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Schulreformen als Antwort auf gesellschaftliche Veränderungen

Die Gemeinschaftsschule im Spannungsfeld der Bildungspolitik in Baden-Württemberg

von Jan Friederichs (Autor:in)
©2021 Monographie 440 Seiten

Zusammenfassung

Die Studie behandelt die Schulsystemreform von 2011 in Baden-Württemberg am Beispiel der Gemeinschaftsschule. Dabei vergleicht der Autor die bildungspolitischen Ziele der rot-grünen Landesregierung und der grün-schwarzen Nachfolgeregierung, er arbeitet Unterschiede und Gemeinsamkeiten vor dem Hintergrund von Kontinuität oder Kurswechsel heraus. Das Buch soll die Frage beantworten, ob ein Zwei-Säulen-Modell durchgesetzt werden kann, bei dem das Gymnasium (einschließlich der Beruflichen Gymnasien) und die Gemeinschaftsschule als gleichberechtigte Partner jeweils einen eigenen Weg zur Hochschulreife anbieten, und welche Rahmenbedingungen nötig sind, damit das Zwei-Wege-Modell dauerhaft Bestand hat.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1 Einleitung
  • 2 Zur Forschungslage und Begriffsdeutung
  • 2.1 Zur Herkunft des Begriffs am Beispiel der Hamburger „Lebensgemeinschaftsschulen“
  • 2.2 Bildungsreformen in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren
  • 2.3 Bildungsreformen in Deutschland nach der Wiedervereinigung
  • 2.3.1 Schulverbund „Blick über den Zaun“
  • 2.4 Reformen in ausgewählten Bundesländern
  • 2.4.1 Die Einführung der Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein
  • 2.4.2 Das Berliner Zwei-Wege-Modell und eine „Schule für alle“
  • 2.4.3 Modelle von Schulstrukturreformen in anderen Bundesländern
  • 2.4.3.1 Die Gemeinschaftsschule in Nordrhein-Westfalen
  • 2.4.3.2 Die Gemeinschaftsschule im Saarland
  • 2.4.3.3 Die Gemeinschaftsschule in Thüringen
  • 2.4.3.4 Vergleich und Überblick über die Gemeinschafts- schulen in den übrigen Bundesländern
  • 2.5 Zur begrifflichen Unterscheidung von Gesamtschule und Gemeinschaftsschule
  • 3 Die Bildungspolitik in Baden-Württemberg
  • 3.1 Die Bildungspolitik in Baden-Württemberg bis zur grün-roten Wende 2011
  • 3.2 Projekte gemeinsamen Lernens im benachbarten Ausland: Die Einrichtung einer „Schule der 10- bis 14-jährigen in Vorarlberg“
  • 3.3 Reformimpulse vor der politischen Wende in Baden-Württemberg
  • 3.3.1 Die „Schulen besonderer Art“ als Wegweiser zur Gemeinschaftsschule
  • 3.3.2 Die Modellschule Ravensburg – „Gemeinsam lernen“
  • 3.3.3 Zur Situation des Schulstandorts Tübingen
  • 3.3.3.1 Der Schulversuch der „Französischen Schule“ in der Tübinger Südstadt
  • 3.3.3.2 Die „Geschwister-Scholl-Schule“ in Tübingen
  • 3.3.3.2.1 Das Teilgutachten über die Geschwister-Scholl-Schule und die Folgen
  • 3.3.3.3 Die Gemeinschaftsschule im Bildungszentrum West und die gymnasiale Oberstufe
  • 3.3.3.4 Modelle einer möglichen Zusammenarbeit zwischen Gemeinschaftsschule und Gymnasium in Tübingen
  • 3.4 Bildungsrelevante Organisationen und ihre Rolle bei der Einführung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg
  • 3.4.1 Das Netzwerk „In einer Schule gemeinsam lernen BW“
  • 3.4.2 Verein für Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg e.V.
  • 3.4.3 Stellungnahme des Landeselternbeirats zur Gemeinschaftsschule
  • 3.4.4 Stellungnahme des Landesschülerbeirats zur Gemeinschaftsschule
  • 3.4.5 Stellungnahme des Verbands Bildung und Erziehung Baden-Württemberg (VBE) zur Gemeinschaftsschule
  • 3.5 Schwerpunkte der neuen Bildungspolitik der grün-roten Landesregierung
  • 3.5.1 Die Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg – das „späte Kind einer über Jahrzehnte versäumten Schulreform“?
  • 3.5.2 Kommunale Schulangebote als Voraussetzungen für die Einführung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg
  • 3.5.3 Der Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung und die Folgen
  • 3.5.4 Vom schulartspezifischen zum gemeinsamen, schulartübergreifenden Bildungsplan für die Sekundarstufe I
  • 3.5.5 Maßnahmen zur Einführung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg
  • 3.5.5.1 Die Rolle von Peter Fratton bei der Schulreform
  • 3.5.5.2 Einrichtung einer „Stabsstelle Gemeinschaftsschulen, Schulmodelle und Inklusion“ im Kultusministerium
  • 3.5.5.2.1 Prognosekriterien für Gemeinschaftsschul-Anträge
  • 3.5.5.2.2 Genehmigungsverfahren zur Bean- tragung einer Gemeinschaftsschule
  • 3.5.5.3 Themenfelder der Lenkungsgruppe „Gemeinschaftsschule“ im Kultusministerium
  • 3.5.5.4 Die Arbeitsgemeinschaft „Pro Gemeinschaftsschule“ im Kultusministerium
  • 3.5.6 Der Einfluss der GEW bei der Konzeptionsentwicklung der Gemeinschaftsschule
  • 3.5.6.1 Der Arbeitskreis Gemeinschaftsschulen in der GEW Baden-Württemberg
  • 3.5.7 Pädagogische Konzepte von Starterschulen
  • 3.5.8 Zur Reform der Lehrerbildung im Kontext der Schulsystemreform
  • 3.5.9 Die Rolle der Schulleitungen
  • 3.6 Die Gemeinschaftsschule im Schulgesetz von Baden-Württemberg
  • 3.6.1 Pädagogische Merkmale der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg
  • 3.6.1.1 Zur Unterscheidung von „neuer Gemeinschaftsschule“ und „christlicher Gemeinschaftsschule“
  • 3.6.1.2 Modelle von Gemeinschaftsschulen
  • 3.6.2 Zur planmäßigen Gründung von Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg
  • 3.6.2.1 Verteilung der Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg
  • 3.6.2.2 Qualitätssicherung an Gemeinschaftsschulen
  • 3.6.2.2.1 Zur pädagogischen Konzeption von Gemeinschaftsschulen
  • 3.6.2.2.2 Qualitätsbereiche und Leitfragen zur pädagogischen Konzeption
  • 3.6.2.3 Die GEW und ihre Rolle bei der Realisierung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg
  • 3.6.2.3.1 Die „Expertise Gemeinschaftsschule“ im Auftrag der GEW
  • 3.6.2.3.2 Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung zur Einführung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg
  • 3.6.3 Die Beteiligung der Kommunen bei der Bildungsreform
  • 3.7 Widerstände bei der Einführung der Gemeinschaftsschule
  • 3.7.1 Die Gemeinschaftsschule im Fokus medialen Interesses
  • 3.7.2 Politische Widerstände bei der Einführung der Gemeinschaftsschule
  • 3.7.2.1 Die Haltung der im Landtag vertretenen Oppositionsparteien gegenüber den grün-roten Bildungsreformen in Baden-Württemberg
  • 3.7.2.1.1 Die Rolle der CDU
  • 3.7.2.2.2 Die Rolle der FDP
  • 3.7.3 Die Haltung des Philologenverbands zu Schulsystemreformen
  • 3.7.4 Synopse der Argumente gegen die Gemeinschaftsschule
  • 3.8 Zum Verhältnis von Gemeinschaftsschule und gegliedertem Schulsystem
  • 3.8.1 Auswirkungen auf das bisherige gegliederte Schulsystem
  • 3.8.1.1 Die Gemeinschaftsschule und die Zukunft der Haupt- und Werkrealschule
  • 3.8.1.2 Die Gemeinschaftsschule und die Weiterentwicklung der Realschulen
  • 3.8.1.3 Die Gemeinschaftsschule und die allgemeinbildenden Gymnasien
  • 3.8.1.4 Die Gemeinschaftsschule und das berufliche Schulsystem
  • 3.8.1.5 Kooperationen von Gemeinschaftsschulen und allgemeinbildenden Gymnasien sowie beruflichen Schulen
  • 3.8.1.6 Kooperationen zwischen Gemeinschaftsschulen und anderen Gemeinschaftsschulen mit Oberstufe
  • 3.9 Die Gemeinschaftsschule mit Sekundarstufe II
  • 3.9.1 Prognosekriterien für die Genehmigung einer gymnasialen Oberstufe (Sekundarstufe II) an der Gemeinschaftsschule
  • 3.9.2 Die rechtlichen Grundlagen des Genehmigungsverfahrens einer gymnasialen Oberstufe an der Gemeinschaftsschule
  • 4 Die Bildungspolitik der grün-schwarzen Landesregierung – Kontinuität oder „Kurskorrektur“?
  • 4.1 Die Haltung der Oppositionsparteien zur grün-schwarzen Bildungspolitik
  • 4.1.1 Die bildungspolitische Position der SPD
  • 4.1.2 Die bildungspolitische Position der FDP
  • 4.1.3 Die Bildungspolitik der AfD
  • 4.2 Die Haltung der Wirtschaft zur Gemeinschaftsschule
  • 5 Fazit
  • 6. Anhang
  • 6.1 Abkürzungen
  • 6.2 Quellen- und Literaturverzeichnis
  • 6.2.1 Quellen
  • 6.2.2 Archivalische Quellen
  • 6.2.3 Zeitungen (Auswahl), Zeitschriften, Jahrbücher, Broschüren (gedruckte Quellen)
  • 6.2.4 Internetquellen (Auswahl)
  • 6.3 Materialien
  • 6.4 Bibliographie
  • Obras publicadas en la colección

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1 Einleitung

In der vorliegenden Studie geht es um die Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg, die als Schule des gemeinsamen Lernens Lösungen für eine gelingende Schule präsentiert. Die begrifflichen Wurzeln dieser Schulart finden sich als Besonderheit des Hamburgischen Schulsystems in den 1920er Jahren. Neben der semantischen Bedeutung des Begriffs „Gemeinschaftsschule“ wird dieser in seiner jeweiligen gesellschaftspolitischen Verankerung sowohl historisch als auch in seinem pädagogischen Anspruch untersucht. Die Abgrenzung etwa zur „Gesamtschule“ kommt bei der Betrachtung der Bildungsreformen in Westdeutschland nach 1945 ebenso zur Sprache, wie auch die unterschiedlichen Entwicklungen in den jeweiligen Bundesländern vor und nach der Wiedervereinigung. Anhand der unterschiedlichen Schulsysteme einzelner Bundesländer soll gezeigt werden, inwieweit Bildungspolitik Reformen am Schulsystem gefördert hat. Am Beispiel Baden-Württembergs werden entsprechend die bildungspolitischen Ziele der rot-grünen Landesregierung, die im Bereich der Schulentwicklung ihren Niederschlag gefunden haben, in Gestalt der im Koalitionsvertrag von 2011 beschlossenen Einführung der Gemeinschaftsschule im Fokus der Studie stehen. Die baden-württembergische Gemeinschaftsschule beansprucht als Schulart unterschiedlichen Verpflichtungen gerecht zu werden, nämlich eine „leistungsstarke, sozial gerechte und demokratischen Werten besonders verpflichtete Schule [zu sein], die alle Bildungsstandards der allgemein bildenden Schulen anbietet und in der alle Schüler/innen nach ihren individuellen Voraussetzungen lernen können und gefördert werden.“15 Die Verankerung dieser neuen Schulart im bestehenden baden-württembergischen Schulsystem soll unter Betrachtung der damit verbundenen Problembereiche im Spannungsfeld zwischen Akzeptanz16 und Ablehnung17 aufgezeigt werden. Dabei werden auch die im Vorfeld stattgefundenen Reformvorhaben (z. B. Modellschule Ravensburg, die „Schulen besonderer Art“, „ERKO“ an der Geschwister-Scholl-Schule in Tübingen) in Baden-Württemberg als auch die gesellschaftspolitischen Umstände berücksichtigt, die die Einführung der Gemeinschaftsschule begleitet ←15 | 16→haben. Außerdem soll aufgezeigt werden, wie die neue grün-schwarze Landesregierung mit dem Erbe der Vorgängerregierung umgeht und wie der Kompromiss die Schulpolitik unter der grün-schwarzen Landesregierung prägt. Es geht auch um die Frage, ob sich ein Zwei-Säulen-Modell durchsetzen kann, bei dem das Gymnasium (einschließlich der Beruflichen Gymnasien) und die Gemeinschaftsschule jeweils einen Weg zur Hochschulreife anbieten.


15 https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/kabinett-verabschiedet-gesetzentwurf-zur-einfuehrung-gemeinschaftsschule/

16 Siehe: Staatsanzeiger Baden-Württemberg vom 15.06.2012: „Heterogene Gruppen bringen schwache und starke Schüler weiter.“

17 Etwa: Stuttgarter Zeitung vom 14.06.2012.

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2 Zur Forschungslage und Begriffsdeutung

