrer Lebenswege im Spätfranquismus nicht fort. Alberto Martín Artajo stand bis zum Tode Francos in Diensten des Regimes. Aus dem Briefwechsel Ruiz-Giménez’ mit Sánchez Bella geht hervor, dass letzterer, der im Spätfranquismus das Amt des Ministers für Tourismus und Information innehatte (1969–1973), seine Bindung an das Regime über die Jahre gar noch festigte. Über die Lebensläufe der Katholiken, die von Anbeginn der Diktatur in steter Gegnerschaft zum Regime standen63, sowie derjenigen, die bis zuletzt an der Seite Francos verblieben64 hinaus gab es auch einige wenige, deren Haltung gegenüber dem Regime sich im Laufe der Zeit änderte. Es besteht Konsens darüber, dass die Abwendung Joaquín Ruiz-Giménez’ vom Regime neben derjenigen des katholischen Falangisten Dionisio Ridruejo65 die in dieser Hinsicht bemerkenswerteste biographische Entwicklung im spanischen Katholizismus darstellte. Neben der Entwicklung zum entschiedenen Gegner des „Neuen Staates“ im Laufe der Diktatur zeigt der Lebensweg Joaquín Ruiz-Giménez’ im Vergleich mit den Biographien seiner katholischen Weggefährten jener Jahre eine weitere ins Auge fallende Besonderheit: Wie kaum ein anderer stand er durch seine Aktivität in mehreren internationalen katholischen Organisationen bereits seit der Zwischenkriegszeit in engem Austausch mit anderen Katholiken in Europa. Während Deutungen seiner Biographie, die in Einzelstudien zu begrenzten Etappen seines Lebens vorliegen66, sich auf die spanische Innenpolitik und die Verbindungen zum Vatikan konzentrieren, werden die zahlreichen Kontakte insbesondere zum europäischen Katholizismus jedoch ebenso wenig betrachtet wie ← 27 | 28 → der Einsatz Ruiz-Giménez’ für ein (christ-) demokratisches Europa, den er mit seiner Abkehr vom Regime in verschiedenen Organisationen zeigte.

Spanische Katholizismusforscher wie Montero García sehen in Ruiz-Giménez den wichtigsten politisch engagierten spanischen katholischen Laien unter Franco. Zeitgenossen galt er als Mann des Konzils. Seine Prägung durch das Zweite Vatikanum trug er, zunächst insbesondere als Herausgeber der Cuadernos para el diálogo, deutlich nach außen. Der spanische Zeithistoriker Javier Muñoz Soro, der an der Universidad Complutense de Madrid zur politischen Rolle des spanischen Katholizismus unter Franco forscht, bezeichnet Ruiz-Giménez als „católico total“.67 Wenn man also Erkenntnisse zu den Gründen für die Abwendung der Kirche vom Regime gewinnen möchte, sollte man sich die Biographie des Mannes ansehen, der als einer der Hauptvertreter des Nationalkatholizismus galt, bis er sich im Spätfranquismus zu dessen entschiedenen Kritiker wandelte. Stellvertretend für die spanische zeithistorische Katholizismusforschung erhofft sich Montero García von einer noch zu schreibenden Biographie Ruiz-Giménez’ auf Grundlage der neu verfügbaren Quellen einen erheblichen Erkenntnisgewinn:

Falta una buena biografía de J. Ruiz.Giménez. La consulta de su archivo personal, que se conserva digitalizado en la Universidad Carlos III, permitirá contrastar la imagen y el perfil trazado fundamentalmente por el propio RG [Abkürzung im Original] (entrevistas y exposiciones autobiográficas) y por sus amigos y discípulos (libros de homenaje) con la información que ofrece, por ejemplo, la correspondencia.68

