Herausragende Schulen
Eine rekonstruktive Studie zur Logik des Gelingens von erfolgreicher Schulentwicklung aus organisationswissenschaftlicher Sicht
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Geleitwort
- Danksagung
- Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 1.1 Diskussionskontext
- 1.2 Forschungsdesiderat, Forschungsziel und Aufbau der Studie
- 1.3 Der Deutsche Schulpreis als Beobachtungsfeld
- 2. Theoretische Grundlegung
- 2.1. Die Organisation Schule
- 2.1.1 Mitgliedschaft
- 2.1.2 Zweck
- 2.1.3 Hierarchie
- 2.1.4 Organisationstypik
- 2.2. Ein systemtheoretisches Organisationsverständnis
- 2.2.1 Entscheidungsprämissen
- 2.2.1.1 Formale Organisationsstrukturen
- 2.2.1.2 Informale Organisationsstrukturen
- 2.2.2 Die Schauseite der Organisation
- 2.3 Die Disziplin der Innovationsforschung
- 2.3.1 Kreativität
- 2.3.2 Innovationsbegriff
- 2.3.3 Innovationsmerkmale und -arten
- 2.3.4 Wirtschaftswissenschaften als Ausgangspunkt
- 2.3.5 Innovationsklimaforschung
- 2.3.6 Konzipierte Innovationen in Organisationen
- 2.4 Schulentwicklung
- 2.4.1 Schulentwicklungsforschung
- 2.4.2 Abgrenzung zur Schulwirksamkeitsforschung
- 2.4.3 Innovationswissen für die Schulentwicklung
- 2.4.4 Konzeptualisierung der Schulentwicklung
- 2.4.4.1 Das Drei-Wege-Modell der Schulentwicklung
- 2.4.4.2 Die Schule als lernende Organisation
- 2.5 Ein Rahmenmodell für erfolgreichen organisationalen Wandel
- 2.5.1 Faktor „Vision“
- 2.5.2 Faktor „Fähigkeiten“
- 2.5.3 Faktor „Anreize“
- 2.5.4 Faktor „Ressourcen“
- 2.5.5 Faktor „Aktionsplan“
- 2.5.6 Eine organisationswissenschaftlich inspirierte Erweiterung
- 2.5.6.1. Faktor „Kultur“
- 2.5.6.2 Faktor „Form”
- 2.6 Zwischenfazit und Folgerungen für die Studie
- 3. Methodische Grundlegung
- 3.1 Studiendesign und Methoden
- 3.2 Eine begriffliche Systematisierung der Faktoren
- 3.3 Hemmnisse im Forschungsfeld und pragmatische Lösungen
- 3.4 Der erste Analysegang: Die Dokumentenanalyse
- 3.4.1 Abgrenzungen
- 3.4.2 Sample
- 3.4.3 Ablauf und Quellenkritik
- 3.5 Der zweite Analysegang: Das Gruppendiskussionsverfahren
- 3.5.1 Abgrenzungen
- 3.5.2 Vorüberlegungen zur Datenerhebung
- 3.5.3 Sample
- 3.5.4 Ablauf
- 3.5.5 Transkription
- 3.6 Ausgewählte inhaltsanalytische Methoden zur Dateninterpretation
- 3.6.1 Die inhaltlich strukturierende Auswertung der Dokumente nach Mayring (2015)
- 3.6.2 Die Auswertung der Gruppendiskussionen nach Strzelewicz et al. (1966)
- 4. Darstellung der empirischen Ergebnisse
- 4.1 Ergebnisse der Dokumentenanalyse
- 4.2 Ergebnisse der Gruppendiskussionen
- 4.3 Triangulation der Ergebnisse
- 4.4 Zusammenfassung der konformen Ergebnisse
- 4.5 Zusammenfassung der nonkonformen Ergebnisse
- 5. Validierung
- 5.1 Das Validierungsverfahren
- 5.2 Übersicht der Validierungsergebnisse
- 5.3 Zusammenfassung der Validierungsergebnisse
- 6. Abschließende Diskussion der Ergebnisse
- 6.1 Zuspitzung zu einem Modell
- 6.2 Eine systemtheoretische Perspektive zur Hypothesenformulierung
- 6.3 Nutzungsmöglichkeiten für die Praxis der Schulentwicklung
- 6.4 Limitationen der Studie und Forschungsperspektiven
- 7. Zusammenfassung
- Abbildungsverzeichnis
- Tabellenverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis
- Literaturverzeichnis
- Anhang
- Reihenübersicht
1. Einleitung
„No institution has more crucial role to play in the historic changes coming than school because no institution has greater potential to impact how a society changes over a long term. How we educate our children shapes the future, because they in turn will be the ones who create the future“ (Senge 2010, S. xi).