In dieser Studie soll untersucht werden, ob es einen Zusammenhang zwischen Schulentwicklung und Schulwirksamkeit vor dem Hintergrund von Qualitätsverbesserungen gibt. Dabei ist es notwendig, vorhandene Studien auf diesen Zusammenhang zwischen Schulqualität und Schulwirksamkeit einerseits und Schulentwicklung andererseits zu überprüfen.18 Holtappels fordert als Konsequenz aus diesem prozessualen Zusammenspiel Eingrenzungen für die Schulentwicklungsforschung vorzunehmen. Diese geschehe stets durch Erforschung von Entwicklungen in Zeitverläufen, die quantitativ-standardisierte oder qualitativ-offene Forschungsansätze im Längsschnitt umfassten, wonach für ihn nur drei Bereiche der Forschung relevant seien: „A. Studien, die Entwicklungen von Gestaltungsfeldern oder Qualitätsbereichen von Schulen oder des Schulsystems im Zusammenhang mit intendierten und systematischen Schulentwicklungsstrategien erforschen. B. Studien, die im Zeitverlauf Entwicklungen von Gestaltungsfeldern oder Qualitätsbereichen von Schulen oder des Schulsystems erforschen, ohne dass intendierte und systematische Schulentwicklungsstrategien angewendet wurden. C. Studien, die Reformverläufe und Innovationsprozesse oder Schulentwicklungsprogramme und -strategien selbst im Zeitverlauf erforschen.“19 Holtappels führt weiter aus, dass „neben Druck von außen (wie z. Bsp. neue Richtlinien, gesetzliche Vorgaben, Probleme der Schüler/innen, Forderungen von Eltern, aber auch Unterstützungsangebote) ein innerer Zug hinzukommen (muss), also Innovationsbereitschaft aus Einsicht in Zusammenhänge oder aus tatsächlichen Veränderungsbedürfnissen heraus.“20 Zudem sei es für demokratisch verfasste Gesellschaften charakteristisch, dass in ihnen verschiedenartige Vorstellungen über die Gestaltung des Schulsystems und über die Güte einer Schule vertreten und diskutiert werden, miteinander im Wettstreit liegen und sich gegenseitig anregen, wie Kurt Aurin in seiner Vorstellung über ←17 | 18→„gute Schulen“ hervorhebt21: „Für die Gesellschaft, den Staat und die Gemeinden als Schulträger stellt es ohne Zweifel ein entscheidendes Kriterium der pädagogischen Qualität und Leistungsfähigkeit einer Schule dar, in welchem Grade sie ihren öffentlichen Auftrag erfüllt und die mit ihm verbundenen Ziele erreicht.“22 Für den Wandel von Bildungsinstitutionen würden im Wesentlichen drei Strategien des Wandels nach Holtappels unterschieden werden, die er in Machtstrategien, rational-empirischen Strategien und in normativ-reedukativen Strategien einteilt.23 Dabei sieht er die Umsetzbarkeit von Reformen gefährdet, wenn diese in „Widerstreit zu den Werten und Motiven, Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten, Routinen und Orientierungen der pädagogisch Handelnden geraten, die die Innovation letztlich umsetzen und tragen sollen“.24 Schulen sind komplexe soziale Systeme25, die nicht ohne Weiteres technokratisch handhabbar sind, da diese einer besonderen Dynamik unterliegen und innerschulische Entwicklungsprozesse nicht leicht evaluierbar sind: „Die kombinierten Strategien des Wandels sind aufgrund der Komplexität des gleichzeitigen Geschehens jedoch nur schwer sauber zu evaluieren, zumal parallel dazu auch struktureller Wandel auf Systemebene stattfand, der unter jeweils unterschiedlichen politisch-parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen auf Länder- und Kommunalebene überwiegend über Machtstrategien erfolgte“.26 So sei die wirksame Verbreitung von Innovationen stets von intra- und interpersonalen Einschätzungen der Neuerung im Zuge eines verstetigten Prozesses der Auseinandersetzung abhängig, würden Entscheidungen für oder gegen die Adoption einer Innovation dann durch Innovationsattribute geprägt, die der Neuerung quasi als Qualitätsansprüche zugeschrieben werden wie Überschaubarkeit, Bedeutsamkeit, Durchführbarkeit (Adaptivität), Teilbarkeit, Angemessenheit, Wirksamkeit und Lernfähigkeit für das System.27 Die Akzeptanz bzw. ←18 | 19→das Gelingen von Schulreformen im Kontext von Schulentwicklung ist daher nach Holtappels von drei Einsichten abhängig: Schulen würden nicht einfach vorbereitete Lösungen und Konzepte übernehmen, sondern neue Ansätze für die eigene Schulsituation adaptieren. Innovationen dürften nicht „von oben“ zielgetreu und technokratisch implementiert werden, da dies häufig Widerstand erzeuge, da Innovationen an der Basis anders verstanden würden. Drittens arbeiten Schulen unter Bedingungen wie Lernkultur, organisatorische Voraussetzungen, Schülerkomposition, Schulumfeld, so dass standardisierte Modelle zum Scheitern verurteilt seien.28 Holtappels resümiert, dass die Adaption von Inhalten, Programmen und Verfahren nur gelänge, wenn Schulen als „ganze Organisation selbst lernen, also Lern- und Selbsterneuerungsfähigkeit erlangen“.29 Demnach seien ernsthafte Reformen „mehr als die Implementation einzelner Innovationen. Sie bedeuten den Wandel der Kultur und der Struktur der Schule.“30 Holtappels schränkt daher die Tragweite von Innovation ein, wenn er konstatiert, dass die Änderung struktureller Bedingungen wie Systemveränderungen eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für pädagogische Neuerungen darstellen: „Erst der Wandel der pädagogischen und organisatorischen Kultur führt oft zu echter Reform. Strukturelle Veränderungen können dies aber begünstigen (…) Äußere und innere Reform müssen daher offenbar vielfach einhergehen.“31 Doch Wandel geschieht nicht ohne Widerstände. Holtappels erkennt hier eine große Gefahr für die Umsetzbarkeit von Reformen, „wenn die Handelnden andere Werte und Ziele als die der Innovation präferieren“32 und sieht neben diesen „Werte-Barrieren“ weitere Ursachen für Widerstände im Bereich von „Macht-Barrieren“, wenn bestehende „Macht- und Interessenkonstellationen“ durch Innovationen wie Ressourcenverteilung, Wechsel der Schulform oder Kompetenzverluste verändert werden könnten. Als weitere Gründe nennt er Realisierungsprobleme, die zu oppositionellen Einstellungen führen, sowie Widerstände aufgrund von psychosozialen Dispositionen der Beteiligten aufgrund von negativen Erfahrungen.33 Neben Widerständen gegenüber Reformen konnte die Schulforschung auch „Gelingensbedingungen im Sinne von förderlichen Prozessmerkmalen“ ermitteln, wenn die im ←19 | 20→schulischen Bereich Betroffenen innerhalb von Evaluationen zur Reform beteiligt waren.34 Die Schulentwicklung vor dem Hintergrund der Schulqualitätsforschung bildet eine der theoretischen Grundlagen der vorliegenden Studie. Tillmann gelingt in diesem Kontext eine theoretische Verortung, indem er grundlegende Aussagen von Schultheorie, Schulentwicklung und Schulqualität untersucht und die bisher isoliert betrachteten jeweiligen Konzeptionen bezüglich ihrer theoretischen Ansätze zusammenführt.35 Wenn es hier konkret um die Gemeinschaftsschule geht, die unter der rot-grünen Landesregierung von Baden-Württemberg eingeführt wurde, darf nicht übersehen werden, dass Schule als soziale Organisation einen Fokus auf unterschiedliche Akteure erfordert. Die Schulqualitätsforschung bewertet dabei Ergebnisse schulischen Handelns in Abhängigkeit struktureller und prozessualer Rahmenbedingungen und überprüft die Möglichkeiten zur Sicherung qualitativ hochwertiger Ergebnisse von Schule. Um eine Aussage über die Qualität einer Schule zu machen, ist es erforderlich, zunächst einen konkreten Zweck bzw. spezifische Ziele zu formulieren, die durch die Schule erreicht werden sollen. Bei der Bewertung der Resultate wird überprüft, ob ein Qualitätsmerkmal einen vorgegebenen Standard erreicht hat oder ob vergleichende Bewertungen zu vergleichbaren Beurteilungen führen. Im Fall der Gemeinschaftsschule werden die Eingangsbedingungen analysiert und bewertet, von denen angenommen werden können, dass diese förderlich für die Erreichung der gewünschten Ziele sind.36 Dieser Blickwinkel impliziert, dass die Schule als rational und zielgerichtet handelnde Organisation verstanden wird und von eindeutigen, messbaren, konsensualen Zielen ausgegangen werden kann, denen sich die Organisationsmitglieder verschrieben haben. Da es sich bei der Gemeinschaftsschule in erster Linie um einen Schultyp handelt, der im Kontext einer bürokratischen Theorie eine Neubewertung formaler Strukturen betont, sind in Abhängigkeit von inhaltlichen Zielen wünschenswerte Ergebnisse etwa schulischer Arbeit vor dem Hintergrund erster Ergebnisse kritisch zu untersuchen. Jedenfalls ist die Auseinandersetzung mit Bewertungskriterien und Bewertungsmaßstäben ein wichtiges Instrument für ←20 | 21→die Beurteilung von Aussagen über die Qualität von Schulformen, zeichnen sich gute Schulen dadurch aus, „daß ihre Lehrerinnen und Lehrer bei allen Lernprozessen und Leistungsvollzügen ‚Fördern‘ und ‚Fordern‘ miteinander in eine dem einzelnen Schüler angemessene Relation zu bringen vermögen“.37