Lediglich ein Teil der Biographie Ruiz-Giménez’ kann bisher als verhältnismäßig gut aufgearbeitet gelten: Die Cuadernos para el Diálogo [Hefte für den Dialog], die er im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils im Jahre 1963 gründete und bis zu deren Ende im Jahre 1977 leitete, sind Gegenstand gleich zweier neuerer Studien.69 ← 28 | 29 → Zum wissenschaftlichen und politischen Werdegang Ruiz-Giménez’ bis ins Jahr 1963 liegt ein Artikel von Javier Muñoz Soro aus dem Jahre 2006 vor, der sich jedoch noch nicht auf die nun zugänglichen Quellen aus dem privaten Nachlass stützen konnte.70 Eine deutschsprachige Untersuchung zum Verhältnis des spanischen Katholizismus zu Europa während des Franquismus in Allgemeinen sowie zu Ruiz-Giménez im Besonderen fehlt bislang. Dies ist angesichts des großen Interesses, das die Geschichte der Europäischen Integration und die Rolle der Kirchen innerhalb dieses Prozesses in der jüngeren Forschung erfahren haben, unverständlich.

Wenn sich mit Joaquín Ruiz-Giménez der wohl bedeutendste Verfechter des „Nationalkatholizismus“ öffentlichkeitswirksam vom Regime abwandte und dabei den Schulterschluss mit der europäischen Christdemokratie suchte, so wirft dieser Wandel Fragen auf, zu deren Klärung die Biographie Ruiz-Giménez’ in den Blick genommen werden muss. Bereits existierende, ältere Biographien haben sich, basierend auf Gesprächen und der unkritischen Wiedergabe von Zitaten, im Wesentlichen auf die Reproduktion des autobiographischen Narrativs Ruiz-Giménez’ beschränkt.71 Diese Deutung gilt es anhand der seit 2010 im Nachlass Ruiz-Giménez’ neu verfügbaren Quellen kritisch zu hinterfragen. Es kann sich bei der Untersuchung mithin nicht um eine Biographie handeln, die, im Sinne einer traditionellen Biographie, das Leben Ruiz-Giménez’ „von der Wiege bis zur Bahre“ in den Blick nimmt. Das Spannungsverhältnis, in dem der spanische Katholizismus zwischen Franco-Diktatur und Europäischem Integrationsprozess stand, soll vielmehr anhand der „kontextuellen Biographie“ Joaquín Ruiz-Giménez’ untersucht werden. Das Konzept zielt nach Hans Erich Bödeker darauf ab, den Untersuchungsgegenstand in enger Verflechtung mit den Strukturen seiner Umwelt zu untersuchen und dabei dezidiert auch auf individuelle und kollektive (Bruch-) Erfahrungen eingehen zu können.72 Im Vordergrund steht die Fragestellung, der sich die Untersuchung der verschiedenen Lebensabschnitte unterordnet und die andere gleichermaßen „ausblendet“: Wie und entlang welcher Stationen vollzog sich der Wandel vom überzeugten „Nationalkatholiken“ zum Christdemokraten westeuropäischer Prägung? Waren es die gleichen Stationen, die für die Abwendung vom Regime relevant waren? Die nach Aschmann von spanischer Seite mit Europa verbundenen „Wunschvorstellungen“73 werden in der vorliegenden Arbeit in Bezug auf Ruiz-Giménez und den spanischen Katholizismus untersucht. Sie orientierten sich im Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit am politischen Prozess der Europäischen Integration, der nach dem Zweiten Weltkrieg begann und den die Kirchen nach heutigem Kenntnisstand vielfach begleiteten oder gar initiierten.74 Auf Grund der besonderen Beschaffenheit des Franco-Regimes, das sich bereits im Bürgerkrieg in den Jahren 1936 bis 1939 ← 29 | 30 → etablierte und das nicht am Zweiten Weltkrieg teilnahm, setzt die Untersuchung jedoch nicht erst im Jahre 1945, sondern bereits mit dem Putsch von 1936 an.75 Die Nachkriegszeit bildet dennoch den Schwerpunkt der Untersuchung, da sich erst hier in besonderem Maße Kontakte zu Vertretern des europäischen Christentums ergaben. Aus der isolierten Situation Spaniens im Kontext der Nachkriegsordnung ergab sich, dass der „Nationalkatholizismus“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit oftmals betont antieuropäische Positionen aufwies und zunächst scheinbar keine Bemühungen vollzog, in den Dialog mit anderen christlichen europäischen Strömungen zu treten.76