Auch wenn alternative Formen grundsätzlich denk- und auch auffindbar sind (vgl. Rosenmund 2016, S. 39ff.): Erziehung und Bildung findet in der heutigen westlichen Gesellschaft außerhalb des Familienkontextes zumeist in Organisationen wie Kindergärten, Schulen1 oder Universitäten und somit in verhältnismäßig stabilen Interaktionsmustern statt (vgl. von Saldern 2005, S. 175). Daher kann das Erziehungs- bzw. Bildungssystem auch als größter „Dienstleistungsbereich in einer modernen Gesellschaft“ bezeichnet werden, dessen Vermittlung an Wissens- und Verhaltenskompetenzen „für alle Unternehmungen der Volkswirtschaft unabdingbare Voraussetzung“ (Hubrig/Herrmann 2012, S. 11) ist.
„Bildungssysteme sind, inhaltlich gesehen, Institutionen, die die gesellschaftlich gewollte, verstetigte und methodisierte Menschenbildung und Kulturübertragung realisieren“ (Fend 2008, S. 29).
Luhmann (1981, S. 360) hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass „in der modernen Gesellschaft die Lebensbahn des Einzelnen nicht mehr primär und normalerweise durch Haus und Familie festgelegt ist, sondern durch Schulerziehung und Berufswahl diskontinuiert wird.“ Mehr noch liege die zentrale Funktion der Erziehung2 und Bildung aus einem systemtheoretischen Verständnis ←15 | 16→heraus darin, dass sie zwar zu einer Erhöhung der Komplexität führt, aber gleichzeitig durch die Herstellung teilweise übereinstimmender Bewusstseinszustände eine Fortsetzung der Autopoiese sozialer Systeme überhaupt erst ermöglicht (vgl. von Saldern 2005, S. 174; Luhmann 2014a, S. 81). Entsprechend folgert Hasse (2016) logisch:
„Über die generell hohe und gestiegene Bedeutung von Bildung besteht weitgehende Einigkeit. Sie betrifft jeden einzelnen […]. Auch für die Gesellschaft insgesamt wird der hohe Wert von Bildung hervorgehoben […]. Es ist also nicht überraschend, dass Bildungssysteme im historischen Verlauf expansiv sind […] und dass stets über Verbesserungen nachgedacht wird“ (ebd., S. 47).
Der Verbesserungsaspekt wiederum lenkt den Blick auf das Phänomen der Innovation. Dabei besteht auch für Schulen die Paradoxie3 aller Organisationen: Auf der einen Seite beruht ihre organisationale Rationalität darauf, etabliertes Wissen zu routinisieren und auf der anderen Seite hängt ihre organisationale Überlebensfähigkeit bei Veränderungen der relevanten Umwelt davon ab, sich selbst zu wandeln bzw. Innovationen produzieren zu können (vgl. Simon 2017, S. 6).