2.1 Zur Herkunft des Begriffs am Beispiel der Hamburger „Lebensgemeinschaftsschulen“

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde mit der Weimarer Verfassung ein neues Staatsmodell konzipiert, das im Bildungsbereich zugleich Schulreformen auf den Weg bringen wollte. So wurde zu Beginn der Weimarer Republik die Grundschule gegen den Willen der damaligen Bildungsbürger von SPD und USPD durchgesetzt. Weitere innovative Impulse waren vor allem in Hamburg zu verorten. Mit der Gründung der Hamburger Gemeinschaftsschulen 1919 wurde für die zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine schulpädagogische Konzep- tion entwickelt, bei der es sich bereits damals um einen gewagten Versuch anti- autoritärer Erziehung handelte, der aus der Reformbewegung mit ihren eman- zipatorischen und kulturkritischen Ansätzen hervorgegangen ist.38 Die Arbeitsschulbewegung als Versuchsschule übte einen prägenden Einfluss auf die Konzeptionierung der sich entwickelnden Gemeinschaftsschulen aus, die diese Wandlung unter Berücksichtigung der Prämissen „‚die Klasse als Arbeitsgemeinschaft‘, ‚die Schularbeit vom Leben des Kindes aus‘ und ‚die Schule ein Organismus unter Einbeziehung der Eltern‘“39, vollzog. So muss die Hamburger Gemeinschaftsschule als Praxis gewordene Pädagogik verstanden werden, „als ←21 | 22→eine Neuorientierung der Erziehung“40 und als ein Versuch, Schule eine neue Bedeutung zu geben, in der gesellschaftliche Kräfte sich in der Bereitschaft vereinten, grundsätzlich neue Wege zu gehen: „Die Versuchsschule sollte der Entwicklung eines pädagogischen Alltags dienen, die Schulgemeinde Lebenswelt dieses Alltags sein. Daher wandte man sich ganz entschieden gegen alle Versuche, das Konzept der Gemeinschaftsschule zu funktionalisieren und dadurch erneut – wenn auch nicht mehr staatlichen oder kirchlichen, sondern nun parteipolitischen – äußeren Zielen unterzuordnen.“41 Die Verantwortlichen der Gemeinschaftsschule sahen „Lebens- und Weltverbundenheit“ als „weltlichen Sinn“ der Einrichtung, deren Einheit von innen entstehen müsse. Demnach seien „Klassen- und Standesunterschiede (…) der sozialen Ordnung künftiger Gemeinschaftsschulen fremd“42: Die zukünftige Schule werde „eine Schule der Humanität“ sein, denn es gebe keine andere als „humanistische“ Erziehung43, nach welcher „Gemeinschaftsbildung“ als „Persönlichkeitsbildung“ verstanden wurde.44 Demnach ging es den Pädagogen nicht primär um Wissensvermittlung, sondern „Lebensveranlassungen und Wachstumsmöglichkeiten zu schaffen“45, quasi „die Ablösung der Unterrichtsschule durch die Schule der Erfahrung“46: „Je mehr die Schule zur natürlichen Umwelt des Kindes wird, in der es Mittel und Antrieb zur Befriedigung seiner seelischen und körperlichen Bedürfnisse findet, desto mehr wird sie auf eine stunden- und lehrplanmäßige Unterweisung verzichten können“47, werde die Klasse „zur Arbeits- und Lebensgemeinschaft“48. Die Reformbewegung zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts favorisierte eine „soziale Schule“49, die als Lernstätte der Jugend ein autonomer Raum sein sollte, der sich aus inneren Gesetzmäßigkeiten entwickelte und sich von außen wirkenden Faktoren fernhielt, aufbauend auf dem „Prinzip der Selbstregierung“50. Wilhelm Paulsen war sich des Anspruchs, der ←22 | 23→von dieser „Schule der Solidarität“51 ausging, bewusst, wenn „der mündige, schaffend schöpferische, sozial empfindende Mensch“ das Ziel der neuen Schule war.52 Neben Paulsen waren Karl Wilker und William Lottig53 die führenden Köpfe in der Gemeinschaftsschul-Bewegung. Bei der Umgestaltung der Hamburger „Gemeinschaftsschulen“ ging es den Reformern in erster Linie um ein neues Lehrer-Schüler-Verhältnis. Vor allem in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, die mit der Schaffung einer Republik als neuer Staatsform einhergingen, erfuhr die Beziehung von Lehrern zu Schüler/innen eine Veränderung, die den „Lehrer-Kameraden“ als pädagogisches Konzept im Rahmen der „Freiheitspädagogik“ vorsah. Betrachtet man die Entwicklung pädagogischer Institutionen in der Weimarer Republik der 1920er Jahre, lässt sich feststellen, dass Deutschland kein grundlegendes Konzept einer allgemeinen Reform aufwies, sondern eher eine Fülle von Erprobungen und Versuchen, die sowohl im öffentlichen als auch im privaten Schulwesen durchgeführt worden sind. Von allen bekannten Konzepten entfernt sich die sogenannte Hamburger Gemeinschaftsschule am weitesten von bisherigen Traditionen im Erziehungs- und Bildungsbereich. In Hamburg wurden 1919 anfänglich vier Gemeinschaftsschulen mit je über 600 Schüler/innen eröffnet: Die „Schule Berlinertor“, die „Schule Telemannstraße“, die „Wendeschule“ in der Breitenfelderstraße und die Schule „Am Tieloh“ und eine Höhere Schule, die „Lichtwarkschule“. Nach dem Vorbild der Hamburger Schulen erfolgten ähnliche Schulgründungen in Bremen, in Magdeburg, in Großzschocher bei Leipzig und in Berlin, wo Wilhelm Paulsen, städtischer Schulrat, vormals Leiter einer Hamburger Gemeinschaftsschule, sich für solche Schulen eingesetzt hatte. Diese Schulen waren nicht aufgrund einer neuen Methode interessant, die ihre Lehrer erfunden und angewandt hatten, sondern das Besondere bestand eigentlich darin, dass keinerlei „Methode“ angewandt wurde. Anfangs hatten die Lehrer kaum ein anderes Programm als die Freiheit des Experimentierens, die ihnen gewährt wurde, anzuwenden, indem sie den gesamten überkommenen Schulbetrieb mitsamt seinen Vorschriften ablehnten, der normalerweise den Schulalltag an staatlichen Schulen ausmachte. Mit diesem Vorsatz beabsichtigten die Pädagogen im Bewusstsein ihrer scheinbar unbegrenzten Freiheit und ohne vorgefassten Plan eine neue Institution entstehen zu lassen, die als Schule der Zukunft das bisherige System ablösen ←23 | 24→sollte.54 Der völlig neue Charakter dieser Schule zeigt sich äußerlich in der Abschaffung aller organisatorischen Einzelheiten, denen man in der traditionellen Schule eine große Wichtigkeit beigemessen hatte. Die Schulen, die nach ihren Grundsätzen auf acht Schuljahre ausgerichtet waren55, brauchten sich nicht mehr an ein vorgeschriebenes Jahresprogramm zu halten, sie hatten keinen Stundenplan.56 Sie kannten weder die Aufteilung des Lehrstoffs in Fächer noch die Aufteilung der Schüler/innen in Jahrgangsklassen. Die Schüler/innen selbst wählten ihre Lerngruppe aus, zu der sie gehören wollten. Es wurde kein Zwang auf die Schüler/innen ausgeübt, irgendetwas Bestimmtes zu lernen. Man verlangte von ihnen keine Anstrengung, die sie nicht aus eigenem Entschluss freiwillig auf sich nahmen. Der gesamte Unterricht wurde „auf die schöpferische Arbeit der Hand und des Geistes“ eingestellt: „Mit dem Grundsatz materieller Bildung wird rückhaltlos gebrochen. Kenntnisse und Fertigkeiten sind natürliche Ergebnisse schaffender Arbeit, nicht Selbstzweck des Unterrichts.“57 Aber das Wesentliche der Schulerneuerung lag in der Konzeption eines neuen Verhältnisses des Erziehers zum Schüler bzw. zur Schülerin. Das Prinzip der Kameradschaft galt es zu verwirklichen. Die Gefahren, die dabei entstanden, wurden anfangs gebilligt: „Im Anfang war das Chaos, muss stets das Chaos sein, wenn etwas wirklich Neues, Fruchtbares werden soll. Darum Mut zum Chaos.“58 Dieser Ausspruch, der der Unordnung eine geradezu reinigende Funktion beigemessen hat, stellt deutlich die Position der kameradschaftlichen Erzieher dar, die dem alten, hergebrachten Schulsystem eine deutliche Absage erteilten. Die neuen Erzieher vermieden es, den Schüler/innen Entscheidungen abzunehmen, sondern förderten vielmehr deren Eigenverantwortlichkeit: „Die Abschaffung des Lehrers aus Opposition gegen das Auftreten des früheren Lehrers. Das ist das ←24 | 25→unmittelbare Resultat der Freiheit, die den Kindern gewährt wird.“59 Die Lehrer der Gemeinschaftsschulen lehnten bewusst den direkten Eingriff in Form von Ordnungsrufen, Verweisen oder Tadel ab und verhielten sich in disziplinarischen Fragen der Schulordnung ebenso zurückhaltend. Chaotische Zustände verschwanden nicht infolge des Einschreitens der Lehrer. Diese vermieden es eher, die Ordnung mit den üblichen Mitteln bisheriger Maßregeln wieder herzustellen, sondern erwarteten dies von den Schülern selbst.60 Diese nahmen in der Regel die Verantwortung für einen geordneten Schulbetrieb auf sich, beriefen Vollversammlungen zur Bekämpfung von Unordnung und Anarchie ein, fassten Beschlüsse, in denen der Klassenraum als Arbeitsraum nach festen Regeln seiner Funktion nachkommen konnte.61 In keiner Hamburger Gemeinschaftsschule wurde die Autonomie der Schüler/innen in einem Katalog von Gesetzen und Vereinbarungen zwischen Lehrern und Schülern niedergelegt. Vielmehr wurde die freie Diskussion von Lehrern und Schülern Prinzip allgemeiner Verständigung. So schuf sich das Gemeinschaftsleben die nötigen Zügel der individuellen Freiheit selbst, die dort ihre Grenzen fand, wo fehlende Ordnung den Unterricht störte. Da die Schulgemeinschaft zusehends die disziplinarischen Funktionen des Lehrers übernahm, bekam diese eine große pädagogische Bedeutung. Dies erkannten auch die Lehrer der Hamburger Lichtwarkschule: „Der eigentliche Erzieher ist nach unserer Auffassung das Ganze des Schullebens selbst.“62 Da die Schulgemeinschaft die Erziehungsaufgabe übernommen hatte, musste sich die pädagogische Funktion des Lehrers im Rahmen dieser Gemeinschaft erfüllen. Das Hauptbemühen des Lehrers richtete sich darauf, den Schüler/innen das Verständnis für Zusammenarbeit und Zusammengehörigkeit zu vermitteln, um eine lebensfähige Gemeinschaft zu schaffen. Außerdem beruhte der gesamte Unterricht in den Gemeinschaftsschulen auf Gruppenarbeit. Schüler/innen bekamen weder Zeugnisse, noch wurden Prüfungen abgehalten, da dies nach Meinung des Leiters der Berlinertor-Schule, Karl Hoffmann, dem Gemeinschaftsgeist schade, wenn die Schüler/innen nach Kategorien aufgeteilt würden.63 Dieser Sachverhalt, alle künstlichen Trennungen zwischen den Schüler/←25 | 26→innen im Schulbetrieb zu vermeiden, stellt ein wichtiges Charakteristikum dieser Schule dar. Sichtbares Zeichen dieses Bemühens bildete die Koedukation, deren erzieherischer Erfolg sich in einer „gesunden Kameradschaftlichkeit“ von Jungen und Mädchen ausdrückte.64 Auch wurde die strenge Aufteilung der Schüler/innen nach Geburtsjahrgängen aufgehoben, da den Pädagogen das Zusammengehörigkeitsgefühl der Schüler/innen wichtiger erschien als alle bisher im schulischen Bereich berücksichtigten didaktischen und administrativen Kriterien. Letztendlich wurde jede Frage der Schulorganisation nach den Bedürfnissen der Schulgemeinschaft entschieden. Diese umfasste auch die Eltern, die in einem engen Kontakt zu den Lehrern standen, zusätzlich in einem „Elternrat“ organisiert und im Schulverein zusammengeschlossen waren. Ungeachtet der bereits geschilderten passiven Haltung des Lehrers einschließlich seiner indirekten Anstrengungen für das Gelingen der Schulgemeinschaft, oblagen diesem als Lehrer-Kamerad bestimmte direkte pädagogische Aktivitäten. Dadurch, dass der Lehrer-Kamerad nicht außerhalb der Schulgemeinschaft stand, sondern in enger Verbindung zu Schüler/innen agierte, wurde dieser über seine dienstliche Autorität hinaus zu einem Mitglied dieser Gemeinschaft, an die er gebunden und von der er nicht getrennt war. Dieses Verständnis zeigt sich auch im ersten Aufruf „An die Schüler“ der Gemeinschaftsschulen: „Unter uns ist keine Grenze. (…) Wir kämpfen nicht mehr gegeneinander und verschwenden Kraft. (…) Wir sind eine Schar miteinander ohne Zweispalt.“65 Diese innige Verbindung der beiden Partner des Schullebens, diese Gleichsetzung des Lebens der Lehrer mit dem Leben ihrer Schüler/innen ist eine der Ursachen dafür, dass es keine formulierte Selbstverwaltung der Schüler/innen gegeben hat. Die Vollversammlung, die einberufen wurde, war nur das Forum, auf dem Lehrer und Schüler/in sich frei aussprachen. Die Lehrer beanspruchten dabei kein Ausnahmerecht für ihre Stimme und für ihre Ansichten. Der Anschluss der Lehrer an die Gemeinschaft der Schüler/innen erfolgte demnach auf dem Boden der Gleichberechtigung, die auf allen Gebieten des Schullebens zum Ausdruck kam.66 Die Lehrer sahen in der Aufhebung der Unterschiede zwischen ihnen und den Schüler/innen einen wesentlichen Aspekt für das Gelingen der Schulgemeinschaft: „Wir wollen zunächst einmal anfangen, mit den Kindern in der Schule brüderlich zu leben. Wir wollen sie nicht bloß unterrichten, auch nicht nur mit ihnen arbeiten, ←26 | 27→sondern mit ihnen in unbedingter Kameradschaft leben.“67 In der Regel traf man den Lehrertyp in den Gemeinschaftsschulen am häufigsten an, der mit seiner Einstellung und seinem Verhalten am ehesten dem kameradschaftlichen Führer der Gemeinschaft ähnelte, ohne sich dabei in seiner natürlichen Überlegenheit in Frage zu stellen. Ungeachtet der geistigen Freiheit, die die Schüler/innen genossen und bei aller Rücksicht, die die Lehrer den Schüler/innen hinsichtlich ihrer Interessen und Fähigkeiten entgegenbrachten, waren die Gemeinschaftsschulen dennoch durch den ordnenden Einfluss ihrer Pädagogen geprägt. Den Lehrern war gleichzeitig bewusst, dass die Unterschiede zwischen ihnen und den Schüler/innen zusehends geringer wurden: „Wir sind werdende und seiende Menschen; etwas anderes ist auch das Kind nicht. Wozu also unsere Vorstellung ihm gegenüber, als ob wir nicht Werdende seien; all das Theater von Würde, Vollkommenheit und Herablassung. Götzendienst am Kinde liegt uns so fern, wie uns Götzendienst vor der Person überhaupt liegt; aber wenn wir klar sehen, so unterscheidet uns vom Kinde vor allem die Tatsache, daß unsere Bahn bald durchlaufen sein wird, seine Aufgaben aber erst in den Anfängen stehen.“68 Die Pädagogen an den Hamburger Gemeinschaftsschulen, die auf die bis dahin gängige Praxis von Befehl und Tadel verzichteten, versuchten mit Rat und Kritik, Ermutigung, Vorschlägen und Empfehlungen das Verhalten und Handeln ihrer Schüler/innen zu beeinflussen. Auch dem pädagogischen Grundsatz folgend, nichts moralisch von den Schüler/innen zu verlangen, was nicht selbst akzeptiert wird, stellte das Beispiel als die notwendige Voraussetzung in den Vordergrund pädagogischen Wirkens: „Nicht sein Reden, sein Sein stempelt ihn zum Erzieher der Jugend.“69 Ein anderer Pädagoge ergänzte dazu: „Wenn wir nur selber lebendige Menschen werden, wenn wir nur das Leben in die Schule hereinlassen, dann wächst das Kind von innen heraus zum lebendigen Menschen.“70 Diese Aussagen zeigen, dass der kameradschaftliche Lehrer trotz der „passiven“ Aspekte in der Schulgemeinschaft, deren Mitglied er war, eine gewisse Führungsrolle behielt, auch wenn von der früheren Autorität nichts blieb, drückte diese doch einen wesentlichen Bestandteil der bisherigen beruflichen Funktion des Lehrers aus. Da der ‚neue‘ Lehrer auf jede Unterstützung von außen verzichtete, führte er – nach eigener Aussage dieser Pädagogen – „von innen“ her, wie es ←27 | 28→Margarete Behrens, eine Lehrerin an einer Gemeinschaftsschule in Magdeburg formulierte: „Und es ist wunderbar, daß es oft den Anschein hat, als wären wir ganz ausgeschaltet, so daß Gäste zuweilen darauf erstaunt hinweisen, und daß wir doch sehr stark dabei sind – denn jede Klasse ist dennoch Klasse gerade ihres Lehrers, spiegelt doch gerade sein Wesentlichstes wider! Und das kommt daher, daß wir Mensch unter den Kindmenschen, kommt unzweifelhaft daher, daß wir wirklich ganz zu unseren Kindern hingekommen sind, hinein in ihre Herzen, daß kein äußeres Beieinander ist zwischen ihnen und uns, sondern eine lebendige Gemeinschaft, zusammengehalten durch geistigen Austausch und das Band der Liebe.“71 Dieses Zitat von Behrens ergänzt das kameradschaftliche Bild des Lehrers durch eine Komponente, die das persönliche Verhältnis des Schülers/der Schülerin zum Lehrer umschreibt. War in der traditionellen Erziehung der Abstand zwischen Schüler/innen und Lehrenden charakteristisch, wurde diese Distanz in den Gemeinschaftsschulen abgeschafft, da es keine verschiedenen Ebenen mehr gab, die als Grenze dienen konnte. Auch außerhalb des Unterrichts ergriffen die Lehrenden jede Gelegenheit, um in Kontakt zu ihren Schüler/innen zu bleiben. Einige dieser Schulen suchten durch Aufenthalte in Schullandheimen, einen Ausgleich zum schulischen Umfeld zu schaffen. Der pädagogische Stil an Gemeinschaftsschulen wurde in einem persönlichen und gefühlsmäßigen Umgang realisiert.72 Die gegenseitige Wertschätzung, die auch von anderen Lehrern der Gemeinschaftsschulen in schriftlichen Zeugnissen73 festgehalten wurden, löste in konservativen Kreisen Hamburgs Kritik aus, die die Funktion der Schule auf ihre scheinbare Hauptbestimmung beschränkt sehen wollten, als Vorbereitung auf das Leben. Dem stand die Auffassung der Pädagogen der Hamburger Gemeinschaftsschulen entgegen, die die Idee von der Schule als Instrument der Vorbereitung ablehnten: „Es ist eine ungeheure Anmaßung der Erwachsenen, die Schule als eine Präparationsanstalt für das anzusehen, was sie unter dem Leben verstehen, und sie ihren Altersinteressen dienstbar zu machen ←28 | 29→(…) Die Schule ist nicht ein Mittel, sondern ein Selbstzweck, nicht eine leidige Durchgangsstation, sondern eine Erfüllung.“74 Die Schule sollte also nicht nur eine Vorbereitung auf das Leben sein, sondern das Leben selbst, wie Wilhelm Paulsen sagt: „Die Schule ist nicht Unterrichts- und Erziehungsanstalt, sondern Lebensstätte der Jugend, eine Freistatt jugendlichen Schaffens und jugendlicher Lebensgestaltung.“75 In ihrer Überwindung tradierter Ansichten gingen die Pädagogen der Gemeinschaftsschulen noch weiter, indem sie sich nicht auf Probleme des Unterrichts beschränkten, sondern jeden teleologischen Aspekt in der Pädagogik – auch hinsichtlich des Erziehungsziels – in Frage stellten. Das Bemühen der Erwachsenen, der jungen Generation alte Werte zu vermitteln, beurteilten die Pädagogen als Anmaßung und als moralisches Unrecht, wie es C. H. Müller, ein Lehrer der Wendeschule in einer programmatischen Schrift ausdrückte: „Da sitzt die junge Welt vor dir: Was willst du aus ihr machen? Staatsbürger? Christen? Künstler? Sozialisten? Deutsche? Weltbürger? Untertanen? Nein (…). Denn alle Zielsetzung, die von außen her, von der jeweiligen Gesellschaftsidee, in die Erziehung hineingetragen wird, ist abzulehnen, weil mit ihr ganz naturgemäß immer ein Nebenzweck verbunden ist, der die Jugend für die eigene Kulturauffassung zu gewinnen, das Leben der kommenden Generation in das der gegenwärtigen zu fesseln.“76 Dies bedeutete zwangsläufig, jeden Einfluss von Staat und Kirche als Stützen der Gesellschaft auf die Erziehung fernzuhalten, wie Karl Hoffmann, der Leiter der Berlinertor-Schule in einem Aufsatz über die Grundsätze der neuen Schule forderte: „Die Schule (…) muss jede Beeinflussung durch kirchliche Gemeinschaften (auch durch die Landeskirche) ablehnen.“77 Konsequenterweise lehnten die Lehrer aus diesen Gründen jeglichen Religionsunterricht ab, auch wenn ethische und religiöse Themen Eingang in den Unterricht fanden. Noch entschiedener lehnten die Pädagogen die Autorität des Staates in Erziehungsangelegenheiten ab: „Der Staat hat an das Kind erzieherisch keine Rechte, sondern vor allem Pflichten. Er soll zweierlei tun: die Schule in Ruhe lassen und sie nähren und schützen. Wenn er ihr Wege bahnen will, daß sie marschieren könne, soll er diese Wege von ihr selbst bestimmen lassen als ihr ←29 | 30→Beauftragter.“78 Zwar wurde den Gemeinschaftsschulen die Befreiung von behördlichen Vorschriften gewährt; dies musste aber ständig gegenüber der behördlichen Schulaufsicht begründet werden. Auch Parteien versuchten, Gemeinschaftsschulen als Ausdruck einer bestimmten politischen Haltung zu instrumentalisieren, indem man versuchte, im neuen Lehrertyp des Lehrer-Kameraden den Sozialisten oder gar den Kommunisten zu sehen. Gegen diese politische Vereinnahmung pochten die Pädagogen auf ideologische Eigenständigkeit der Erziehung.79 Die Lehrer der Hamburger Gemeinschaftsschulen waren davon überzeugt, dennoch nach einem konkreten Plan zu arbeiten, der sich am Wesen des Kindes orientiere: „Das Kind mit seinen Neigungen und Begabungen, seinen Kräften und Schwächen ist der Plan, nach dem wir unsere Arbeit einrichten.“80 „Vom Kinde aus“ wurde damit zum Schlagwort dieser Pädagogik, wie es bereits Johannes Gläser konstatiert hat81 und zum Gegenpol der Didaktik des traditionellen Unterrichts wurde. Die Schulreformer wie William Lottig, Johannes Gläser, Carl Götze und viele andere setzten sich dafür ein, an die Stelle des Bedürfnisses des Lebens die freie Entwicklung der eigenen Interessen der Kinder zu stellen: „Alle Kräfte des Kindes werden gelöst, gepflegt und entwickelt. Die freie Betätigung des Kindes ist überall der Kreis für die Entwicklung.“82 Das Prinzip „vom Kinde aus“ wurde später zum allgemeinpädagogischen Grundsatz, der dem Erzieher nur das Recht einräumte, der Entwicklung der kindlichen Natur die geeigneten Wege zu bahnen.83 Nach der Beseitigung aller Faktoren der klassischen Pädagogik wurde allein das Kind als feste Bezugsgröße anerkannt, nach der die natürliche, unbeeinflusste Entwicklung des Kindes das eigentliche Aktionsprogramm definierte. Der Erzieher vertritt demnach keine objektive Welt von Zwecken und Zielen, sondern erfüllt nur die Aufgabe, die freie, nicht gelenkte Entwicklung des Kindes zu ermöglichen.84 Dabei wird ←30 | 31→die Autorität des Lehrers auf allen Gebieten eingeschränkt. An die Stelle des passiven Gehorsams und des disziplinarischen Zwanges tritt die Zusammenarbeit des Lehrers und seiner Schüler. Bei diesem pädagogischen Anspruch ist der Geist der Jugendbewegung unverkennbar, der in den Schulen verwirklicht werden sollte. Die Endphase des Hamburger Versuchs deutete sich in unterschiedlichen Krisen an, sozusagen als Wiederentdeckung der Grenzen des Machbaren. Viele Lehrer waren nach kurzer Zeit vom Konzept des Lehrer-Kameraden überfordert, da die Realität zeigte, dass eine Zusammenarbeit zwischen Lehrer und Schüler/innen ohne die Einhaltung gewisser Regeln nicht funktionierte85, die die absolute Freiheit der Kinder einschränken mussten. Die Hamburger Schulbehörden sahen es zudem als ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass nach dem 1925 veröffentlichten Schulgesetz für das Ende der Grundschulzeit das gleiche Lernziel für die Gemeinschaftsschulen vorgeschrieben wurde, wie dies für die normalen Hamburger Volksschulen galt. Auch die Eltern forderten bei aller gebotenen Freiheit einen gewissen erkennbaren Lernerfolg. Das ständige Absinken der Schülerzahlen bewies doch zu deutlich, dass das Vertrauen der Elternschaft zur Gemeinschaftsschule zusehends geringer wurde.86 Nicht alle Eltern konnten angesichts der damaligen gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Verhältnisse den nötigen Gleichmut aufbringen, den die neue Pädagogik forderte: „Es gehört neben aller Feinheit auch Robustheit dazu, mit uns aus- und durchzuhalten, auch eine Rücksichtslosigkeit in die Zukunft der Kinder hinein“87, wie es Lottig lapidar ausdrückte. Wenn die Kinder Aussicht haben sollten, die Prüfung zur Aufnahme in eine Höhere Schule zu bestehen, brauchten sie dafür eine andere Bildungsvoraussetzung, als die Gemeinschaftsschulen ihnen gegeben hätten, nämlich einen Unterricht nach allgemeingültigen Lehrplänen. Die überwiegende Mehrheit der Schüler/innen der Gemeinschaftsschulen kam zudem aus wirtschaftlich schwächeren Schichten der Bevölkerung. Entsprechend hatten diese häufig mit psychischen und physischen Problemen als direkte Folgen der Auswirkungen der Weimarer Krisenjahre zu kämpfen. Ihrerseits trafen die Gemeinschaftsschulen keine Auswahl unter ihren Bewerbern, die häufig wegen ihrer eher schlechteren schulischen Leistungen oder anderen ←31 | 32→Benachteiligungen an einer normalen Volksschule gescheitert waren. Daher stellten die Gemeinschaftsschulen häufig den letzten Ausweg für Schüler/innen dar, die auf staatlichen Schulen „ausgemustert“ worden wären. Ein weiterer Grund für den Niedergang der Gemeinschaftsschulen bildeten die Lehrer selbst; retteten sich viele bereits nach kurzer Zeit auf eine „normale“ staatliche Schule mit festen Regeln und Geboten, wurden die bleibenden Lehrkräfte häufig Opfer ihres Zweckoptimismus. Häufig fehlte es an der Bereitschaft der Schüler/innen zu diszipliniertem Lernen, was das Vorankommen im Unterricht hemmte. Die Anwendung von äußerem Zwang zur Disziplinierung widersprach aber den pädagogischen Prinzipien, die sich die Lehrer auferlegten. Weder konnte eine stetige geistige Produktivität und kreative Kraft bei den Schüler/innen hervorgerufen werden, noch konnten einzelne Fächer die Schüler/innen spontan begeistern und einer freien kindlichen Initiative überlassen werden.88 Eine neue Disziplin setzte sich nur in dem Maß durch, in dem die Lehrer sich entschlossen, gegen die Ordnungswidrigkeiten der Kinder einzuschreiten, wie Zeidler, einer der geistigen Väter der Gemeinschaftsschule, bestätigt: „Die Frucht des platten grenzenlosen Vertrauens in die schöpferische Einsicht der Kinder, in die Kraft ihres Willens und ihrer Ausdauer, in die Sicherheit ihres Instinkts, in die ge- meinschaftsbildenden Triebe des Individuums (…) war überall dort, wo es Gelegenheit fand, sich auszuwirken, schließlich, daß an Stelle der erstrebten Gemeinschaften zuchtlose Haufen sich bildeten.“89 Der Umstand, dass die Schüler durch das Entgegenkommen der Lehrer einem ausgeprägten Egozentrismus frönten und zudem einem stärkeren Subjektivismus anheimfielen, als es die Lehrer erwartet hatten, war zusätzlich für das Gelingen des Hamburger Versuchs nicht günstig, zumal der Subjektivismus der Schüler/innen sich häufig auch gegen die Lehrer richtete.90 Die politischen Umstände gegen Ende der Weimarer Republik bedingten letztlich eine Entwicklung, in der die Gemeinschaftsschulen in einer Phase zunehmender politischer Polarisierung die schulreformerischen Ansätze nicht mehr realisieren konnten. 1933 wurde mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein Schlussstrich unter die Ansätze freiheitlicher Pädagogik in Deutschland gezogen. Nach 1945 wurde an diese Reformpädagogik der Weimarer Republik nicht mehr angeknüpft, sondern vielmehr der konservative Typus des dreigliedrigen Schulsystems wieder aufgegriffen. Eine andere Bedeutung, die dem Begriff „Gemeinschaftsschule“ zugeordnet werden kann, ist im ←32 | 33→konfessionellen Bereich zu verorten. Dabei ging es um die gemeinsame Erziehung evangelischer und katholischer Kinder in staatlichen Schulen, die die Bekenntnisschulen ablösten. Als Synonym gebräuchlich war außerdem der Begriff „Simultanschule“, der bis in die Zeit der Weimarer Republik üblich war und generell für Bildungseinrichtungen stand, in denen Schüler/innen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit gemeinsam unterrichtet wurden. Als 1954 in Niedersachsen die Gemeinschaftsschule statt der Bekenntnisschulen als Regelschule eingeführt wurde, kam von Seiten der Katholischen Kirche heftiger Widerstand, der erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil allmählich nachließ.91 So war bei manchen Kritikern die „christliche“ Gemeinschaftsschule als Ablösung der Bekenntnisschule noch in den 50er und 60er Jahren der alten Bundesrepublik höchst umstritten, sank doch damit auch der Einfluss der Kirchen im Bildungsbereich.