Begriffe und Methoden

Die Auseinandersetzung mit dem antieuropäischen Denken auch in kirchlichen Kreisen nimmt daher in der Arbeit einen wichtigen Platz ein. Dabei muss der Begriff „antieuropäisch“ jedoch näher definiert werden: Der Verweigerung gegenüber der Idee der Ökumene und der politischen Ablehnung der Christdemokratie sowie des sich vollziehenden europäischen Integrationsprozesses standen doch eigene Europavorstellungen gegenüber, die im Einzelnen näher untersucht werden. Dabei werden schwerpunktmäßig katholische Laienorganisationen wie die Asociación Católica Nacional de Propagandistas (ACNP), der Ruiz-Giménez angehörte, in den Blick genommen. Die kirchliche Hierarchie tritt dort ins Blickfeld der Untersuchung, wo Ruiz-Giménez oder andere spanische katholische Laien mit ihr in der Diskussion standen.

Doch die Auseinandersetzung mit Europa erfolgte nicht nur auf politischer Ebene. Da im Zentrum der Untersuchung die Erarbeitung der kontextuellen Biographie eines kirchennahen Akteurs steht, wird „Europa“, zweitens, auch im Hinblick auf die mit dem Begriff verbundene theologische Ebene betrachtet. Die Formulierung „Europa“ soll somit nicht nur dem Gedanken Europas als Konstrukt Rechnung tragen, sondern auch Raum bieten für die vielfältigen Konnotationen des Begriffs und die unterschiedlichen Wege, die kirchliche Akteure einschlugen, um sich mit „Europa“ auseinanderzusetzen. Dabei wird der „Europa“-Begriff bewusst weit gefasst: Spätestens mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil kann die Ökumene als „Auseinandersetzung mit der Europa-Idee ‚in einer anderen Sprache’“ begriffen werden.77 So wird auf die Aneignung des christlichen Versöhnungsgedankens durch den spanischen Katholizismus der nachkonziliaren Zeit eingegangen. An diesem Aneignungsprozess war Ruiz-Giménez wesentlich beteiligt. Der Gedanke der europäischen Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg, der für die Formierung und den ← 30 | 31 → Vollzug der europäischen Integration von entscheidender Bedeutung war und von Christen in anderen europäischen Ländern vorangetrieben wurde, spielt im Hinblick auf den Forschungsgegenstand somit keine unmittelbare Rolle, wirkt jedoch mittelbar auf ihn ein: Ruiz-Giménez kam bereits in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bei Pax Romana in Kontakt mit dem Gedanken der Versöhnung.78 Dem Lexikon für Theologie und Kirche (LThK) zufolge bezeichnet der Begriff im theologisch-ethischen Verständnis

nicht […] bloße Wiedergutmachung des Schadens, sondern […] sehr viel mehr: Die Beziehung soll wieder aufgenommen bzw. geheilt werden. […] Sie geht aus v[om] Verletzten, v[on] dem durch die Tat od. Handlung „Geschädigten“. […] Umkehr im Sinn der Einsicht u. Reue ist Voraussetzung für den Weg z. V. mit Gott u. mit der Gemeinschaft. […] Im Unterschied z. V., die v. zwei Seiten ausgeht, trägt Sühne den Charakter der Leistung. V. kann nur angeboten werden u. als Geschenk (Gnade) entgegengenommen werden.79

Politisch wie religiös zählt auch die Kooperation mit anderen europäischen Katholiken und Christdemokraten in die Betrachtung hinein. Eine solche Kooperation brachte in jenen Jahren stets eine Begegnung der spanischen Katholiken mit Europa mit sich. Die Begegnungen wirkten sich auf die Bewertung des Kirche-Staat-Verhältnisses in Spanien aus, die oftmals Ausgangspunkt der Regimekritik der spanischen Katholiken war.

