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Heimliches Vorgehen und aktive Täuschung im Ermittlungsverfahren

Ermittlungsarbeit zwischen Beschuldigtenrechten und dem Gebot effektiver Strafverfolgung, diskutiert am Beispiel legendierter Kontrollen

von Bijan Nowrousian (Autor:in)
©2015 Dissertation 209 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch befasst sich mit einer zentralen Frage des Strafprozessrechts: Darf der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren getäuscht werden? Meist nur zu Einzelfragen diskutiert, fehlt es dazu bisher an einer breiten Grundsatzdebatte und an einer monographischen Befassung. Anhand des Anwendungsbeispiels so genannter legendierter Kontrollen nähert sich der Autor dem Thema von zwei Seiten: Zuerst beleuchtet er rechtsdogmatisch die grundsätzliche Zulässigkeit aktiver Täuschung. Anschließend erfolgt die Bewertung vor dem Gebot der effektiven Strafverfolgung, welches dafür als Verfahrensgrundsatz untersucht, aber auch in einem eigenen Entwurf rechtsphilosophisch fundiert wird. Der Autor zeigt auf, dass die Täuschung des Beschuldigten grundsätzlich erlaubt ist und sogar geboten sein kann.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Thema und Gang der Erörterung
  • 1.2 BGH 4 StR 436/09: Der Ausgangsfall
  • 1.3 Die Entscheidung des BGH im Ausgangsfall
  • 1.4 Für die weitere Diskussion: eine ausgeweitete, praxisrelevantere Konstellation
  • 1.5 Die Struktur der Entscheidung des BGH im Ausgangsfall
  • 2 Aktive Täuschung und Menschenwürde
  • 2.1 § 147 StPO – direkte Anwendung
  • 2.2 § 147 StPO – analoge Anwendung: Aktive Täuschung als Verletzung der Menschenwürde?
  • 2.2.1 Täuschung, verbotene Vernehmungsmethoden und Menschenwürde
  • 2.2.2 § 147 StPO analog oder dem Rechtsgedanken nach und legendierte Kontrollen
  • 2.3 Ergebnis
  • 3 Heimliches Vorgehen und aktive Täuschung: § 101 Abs. 5 StPO
  • 3.1 Anwendungsbereich und Normzweck
  • 3.2 Die Zurückstellung der Benachrichtigung: Ein Rechtsinstitut zwischen Heimlichkeit und Täuschung
  • 3.2.1 Zur Begrifflichkeit: Abgrenzung zwischen heimlichem Vorgehen und aktiver Täuschung bei strafprozessualen Zwangsmaßnahmen
  • 3.2.2 Die Einordnung von § 101 Abs. 5 StPO: Bloße Heimlichkeit oder aktive Täuschung?
  • 3.3 Direkte Anwendung von § 101 Abs. 5 StPO
  • 3.4 Anwendung dem Rechtsgedanken nach
  • 3.5 Ergebnis
  • 4 Zur generellen Zulässigkeit aktiver Täuschung: Wahrhaftigkeit des Staates im Ermittlungsverfahren?
  • 4.1 Die beiden Extreme: § 136 a StPO und § 110 a StPO
  • 4.2 § 136 a StPO: Das ausdrückliche Verbot der Täuschung
  • 4.2.1 Der ungeklärte Normzweck
  • 4.2.2 Die misslungene Norm: Kritik und einschränkende Auslegung
  • 4.3 § 110 a StPO: Der Verdeckte Ermittler als konkludent erlaubte aktive Täuschung
  • 4.3.1 Normzweck, Gesetzesbegründung und aktive Täuschung
  • 4.3.2 Der Streit um die Selbstbelastungsfreiheit: Aktive Täuschung als Verletzung des nemo-tenetur-Prinzips?
  • 4.4 Zwischenergebnis
  • 4.5 Weitere Verschiebung der Grenzen: Der Scheinkäufer und der Lockspitzel
  • 4.5.1 Der Scheinkäufer: Aktive Täuschung in jedem Deliktsbereich und ohne spezielle Ermächtigungsgrundlage
  • 4.5.2 Der Lockspitzel: Aktive Täuschung und Selbstüberführung
  • 4.5.3 Offenheit und Wahrhaftigkeit im Ermittlungsverfahren
  • 4.6 Vor allem: Zum Verhältnis von Strafverfolgungsbehörden und Beschuldigtem
  • 4.7 Ergebnis: Zur generellen Zulässigkeit aktiver Täuschung
  • 4.8 Zur praktischen Bedeutung des Ergebnisses: Zielgerichtete Kombinationen von verdeckten und offenen Ermittlungsmaßnahmen
  • 5 Zurück zum Ausgangsfall: Ausnahmsweise Unzulässigkeit der aktiven Täuschung bei legendierten Kontrollen?
  • 5.1 Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens?
  • 5.1.1 Der mögliche Eingriff
  • 5.1.2 Die Lösung: Zur Verwertbarkeit geheim gehaltener Erkenntnisse
  • 5.2 Verhinderung einer strafbefreienden Wissensoffenbarung oder: Was muss einem gesagt werden, damit man selbst etwas sagen kann?
  • 5.2.1 Die Handhabung in der Praxis
  • 5.2.2 Zur Rechtfertigung dieser Praxis
  • 5.3 Ergebnis
  • 6 Zur Rechtsgrundlage der legendierten Maßnahme
  • 6.1 Das zweite obiter dictum des Bundesgerichtshofs: Legendierte Maßnahmen, Rechtsgrundlage und Richtervorbehalt
  • 6.2 Zum Verhältnis von Gefahrenabwehrrecht und Strafverfolgung