2.2 Bildungsreformen in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren

Nach dem Willen der Alliierten sollten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland das dreigliedrige Schulsystem durch eine achtjährige Einheitsschule ersetzt werden.92 Die westdeutschen Bildungspolitiker lehnten diesen Reformvorschlag ab und behielten dagegen das bisherige mehrgliedrige Schulsystem bei. Seit Mitte der 1960er Jahre wurde der verstärkte Anstieg des Gymnasial- und Hochschulbesuchs von einer leidenschaftlichen öffentlichen Debatte über „die deutsche Bildungskatastrophe“ begleitet.93 Georg Picht stellt dabei einen Zusammenhang zwischen einer steckengebliebenen Bildungsreform und einer Gefährdung des Wirtschaftsstandorts Deutschland her. Symptomatisch ist, dass der Anlass zu dieser Diskussion nicht etwa bildungs- oder gesellschaftspolitisches Nachdenken war, sondern im ökonomischen Bereich lag: in der Prognose, über kurz oder lang werde die Bundesrepublik durch die Veränderung der Produktionsmethoden auf technisch-wissenschaftlichem Gebiet hinter ihre Konkurrenten auf dem Weltmarkt zurückfallen. Das „Wirtschaftswunder“ schien gefährdet zu sein. Das Verdienst der Schrift Pichts steckt aber vor allem in der Wirkung, die sich in einer öffentlichen Diskussion niederschlug. In der ←33 | 34→problematischen Struktur des deutschen Bildungswesens wurde eine Notwendigkeit für Reformen gesehen.94 Neben Picht muss in diesem Zusammenhang auch Ralf Dahrendorf gesehen werden, der mit seiner Schrift „Bildung ist Bürgerrecht“95 das bisherige Bildungssystem als Spiegel gesellschaftlicher Wirklichkeit hinterfragte und gesellschaftspolitisch argumentierte. Das Gleichheitspostulat des Grundgesetzes wurde als Verfassungsprinzip einer demokratischen Gesellschaft normativ gegen das bestehende hochselektive Schulsystem gerichtet, in dem noch immer die ungleichen Chancen bestimmter Gruppen auf höhere Bildung und Qualifikation fortgeschrieben wurden. Dass die Angleichung der Chancen allein ohne die durchgreifende Veränderung der schulischen Strukturen und Inhalte letztlich erfolglos sein würde, war der Grundgedanke zur Schulreform, die ihre Bedeutung vor allem am Ende der 1960er Jahre erhielt, als durch die massenhafte Studentenbewegung und den Regierungsantritt der „Reformkoalition“ die politische Situation verändert wurde. Picht wie Dahrendorf stimmen in ihren Aussagen darin überein, dass im Gymnasium die Lösung für die geforderte soziale Chancengleichheit zu finden ist. Konsequenterweise sollte der Hochschulzugang erweitert werden, um der mangelnden Bildungsbeteiligung der Arbeiterschicht entgegenzutreten.96 Dabei geriet auch das Berufsbildungswesen in den Fokus der Reformbetrachtung, da dieses den Gegenpol zur konservativen bürgerlichen Bildungskarriere darstellte. Entsprechend musste im Zuge der Bildungsreformen die Forderung nach einer Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung zu einer Kernforderung der Bildungsdebatte werden.97 Die bereits am 29. September 1960 von der Kultusministerkonferenz verabschiedete „Rahmenvereinbarung zur Ordnung des Unterrichts auf der Oberstufe der Gymnasien“ stellte einen wichtigen Eckstein dar, sollte doch Klarheit in die institutionelle Unübersichtlichkeit geschaffen werden, wie zum Studium gelangt ←34 | 35→werden konnte.98 Neben Modifikationen der gymnasialen Oberstufe sollte das Gymnasium durch eine Erweiterung des Typenspektrums ausdifferenziert werden.99 Da es bereits mehrere Möglichkeiten gab, neben der „ordentlichen Reifeprüfung“ über diverse andere Schularten wie Wirtschaftsoberschulen bzw. Wirtschaftsgymnasien auf dem sogenannten zweiten Bildungsweg die allgemeine Hochschulreife zu erlangen, führte diese Zersplitterung des höheren Schulwesens dazu, dass die Verteidiger einer traditionell ausgerichteten Hochschulreife versuchten, die zunehmende Bedeutung alternativer Bildungswege einzudämmen.100 Ungeachtet dessen nahm die Anziehungskraft der traditionell gymnasialen Ausrichtung des Zweiten Bildungswegs zu, auch wenn empirische Studien belegten, dass die Aufstiegschancen bislang benachteiligter Schichten weiterhin zu gering blieben.101 Zwar wurde mit der Errichtung von „Fachoberschulen“102 eine neue Hochschulzugangsberechtigung, die „Fachhochschulreife“, geschaffen, doch dieser Abschluss minderte nicht den sozialen Druck auf die gymnasialen Bildungsgänge.103 So hatte sich der Zweite Bildungsweg nicht zu einem bildungspolitisch wirksamen Instrument entwickelt, mit dem der soziale Aufstieg berufstätiger Jugendlicher und damit das „Bürgerrecht auf Bildung“ gefördert werden konnte.104 War der zweite Bildungsweg noch in der Form einer ←35 | 36→kontinuierlichen Schulkarriere antizipiert, entstand in den 1960er Jahren auf der Sekundarstufe I aufbauend die „Gesamtschule“ als weitere Bildungsinitiative. 1969 hatte der Bildungsrat die Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen initiiert, um die Vereinheitlichung der Sekundarstufe I zu fördern. Diese Schulform wurde in der alten Bundesrepublik nicht flächendeckend eingeführt, so dass ihre Zulassung als Regelschule nur zu einer weiteren Aufsplitterung des westdeutschen Bildungswesens führte. Diese regionalen Reformansätze erhielten 1969 durch eine Empfehlung des „Deutschen Bildungsrates“ eine gewisse Unterstützung dergestalt, dass 40 Gesamtschulen in der Bundesrepublik als Versuchsschulen eingerichtet werden sollten. Besonders in den SPD-geführten Ländern wurde mit bundespolitischer Unterstützung die Gründung von integrierten Gesamtschulen initiiert, d.h. Einzelschulen, die auf eine innere Differenzierung angelegt waren, wobei eine frühe Entscheidung auf ein bestimmtes Bildungsziel vermieden wurde.105 Neben diesen rund 40 geplanten Gesamtschulen im Schuljahr 1970/71 waren weitere 150 vorgesehen, doch die Gegner dieser Gesamtschulidee, die besonders in Baden-Württemberg vertreten waren, befürworteten weiterhin das traditionelle dreigliedrige Sekundarschulangebot.106 Dieses wurde auch in Bayern und Rheinland-Pfalz beibehalten. Die Kultusminister der Länder verabschiedeten im gleichen Jahr eine Vereinbarung über das Versuchsprogramm, in das zwei Varianten der Gesamtschule – die integrierte und die kooperative Form – einbezogen werden sollten. Außerdem sollten Ganztags- und Halbtagsschulen angeboten werden. Auffällig an dieser Anfangsphase der Gesamtschulentwicklung ist der einmalige Impetus, die bisherige deutsche Bildungstradition aufzugeben. Auch Versuche zur „Einheitsschule“, die in der Weimarer Republik unternommen wurden, wurden neben den Reformansätzen der Nachkriegszeit, die von den Alliierten Unterstützung erfahren hätten, nicht weitergeführt. Vielmehr wurden diese Konzepte übergangen, indem man als Vorbilder für die Gesamtschule beispielsweise Anfang der 1960er Jahre schulische Institutionen des Auslands wie die High School der USA, die neue Comprehensive School in Großbritannien oder die reformierte neunjährige schwedische Grundschule wählte.107 Die sogenannte Bildungsoffensive der 1970er Jahre ←36 | 37→basiert letztendlich auf den Veränderungen im Sekundarbereich II der sechziger Jahre.108 Entstanden war diese Vielfalt durch Einführung neuer Zweige im gymnasialen Bereich, teils durch Umwandlung von „Oberschulen“109 oder durch Schulversuche110 in den einzelnen Bundesländern. Der Bildungsrat legte 1974 in einer Empfehlung zur Sekundarstufe II ein „Konzept für eine Verbindung von allgemeinem und beruflichem Lernen“ vor – wohl mit dem Ziel einer institutionellen Koordination aller Schularten im Sekundarstufenbereich, um die Gewichtung mehr auf Bildungsgänge und nicht mehr auf Bildungsinstitutionen zu richten. Mit der Einrichtung von „Kollegs“ sollte in den 1970er Jahren ein „Lernortverbundsystem“ geschaffen werden, „das als ein Institut der Koordination der vier Lernorte zu begründen ist“.111 Unter diesen vier Lernorten versteht das Konzept des Bildungsrats „Schule“, „Lehrwerkstatt“, „Betrieb“ und das neu zu schaffende „Studio“.112 Nach Definition des Bildungsrats sei das Kolleg dabei kein Lernort, sondern eine die Lernorte übergreifende Institution, die die einzelnen Lernprogramme aufeinander abzustimmen habe.113 Der Bildungsrat betonte dabei, dass das Kolleg als Instanz der gemeinsamen Verantwortung aller Lernort-Träger keine staatliche Schule sei und damit auch kein Integrationsansatz für die betriebliche Ausbildung. Letztlich ging es darum, das „duale Ausbildungsmodell“ nicht zu verschulen, um die berufliche Ausbildung nicht in der Sekundarstufe II integrieren zu müssen, um damit eine Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung anstreben zu müssen, auch wenn dies noch als Reformprinzip der Bund-Länder-Kommission von 1973 festgeschrieben ←37 | 38→wurde.114 Nordrhein-Westfalen war das erste Bundesland, das den Versuch einer integrierten Sekundarstufe II startete, als in einer Regierungserklärung vom 28. Juli 1970 ein Modell „Kollegstufe NW“ angekündigt wurde. 1972 wurde unter dem Begriff „Kollegstufe NW 1972“ eine Empfehlung vorgelegt, die sich von allgemeinen Bildungsinhalten löste und die Hinwendung an gesellschaftliche Anforderungen implizierte.115 Das diesen Grundsätzen entsprechende Strukturmodell fasste vier Punkte zusammen: „Eine vollkommene organisatorische Integration von gymnasialer Oberstufe und beruflichen Schulen; eine radikale Auflösung des Klassenverbandes zugunsten eines differenzierten Kurssystems; eine Systematisierung des Lehrangebotes nach den ‚Lernbereichen‘: Schwerpunktprofil, obligatorischer Bereich und Wahlbereich; eine konsequente curriculare Integration aller Bildungsgänge der Kollegschule“.116 In einer vollständig ausgebauten Kollegschule einschließlich Teilzeit-Berufsschule sollten als Abschlüsse eine Studienqualifikation für die allgemeine Hochschul- und Fachhochschulreife und die Berufsqualifikation für die duale Ausbildung in allen Bereichen einschließlich der ein- und zweijährigen Berufsfachschule erreicht werden können. Als Besonderheit der Kollegstufe galt der Erwerb der sogenannten Doppelqualifikation, womit neben dem Erwerb der Hochschulreife auch der Zugang zum Berufsqualifizierungssystem ermöglicht wurde. 1973 wurde dieses Konzept hinsichtlich der Überwindung der Kluft zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung ausgezeichnet.117 In den Folgejahren erfolgten weitere Ergänzungen und Veränderungen des Kollegstufenmodells, bis 1986 die Gegner dieses Konzepts aufgrund des angezweifelten Erfolgs der Doppelqualifikation den Sieg davontrugen.118 Letztendlich ging es diesen um die Verteidigung der klassischen allgemeinen Hochschulreife. Nach Abschaffung des Kollegschulmodells in Nordrhein-Westfalen sollten in nachfolgenden Reformen nicht mehr die Einbeziehung der gymnasialen Oberstufe in den Verbund der Abschlüsse im ←38 | 39→Dualen System der Berufsausbildung gewährleistet werden. Das bevorstehende „Ende der gymnasialen Oberstufe und der Berufsschule“, wie es Herwig Blankertz 1972 euphorisch bei Einführung des Kollegstufenmodells umschrieb, ist nicht mehr eingetreten.119 Immerhin brachte dieser „Umweg“ die Neuordnung des beruflichen Schulwesens mit sich.