Mit der Anwendung des Konzeptes der „kontextuellen Biographie“ auf den Untersuchungsgegenstand geht eine sowohl thematische als auch chronologische Eingrenzung einher: Es wird nicht auf die gesamte Zeitspanne des langen Lebens Ruiz-Giménez’ abgehoben. Vielmehr ist der Untersuchungszeitraum auf die Jahre der Franco-Diktatur (1936–1977)80 begrenzt. Mit den ersten freien Wahlen des Jahres 1977 änderten sich die Rahmenbedingungen des zu untersuchenden Europadiskurses grundlegend. Auch für die Biographie Ruiz-Giménez’ bedeutete das Jahr 1977 mit seinem Rückzug aus der Politik einen wichtigen Einschnitt.

Wenngleich die übergeordnete Form der Untersuchung durch das Konzept der kontextuellen Biographie bestimmt ist, wird doch bei der Bearbeitung der Fragestellung auch auf andere Methoden zurückgegriffen. Dabei kommt dem Konzept der transfers culturels auf einer sekundären Ebene der Arbeit eine besondere Rolle zu.81 So wird die Aneignung insbesondere theologischer Ideen durch Vertreter des spanischen Katholizismus untersucht, wie sie im europäischen Katholizismus z. B. ← 31 | 32 → bei den Internationalen Katholischen Gesprächen von San Sebastián sowie im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils eine Rolle spielten. In Folge der Internationalen Gespräche und in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren wurden Werke insbesondere französischer und deutscher Theologen in großem Umfang ins Spanische übersetzt.82 Auch politische Konzepte wurden diskutiert und aufgenommen. Dies trifft von der ersten, von der Falange und deren faschistischen Europakonzepten geprägten Phase des Regimes bis hin zur katholischen Opposition der 1960er Jahre zu, die das Konzept der Arbeiterpriester aus Frankreich übernahm. Ruiz-Giménez selbst arbeitete ab den 1960er Jahren mit dem Begriff der Christdemokratie, den er jedoch modifizierte und der spanischen Situation im Spätfranquismus anpasste.

Des Weiteren kommt der Ansatz der transnationalen Geschichte in der Arbeit zum Tragen. Dies erfolgt auf verschiedenen Ebenen: Bereits der übergeordnete Untersuchungsgegenstand, die katholische Kirche, kann als transnationale Organisation begriffen werden. Wenngleich sich die Arbeit mit dem spanischen einem spezifisch „nationalen“ Katholizismus widmet, kann dieser doch niemals losgelöst von der Weltkirche betrachtet werden. Dies wird insbesondere an der Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils deutlich. Auch auf untergeordneter Ebene, bei der Untersuchung der Wechselwirkung des spanischen Katholizismus mit anderen Strömungen in europäischen katholischen Kreisen, geraten transnationale Organisationen wie Pax Romana in den 1930er Jahren ebenso in den Blick wie später in den 1970er Jahren die Europäische Justitia et Pax-Konferenz. Ruiz-Giménez saß beiden Organisationen in den jeweils genannten Untersuchungszeiträumen vor. Gleiches gilt für die bereits erwähnten Internationalen Katholischen Gespräche von San Sebastián, welche trotz ihres Titels und der finanziellen Beteiligung der spanischen Regierung doch in einem zwischenstaatlichen Bereich mit größtenteils zivilgesellschaftlichen Akteuren stattfanden.83