Mit der vorliegenden Studie soll aus einer organisationswissenschaftlichen Perspektive eine Annäherung an das Phänomen erfolgen, wie Schulen diese Paradoxie meistern und sich in der Folge logischerweise erfolgreich entwickeln können. Als Hintergrundfolie dient in diesem Zusammenhang die Grundannahme, dass einerseits zwar keine Formel für die richtige Organisationsgestaltung existiert, es andererseits indes „gewisse Charakteristika bzw. Kombinationen oder Ausprägungen von Variablen gibt, die in bestimmten Umwelten und für bestimmte Zwecke besser zusammenpassen als andere“ (Böttcher 2005, S. 223f.). Innerhalb eines vergleichenden und retrospektiven Studiendesigns wurden mittels Triangulation der verschiedenen qualitativen Zugänge Dokumentenanalyse sowie Gruppendiskussion systematisch Daten in dem Bestreben erhoben, förderliche Bedingungen der Schulorganisation für das Gelingen von Schulentwicklungsprozessen konstatieren zu können. Die verknüpfende Erforschung der Thematiken ‘Organisation’ sowie ‘Innovation’ im Erziehungs- und Bildungssystem der Gesellschaft erscheint von aktueller und zukünftiger Relevanz, da sich die Einzelschulen im Kontext zunehmender Autonomisierung selbst organisieren müssen und bislang in Bezug auf die erfolgreiche Organisation nachhaltiger ←16 | 17→Schulentwicklungsprozesse wenig Wissen vorhanden ist. Gleichzeitig erfordert die sich fortwährend verändernde Umwelt von den Einzelschulen besonders die Fähigkeit zur Innovation, um den bildungspolitischen Anspruch der Befähigung von Kindern und Jugendlichen zur aktiven Mitgestaltung des gesellschaftlichen kulturellen sowie technologischen Wandels erfüllen zu können.
Das erste Kapitel gibt einen Überblick über den Diskussionskontext. Weiterhin erfolgt eine Konkretisierung des Forschungsdesiderates, des Forschungsziels und des Aufbaus der Studie. Abschließend wird der Deutsche Schulpreis als Beobachtungsfeld vorgestellt, da dieser Wettbewerb herausragende und innovative Schulen ausweist, die eine erfolgreiche Entwicklung belegt haben. Im zweiten Kapitel erfolgt die theoretische Grundlegung der Studie. Die Schule wird im Allgemeinen als Organisation kategorisiert und mit ihren charakteristischen Merkmalen beschrieben. Als organisationstheoretische Analyseebene dient die neuere soziologische Systemtheorie nach Luhmann (2000 u. a.). Zudem erfolgen Übersichten über die Disziplin der Innovationsforschung mit Schwerpunkten hinsichtlich des Innovationsphänomens und des organisationalen Lernens sowie über das Forschungsgebiet der Schulentwicklung. Mittels eines Modells werden die vorliegenden Erkenntnisse systematisiert und für die Datenerhebung sowie -auswertung nutzbar gemacht. Nach einem Zwischenfazit schließt sich mit dem dritten Kapitel die methodische Grundlegung der Studie an. Als inhaltsanalytische Verfahren zur Dateninterpretation fanden die inhaltlich strukturierende Auswertung nach Mayring (2015) die Daten der Dokumentenanalyse sowie das Auswertungsverfahren nach Strzelewicz et al. (1966) für die Daten der Gruppendiskussionen Anwendung. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung werden im vierten Kapitel dargestellt, bevor sie in Kapitel 5 durch sowohl kommunikative Validierungen als auch Experten-Validierungen abgesichert werden. Im sechsten Kapitel werden die endgültigen Ergebnisse abschließend diskutiert, indem sie mittels des in der theoretischen Grundlegung verwendeten sowie bereits erweiterten Modells zugespitzt, aus einer systemtheoretischen Sicht hypothesengenerierend betrachtet, auf ihre Anwendungsmöglichkeiten für die Praxis hinterfragt und schließlich forschungsperspektivisch anschlussfähig gemacht werden. Abschließend erfolgt in Kapitel 7 eine Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse.