Berlin konnte aufgrund seiner „Insellage“ – losgelöst vom Rest der Bundesrepublik Deutschland, auf dem Weg der Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung auf dem Weg der Gesamtschulentwicklung eine Reform anstoßen, deren Ziel in einer integrierten Sekundarstufe II lag.120 Die Berliner Integrationspolitik im Hinblick auf die Sekundarstufe II sollte gemäß des Schulentwicklungsplans II von 1973 berufsorientierte und studienbezogene Bildungsgänge integrieren: „Der Ausgleich zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen und individuellen Bedürfnissen, wie er in dem Bemühen um größere Chancengleichheit deutlich wird, führt schließlich auch zu Reformen in der Oberstufe. Dabei kann die Schule nicht auf einen festen Bildungskanon als Gerüst einer sogenannten Allgemeinbildung zurückgreifen.“121 Im Gegensatz zu Nordrhein-Westfalen hatte Berlin schwierigere Ausgangsbedingungen zu meistern, die ihre Ursachen in den Spätfolgen des Zweiten Weltkrieges und des Mauerbaus hatten. Das berufliche Bildungswesen in der Stadt war vernachlässigt worden und die Oberstufenreform konnte den Status des Gymnasiums nicht erschüttern, denn es musste weiterhin Gymnasien für Schüler studienbezogener Bildungsgänge geben. Letztlich sollte als Ziel auch im Stadtstaat eine Doppelqualifikation etabliert werden. Als Erfolg wurde schließlich die Neuordnung des beruflichen Schulwesens gefeiert. Als vorläufiges Fazit aus den Schulversuchen in beiden genannten Bundesländern lässt sich festhalten, dass es immerhin zu neuen gymnasialen Formen im beruflichen Sektor der Sekundarstufe II kam. Eine überzeugende funktionierende Integration von beruflich-fachlicher und allgemeiner Bildung konnte in der Oberstufe nicht realisiert werden. Der Bildungsforscher Friedrich Edding fasste dies resümierend zusammen: „Zuviel steht einer ←39 | 40→wirklichen Verschmelzung entgegen: die große Verschiedenheit im Wesenskern, die traditionsgebundenen Bestände lehrenden Personals; die Vorstellungen breiter Kreise der Eltern und nicht zuletzt die Machtverhältnisse. Solange die berufliche Bildung noch weit von der Gleichrangigkeit entfernt ist, bedeutet Integration in der Regel, daß sich dabei traditionelle gymnasiale Bildungsmuster durchsetzen.“122 Auch die Gesamtschule konnte sich in vor allem SPD regierten Bundesländern neben dem gegliederten System etablieren und gehörte damit fest zur Schullandschaft.123 Gesamtschulen standen dabei in Konkurrenz mit anderen Sekundarschulformen, auch wenn in Nordrhein-Westfalen eine gewisse Favorisierung erkennbar war. Im letzten Jahrzehnt der alten Bundesrepublik gewann die Idee eines integrierten Schulwesens mit dem Einzug der Grünen in die Parteienlandschaft eine nachhaltige Unterstützung, die sich auch in einer wachsenden Zustimmung für ein längeres gemeinsames Lernen ausdrückte.124 Spätestens Ende der 1970er Jahre wurde erkennbar, dass ein in der Bildungsbeteiligung eingetretener Wandel unumkehrbar wurde.125 Die geburtenstarken Jahrgänge bewirkten insbesondere an den Gymnasien bei anhaltend starker Bildungsnachfrage einen beträchtlichen Zuwachs. Dies korrespondiert auch mit dem Leitspruch der Länder, die die Leistung des landeseigenen Bildungswesens vorrangig an den Abiturientenzahlen verglichen. Der 1968 erstellte Schulentwicklungsplan von Baden-Württemberg sah bezüglich der landeseigenen gesellschaftlichen Bedarfsprognose eine Abiturientenquote von 15 Prozent für 1980 ←40 | 41→vor.126 Mit Erreichen dieses Jahres wurde die Quote um das Doppelte erfüllt, so dass Skeptiker damals von einer drohenden Akademikerschwemme sprachen. In der Gesamtpolitik trat die bildungsreformerische Intention weiter zurück, da die Prognosen über den Bildungsbedarf scheinbar hinfällig wurden.127 Die seit den 1970er Jahren durch Wirtschaftskrisen hervorgerufenen Einbrüche auf dem Arbeitsmarkt zeigten auch Spuren in den Bildungs- und Berufsverläufen von Schulabgängern, für die Arbeit und Beruf nach wie vor nicht nur Erwerb, sondern auch Identität bedeuten.128

2.3 Bildungsreformen in Deutschland nach der Wiedervereinigung

Auch nach der Wiedervereinigung kam es in der Bundesrepublik Deutschland zu keiner großen Bildungsreform. Das ostdeutsche Bildungssystem wurde weitgehend an westdeutsche Standards angeglichen, ohne dass ernsthaft eine Reformabsicht bekundet wurde. Erst mit dem am 4.12.2001 der Öffentlichkeit vorgelegten Bericht der OECD-Studie „PISA“ wurde das Thema „Bildungsnotstand“ wieder auf die Tagesordnung gebracht, als offenbar wurde, wie wenig zukunftsfähig das deutsche Bildungssystem für das 21. Jahrhundert gerüstet zu sein schien. Umso mehr verwundert die Tatsache, dass das deutsche Bildungssystem sich über beinahe zweihundert Jahre konservieren konnte und nicht in der Lage war, auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Anforderungen flexibel zu reagieren. Greinert stellt dazu fest, dass „ganz offensichtlich das System staatlicher Regeln und Organisationsbestände in Deutschland nicht mehr in der Lage (ist), krisenhafte Entwicklungen im Bereich der Bildungsproduktion – ebenso wie in der Wissenschaftsproduktion – rechtzeitig zu identifizieren.“129 Greinert sieht die deutsche Bildungsmisere in der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit, die ihre Ursachen in der rechtlich-organisatorischen Verfassung des ←41 | 42→deutschen Schul- und Hochschulwesens habe, die ein Modernisierungshindernis darstelle.130 Ein Experte für Wirtschaftspolitik, U. van Lith, fordert daher angesichts der fehlgeschlagenen Reformansätze in der Bundesrepublik, über ein alternatives ordnungspolitisches Leitbild für die Bildungs- und Wissenschaftsorganisation nachzudenken. Eine Lösung liege darin, die Bildungs- und Wissenschaftsproduktion in die Verantwortung derjenigen zu übertragen, die die notwendigen Informationen und fachlichen Kompetenzen besäßen. Der Staat ziehe sich als aktiv Handelnder zurück, bewahre aber die wichtige Funktion eines Garanten der notwendigen Rahmenbedingungen für das neuartige, marktorientierte Bildungs- und Wissenschaftssystem.131 Nach diesem kooperativen Prinzip funktioniert das Duale System im beruflichen Bildungsbereich, wonach „Marktregulierung und staatliche Rahmenkompetenz ein Qualifizierungssystem (begründen), dessen konstitutive Elemente von einem privaten Ausbildungs(stellen)markt und einem Set öffentlich-rechtlicher Normierungen gebildet werden“.132 Damit wäre das Bildungsmodell van Liths auf den dualen Charakter des dualen beruflichen Bildungssektors übertragbar. Würde man dieses marktorientierte Prinzip von Angebot und Nachfrage generalisieren und auf die Qualifizierungsanforderungen des Arbeitsmarkts übertragen, könnte eine Gleichwertigkeit von gymnasial-akademischer und praxisorientierter Bildung gelingen. Damit wäre der gescheiterte Versuch einer „Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung“ überholt. Greinert folgert daraus, dass wenn „diese alte Vision eines eigenständigen beruflichen Bildungsweges (…) eine Realisierungschance bekommen (sollte), so würde dies einem späten Sieg für die berufspädagogischen Realisten und Pragmatiker Georg Kerschensteiner und Heinrich Abel gleichkommen“.133 Seit den 1990er Jahren kommen Bestrebungen auf, der Einzelschule erweiterte Verantwortung zu überlassen, diese mit einem eigenen Profil und mit mehr Handlungskompetenz auszustatten und gleichzeitig über evaluative Verfahren indirekt zu steuern.134 Im Zuge dieser Deregulierungsmaßnahme steht auch das Bildungswesen verstärkt im Zentrum internationaler ←42 | 43→Vergleichsuntersuchungen.135 Da die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung 2007 ihre Arbeit einstellte, sind die einzelnen Bundesländer wie vor 1969 allein für das Bildungswesen verantwortlich. Die Bildungsqualität in Deutschland soll fortan durch Wettbewerb zwischen den 16 Bundesländern verbessert werden, womit die tradierten landeseigenen regierungspolitischen Überzeugungen Einfluss auf die jeweilige Kultusbürokratie nehmen. Die Entwicklung der Bildungssysteme in den Bundesländern findet seit Mitte der 1990er Jahre einen sich verstärkenden Niederschlag in empirisch belegten Studien, die als wichtige Indikatoren für die Qualität im Bildungswesen gelten.136 Schulpolitik findet an den Universitäten einen entsprechenden Widerhall, der – in Bezug auf Schülerleistungen – in Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Thüringen in unterschiedlichen Studien untersucht wurde.137 Aufgrund zurückgehender Geburten- und Schülerzahlen und aus Kostengründen verstärkt sich die Tendenz, einzelne Schulformen zusammenzufassen, um auch Schulstandorte erhalten zu können. Abgesehen von den Bundesländern, die sich um eine Aufrechterhaltung des dreigliedrigen Schulsystems bemühen, ist erkennbar, dass Schulen mit mehreren Bildungsgängen eingerichtet werden, was mit einem Verzicht auf die Hauptschule als eigenständiger Schulform einhergeht. Hinsichtlich der Sonderwege in einzelnen Bundesländern bezüglich der Systeme von schulischen Übergängen, unterschiedlichen Bildungswegen und Abschlüssen lässt sich ein Zustand im bundesdeutschen Bildungssystem erkennen, der sich zwischen strukturkonservativen und strukturreformerischen Elementen bewegt.138 Um vom mehrgliedrigen Schulsystem wegzukommen, propagieren Bildungsforscher wie Klaus Hurrelmann u.a. ein zweigliedriges Modell („Zwei-Wege-Modell“), wonach Hauptschulen, Realschulen und Gesamtschulen in einer komplexen Schule zusammengefasst werden, die mit einer eigenen ←43 | 44→Oberstufe ausgestattet ist, um somit wie das Gymnasium alle Schulabschlüsse anbieten zu können.139