Anhand der nun erstmals zur Verfügung stehenden Quellen soll darüber hinaus herausgearbeitet werden, welche Aneignungs- und Umdeutungsprozesse von Europabildern im spanischen Katholizismus in Auseinandersetzung mit transnationalen, insbesondere europäischen Strömungen innerhalb der Katholischen Kirche stattfanden. Zu diesem Zweck soll anhand des Lebensweges Ruiz-Giménez’ und dessen Kontrastierung mit Biographien anderer herausragender Vertreter des spanischen Katholizismus untersucht werden, inwieweit und in welchen Kreisen von solchen Aneignungsprozessen gesprochen werden kann, welche eigenen Konzepte in Bezug auf „Europa“ spanische Katholiken vertraten und wie der politische Prozess der europäischen Integration in Beziehung zur Diktatur gesetzt wurde. Die Kontextualisierung mit den jeweils relevanten Gruppierungen im Umfeld Ruiz-Giménez’ sowie die Untersuchung von deren Leitmedien soll ferner die Möglichkeit eröffnen, andeutungsweise allgemeinere, über die Biographie Ruiz-Giménez’ hinausgehende ← 32 | 33 → Aussagen zum Verhältnis bestimmter Sektoren des spanischen Katholizismus zu „Europa“ in der Zeit der Diktatur treffen zu können.

Thesen und Forschungsfragen

Der vorliegenden Arbeit liegt die These zu Grunde, dass die Veränderung der Haltung Ruiz-Giménez’ gegenüber der Diktatur mit einem sich wandelnden Europaverständnis einherging. Sie hat zum Ziel, die Beweggründe seiner Abwendung vom Regime und die Rolle, die das Verhältnis zu Europa dabei spielte, aufzuzeigen. Dabei geht es zum einen darum, unter Abgrenzung von und Kontrastierung mit anderen geographischen und ideellen Räumen – wie Lateinamerika – den Platz aufzuzeigen, den „Europa“ zu den jeweiligen Untersuchungszeitpunkten in seinem Denken und Handeln einnahm und in welche konkreten Handlungen diese Europakonzepte übergingen. Dabei folgt die Arbeit weitgehend chronologisch dem Lebensweg Ruiz-Giménez’. Jedoch wird nicht der gesamte Lebenslauf in den Blick genommen, sondern lediglich die Zeit, in welcher Ruiz-Giménez als katholischer Laie im Spannungsverhältnis zwischen Franco-Diktatur und Europäischem Integrationsprozess betrachtet werden kann. Entsprechend werden die Zeit seiner Kindheit vor Beginn des Bürgerkriegs sowie die Zeit des Übergangs zur Demokratie nach Francos Tod lediglich knapp betrachtet. Daneben erklärt sich diese Eingrenzung auch aus der Biographie Ruiz-Giménez’: Im Jahre 1977 endeten dessen politische Ambitionen, die er mit der linken christdemokratischen Partei IDC/ID verfolgt hatte, ebenso wie seine Tätigkeit als Vize-Präsident der AECE, der spanischen Kommission Justitia et Pax und als Herausgeber der Cuadernos para el diálogo.

Die vorliegende Arbeit versteht sich auch als Beitrag zur Diskussion um den Begriff Nationalkatholizismus. Indem sie die konkrete, im historischen Selbstverständnis „nationalkatholische“ Weltsicht eines der wesentlichen Akteure der „katholischen Familie“ des Franquismus untersucht, will sie zur weiteren Klärung des Begriffs beitragen.

Die vorhandenen Studien legen ebenso wie die eigenen Publikationen Ruiz-Giménez’ nahe, dass das Zweite Vatikanische Konzil entscheidend für seine Abwendung vom Regime war. Während die große Mehrheit der spanischen Bischöfe bei ihrer Ablehnung blieb und die ohnehin regimekritischen Katholiken sich in ihrer Regimegegnerschaft bestätigt sahen, steht die Biographie Ruiz-Giménez’ paradigmatisch für den Wandel, den das Zweite Vatikanum bei den spanischen Laien im Verhältnis zum Regime auslöste. Vor diesem Hintergrund möchte die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Katholizismusforschung leisten, indem die Frage nach dem Grad und dem Zeitpunkt katholischer Regimegegnerschaft im Franquismus anhand der Biographie Ruiz-Giménez exemplarisch untersucht wird. ← 33 | 34 →