1.1 Diskussionskontext
Es ist eine weitgehend akzeptierte Einsicht, dass Organisationen als Problemlösemechanismus für die moderne westliche Gesellschaft so elementar und unentbehrlich geworden sind, dass sie das alltägliche Leben maßgeblich ←17 | 18→prägen und es nahezu unmöglich geworden ist, nicht mit ihnen in Berührung zu kommen (vgl. u. a. Luhmann 2000, S. 7; Müller-Jentsch 2003, S. 15ff.; Thiel 2008, S. 212; Kühl 2011, S. 9; Simon 2015a, S. 7; Schreyögg/Geiger 2016, S. 5; Roehl/Asselmeyer 2017; S. 1; Wiechern 2017, S. 12). Auch im Kontext des Erziehungssystems ist zwischenzeitlich ein erheblicher Bedarf des Wissens über Organisationsphänomene entstanden (vgl. Tacke 2004, S. 19). Neben einem verstärkten internen pädagogischen Erkenntnisinteresse, welches sich an unterschiedlichen neueren organisationstheoretischen Befunden orientiert, und der gesellschaftlichen Durchsetzung der Erwartung eines ‚lebenslangen Lernens‘ hat nunmehr insbesondere der aktuelle Diskurs über eine stärkere Autonomisierung und veränderte politische Form der Schulsteuerung die Schule als Organisation in den Fokus gerückt (vgl. Tacke 2004, S. 19; Drepper/Tacke 2012, S. 211). In Bezug darauf stellt z. B. Wenzel (2008, S. 427) fest, dass durch die Abkehr von einer Sichtweise auf Schule als Bürokratie im Sinne Max Webers (1864–1920) hin zu einem Verständnis von der Einzelschule als Basis der Schulentwicklung ein Paradigmenwechsel in der Bildungslandschaft stattgefunden hat. Sowohl im nationalen als auch internationalen Kontext gelten die Schulautonomiemaßnahmen inzwischen als „rationale, den Erfordernissen und Bedürfnissen einer modernen schulischen Organisation angemessene Strategien“ (Schaefers 2009, S. 311). In der Konsequenz bedeutet das für die Lehrkräfte, dass sie in dieser heute gültigen Steuerungsvariante weitgehend selbstgesteuert Entwicklungen in der Einzelschule vorantreiben sollen (vgl. Koch 2011, S. 20).
„Die derzeitige Debatte um Schulen ist […] von Übergängen, neuen Herausforderungen und Innovationen gekennzeichnet. Das System selbst ist im Wandel begriffen […]“ (Schratz et al. 2010, S. 17).
Mit den erweiterten Handlungs- und Entscheidungsspielräumen für Einzelschulen bezüglich pädagogischer, organisatorischer, finanzieller sowie personeller Angelegenheiten und einer dementsprechend zunehmenden Übertragung von Verantwortung an die Professionellen „vor Ort“ ist in diesem Zuge die Hoffnung verbunden, dass sich schulische Qualitätsverbesserungen einstellen, welche sich in einem Anstieg der fachlichen sowie überfachlichen Leistungen der Schülerinnen und Schüler niederschlagen (vgl. Schaefers 2009, S. 311). Daran anschließend betont Brosziewski (2016) die Bedeutsamkeit der Einzelschule aus einer systemtheoretisch-organisationswissenschaftlichen Perspektive:
„Die Organisation Schule kann gar nicht unterrichten. Aber sie ist das einzige Sozialsystem, das die einzelnen Einheiten von Unterricht sozial folgenreich registriert. Sie ist damit auch das einzige Sozialsystem, das für die Konsistenz von Unterricht kommunikativ ←18 | 19→adressiert werden kann. Sie ist das einzige Sozialsystem, das Unterrichtsverantwortung produziert und reproduziert“ (Brosziewski 2016, S. 54f.; Hervorh. im Orig.).
Die Relevanz des Sozialsystems der Organisation Schule wird somit in Anbetracht des bildungspolitischen Anspruches, Kinder und Jugendliche zur aktiven Mitgestaltung des gesellschaftlichen, kulturellen und technologischen Wandels zu befähigen sowie der Funktion der Bildung insgesamt „als wichtigster einzelner Innovationstreiber und Wachstumsfaktor“ offenkundig (vgl. Büeler/Buholzer 2005, S. 64).
„Den Zustand einer Gesellschaft kann man daran erkennen, wie sie ihr Schulwesen organisiert, denn darin spiegeln sich auch die Erwartungen an die künftige Generation. Schule ist daher zugleich Ort der Kontinuität […] und Ort des Wandels […]. Die Gleichzeitigkeit des Bewahrens (z. B. vorgegebene Lerninhalte als Voraussetzung für einen späteren Erfolg im Leben zu lehren) und Veränderns (z. B. Kreativität, Teamfähigkeit, Selbstständigkeit als so genannte dynamische Fähigkeiten zu vermitteln) macht es LehrerInnen schwer, die gesellschaftlich in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen” (Schratz 2003, S. 8).