2.3.1 Schulverbund „Blick über den Zaun“

Ein Beispiel für Reformanstöße bildet das Netzwerk „Blick über den Zaun“, das seit 1989 besteht. Es repräsentiert einen bundesweiten Verbund reformpädagogisch orientierter Schulen, wobei diese unterschiedlichen Schulen aller vertretbaren Schularten in staatlicher wie in freier Trägerschaft zwar für eine große Vielfalt unterschiedlicher Schulkonzepte stehen, doch gemeinsame pädagogische Grundüberzeugungen teilen.140 Acht bis zehn Schulen bilden jeweils einen Arbeitskreis. Sie verbindet nicht nur eine gemeinsame Vorstellung davon, wie eine gute Schule in der heutigen Zeit beschaffen sein sollte, sondern auch die Bereitschaft, sich anhand gemeinsamer Standards evaluieren zu lassen141. Der Verband sieht sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Entsolidarisierung der Gesellschaft und bildungspolitischer Fehlentwicklungen zum Handeln veranlasst, indem Standards vorgestehllt werden, die als Impuls zu bildungspolitischen Kurskorrekturen dienen sollen. Die „Bildungsstandards“ der KMK werden mit Zurückhaltung betrachtet, da diese nicht darauf zielten, die Schulen besser zu machen. Der Verband lehnt den gegenwärtigen Trend, die Qualität von Schulen nahezu ausschließlich an den Ergebnissen zentraler schulfachbezogener Tests zu messen, aus pädagogischer und didaktischer Sicht als kontraproduktiv ab.142 In der „Erklärung von Hofgeismar“ vom 14. November 2006143 werden mehrere Aspekte zu einer „Vision“ skizziert, die kein „Serienmodell“ ergibt, sondern ein „Grundmuster“, auf dem eine gute Schule den jeweiligen Umständen gemäß entwickelt werden kann. Eine solche Schule soll ein „Gemeinschaftswerk aller Beteiligten“ sein und gewissermaßen als „Polis“ agieren.

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So soll die Schule ein „Gemeinschaftswerk aller Beteiligten“ darstellen, die mit- und füreinander Verantwortung übernehmen, wodurch die Schule sozusagen als „Polis“ agiert. Alle am Schulleben Beteiligten wirken kooperativ zusammen, um dem Anspruch: „Wir dürfen kein Kind verlieren“, gerecht zu werden. Zum Kern der Entwicklungsarbeit wird die Neugestaltung des Unterrichts und der Lernangebote nach der Vorgabe, „Lernen müsse Freude machen“ und mit Anschauung und Erfahrung verbunden sein. Die Schule soll einladend, freundlich und anregend gestaltet sein, ein Ort, an dem Kinder den ganzen Tag über gern leben und lernen können. Die Schule soll selbstständig und eigenverantwortlich arbeiten, um ihre ganze pädagogische Kreativität freisetzen zu können. Starre Jahrgangsklassen sollen durch flexible Lernformen und Lerngruppen ersetzt werden, Haupt- und Nebenfächer gibt es nicht. Die Schule arbeitet dabei eng mit einem wissenschaftlichen Institut oder anderen Experten zusammen, um Lernprozesse beobachten und evaluieren zu können. Leistungen der Schüler/innen werden individuell bewertet, jedoch anhand fachlicher Mindeststandards. Dass die grundlegenden und allgemein erwarteten Kenntnisse tatsächlich erworben wurden, weisen die Schüler/innen am Ende ihres schulischen Bildungsweges durch „Beispielleistungen aus allen Bereichen“ nach.144 Erklärtes Ziel des Netzwerks ist es, eine Schule zu realisieren, in der sich junge Menschen zu lebenszuversichtlichen, verantwortlichen, politikfähigen Bürgerinnen und Bürgern der demokratischen Gesellschaft entwickeln und in der Kinder lernen, mit Unterschieden zu leben. Gefordert wird daher von der Politik die Bereitschaft, das gängige gegliederte Schulwesen nicht vor nötigen Reformen zu bewahren, um allen Kindern und Jugendlichen alle wichtigen Bildungserfahrungen zu ermöglichen, die den individuellen Fähigkeiten und Begabungen gerecht werden. Unterstützt werden soll dieses Ziel durch flexible Unterstützungssysteme wie Team-Teaching, dem Einsatz von sozialpädagogischen Fachkräften und ehrenamtlichen Helfern und weiteren diagnostischen Instrumenten, um die Unterrichtssituation zu entspannen. Zusätzlich sollen individuelle Formen der Leistungsbegleitung und Leistungsbewertung die normierenden Zensuren ergänzen und langfristig ersetzen. Der Verband sieht Schule als Gemeinschaft und damit als unlösbaren Bestandteil der Gesellschaft: „Demokratie und Schule sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Die Schule muss selbst ein Vorbild der Gemeinschaft sein, zu der und für ←45 | 46→die sie erzieht.“145 Auch in der Frage der Qualität einer Schule sieht der Verband in der geläufigen Form der Evaluation kein passendes Kriterium, da dies eine einseitige Verengung darstelle und den Standards einer guten Schule nicht gerecht werde. Vielmehr komme es darauf an, den pädagogischen Grundüberzeugungen hinsichtlich des Leitbilds einer guten Schule zu folgen, wonach diese drei Ebenen zuzuordnen sind: der des pädagogischen Handelns, der der schulischen Rahmenbedingungen und der der systematischen Rahmenbedingungen.146

2.4 Reformen in ausgewählten Bundesländern

Betrachtet man die Gründe für Schulstrukturreformen in den einzelnen Bundesländern, fällt auf, dass neben Vergleichsstudien wie TIMSS, IGLU und PISA vor allem zwei Krisensymptome genannt werden können, die die Debatte über die Weiterentwicklung oder Abschaffung der Hauptschule beherrschen. Wird die Hauptschule als „Problemschule“ gesehen, trifft dies vor allem im städtischen Umfeld zu, wo – bedingt durch eine ausgeprägte Heterogenität der Schülerschaft – diese Schulart zum Spiegel gesellschaftlicher Spannungen wird. Hauptschulen im ländlichen Bereich sind vor allem in strukturschwachen Gebieten aufgrund wegbrechender Schülerzahlen von der Schließung betroffen. Es wird deutlich, dass vor allem an der Hauptschule die Strukturkrise des selektiven Schulsystems erkennbar wird, auch wenn „das Gegenteil immer wieder behauptet wird“147. Tino Bargel und Manfred Kuthe haben bereits vor dem Jahr 2000 in einem Gutachten im Auftrag der GEW zum Schulangebot und zur Schulentwicklung in Baden-Württemberg prognostiziert, dass unter Berücksichtigung der Entwicklung der Schülerzahlen und einem veränderten Übergangsverhalten von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen die rund 1200 Hauptschulstandorte in Baden-Württemberg bei einer Beibehaltung des mehrgliedrigen Schulsystems mit stark sinkenden Jahrgangsstärken zu rechnen haben, so dass mehr als die Hälfte der Hauptschulen bis zum Jahr 2010 nur noch einzügig existieren können.148 Beide Autoren entwickeln vor dem Hintergrund der ←46 | 47→„Krise der Hauptschule“ Gegenstrategien. So soll eine ‚erweiterte Grundschule‘ mit einem längeren gemeinsamen Lernen den Selektionsdruck und das Auspendeln abfedern. Dies würde aber den Standort vieler wohnortnaher kleiner Grundschulen gefährden und wäre damit kein probater Beitrag zur Lösung der Strukturkrise. Stattdessen empfiehlt die Studie, die Haupt- und Realschulen zu einer „Mittelschule“ zusammenzuführen. In den neuen Bundesländern sei diese als „Stadtteilschule“ von der Bevölkerung bereits gut akzeptiert.149 Neben einem längeren gemeinsamen Lernen wird Kindern und Jugendlichen dabei die Option auf alle Anschlussmöglichkeiten in der Sekundarstufe II ermöglicht. Gerade im ländlichen Raum wird in diesem Gutachten dieser Ansatz als Strategie gegen das Schulsterben gesehen. Die GEW Baden-Württemberg sah sich in den Ergebnissen der Studie in ihrer Forderung nach einer „Schule für alle“ bestätigt, denn das bisherige Selektionsprinzip des segmentierten Schulsystems trage kaum zu einer zeitgemäßen zukunftsfähigen schulgesetzlich gestützten Schulentwicklungsplanung bei. Äußere und innere Schulreformen stünden in einer wechselseitigen Beziehung, denn „innere Schulreformen“, wie die Versuche an der Hauptschule zeigen, können die „desintegrative Wirkung äußerer Schulstrukturen“ nicht korrigieren.150 Rheinland-Pfalz wollte aus den genannten Gründen die Hauptschule abschaffen und den Hauptschulabschluss ab dem Schuljahr 2009/10 unter dem Dach der Realschulen anbieten. Die ‚neue‘ Realschule als „Realschule plus“ kann bis zur Fachhochschulreife nach der zwölften Klasse führen. Daneben sollen Gesamtschule und Gymnasium als Schulform weiterexistieren. Spätestens zum Schuljahr 2013/14 sollte es keine eigenständigen Hauptschulen mehr in Rheinland-Pfalz geben. Die Schulstrukturen des Sekundarschulbereichs befinden sich somit spätestens seit 2010 in den einzelnen Bundesländern im Umbruch. Das dreigliedrige Schulsystem, das sich in Haupt- und Realschule sowie Gymnasium gliedert, wird zunehmend durch ein zweigliedriges Sekundarschulsystem substituiert. Auch wenn in den einzelnen Bundesländern sich Schulstrukturen und Typenbezeichnungen der Schulen unterscheiden, lassen sich aus der Vielzahl der Namen151 vergleichbare Kategorien ableiten. Jedenfalls wird erkennbar, dass sich neben dem Gymnasium eine zweite Schulform ←47 | 48→herausbildet, die Schüler/innen unterschiedliche Schulabschlüsse einschließlich des Abiturs anbietet.

2.4.1 Die Einführung der Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein

Schleswig-Holstein war nach PISA 2000 das erste Bundesland, das unter einer rot-grünen Regierung das KMK-Tabu einer neuen Schulstrukturdebatte brach. Mit einem Strukturkonzept auf der Basis eines Gutachtens des Bildungsforschers Ernst Rösner zog die SPD in den Wahlkampf. Entsprechend der demographischen Entwicklung solle es in der Sekundarstufe I nur noch die Gemeinschaftsschule geben, in der binnen einer Dekade sämtliche weiterführenden Schule aufgehen könnten.152 Die Große Koalition im Kieler Landtag konnte sich 2005 auf einen Schulkompromiss einigen, laut dem es neben dem Gymnasium eine integrativ arbeitende Gemeinschaftsschule geben solle. Der Weg zur Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein wurde somit durch den Koalitionsvertrag, der zwischen der CDU und der SPD für die Legislaturperiode 2005-2009 abgeschlossen wurde, vorbereitet. Vorgesehen war ein bildungspolitischer Kompromiss für zwei Optionen, der ein „2-Wege-Modell“ in Form einer Differenzierung zwischen Regionalschule (Sekundarstufe I-Abschluss) und Gemeinschaftsschule neben dem Gymnasium beinhaltete. Die Gemeinschaftsschule sollte ebenfalls eine Sekundarstufe I mit der Option für eine Sekundarstufe II enthalten. Am 1. August 2007 nahmen die ersten sieben Gemeinschaftsschulen in Flensburg und anderen Orten mit zusammen 714 Schüler/innen der fünften Jahrgangsstufe den Betrieb auf.153 Vorausgegangen war ein intensiver, über ein Jahr andauernder Prozess, in dem die einzelnen Schulträger und die Schulen ihr Modell einer Gemeinschaftsschule entwickelt hatten.

Eine Volksinitiative wurde im Oktober 2007 gegründet, die mit dem Slogan „Eine Schule für alle“ forderte, dass nur noch die Gemeinschaftsschule als weiterführende Schule bestehen bleiben solle, während die Regionalschulen und auch die Real- und Hauptschulen abgeschafft werden müssten.154 Für das Schuljahr 2008/09 genehmigte das Ministerium für Bildung und Frauen 49 weitere ←48 | 49→Gemeinschaftsschulen.155 Damit wurde in Schleswig-Holstein das dreigliedrige Schulsystem abgeschafft, nachdem die Hauptschule kaum noch von den Eltern als Alternative in Betracht gezogen wurde. Wie Rösner ausführt, galt dasselbe für die Realschulen, die häufig die erforderliche Mindestgröße unterschritten.156 Von Seiten der Eltern wurde zudem die Regionalschule abgelehnt, weil diese eine frühzeitige Festlegung auf bestimmte Bildungsgänge vermeiden wollten. In den Regionalschulen sollten alle Schüler/innen in der fünften und sechsten Klassenstufe eine gemeinsame Orientierungsstufe besuchen. Ab der siebten Klasse erfolgte bereits die Zuordnung zu einem Bildungsgang, bei welchem die Schüler/innen auf verschiedenen Anspruchsniveaus mit Ausrichtung auf bildungsbezogene Differenzierung zum Hauptschul- oder Realschulabschluss unterrichtet wurden. In den Gemeinschaftsschulen erfolgte dagegen ein gemeinsamer Unterricht in der fünften und sechsten Jahrgangsstufe. In der siebten Klasse fand gemeinsamer Unterricht statt, der mit Differenzierungsmöglichkeiten gemäß KMK-Vereinbarung erteilt wurde. Es war vorgesehen, Gesamtschulen in Gemeinschaftsschulen umzuwandeln. Nach der Wahl im Jahre 2009 einigten sich die CDU und die FDP, dass der Schulkompromiss nicht angetastet werde solle. Perspektivisch wolle man jedoch die Regional- und die Gemeinschaftsschulen zusammenführen, wodurch ein zweigliedriges System entstünde.157Schulen und Schulträger konnten bis zum 31. Juli 2010 über die Umgestaltung entscheiden. In dieser Phase waren insbesondere zwei Aspekte für die Entscheidung über die neue Schulart für den Schulstandort wichtig: Regionalschulen wurden von Lehrerkollegien bevorzugt, die sich dem bisherigen Schulsystem verbunden fühlten und sich daher von der Gesamtschulpädagogik abgrenzten. Schulträger tendierten generell zur Beibehaltung der Regionalschule, um bei abnehmender Schülerzahl eine möglichst wohnortnahe Beschulung ermöglichen zu können. In Städten und großstadtnahen Bereichen wurde sowohl für die Regional- als auch für die Gemeinschaftsschule plädiert, um beiden Modellen eine Chance einzuräumen.158 Die Landespolitik verwies dabei auf die Entscheidungsmöglichkeiten ←49 | 50→vor Ort, so dass bei einem ausgeprägten Besitzwahrungsverhalten der Schulumwandlungsprozess drohte, sich in die Länge zu ziehen. Da die Eltern – wie bereits erwähnt – die Regionalschule aufgrund der frühen Trennung der Schüler/innen nach der Orientierungsstufe in abschlussbezogene Klassen als verdeckte Haupt- bzw. Realschule wahrnahmen, wurde der Regionalschule schließlich die Bestandsgarantie aberkannt.