Archive und Quellen

Seit Juni 2010 ist der Nachlass Ruiz-Giménez’ an der Universität Carlos III. in Madrid erstmals zugänglich. Die in digitalisierter Form einsehbaren Akten umfassen private und amtliche Korrespondenz sowie Vortragsmanuskripte und darüber hinaus Materialien zu den verschiedenen Organisationen, in denen Ruiz-Giménez aktiv war, wie Pax Romana, CEDI, CIDCC, AECE, IDC/ID und der Europäischen Union christlicher Demokraten (UEDC) sowie der spanischen Kommission Justitia et Pax. Hier handelt es sich um Korrespondenz, die Ruiz-Giménez in seiner Funktion in den verschiedenen Ämtern geführt hat, sowie um Sitzungsprotokolle, Tagungsprogramme, Memoranden, Satzungen und Veröffentlichungen der jeweiligen Organisationen und den Schriftverkehr dritter im Umfeld dieser Organisationen. Zu den Internationalen Katholischen Gesprächen von San Sebastián fand sich bis auf wenige kurze Anmerkungen in der Korrespondenz kein Quellenmaterial im Archiv Ruiz-Giménez. Der Großteil der Quellen zu den Gesprächen befindet sich im Archiv in San Sebastián. Die Untersuchung stützt sich im Folgenden wesentlich auf die im Zuge der Conversaciones veröffentlichte Zeitschrift Documentos und die zeitgenössische Presseberichterstattung. Diese Herangehensweise bedingt, dass der Fokus auf der inhaltlichen Ausrichtung sowie der nach außen gerichteten Programmatik der Gespräche liegt. Nur in geringem Maße können hingegen Aussagen über interne Abläufe und die Organisation und Konzeption im Vorfeld der Gespräche getroffen werden. Auch die genaue Rolle Ruiz-Giménez’ für die Gespräche und seine Haltung zu ihnen können nur unvollständig wiedergegeben werden.

Insbesondere die private Korrespondenz gibt Aufschluss über das Denken und den Distanzierungsprozess Ruiz-Giménez’ vom Regime. So kann anhand des über die Jahre als Botschafter in Rom bis zur Zeit der Teilnahme am Zweiten Vatikanischen Konzil konstant geführten Briefwechsel insbesondere mit Alfredo Sánchez Bella und Alberto Martín Artajo der Wandel von der nationalkatholischen Rhetorik hin zum Versuch nachvollzogen werden, seine Gesprächspartner von der geänderten Haltung zum Regime zu überzeugen oder zumindest um Verständnis für diese zu werben.

Auch die amtliche Korrespondenz als Botschafter beim Heiligen Stuhl mit dem Außenminister Alberto Martín Artajo, die teils fließende Übergänge ins Private aufweist, ist aufschlussreich für das Verhältnis von Kirche und Staat im Denken Ruiz-Giménez’. Der rege geführte Brief- und Telegrammwechsel lässt die Überlegungen für die Vorbereitung des unter seinem Nachfolger geschlossenen Konkordates nachvollziehbar werden und verdeutlicht die Bemühungen Ruiz-Giménez’, in Rom in Kontakt mit europäischen Bischöfen und christdemokratischen Politikern zu treten. Die Parallelüberlieferung zu der Zeit als Botschafter beim Heiligen Stuhl sowie die Korrespondenz des Auswärtigen Amtes mit der Botschaft beim Heiligen Stuhl wurde im Archiv des Auswärtigen Amtes in Madrid (AMAE) konsultiert.