Vor diesem Hintergrund haben nicht zuletzt die eingeführten Leistungsvergleichsstudien4 den Legitimationsdruck auf die Schulen deutlich erhöht. Das deutsche Schulsystem hat in der Öffentlichkeitswahrnehmung erheblich an Vertrauen in seine Leistungsfähigkeit eingebüßt und die von der Bildungspolitik verordneten Reformmaßnahmen sollen aus den Schulen „lernende Organisationen“ machen, die sich mithilfe erweiterter Gestaltungsmöglichkeiten überwiegend selbstgesteuert zu mehr Qualität entwickeln. Die wirkungsvolle Realisierung der pädagogischen Organisationen soll hierbei nicht selten bei einem zeitgleich reduzierten Ressourcenzufluss erfolgen (vgl. Böttcher/Terhart 2004, S. 9; Schaefers 2009, S. 319). Dieser demzufolge erzwungene Veränderungsdruck zur „Reorganisation der Organisation Schule“ verläuft nicht ohne Widerstände (vgl. Thiel 2008, S. 225). Viele Innovationen bleiben wirkungslos und Innovationsanalysen zeigen, dass überzeugende Ideen allein Schule nicht verändern, selbst wenn der Fall ausreichender Ressourcen eintritt (vgl. Hameyer 2014, S. 71). Gleichzeitig haben Beispiele von Vorreiterschulen jedoch gezeigt, ←19 | 20→dass sich Schulen trotzdem verändern, weiterentwickeln und Beachtliches leisten können (vgl. Schaefers 2009, S. 320).
1.2 Forschungsdesiderat, Forschungsziel und Aufbau der Studie
Kuper (2004, S. 122f.) konstatiert in Bezug auf die Thematik ‘Organisation’ ein generelles Reflexionsproblem der Erziehungswissenschaft, deren Theorien sich primär auf die gesellschaftliche Ebene oder interaktiven Dimensionen des Unterrichts beziehen und in der Folge die Einbettung der pädagogischen Kommunikation in Organisationen missachten. Darüber hinaus können seiner Ansicht nach rezipierte organisationstheoretische Konzepte „Desiderata einer Auseinandersetzung der Erziehungswissenschaft mit dem Thema ‘Organisation’ nicht erfüllen“ (ebd., S. 123), da in ihnen oftmals „der Gegenstand ‘Organisation’ in Modellbildungen aufgelöst [wird], die am Vorbild der Interaktion geschult sind“ (ebd., S. 123). In diesem Kontext registrieren Nickolaus et al. (2006, S. 66) in der noch unbeantworteten Frage danach, unter welchen Bedingungen es Schulen gelingt, sich längerfristig selbst tragende Entwicklungsprozesse zu initiieren, eine Forschungslücke in der Innovations- und Schulforschung. Schaefers (2009, S. 321) weist in Bezugnahme auf Gruschka et al. (2003, S. 170) darauf hin, dass noch Unkenntnis darüber herrscht, wie sich die „schulorganisationsintern etablierten Routinen, Handlungs- und Deutungsmuster“ und damit der „tief eingesenkte Habitus des Schulehaltens“ aufbrechen lässt. Entsprechend fragen Böttcher und Terhart (2004, S. 10): „Wie lässt sich Organisationswandel organisieren, wenn zugleich mentale, soziale und formale Strukturen hochgradig verhärtet sind? Und wie stellt man sicher, dass sich nicht nur irgendwie irgendein Wandel ereignet, sondern durch diesen Wandel auch zielgerichtet etwas erreicht wird?“ Diesbezüglich merkt Wenzel (2008, S. 428) kritisch an, dass die Herausarbeitung von Merkmalen ‘guter’ Schulen eben nicht zur Beantwortung der entscheidenden Frage für die Einzelschule geführt hat, nämlich wie man qualitäts- und innovationsorientierte Schulentwicklungsprozesse initiiert, organisiert und evaluiert. Daran anschließend stellen auch Fauser et al. (2010, S. 13f.) fest, dass das Wissen darüber, was eine ‘gute’ Schule auszeichnet, erheblich größer ist als das Wissen darüber, wie man eine Schule zu einer ‘guten’ Schule entwickeln kann, obwohl die Qualität der einzelnen Schulen wesentlich über die Zukunftsfähigkeit des Schulwesens insgesamt entscheidet. Holtappels (2014, S. 41) identifiziert in diesem Kontext „beträchtliche Forschungsdesiderate“ u. a. in der interdisziplinären Verbindung von Schulentwicklungs- und Innovationsforschung. Hameyer (2014, S. 53) fordert ebenfalls eine „interdisziplinäre ←20 | 21→Theorieforschung zur Schulentwicklung mit seinen Innovationszielen und -besonderheiten“ und verweist darüber hinaus auf bislang noch ungenutzte Potentiale in deren näherer Aufschlüsselung im Rahmen der Systemtheorie. Die vorliegende Studie soll einen Teil zur Reduktion der genannten Forschungsdefizite beitragen und in diesem Zusammenhang vorrangig Erkenntnisse zur Beantwortung der folgenden Frage erzeugen:
(1) Welche organisationalen Bedingungen kennzeichnen erfolgreiche Schulentwicklungsprozesse aus einer organisationswissenschaftlichen Perspektive?