  • 6.3 Zum Problem der Umgehung des Richtervorbehalts
  • 6.4 Der mit der Maßnahme verfolgte Zweck
  • 6.5 Die Voraussetzungen der legendierten Maßnahme
  • 6.5.1 Die legendierte zollamtliche Überwachung
  • 6.5.2 Die legendierte Verkehrskontrolle
  • 6.5.3 Weitere mögliche Ermächtigungsgrundlagen
  • 6.6 Statt legendierter Kontrolle: Strafprozessuale Durchsuchung ohne Mitteilung?
  • 6.7 Ergebnis zur Rechtsgrundlage der legendierten Maßnahme
  • 6.8 Ergebnis zur Zulässigkeit legendierter Kontrollen
  • 6.9 Erstes Zwischenergebnis der Erörterung insgesamt
  • 7 Zur Rechtfertigung über allgemeine Verfahrensgrundsätze: Aktive Täuschung und das Gebot der effektiven Strafverfolgung
  • 7.1 Zur praktischen Bedeutung des in Rede stehenden Vorgehens
  • 7.2 Zur Unvermeidlichkeit des in Rede stehenden Vorgehens
  • 7.3 Die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“: Der Weg dieser Rechtsfigur in Rechtsprechung und Literatur
  • 7.3.1 Geschichte und Verortung in der Rechtsprechung
  • 7.3.2 Die Reaktionen der Literatur I: Zwischen Bedenken, Kritik und Entsetzen
  • 7.3.3 Die Reaktionen der Literatur II: Vorsichtige Aussöhnung
  • 7.3.3.1 Grundsätzliche Anerkennung eines Gebots effektiver Strafverfolgung aus dem Rechtsstaatsprinzip
  • 7.3.3.2 Herleitung des Gebots der effektiven Strafverfolgung aus grundrechtlichen Schutzpflichten
  • 7.3.3.3 Der Ansatz Landaus
  • 7.4 Das Gebot der effektiven Strafverfolgung als Verfahrensgrundsatz
  • 7.4.1 Effektive Strafverfolgung und die Idee des liberalen Rechtsstaats: Eine Fundierung des Erfordernisses effektiver Strafverfolgung in der Philosophie John Lockes
  • 7.4.2 Die Rezeption dieses Konzepts in Deutschland
  • 7.4.2.1 Der Staatszweck Sicherheit in der deutschen Aufklärung
  • 7.4.2.2 Die Kritik am Staatszweck Sicherheit bei Hegel sowie Marx und Engels
  • 7.4.2.3 Der Staatszweck Sicherheit und der reformierte Strafprozess
  • 7.4.2.4 Der Staatszweck Sicherheit und das Grundgesetz
  • 7.4.3 Der Staatszweck Sicherheit in der weiteren angelsächsischen Tradition
  • 7.4.4 Effektive Strafverfolgung als aktiver Grundrechtsschutz
  • 7.4.5 Effektive Strafverfolgung als primäre Aufgabe des Rechtsstaats
  • 7.4.6 Effektive Strafverfolgung und Legitimation des Staates
  • 7.4.7 Zur Rechtfertigung dieses Konzeptes: Der unverstellte Blick auf die Realität von Straftaten
  • 7.4.8 Staatslegitimation und Grundrechte als Abwehrrechte
  • 7.4.9 Freiheit, Sicherheit und Effektivität
  • 7.4.10 Schlussfolgerung I: Stellung des Gebotes der effektiven Strafverfolgung in der Strafprozessrechtsdogmatik
  • 7.4.11 Schlussfolgerung II: Inhalt des Gebotes der effektiven Strafverfolgung in der Strafprozessrechtsdogmatik
  • 7.4.12 Schlussfolgerung III: Der unverfügbare Kern des aktiven Grundrechtsschutzes – das Gebot der effektiven Strafverfolgung im Verhältnis zu anderen Grundsätzen des Strafprozesses und die Problematik einer notwendigen Rechtfertigung fehlender Verfolgungseffizienz
  • 7.4.13 Schlussfolgerung IV: Zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit der Rückkoppelung von Dogmatik an Praxis
  • 7.4.14 Ergebnis: Begründung, Bedeutung und Folgerungen aus dem Gebot der effektiven Strafverfolgung
  • 7.5 Zur Bewertung der bisherigen Ansätze aus dieser Perspektive
  • 7.5.1 Zur Rechtsprechung
  • 7.5.2 Zu den ablehnenden Literaturstimmen
  • 7.5.3 Zu den zustimmenden Literaturstimmen
  • 7.5.4 Zu Landaus Neujustierung
  • 7.6 Mögliche Kritiken an hiesigem Konzept und nötige Abgrenzung
  • 7.6.1 Effektive Strafverfolgung und Arbeitserleichterung für die Justiz
  • 7.6.2 Effektive Strafverfolgung und Unschuldsvermutung
  • 7.6.3 Effektive Strafverfolgung und Feindstrafrecht
  • 7.7 Ein Anwendungsbeispiel: Gebot der effektiven Strafverfolgung und Möglichkeit der strafbefreienden belastenden Aussage im Ausgangsfall
  • 7.8 Effektive Strafverfolgung und legendierte Kontrollen
  • 7.9 Effektive Strafverfolgung, heimliches Vorgehen und aktive Täuschung
  • 8 Aktive Täuschung und Beschuldigtenrechte: Zur Stellung von Beschuldigtem und Verteidiger im Falle aktiver Täuschung durch die Ermittlungsbehörden
  • 8.1 Aktive Täuschung im Ermittlungsverfahren
  • 8.2 Aktive Täuschung und Aktenwahrheit
  • 8.3 Zum Umgang mit aktiver Täuschung nach Abschluss der Ermittlungen
  • 8.4 Ergebnis
  • 9 Gesamtergebnis
  • 10 Literaturverzeichnis