Auf die Rolle Ruiz-Giménez’ in den europäischen Organisationen, bei denen er zu Gunsten des Regimes intervenierte, namentlich das CEDI und das CIDCC, lässt die in seinem Nachlass vorhandene private Korrespondenz weniger Rückschlüsse ← 34 | 35 → zu. Hier erfolgt der Zugang verstärkt über Manuskripte sowie handschriftliche Vermerke Ruiz-Giménez’ zu Satzungen und Programmen. Im Falle des CEDI und des CIDCC wurde, um die Ausrichtung der Organisationen in Bezug auf Europa und auf die Beziehung zur Franco-Diktatur besser herausarbeiten zu können, zudem auf deren Publikationen und Tagungsberichte zurückgegriffen. Diese wurden im Archiv des Auswärtigen Amtes in Madrid (AMAE) konsultiert. Hier wurden auch die Quellen zur Gründung des CEDI und die Korrespondenz in dessen Umfeld ausgewertet. Auch die Korrespondenz der Abteilung Relaciones Culturales (Kulturelle Beziehungen) wurde im Hinblick auf das CIDCC gesichtet. Zum CEDI und zum CIDCC wurden separat auch die von diesem herausgegebenen deutschen oder ins Deutsche übersetzten Publikationen ausgewertet, da der Bestand im Nachlass Ruiz-Giménez nur unvollständig abgelegt wurde. Im Falle des CEDI sind dies die Zeitschrift „Neues Abendland“ sowie Berichte der Abendländischen Akademie, beim CIDCC die Publikationen des Internationalen Komitee zur Verteidigung der christlichen Kultur. Auf deutscher Seite war einer der aktivsten Beteiligten am CIDCC, das wesentlich auf eine deutsch-spanische Kooperation zurückging, der CDU-Politiker Hermann Pünder. Der im Nachlass Hermann Pünders befindliche allgemeine Schriftwechsel sowie Protokolle der Deutschen Sektion von Arbeitstagungen aus den Jahren 1957–1970 wurde jedoch beim Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln im März 2009 nach Angaben des Archivs verschüttet.84 Die Erkenntnisse zur deutsch-spanischen Kooperation im CIDCC und die Rolle Ruiz-Giménez beruhen deshalb im Wesentlichen auf der im Archiv Ruiz-Giménez’ in Madrid vorhandenen Dokumentation.85

Das im Nachlass Ruiz-Giménez’ aufgefundene, handschriftlich verfasste Konzilstagebuch wurde über den gesamten Zeitraum der Konzilsteilnahme Ruiz-Giménez hinweg konstant geführt. Der Fund eines Tagebuches ist einerseits ein großer Glücksfall, bietet die Auswertung doch die Möglichkeit, sehr persönliche Einblicke in das Erleben des Konzils und die damit einhergehende Reflexion des Verhältnisses zum Regime zu gewinnen. Da es sich um eine noch nicht editierte Fassung handelt, die darüber hinaus – wie das gesamte Archiv Ruiz-Giménez’- nur in digitalisierter Version für die wissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit auf Antrag zugänglich ist, muss dieses mit der gebotenen Vorsicht genutzt werden. Die Handschrift Ruiz-Giménez’ sowie sein Schreibstil lässt jedoch ebenso wie die korrekte Übereinstimmung der Daten mit seiner Anwesenheit beim Konzil und dem dortigen Geschehen eine Fälschung sehr unwahrscheinlich erscheinen. Auch der abrupte Abbruch des Tagebuchs, der sich bei Hinzuziehen von Interviews und Memoiren Ruiz-Giménez’ aus dessen depressiver Erkrankung zu jenem Zeitpunkt erklären ← 35 | 36 → lässt, stimmt mit der hierdurch bedingten Abwesenheit bei der letzten Konzilssitzung – trotz erneuter Einladung durch Paul VI. – überein.

Für die Zeit des Engagements Ruiz-Giménez’ in regimekritischen Europaorganisationen wurde erneut auf die private und amtliche Korrespondenz Ruiz-Giménez’ zurückgegriffen. Der diesbezügliche Austausch erfolgte nun im Umfeld der jeweiligen Organisationen. Korrespondenzpartner Ruiz-Giménez’ waren hier unter anderem ehemalige Studierende, die nun wesentlich in das Projekt der Cuadernos para el Diálogo eingebunden waren. Für die Zeit der Regimegegnerschaft muss von den Quellen auf die Ambitionen und insbesondere auf die Europakonzeption Ruiz-Giménez’ zurückgeschlossen werden, da diese nicht explizit verbalisiert werden. Vielmehr wurden hier Rückschlüsse aus der Satzung von AECE und IDC sowie im Falle der AECE aus den Veranstaltungsthemen und deren Konzeptionalisierung auf das Europabild Ruiz-Giménez’ gezogen. Die Parallelüberlieferung der Korrespondenz aus dem Archiv Ruiz-Giménez’ zur AECE, zur Europäischen Bewegung sowie zur IDC/ID wurde im Archiv des Spanischen Rats der Europäischen Bewegung in Madrid (AMEE) konsultiert. Hier wurden ergänzend auch die Bestände der genannten Organisationen ausgewertet. Im Fall von Pax Romana liegen für die zweite Amtszeit Ruiz-Giménez’ Zeitschriften und an die Öffentlichkeit gerichtete Publikationen vor, die ebenfalls im Hinblick auf das Europabild der Organisation ausgewertet wurden. Hier ist insbesondere das Pax Romana Journal zu nennen, welches später in Convergence Revue umbenannt wurde.