An die Einsichten der Untersuchung soll sich darüber hinaus die Bearbeitung von zwei weiteren Fragestellungen mit dem Ziel anschließen, Anregungen sowohl für die Theorie, als auch für die praktische Arbeit zu bieten:
(2) Wie lassen sich die Ergebnisse systemtheoretisch interpretieren?
(3) Was lässt sich aus den Erkenntnissen für die Praxis der Schulentwicklung folgern?
Um die Handhabbarkeit dieses komplexen Forschungsvorhabens zu ermöglichen, soll ein Modell für erfolgreichen Organisationswandel aus der Praxis appliziert werden.
„Denken in Modellen ist eine konsequente Reaktion auf das Bedürfnis und die Notwendigkeit, der Komplexität von Gegenständen, Prozessen, Verhaltensweisen usw. gerecht zu werden und dabei nicht auf ein differenziertes, oft spezialisierendes Verstehen zu verzichten“ (Schweizer 1980, S. 144).
Modelle zeichnen sich im Allgemeinen nach Popp (1970, S. 53ff.) durch fünf basale Merkmale aus: (1) Das Merkmal der Reduktion verweist darauf, dass komplizierte und intransparente Anordnungen auf eine geringe Anzahl an Merkmalen sowie Grundstrukturen reduziert werden, wodurch diese gerade deshalb „sichtbar hervortreten und wissenschaftlicher Untersuchung zugänglich werden. Die ausgeschiedenen Faktoren werden dabei nicht etwa geleugnet, sie werden lediglich aus methodischen Gründen vorübergehend oder grundsätzlich ausgeschieden“. (2) Das Merkmal der Akzentuierung bedeutet, dass ein Modell immer „bestimmte Bezüge, Faktoren, Funktionen, Gesetzlichkeiten“ jeweils ausgerichtet auf den theoretischen oder anvisierten Schwerpunkt betont. (3) Bedingt durch die Reduktion sowie Akzentuierung offerieren Modelle das Merkmal einer hohen Transparenz, da komplexe Zusammenhänge „durchschaubar, geordnet und verfügbar“ erscheinen. (4) Das Merkmal der Perspektivität nimmt Bezug darauf, dass durch die „einseitige Hervorhebung ←21 | 22→und Steigerung bestimmter Strukturmerkmale“ jeweils nur eine bestimmte Perspektive eingenommen werden kann, weshalb Modelle stets unrealistisch sowie konstruiert sind und infolgedessen eines kritischen Umganges bedürfen. (5) Schließlich bezieht sich das Merkmal der Produktivität zum Einen darauf, dass Modelle „zur Ausbildung anderer konkurrierender Sichtweisen und Modelle“ herausfordern und anspornen, was wiederum eine Annäherung an die ambivalente Realität mittels eines Prozesses „sukzessiver Approximation durch eine wachsende Vielfalt und gegenseitige Korrektur hypothetischer Einseitigkeiten“ ermöglicht. Zum Anderen sind Modelle stets bezüglich des Verhältnisses von Praxis und Theorie interdependent, da die Praxis nach theoretischen Modellen zur Fass- und Verfügbarkeit der Praxis verlangt und gleichzeitig alle neuen Modelle sowohl die Theorie als auch die Praxis durch ihre strukturierenden Einflüsse verändern. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Charakterisierung identifiziert und unterscheidet Popp (ebd., S. 56ff.) weiterführend sechs mögliche Funktionen von Modellen: (1) Angesichts der Unmöglichkeit einer totalen Erfassung der Realität „bietet das Modell […] ein Verfahren, das nicht atomisiert, sondern strukturiert“ und hat infolgedessen eine heuristische Funktion inne. (2) Durch das Aufzeigen von typischen Verlaufsprozessen und Bedingungskonstellationen, Analogien sowie Entsprechungen