1  Einleitung

1.1 Thema und Gang der Erörterung

Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Zulässigkeit der aktiven Täuschung des Beschuldigten im deutschen Strafprozess einerseits sowie Begründung und Funktion des Gebots der effektiven Strafverfolgung im deutschen Strafverfahren andererseits.

Beide Fragen sollen diskutiert werden anhand des Beispiels der sogenannten legendierten Kontrollen.

Damit soll zugleich ein Weg aufgezeigt werden, deren Zulässigkeit zu begründen.

Es soll also um diese drei Themen gehen: legendierte Kontrollen, aktive Täuschung und Gebot der effektiven Strafverfolgung.

Zur aktiven Täuschung des Beschuldigten, welche im deutschen Strafprozess in gesetzlich geregelten wie gesetzlich nicht geregelten Rechtsinstituten anerkannt ist und in der Praxis regelmäßig stattfindet, hat eine wissenschaftliche Diskussion um deren grundsätzliche Beurteilung erst in Ansätzen stattgefunden.1

Das Gebot der effektiven Strafverfolgung als Verfahrensmaxime im deutschen Strafprozess kann hingegen bereits auf eine seit den Siebzigern geführte Diskussion sowie auf eine ständige Rechtsprechung zurückblicken. Die vertretenen Positionen hierzu sind mittlerweile indes eingefahren und werden oft nur noch in Bezug auf ältere Diskussionsbeiträge wiederholt.2

Erst in jüngerer Zeit in den Blick von Rechtsprechung und Lehre geraten ist die Zulässigkeit sogenannter legendierter Kontrollen. Bei diesen Kontrollen geht es darum, Beschuldigte, von welchen aus verdeckten Ermittlungsmaßnahmen bekannt ist, dass bei diesen strafbewehrte Gegenstände zu finden sein dürften, einer scheinbar anlasslosen Verkehrs- oder Zollkontrolle zu unterziehen, um die verdeckten Maßnahmen nicht zu einem zu frühen Zeitpunkt offen legen zu müssen. Nachdem diese Praxis seit Jahr und Tag in Deutschland beanstandungsfrei ← 15 | 16 → üblich war, wird nunmehr verstärkt diskutiert, ob eine solches Vorgehen rechtmäßig ist.3

Diese drei Themenkomplexe zusammenzuführen, erscheint dabei sowohl im Blick auf die grundsätzlichen Fragen nach der Zulässigkeit aktiver Täuschung und einem Gebot der effektiven Strafverfolgung einerseits sowie auch im Blick auf legendierte Kontrollen andererseits sinnvoll.