Da die Europäischen Kommissionen Justitia et Pax im Jahre 1973 in Aachen gegründet wurden, wurde auch das Archiv der deutschen Kommission Justitia et Pax, das in das Archiv der Deutschen Bischofskonferenz integriert ist, im Archiv der Erzdiözese Köln herangezogen. Auch hier wurde auf die Schwerpunktsetzung unter dem Vorsitzenden Ruiz-Giménez zurückgeschlossen, da keine persönliche Korrespondenz mit Ruiz-Giménez im Archiv vorhanden war. Aufschlussreich war die Konsultation des Archivs mit Blick auf die europäische Kooperation der nationalen Kommissionen, was am Beispiel der von der spanischen Kommission unter Ruiz-Giménez angestoßenen Amnestiekampagne für politische Gefangene in Spanien deutlich wird.

Ferner wurden die eigenen Publikationen von Ruiz-Giménez, also die von ihm verfassten oder herausgegebenen Bücher, Artikel in den Cuadernos para el Diálogo und Interviews einbezogen. Insbesondere die Cuadernos para el Diálogo wurde im Hinblick auf das Europabild untersucht. Dabei konnte auch auf die beiden kürzlich in Spanien erschienenen Studien zu den Cuadernos zurückgegriffen werden.

Aufbau

Da nach den dargelegten Kriterien der kontextuellen Biographie nur diejenigen Aspekte des Lebens Ruiz-Giménez’ von Interesse sind, die der Analyse seines Verhältnisses zu „Europa“ in den Jahren 1936 bis 1977 dienen, folgt auf ein einleitendes ereignisgeschichtliches Kapitel zum Franquismus eine lediglich kurze Skizzierung der wichtigen Aspekte aus Kindheit und Jugend Ruiz-Giménez’. Der Spanische ← 36 | 37 → Bürgerkrieg (1936–1977) wird aus Gründen der Chronologie bereits an dieser Stelle behandelt und gegenüber den anderen Lebensstationen etwas ausführlicher dargestellt: Da die Kriegserfahrung für das gesamte Leben Ruiz-Giménez’ und seiner Generation prägend war, ist ihre Darstellung von grundlegender Wichtigkeit für die weitere Untersuchung. Dennoch wurde dieser Teil nicht in den Hauptteil der Arbeit integriert, da während dieser Jahre auf Grund von Flucht und Kriegsteilnahme keine Auseinandersetzung Ruiz-Giménez’ mit Europa erfolgte.

Details

Seiten
370
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631732069
ISBN (ePUB)
9783631732076
ISBN (MOBI)
9783631732083
ISBN (Hardcover)
9783631732052
DOI
10.3726/b11623
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Oktober)
Schlagworte
Franquismus Katholische Kirche Zweites Vatikanisches Konzil Spanischer Bürgerkrieg Europäische Integration Pax Romana
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 370 S., 1 s/w Tab.

Biographische Angaben

Stephanie Mayer-Tarhan (Autor:in)

Stephanie Mayer-Tarhan ist Historikerin und assoziiertes Mitglied des Graduiertenkollegs 1575 «Die christlichen Kirchen vor der Herausforderung ‹Europa›» des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte Mainz und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Titel: Zwischen Diktatur und Europa
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