Daher wurde ab 2012 in der Koalition von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und dem Südschleswigschen Wählerverband SSW das Modell der Regionalschule aufgegeben und ein Schulsystem konzipiert, das nur noch aus Gemeinschaftsschulen und Gymnasien bestehen sollte: Der Koalitionsvertrag von 2012 bejahte das „Zweiwegekonzept“ von Gemeinschaftsschule und Gymnasien, womit das „gemeinsame Lernen“ an Gemeinschaftsschulen wieder bindend sein sollte. Gymnasien sollten generell in acht Jahren, Gemeinschaftsschulen in neun Jahren zum Abitur führen. Der Schulträger kann eine für die Gemeinschaftsschule eine Oberstufe beantragen, sofern die Planung der Schulentwicklung einen entsprechenden Bedarf festgestellt hat. Auch die Schulkonferenz muss ihr Einverständnis geben. Die Zusammenarbeit mit den Oberstufen an anderen Schulen solle auch während der Planung in Betracht gezogen werden.159

Ausschlaggebend für den Durchbruch der Gemeinschaftsschule und der endgültigen Absage an das bisherige Schulsystem in Schleswig-Holstein war die Studie von Ernst Rösner, die die Veränderungen der Schulstruktur als Konsequenz demographischer und gesellschaftlicher Entwicklungen zum Inhalt hatte.160 In dem Gutachten wird die Aufgabenstellung untersucht, „Grundzüge einer modernisierten Struktur des allgemein bildenden Schulwesens in Schleswig-Holstein zu entwerfen“161, indem folgende Bedingungen aufgestellt werden: So sollen Strukturreformen auf der Grundlage bestehender Gegebenheiten weiterentwickelt, schulrechtliche und pädagogische Einheiten zielorientiert angestrebt werden, die langfristig als vollständige Systeme in ihrer Funktion als weiterführende Schulen agieren können und somit an vertraute Formen des allgemein bildenden Schulwesens anknüpfen. Außerdem müssen diese Maßnahmen mit den ←50 | 51→finanziellen Möglichkeiten der Verantwortlichen auf allen Ebenen vereinbar sein.162 Das Gutachten von Rösner versteht dabei „Veränderung als Entwicklungsprozess“, der sich im Wesentlichen auf den umstrittensten Teil des deutschen Schulwesens, auf die Sekundarstufe I, bezieht. Förderschulen und berufsbildende Schulen werden in dieser Studie nicht berücksichtigt. Das Gutachten empfiehlt einen „kontinuierlichen Umbau des bestehenden Sekundarschulangebotes zu vollständigen schulrechtlichen Einheiten“163. Die Gemeinschaftsschule definiert Rösner als eine „Schule, die alle Grundschulabgänger aufnehmen und zu den verschiedenen Abschlüssen der Sekundarstufe I führen kann“. Eine so aufgefasste Gemeinschaftsschule sei mit den existierenden Schulformen, wie den kooperativen und integrierten Gemeinschaftsschulen nicht identisch.164 Auch sei ein Zusammenschluss von zwei traditionellen Bildungsgängen zur Gemeinschaftsschule möglich. Der Autor weist explizit darauf hin, dass aber diese genannten Schulen zu vollständigen Angeboten der Sekundarstufe I weiterentwickelt werden sollen. Da die Jahrgangsstufen 5 und 6 Orientierungsstufen und somit schulformübergreifend sind, bedeute dies, dass frühestens in Jahrgangsstufe 7 die traditionelle Differenzierung nach Bildungsgängen stattfinde. Das Konzept der Gemeinschaftsschule sei „folgerichtig nicht das Konzept eines Standardmodells“, da ihre „Struktur flexibel (sei) und somit geeignet, unterschiedlichen schulischen und regionalen Bedingungen gerecht zu werden“165. Schlagartig ein neues System zu etablieren, sei weder finanzierbar, noch für die Betroffenen akzeptabel. So müsse man die Gemeinschaftsschule realistischer als „Ergebnis eines vermutlich mehr als zehn Jahre umfassenden Entwicklungsprozesses“ auffassen.166 So werde auf bestehende Angebote bei der Entwicklung von Gemeinschaftsschulen zurückgegriffen, um finanzielle Aufwendungen in Grenzen zu halten. Gleichzeitig wäre bei der Einrichtung von Gemeinschaftsschulen durch entsprechende Nutzungsoptimierung von ←51 | 52→Ressourcen ein gewisses Einsparpotential zu schaffen.167 Rösner plädiert hinsichtlich künftig zu schaffender neuer Schulstrukturen neben dem Kriterium der Leistungsfähigkeit auch für Offenheit und Durchlässigkeit als wichtiges Merkmal des neuen Bildungswesens, um Schüler/innen einen leichteren Wechsel des Bildungsgangs zu ermöglichen168 und verweist dabei auf Ergebnisse vorangegangener Untersuchungen (etwa die „Hamburger LAU-Untersuchung“ oder die „Grundschul-Leistungsstudie IGLU“ seien hier erwähnt). Letztendlich müsse sich die Qualität eines Bildungssystems am Schulerfolg der Schüler/innen messen lassen, wenn vermieden werden soll, dass „Herkunft nicht nur die Schulchancen bestimmt, sondern letztlich über die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben entscheidet (…)“169. Geht es um die Verbesserung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit, fasst diesen Aspekt das Vorwort der OECD-Bildungsindikatoren „Bildung auf einen Blick“ folgendermaßen zusammen: „Die Veränderungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen lassen der Bildung eine immer größere Bedeutung für den Erfolg der einzelnen Menschen und der Staaten zukommen. Schon lange wird dem Humankapital eine Schlüsselrolle beim Kampf gegen Arbeitslosigkeit und niedrige Einkommen beigemessen, nun aber liegen solide Beweise dafür vor, dass es eine wichtige Determinante des Wirtschaftswachstums ist, und es wird immer offensichtlicher, dass es mit einer Reihe von nichtökonomischen Vorteilen wie besserer Gesundheit und größerem Wohlbefinden einhergeht.“170 Der enge Zusammenhang zwischen der Qualität eines Bildungssystems, wirtschaftlicher Prosperität und demographischer Entwicklung führt dabei zu dem Ergebnis, „dass eine durchgängige Höherqualifizierung nur erreicht werden (kann), wenn Kindern aus bildungsfernen Schichten der Zugang zu weiterführenden Schulen erleichtert wird.“171 Der Aspekt ungleicher Bildungschancen vor dem Hintergrund einer stetig sich verschlechternden demographischen Situation stellen für Rösner in seiner Studie auch die wichtigsten Beweggründe für die Schaffung gleicher individueller Lernvoraussetzungen dar, die er in der Gemeinschaftsschule realisiert sieht. Dies sei nur in einer Verbesserung der Durchlässigkeit des Schulsystems zu gewährleisten.172 Das ←52 | 53→Leitziel sei die Bereitstellung einer gemeinsamen Schule für alle Schüler/innen der Sekundarstufe I, wobei „die Gemeinschaftsschule (…) keine bloße Addition bislang unverbundener Bildungsgänge (ist), sondern vielmehr ein Rahmen für eine veränderte pädagogische Praxis.“173 Möglich sei, dass die parallelen, nun unter einem Dach vereinten Bildungsgänge nicht nur kooperieren, sondern auch gemeinsame Lerngruppen mit Schüler/innen unterschiedlicher Leistungsstärke bilden. Nach dem Vorbild der Schulsysteme, die sich ausweislich der PISA-Studien besonders bewähren, könnten sich die Schulen auch in der Weise neu organisieren, dass die Aufteilung der Schüler/innen in verschiedene Bildungsgänge später erfolgt oder sogar ganz aufgegeben wird. Mit konstruktiver Begleitung durch die Schulaufsicht solle den jeweiligen Schulen dabei so viel Autonomie gewährt werden, wie es die Umstände erlauben.174 Nach Rösner verkörpert die Gemeinschaftsschule keine unveränderliche Schulform, sondern ist Produkt struktureller Reformen als Bestandteil einer Weiterentwicklung.175 Vor dem Hintergrund sinkender Schülerzahlen liege eine wichtige Funktion der schulischen Organisationsform in einem garantierten Versorgungsstandard ohne Einbußen beim Unterrichtsangebot. Die Anbindung einer gymnasialen Oberstufe sei möglich, doch nicht zwingend erforderlich.176 Rösner sieht die Einführung der Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein als Entwicklungsprozess, deren Akzeptanz in der Anknüpfung an bestehende Strukturen liege: Veränderungen des Schulangebots seien sukzessiv vorzunehmen, so dass für eine „Übergangszeit auch solche Schulen als Gemeinschaftsschulen auszuweisen (sind), die zunächst nur zwei Bildungsgänge umfassen“177. Das Gutachten betont, dass eine Veränderung des bestehenden Schulsystems eine zielorientierte Reaktion auf erkannte Mängel und demographische Erfordernisse darstelle und prozesshaft ablaufe, wobei das „Leitziel einer gemeinsamen Schule“ im Vordergrund stehe: So seien kombinierte Bildungsgänge als Regelfall auszuweisen, unverbundene Einzelschulen zu Gemeinschaftsschulen durch Beratung und Anreize gezielt zu fördern, Lehrkräfte in Aus- und Fortbildung für den Unterricht in organisatorisch verbundenen Gemeinschaftsschulen zu qualifizieren und eine kooperative Entwicklung in den Schulprogrammen zu verankern. Erreichte Kooperations- und Integrationsmaßnahmen seien in den Einzelschulen zu sichern und integrierte ←53 | 54→Systeme bedarfs- und sachgerecht einzuführen, wobei die Nachfrage nicht ausschlaggebend sei, sondern der entscheidende Faktor darin liege, „dass sich vornehmlich kleine integrierte Systeme der Sekundarstufe I zur Gewährleistung eines vollständigen Sekundar-I-Angebots umso eher eignen, je geringer das Schüleraufkommen in einer dünn besiedelten Region ist“178. Die Schulentwicklung in Schleswig-Holstein beanspruche, sämtliche Schüler/innen nach der Grundschule bestmöglich zu fördern und ihnen alle Abschlüsse der Sekundarstufe I zu ermöglichen.179 „Mit dem Begriff ‚Gemeinschaftsschule‘ sind diese Schulen als gemeinschaftliche Lernorte für alle Abgänger aus Grundschulen gekennzeichnet.“180 Rösner bezeichnet Schulen, die in ihrer vorläufigen Entwicklung noch nicht über ein vollständiges Angebot eines weiterführenden Systems verfügen, als „kleine Gemeinschaftsschulen“.181 In seiner pädagogischen Begründung von Gemeinschaftsschulen hebt der Autor nicht nur die „Erfahrungsfelder für die am Schulleben Beteiligten“182 hervor, sondern betont auch die Durchlässigkeit von Bildungsgängen.183 Damit erteilt er möglichen Konkurrenzbeziehungen zwischen den Bildungsgängen eine Absage. Die aus der Landtagswahl 2005 in Schleswig-Holstein hervorgegangene Große Koalition verständigte sich auf eine neue Variante von Dreigliedrigkeit, die aus Gymnasium, Gemeinschaftsschule und Regionalschule bestand. Die CDU legte dabei auf den Fortbestand der Gymnasien und der Zusammenlegung aller Haupt- und Realschulen zu Regionalschulen wert. Die CDU verfolgte das Ziel, die Gemeinschafts- und Regionalschulen in einer Schulart zusammenzuführen, damit „die Schülerinnen und Schüler die Chance haben, alle Schulartabschlüsse zu erreichen“. Die CDU war aber nicht bereit, die Zweizügigkeit aufzugeben. Nur falls „bereits bestehende Oberstufen an Gymnasien und berufsbildenden Schulen keine ausreichende Kapazität haben“, sei eine Oberstufe an ←54 | 55→Gemeinschaftsschulen genehmigungsfähig.“184 Die SPD wollte hingegen ein flächendeckendes Angebot an G9-Bildungsgängen an Gemeinschaftsschulen neben dem Abitur nach acht Jahren an Gymnasien durchsetzen. An welchen Gemeinschaftsschulen gymnasiale Oberstufen eingerichtet werden, entscheidet sich nach der Schülerzahl der jeweiligen Schule. Die Regionalschulen sollten dabei schrittweise zu Gemeinschaftsschulen weiterentwickelt werden. Dabei sollten alle Schulen „langfristige Verantwortung für die Erziehung und Bildung der aufgenommenen Kinder und Jugendlichen“ übernehmen. Es sei besser, die Schüler/innen individuell zu fördern, als dass sie die Schulart wechseln. Unverändert strebte die SPD eine „eine Schule für alle“ an.185 Die SPD setzte schließlich ihr Modell der Gemeinschaftsschule als Schule des gemeinsamen Lernens durch, die im Bedarfsfall auch eine gymnasiale Oberstufe anbieten kann. Mittlerweile gibt es die Tendenz, die eher unbeliebten Regionalschulen in Gemeinschaftsschulen zu transformieren: „Neben dem Gymnasium, das in der Regel als G8 gestaltet sein soll, wird es nur noch eine weitere Schulart geben, die in neun Jahren zum Abitur führt – und das soll die Gemeinschaftsschule sein. Alle Regionalschulen, sofern sie nicht zu klein sind und aufgelöst werden müssen, sollen per Gesetz zum 1. August 2014 Gemeinschaftsschulen werden.“186 Die Grünen teilten die Position der SPD dahingehend, dass „gemeinsames Lernen an Gemeinschaftsschulen am besten gewährleistet werden“ könne. Die Regionalschulen werde man nicht „auf Knopfdruck“ verändern können. Die Beteiligten benötigten „Zeit zur Umwandlung und Unterstützung“. Jedoch strebten auch die Grünen als längerfristiges Ziel „durch gemeinsames Lernen geprägte Gemeinschaftsschulen an“. 187

Die Linke unterstützte die langfristigen Ziele von SPD und Grünen, eine Schule für alle Kinder, „von der ersten bis zur zehnten Klasse“ unter Einschluss des Gymnasiums und von Kindern mit Behinderungen einzuführen.188