Die Frage der Zulässigkeit legendierter Kontrollen lässt sich nämlich nur sinnvoll beurteilen, wenn man diese einerseits in den größeren Kontext täuschender Ermittlungsmaßnahmen rückt, womit das Thema der Zulässigkeit aktiver Täuschung generell berührt ist, und andererseits nach deren ermittlungstaktischer Notwendigkeit und daraus folgenden rechtlichen Konsequenzen fragt, womit man zum Gebot der effektiven Strafverfolgung als Rechtsgrundsatz gelangt.

Umgekehrt erscheinen legendierte Kontrollen als ein illustratives Anwendungsbeispiel, um sowohl die Frage nach der Zulässigkeit aktiver Täuschung generell als auch nach der Begründung, der Funktion und den Konsequenzen des Gebots der effektiven Strafverfolgung zu beleuchten, da sie eben beide Aspekte zentral betreffen.

Gang der Erörterung soll dabei sein, zunächst die bisherige Diskussion zur Zulässigkeit legendierter Kontrollen, welche sich im Wesentlichen an zwei obiter dicta des Bundesgerichtshof aus März 2010 und Juli 2011 orientiert, nachzuzeichnen und mit eigenen Argumenten anzureichern. Im Rahmen dieser Diskussion soll sich die Darstellung von der Frage der Zulässigkeit legendierter Kontrollen indes immer stärker lösen und in einem ersten Schwerpunkt der Arbeit die – auch, aber eben nicht nur für legendierte Kontrollen – relevante Frage behandeln, inwieweit die aktive Täuschung des Beschuldigten im deutschen Strafprozess generell erlaubt oder verboten ist. In einem zweiten Schwerpunkt soll dann die ebenfalls auch für legendierte Kontrollen bedeutsame, jedoch weit darüber hinausgehende Frage gestellt werden, inwieweit es im deutschen Strafprozess ein Gebot der effektiven Strafverfolgung gibt, wie dieses zu verorten ist und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Zu Letzterem ist dabei beabsichtigt, eine eigene rechtsphilosophische Fundierung auszuarbeiten und deren Bedeutung für die Strafprozessrechtsdogmatik aufzuzeigen. ← 16 | 17 →