erfüllen Modelle zudem eine prognostische Funktion, wenn auch in einem begrenzten Ausmaß. (3) Des Weiteren besitzen Modelle eine instrumentale Funktion, weil sie durch ihre „formalisierende Tendenz“ methodische Überprüfungen ihrer Hypothesen zulassen. (4) Insofern aus Modellen erwünschte Verhaltensformen abgeleitet werden, erfüllen sie eine technologische Funktion. (5) Als Initiierung für Experimente und spielerisches Ausprobieren von Möglichkeiten bieten Modelle zudem auch eine innovative Funktion. (6) Zuletzt können Modelle eine ideologiekritische Funktion einnehmen, indem sie die kritische Auseinandersetzung mit bereits bestehenden Modellen provozieren. Weiterführend sind Modelle gemäß Stachowiak (1980, S. 29) „ihren Originalen nicht per se zugeordnet“, sondern kommen ihren jeweiligen Funktionen ausschließlich in der Kopplung mit bestimmten Erkenntnis- bzw. Aktionssubjekten, Zeitintervallen der Originalrepräsentation sowie Intentionen und Zielen nach. Entsprechend muss die Modellbildung immer entlang der zu beantwortenden Fragen „wovon, für wen, wann und wozu“ (vgl. ebd., S. 29; Hervorh. im Orig.) erfolgen. Für die vorliegende Forschungsarbeit soll dieses Frageschema wie folgt beantwortet werden:
←22 | 23→Das modellierte5 und erweiterte Modell des Originals „Aligning for Success“6 soll insbesondere für Schulleitungen hinsichtlich der Gestaltung von Schulentwicklungsprozessen eine primär heuristische, prognostische, technologische und a fortiori innovative Funktion erfüllen. Mit den Schulleitungen als adressierte Verwender des Modells wird der Versuch unternommen, dem Postulat von Simon (2015a, S. 8) insofern zu folgen, als dass eine Führungskraft organisationstheoretisches Wissen benötigt, um nachhaltig verantwortlich handeln zu können und „die Sinnhaftigkeit seines eigenen Tuns im Kontext der Organisation und ihrer Umwelten überprüfen zu können.“
1.3 Der Deutsche Schulpreis als Beobachtungsfeld
Im Jahre 2006 wurde der Wettbewerb „Der Deutsche Schulpreis“ (DSP) erstmalig von der Robert Bosch Stiftung sowie der Heidehof Stiftung in Deutschland ausgeschrieben, um innovative Konzepte, Methoden, Ideen, besonderes Engagement sowie qualitätswirksame Entwicklungsschritte herausragender Schulen durch öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung auch für andere Schulen wirksam zu machen7. Sie sollten und sollen noch heute „Mut zur nachahmenden und tatkräftigen Veränderung ihrer eigenen Schule machen“ (Beutel/Kretschmer 2016, S. 190). Die Einführung des Wettbewerbs geschah somit zu einem Zeitpunkt, an dem die Bildungsdebatte außerordentlich von den für Deutschland ernüchternden Ergebnissen internationaler Vergleichsstudien (siehe 1.1) geprägt wurde (vgl. Prenzel 2016, S. 16). Bis zum Jubiläumsjahr 2016 gab es aus einem Kreis von annähernd 2000 Bewerberschulen und im Zuge des Auswahlverfahrens durchgeführten 200 Schulbesuchen bereits 61 Preisträgerschulen ←23 | 24→aus nahezu allen Bundesländern, darunter zehn Hauptpreisträgerschulen8 (vgl. Rösch/Wolf 2016, S. 182ff.). Die Preisträgerschulen überzeugten die unabhängige (vgl. Beutel/Kretschmer 2016, S. 190) und renommierte Jury9 mit mindestens gutem bis weit überdurchschnittlichem Abschneiden in sechs unterschiedlichen Qualitätsbereichen10: (1) Leistung, (2) Umgang