1.2 BGH 4 StR 436/09: Der Ausgangsfall

Ausgangspunkt soll dabei die Entscheidung des 4. Strafsenats vom 11. Februar 2010, BGH 4 StR 436/094, sein – die erste Entscheidung, in welcher sich der Bundesgerichtshof überhaupt mit legendierten Kontrollen befasst hat.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Durch Staatsanwaltschaft und Polizei wurde ein Ermittlungsverfahren gegen einen Beschuldigten geführt, welcher des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verdächtig war. Gegen diesen Beschuldigten liefen Maßnahmen der längerfristigen Observation. Am Tattag wurde der Beschuldigte von zwei Beamten in Zivil in einem zivilen Fahrzeug im Rahmen der genannten Observation verfolgt. Die Observation gestaltete sich außerordentlich schwierig, da der Beschuldigte auf einer Bundesautobahn mit wechselnden Geschwindigkeiten und ständigen Spurwechseln fuhr, Letzteres oft bei hohen Geschwindigkeiten. Die Beamten, welche ihm in dem Zivilfahrzeug folgten, sahen die Gefahr, den Beschuldigten zu verlieren. Aus der Observation war bekannt, dass der Beschuldigte bei dieser Fahrt Betäubungsmittel in erheblichem Umfang im Wagen mit sich führte. Um den Beschuldigten nicht zu verlieren und um zu vermeiden, dass ein Verlust der Betäubungsmittel als Beweismitteln eintritt, entschieden sich die Beamten dazu, während einer Pause des Beschuldigten auf einer Raststätte durch von ihnen über den tatsächlichen Hintergrund unterrichtete uniformierte Beamte eine „zufällige Verkehrskontrolle“ durchführen zu lassen. Um einen Kontrollanlass zu haben, sollte ein Reifen des Fahrzeuges, mit welchem der Beschuldigte unterwegs war, zerstochen werden. Entsprechend begaben sich uniformierte Beamte während einer Pause des Beschuldigten – nachdem die Observationskräfte dessen kurze Abwesenheit zum Zerstechen der Reifen genutzt hatten – auf einer Raststätte zu dem Fahrzeug und führten eine solche „allgemeinen Verkehrskontrolle“ durch. In diesem Zusammenhang behaupteten sie dann, ihnen sei bei der Kontrolle aufgefallen, dass der Beschuldigte nervös wirke. Deshalb seien sie nun gehalten, über das übliche Maß hinaus das Fahrzeug zu durchsuchen. Wie von den uniformierten Beamten und den Beamten des Observationsteams erwartet, wurden dabei in dem Fahrzeug erhebliche Mengen an verbotenen Betäubungsmitteln gefunden. Dem Beschuldigten gegenüber wurde so getan, als handele es sich um einen Zufallsfund. In diesem Glauben belassen, wurde er dem Haftrichter vorgeführt, welcher wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Haftbefehl erließ. Der Haftbefehl stützte sich allein auf das Auffinden der Betäubungsmittel im Fahrzeug; die Observation ← 17 | 18 → wurde auch hier nicht offengelegt. Erst „mit Anklageerhebung“5 wurde dem Beschuldigten der wahre Sachverhalt bekannt gemacht. Er wurde sodann vom Landgericht wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Hiergegen richtete sich seine Revision zum Bundesgerichtshof, über die der 4. Strafsenat zu entscheiden hatte. Der Angeklagte rügte in seiner Revision insbesondere das Vortäuschen einer angeblichen allgemeinen Verkehrskontrolle und sah darin eine Beschneidung seiner Rechte. Konkret wurde gerügt, wegen des Verheimlichens des wahren Umfangs der geführten Ermittlungen sei es dem Beschuldigten nicht möglich gewesen, von § 31 BtMG Gebrauch zu machen.6

1.3 Die Entscheidung des BGH im Ausgangsfall

Die Revision des Angeklagten wurde vom Bundesgerichtshof verworfen. Der Senat tat sich mit diesem Ergebnis indes ersichtlich sehr schwer mit der Folge, dass die Entscheidung eine außerordentlich ungewöhnliche Form annahm, welche einer ausführlichen Darstellung würdig ist.

Entscheidungstragend war allein der Umstand, dass die maßgebliche Rüge nicht richtig erhoben worden und die Revision mithin schlicht unzulässig war.

Obwohl nicht nötig, führte der Senat dann gleichwohl aus, dass die Rüge auch unbegründet gewesen wäre. Dann allerdings findet sich der Hinweis, das Verhalten der Polizeibeamten sei „rechtlich bedenklich“7 gewesen. Ohne nähere Begründung stellt der Senat dazu zunächst fest, das in Rede stehende Verhalten könne jedenfalls weder nach § 147 StPO noch durch § 101 Abs. 5 StPO gerechtfertigt werden. Es sei ferner im Blick auf den Grundsatz des fairen Verfahrens bedenklich. Diese Frage bedürfe indes keiner weiteren Entscheidung, da das Urteil jedenfalls nicht auf einem etwaigen Verstoß gegen diesen Grundsatz beruhe. Der Angeklagte habe nämlich auch in der Hauptverhandlung nach Bekanntmachung des wahren Sachverhaltes von seinem Recht, Aussagen im Sinne von § 46 b StGB und § 31 BtMG zu machen, nicht Gebrauch gemacht mit der Folge, dass eine Verkürzung dieser Rechte im vorliegenden Fall keine Auswirkungen gehabt hätte.

Diese eigentümliche Struktur nicht entscheidungserheblicher, gleichwohl jedoch angesprochener und dann offen gelassener Rechtsfragen zeigt, wie schwer sich der Senat mit der Sache offenbar tat und lässt zumindest vermuten, dass ← 18 | 19 → innerhalb des Senates keine einheitliche Auffassung zu dem in Rede stehenden Verhalten gefunden werden konnte.

1.4 Für die weitere Diskussion: eine ausgeweitete, praxisrelevantere Konstellation

Bevor weiter auf die inhaltliche Struktur der Entscheidung eingegangen werden soll, soll im Blick auf hiesige Erörterung dem zur Entscheidung gestellten Sachverhalt ein vergleichbarer Sachverhalt an die Seite gestellt werden, welcher einerseits eine noch größere Praxisrelevanz hat und welcher andererseits die zugrunde liegende Problematik noch deutlicher hervortreten lässt.

In dem vom BGH im Jahre 2010 zu entscheidenden Fall lag die Sache offenbar so, dass die Ermittlungen sich gegen nur einen Beschuldigten richteten, gegen welchen verdeckte Maßnahmen liefern, welche nicht offengelegt werden sollten. Jedenfalls ist der gesamten Entscheidung nicht zu entnehmen, dass noch gegen weitere Beschuldigte ermittelt wurde.

Üblicherweise laufen derartige Fallgestaltungen indes anders. Die Ermittlungen bei solchen Fallgestaltungen, welche meistens Fälle aus dem Bereich der Betäubungsmittel- oder der organisierten Kriminalität, jedenfalls aber aus dem Bereich der Bandenkriminalität, zum Gegenstand haben, richten sich gegen eine Vielzahl von Beschuldigten, gegen welche dann auch eine Vielzahl von parallel laufenden verdeckten Ermittlungsmaßnahmen wie diverse Telekommunikationsüberwachungen, zum Teil kombiniert mit Maßnahmen der längerfristigen Observation mit oder ohne technische Mittel, durchgeführt werden. Bei derartigen Ermittlungen ist es dann die Regel, dass aus den verdeckten Ermittlungsmaßnahmen die Erkenntnis gewonnen wird, dass einzelne Bandenmitglieder zu bestimmten Zeitpunkten einzelne Taten begehen bzw. zu begehen vorhaben. So ist es etwa möglich, dass bei Ermittlungen gegen eine Einbrecherbande aus der Telefonüberwachung bekannt wird, dass einzelne für die Ausführung der Einbrüche vorgesehene Beschuldigte in einer der kommenden Nächte in bestimmten Gegenden Einbrüche planen. Um die verdeckten Ermittlungen gegen die gesamte Tätergruppe nicht offen legen zu müssen sowie um weitere Beweismittel zu erlangen und zu verhindern, dass die Strafverfolgungsbehörden tatenlos zusehen, wie vor ihren Augen Straftaten begangen werden, ist es in derartigen Fällen gängige Praxis bei Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften, wo nötig offene Ermittlungsmaßnahmen gegen einzelne Beschuldigte als „Zufallskontrollen“ – zumeist „zufällige“ Verkehrskontrollen oder Zollkontrollen – durchführen zu lassen und erwartete Funde dann auch als „Zufallsfunde“ zu behandeln. Der ← 19 | 20 → wahre Kontrollanlass wird also hinter einer „Legende“ verborgen; daher legendierte Kontrollen.

Kennzeichen derartiger Konstellationen – und damit nahezu aller Fälle legendierter Kontrollen – ist also die aktive Täuschung des Beschuldigten über den wahren Kontrollgrund zwecks Geheimhaltung parallel laufender verdeckter Ermittlungsmaßnahmen.

Inwieweit die Strafverfolgungsbehörden rechtlich oder sachlich zu einem solchen Verhalten gezwungen sind, soll an dieser Stelle noch nicht erörtert werden. Hier soll für die weitere Diskussion zunächst nur deutlich gemacht werden, dass derartige Fallgestaltungen erstens ausgesprochen praxisrelevant sind und sich zweitens meistens noch komplexer darstellen, als es in dem der ersten Entscheidung des BGH zugrunde liegenden Fall anscheinend war.

Die zweite Entscheidung des BGH zum Thema legendierte Kontrollen8, auf welche später eingegangen werden soll, hatte ersichtlich eine derart „ausgeweitete“ Konstellation zum Gegenstand.

Details

Seiten
209
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653060485
ISBN (ePUB)
9783653954999
ISBN (MOBI)
9783653954982
ISBN (Paperback)
9783631669495
DOI
10.3726/978-3-653-06048-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Strafrechtspflege liberaler Rechtsstaat John Locke
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 209 S.

Biographische Angaben

Bijan Nowrousian (Autor:in)

Bijan Nowrousian studierte Rechtswissenschaften in Dresden und Berlin und arbeitet als Staatsanwalt in Kiel. Er hat bisher in der Kriminalistik, den Schleswig-Holsteinischen Anzeigen und dem Archiv für Kriminologie veröffentlicht und Fachvorträge im In- und Ausland gehalten.

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