mit Vielfalt, (3) Unterrichtsqualität, (4) Verantwortung, (5) Schulklima, Schulleben und außerschulische Partner sowie (6) Schule als Lernende Institution (siehe Tabelle 1).11 Das Qualitätsverständnis einer besonders guten Schule beruht in diesem Zusammenhang auf intensiven Diskussionen12 zwischen namhaften Experten aus Wissenschaft und Praxis13 (vgl. Fauser 2009, S. 22). Dies führte dazu, dass die in der Schulwirksamkeitsforschung (siehe 3.3.3) identifizierten effektivitätssteigernden Faktoren im Rahmen des DSP maßgeblich für die Bewertung der Schulen sind (vgl. Bischof 2017, S. 24). Rösch und Wolf (2016, S. 184) stellen fest, dass der DSP zwischenzeitlich zu den angesehensten Wettbewerben im Schulbereich zählt und dass „die ausgewählten Schulen sowohl bei den befragten Schulen als auch bei den politisch-strategischen Stakeholdern eine hohe Anerkennung“ genießen. Gleichwohl registrieren sie, dass der Exzellenzwettbewerb DSP noch nicht zu einem Transfer guter Schulpraxis geführt hat (vgl. ebd., S. 185) und die Praxis der Preisträgerschulen in den führenden erziehungswissenschaftlichen Publikationen und von der Forschung kaum aufgegriffen wurde:
„Bisher gibt es so gut wie keine Forschung, die aus der Praxis der Schulpreisschulen Wissen generiert, das auf diesem Level professioneller Erkenntnis kommuniziert werden kann und das die empirische Bildungsforschung um das Element der empirisch untersuchten pädagogischen Praxis ergänzt und vertieft. Dies ist umso bemerkenswerter, da der Deutsche Schulpreis – verstanden als das gesamte Feld von Kompetenzen und Akteuren, mit denen er verflochten ist – für Schulpädagogik und Schulentwicklung weit über die Einzelschule hinaus eine „Goldgrube“ darstellt“ (ebd., S. 187; Hervorh. im Orig.).
Otto Seydel (2009, S. 27 ff.) leitete lediglich auf erfahrungsbasierten Erkenntnissen aus den ersten drei Jahren des DSP sechs Gelingensbedingungen erfolgreicher Schulen ab: Aufbau stabiler Teamstrukturen im Kollegium, Unterricht vom Lernen der Kinder und Jugendlichen aus neu denken, Leistung innerhalb und außerhalb des Unterrichts fordern, Vielfalt als Chance nutzen, die Lernumgebung gestalten sowie den fremden Blick nutzen.
←24 | 25→Tabelle 1: Die sechs Qualitätsbereiche des Deutschen Schulpreisesa
←25 | 26→ ←26 | 27→Fauser et al. (2010, S. 15 ff.) erkennen bei den Preisträgerschulen in den professionellen Lernprozessen der Lehrer einen Schlüssel für die zielführende Verbesserung von Schule. Die nachhaltigen Veränderungen dieser innovativen Schulen sind ihrer Ansicht nach durch engagierte Akteure und strukturelle Entwicklungsmaßnahmen gekennzeichnet, wobei sich in der Biographie dieser Schulen zumeist ein Auslöser finden lässt, der ein Bewusstsein für Veränderung geschaffen hat. Fauser (2009) ergänzt:
Details
- Seiten
- 414
- Erscheinungsjahr
- 2020
- ISBN (PDF)
- 9783631832837
- ISBN (ePUB)
- 9783631832844
- ISBN (MOBI)
- 9783631832851
- ISBN (Hardcover)
- 9783631824504
- DOI
- 10.3726/b17552
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2020 (September)
- Schlagworte
- Innovation Systemtheorie Wandel Dokumentenanalyse Organisation Gruppendiskussion Schulpreis Kreativität Strukturen Modell
- Erschienen
- Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2020. 414 S., 39 s/w Abb., 32 Tab.