CDU und die FDP planten mittelfristig ein zweigliedriges System nach sächsischem Modell mit einer eindeutig hierarchischen Gliederung der beiden Schulformen. Gründe für einen vollständigen Ausbau von Gemeinschaftsschulen sieht Rösner darin, dass nach Abschluss der Grundschule keine Aufteilung ←55 | 56→der Schüler/innen stattfinde und der Einstieg in das weiterführende Schulsystem ohne „Sekundarstufenschock“ erfolgt.189 Der Unterricht werde durch eine Anzahl organisatorischer Maßnahmen unterstützt, wonach die Schüler/innen individuell besser gefördert würden. Die Organisation zu einer Gemeinschaftsschule müsse die Organisationsform der jeweiligen Schule berücksichtigen, was wiederum entsprechend flexible Strukturen bedinge und damit einhergehend eine intensive Kooperation der Schularten. Dieser Faktor führe außerdem zu einem höheren Maß an Sicherheit bei der Schulentwicklungsplanung und stelle ein weiteres wichtiges Qualitätskriterium dieser Schule dar.190 Im Koalitionsvertrag 2012-2017 von SPD, den Grünen und dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW) werden von der neuen Regierung für das Schuljahr 2012/13 „Akteure aus Schule, Gesellschaft, Kommunen und Fraktionen“ zu einer „Bildungskonferenz Schule“ eingeladen, mit dem Ziel „Lösungen zu erarbeiten, die parteiübergreifend und über einen Zeitraum von zehn Jahren Planungssicherheit für die Schulen bieten“.191 Die Regierungskoalition bekannte sich 2012 „zu dem Zweigliedrigkeitskonzept von Gemeinschaftsschule und Gymnasium“. Grundsätzlich sollen die Gymnasien das Abitur nach acht Jahren ermöglichen. Die bestehenden G9-Gymnasien, die die Vorgängerregierung genehmigt hatte, bleiben erhalten, während die „Y-Gymnasien“ zwischen G8 und G9 wählen müssen.192 Das Abitur nach neun Jahren dürfen die Gemeinschaftsschulen „flächendeckend“ anbieten. Ihnen kann eine Oberstufe genehmigt werden, „wenn der Schulträger dies mit der Zustimmung der Schulkonferenz beantragt und wenn nach der Schulentwicklungsplanung ein Bedarf besteht. […] Im Rahmen der Planung ist auch über Kooperationsmöglichkeiten zu Oberstufen an anderen weiterführenden Schulen, wie den beruflichen Gymnasien, zu entscheiden.“193 An Gemeinschaftsschulen sollen fortan abschlussbezogene Klassen nicht mehr möglich sein; Regionalschulen sollen zu Gemeinschaftsschulen weiterentwickelt ←56 | 57→werden.194 Ferner legt der Koalitionsvertrag fest, dass auf „Abschulungen“ ebenso verzichtet werden soll wie auf „Schulartempfehlungen“ der Grundschule.195

Fasst man die Ergebnisse des Koalitionsvertrags zusammen, fällt auf, dass die Koalition Änderungen am Schulkompromiss der Großen Koalition zurücknimmt. Zugleich orientiert sie sich am Zwei-Wege-Modell anderer Bundesländer, also an Modellen, die das Abitur auf Wegen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten anbieten. Die Gemeinschaftsschule wurde inzwischen in Schleswig-Holstein flächendeckend eingeführt, so dass im Schuljahr 2015/16 Gemeinschaftsschulen an 182 Standorten vorhanden waren, womit das Fortbestehen dieser neuen Schulart gesichert ist. Die Gemeinschaftsschulen können eine eigene Oberstufe anbieten oder in Kooperation mit anderen weiterführenden Schulen den Besuch einer Oberstufe ermöglichen. Die Landesverordnung über Gemeinschaftsschulen (GemVO) vom 18. Juni 2014 erklärt dazu explizit: „Die Gemeinschaftsschule führt Schülerinnen und Schüler aller Begabungen in einem gemeinsamen Bildungsgang zu den Schulabschlüssen der Sekundarstufe I oder zur Berechtigung des Übergangs in die Oberstufe (…).“196 Für die Entwicklung eines Schulstandorts ist es daher von besonderer Bedeutung, dass die jeweilige Schule ein Schulprofil entwickelt, das der Schule im Wettbewerb mit anderen eine Zukunft des Schulstandorts garantiert.

2.4.2 Das Berliner Zwei-Wege-Modell und eine „Schule für alle“

Nach der Wiedervereinigung sah sich das Land Berlin vor die große Herausforderung gestellt, nicht nur zwei Großstadthälften zu einem homogenen Ganzen zu vereinigen, sondern auch zwei konfrontativ gegeneinander konzipierte Bildungssysteme zu einer Einheit zu verbinden. Wie in den übrigen neuen Bundesländern wurde das westliche gegliederte Schulsystem auch im bisherigen Ostteil Gesamtberlins eingeführt.197 Im Zuge zurückgehender Geburtenzahlen nach ←57 | 58→der Wende sahen sich Bildungspolitiker im Berliner Senat vor die Notwendigkeit gestellt, durch geeignete Maßnahmen Schließungen von Schulen zu vermeiden. Das Berliner Schulsystem verfügte über ein breites Angebot an weiterführenden Schulen, bestehend aus Haupt-, Real- bzw. einem Verbund aus Haupt- und Realschulen. Ergänzend dazu fällt ein Nebeneinander von Gesamtschulen und Gymnasien auf. Eine Besonderheit stellte die sechsjährige Grundschule da, nach deren Abschluss auf eine der weiterführenden Schulen gewechselt werden konnte. Das Gymnasium begann entsprechend mit dem siebten Schuljahr. Zusätzlich waren 31 grundständige Gymnasien vorhanden, zu denen ein Wechsel nach der vierten Grundschulklasse möglich gewesen ist. Die Berliner SPD legte auf ihrem Parteitag am 9. April 2005 eine neue Ausrichtung des Schulsystems fest, um mithilfe einer Gemeinschaftsschule eine Erhöhung von Qualität und Chancengleichheit umzusetzen.198 Die Gemeinschaftsschulen, die es bisher als Pilotschulen neben den herkömmlichen Schulformen gab, sollten flächendeckend eingeführt werden.199 Mit der Partei "Die Linke", ihrem Koalitionspartner, kam die SPD nach der Landtagswahl im Jahr 2006 überein, eine "Pilotphase Gemeinschaftsschule" durchzuführen. Nach ihrem Abschluss im Jahr 2013 sollte die Entscheidung über eine tiefgreifende Reform des Schulsystems getroffen werden.200 In der Koalitionsvereinbarung vom 20. November 2006 legten die Koalitionäre für den Bereich „Schule“ sich auf ein längeres gemeinsames Lernen fest. Ziel war eine Entkoppelung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft. Eine Pilotphase sollte dabei schrittweise auf die Gemeinschaftsschule hinführen, die sich am skandinavischen Prinzip der ungeteilten Schule orientieren solle. In der Pilotphase wurde eine Entwicklung angestrebt, in der sich die Schulen auf freiwilliger Grundlage zu integrativen Gemeinschaftsschulen entwickeln und Erfahrungen für die Rahmenbedingungen der Flächenübertragung sammeln ←58 | 59→sollten.201 Im Unterschied zu den meisten Ansätzen anderer Bundesländer wird in der Berliner Pilotphase die Einbeziehung der Primarstufe als Bestandteil der Gemeinschaftsschule betrachtet.202 Außerdem versteht sich die Berliner Gemeinschaftsschule als integrative Schule, da in heterogenen Lerngruppen auch Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf einbezogen werden.203 An der Integrierten Sekundarschule können verschiedene Abschlüsse erreicht werden. Neben dem Abitur können der mittlere Bildungsabschluss, die Berufsbildungsreife und die erweiterte Berufsbildungsreife erworben werden. Das "Sitzenbleiben" wird an der integrierten Sekundarschule abgeschafft. Die notwendige Leistungsdifferenzierung im Unterricht kann durch die Binnendifferenzierung in Lerngruppen oder durch Kurse mit unterschiedlichen Leistungsstufen erzielt werden.204 Die Schüler/innen entscheiden selbst über die Auswahl der Methoden. Die Integrierte Sekundarschule verzichtet zudem auf eine Probezeit, da es mit diesem Schultyp keine Schulen mehr gibt, in die man Schüler bei Nichtbestehen der Probezeit versetzen könnte. Die Integrierten Sekundarschulen bieten das Abitur nach 12 oder 13 Jahren an.205 Das Abgeordnetenhaus beschloss am 25. Juni 2009, die Berliner Schulstruktur vor allem in zwei Punkten zu reformieren:206 Die Einführung der Zweigliedrigkeit mit der Integrierten Sekundarschule (ISS), die die bisherigen Haupt-, Real- und Gesamtschulen in sich vereint und ←59 | 60→dem Gymnasium im Sekundarschulsystem, verbunden mit der Veränderung des Übergangsverfahrens von der Grundschule in die weiterführende Schule. Die Befunde der BERLIN-Studie lassen bei der Umstellung auf die Zweigliedrigkeit in der Sekundarstufe I eine überwiegend positive Zustimmung sowohl von der Mehrheit der Elternschaft, als auch vom professionellen Personal, also den Lehrern und den Schulleitungen. Alle Seiten befürworteten, dass beide Bil- dungsgänge die Schulabschlüsse gleichrangig vergeben dürfen, das Abitur eingeschlossen. Das Duale Lernen und die Berufsorientierung sollten nach Meinung der Befragten gestärkt und die Integrierten Sekundarschulen ganztätig betrieben werden.207 Die ISS verzichtet weitestgehend auf Klassenwiederholungen. Sie werden nur noch ausnahmsweise gebraucht, wenn sich die Schule und die Eltern entsprechend in Erziehungs- und Bildungsvereinbarungen geeinigt haben. Allen Schüler/innen der ISS soll die gymnasiale Oberstufe zugänglich sein. Falls die ISS keine Oberstufe besitzt, kann sie an den Oberstufenzentren mit den beruflichen Gymnasien verbindlich zusammenarbeiten. Um das Duale Lernen zu stärken wurde das Fach Wirtschaft-Arbeit-Technik (WAT) im Sekundarschulcurriculum als Kernelement eingeführt. An der ISS lernen maximal 26 Schüler/innen in einer Lerngruppe zusammen. Die ISS dürfen jeweils selbst festlegen, nach welchem Konzept sie differenzieren.208 Damit soll erreicht werden, dass die Binnendifferenzierung gestärkt und das individuelle Lernen gefördert wird. Während das Abitur an der ISS nach 13 Schuljahren erworben werden kann, ist dies an den allgemeinbildenden Gymnasien nach 12 Jahren vorgesehen.209 Mit der Einführung eines Zweisäulenmodells wird der Differenzierungsgrad des Schulsystems verringert, wobei unterschiedliche Wege zum gleichen Ziel führen. Im Unterschied zum gymnasialen Bildungsgang ist das Profil der ISS durch eine stärkere berufliche Orientierung geprägt, ohne dabei die Gleichwertigkeit der beiden Bildungsgänge in Frage zu stellen. Die ISS werden flächendeckend im Ganztagsbetrieb geführt, womit eine Neuverteilung des Zeitbudgets von Jugendlichen verbunden ist.210 Insgesamt zeigt die BERLIN-Studie zur Schulstrukturreform zwischen den Jahren 2005 und 2011 einen längerfristigen Anstieg der Empfehlungen für das Gymnasium. Dabei ist zu beobachten, dass ←60 | 61→der Anstieg der Übergangsquoten auf das Gymnasium mit 6,5% im gleichen Zeitraum niedriger ausfiel. Diese Tatsache ist darauf zurückzuführen, dass Kinder mit einer Gymnasialempfehlung sich nicht immer für das Gymnasium entscheiden, sondern oft für eine der Integrierten Sekundarschulen, die ebenfalls den Kindern den Weg zum Abitur ermöglichen.211 Die Untersuchungen zur Wahl der weiterführenden Schulen haben dabei ergeben, dass die Integrierten Sekundarschulen mit eigener Oberstufe am stärksten nachgefragt wurden. Zudem steht für Schüler/innen aufgrund der vorhandenen Kooperationsmöglichkeiten zwischen Integrierten Sekundarschulen und den Oberstufenzentren grundsätzlich der Weg zum Abitur offen. Durch die Berlin-Studie wird eine Reformentwicklung in der Hauptstadt verdeutlicht, nach der die Wege zur Gemeinschaftsschule aus Grundschulen entwickelt werden konnten, deren Klassen gemeinsam in eine weiterführende Schule gehen oder aus Grundschulen aufgebaut werden, die schrittweise wachsen würden. Als möglich wurde auch erachtet, dass das Abitur von integrativen Bildungszentren, bestehend aus Grund- und Sekundarstufen, angeboten wird. Dasselbe Angebot könnten auch Schulen der Sekundarstufe machen, die über eine gymnasiale Oberstufe verfügen. Neben der Einführung von Gemeinschaftsschulen sollten auch integrative Elemente im Schulsystem gefördert werden. Ungeachtet kritischer Stimmen aus dem Lager der Opposition starteten zum Schuljahr 2008/09 elf Gemeinschaftsschulen in Berlin, an denen insgesamt 16 Schulen kooperativ beteiligt waren. Am 10. April 2008 wurde die Gemeinschaftsschule nach § 17a des Berliner Schulgesetzes offiziell legitimiert, wonach Schulen „auf Antrag im Rahmen einer Pilotphase eine Gemeinschaftsschule werden oder sich zu einer Gemeinschaftsschule zusammenschließen können“. Nachdem die Pilotphase für Gemeinschaftsschulen in Berlin 2008/09 startete, wurden bis zum Schuljahr 2012/13 insgesamt 21 Schulen und Schulverbünde etabliert, die auf das längere gemeinsame Lernen setzen. Nach der Umstellung auf die Gemeinschaftsschulen zeigt der „Kulturbruch“ messbare Erfolge, die sich darin zeigen, dass Gemeinschaftsschulen mit überdurchschnittlich vielen Kindern aus sozial schwachen und eher bildungsfernen Elternhäusern mitunter die besten Lernerfolge vorzeigen würden und damit ein Weg gefunden wurde, Lernfortschritte und soziale Lage zu entkoppeln.212 Dennoch weist die Berliner Schullandschaft nach wie vor zwei Wege auf, die den Schüler/innen offen stehen: der eine führt über eine Schule, die die bisherigen Haupt- und Realschüler bis zur Mittleren Reife führt und ←61 | 62→daneben das allgemeinbildende Gymnasium, wo es kaum wesentliche Änderungen gegeben hat. Modifiziert wurden die Zugangskriterien, doch blieb der Zugang zum Gymnasium leistungsabhängig; das Ganztagsangebot wurde geringfügig ausgeweitet, angeboten werden soll mindestens ein Gymnasium pro Bezirk. Der andere Weg führt über die Gemeinschaftsschule als Integrierter Sekundarschule213, die allen Schüler/innen bis zur 10. Klasse offensteht und auf den Erfahrungen der integrierten Gesamtschule aufbaut. Dieser Schultyp stellt nach 2010 in Berlin einen Teil des Zweisäulenmodells dar und ersetzt im Prinzip die Hauptschule, die Realschule und die Gesamtschule. Nach der Sekundarstufe I schließt sich eine Oberstufe für diejenigen an, die das Abitur anstreben. Das Abitur kann an Gymnasien nach zwölf, an Sekundarschulen nach 13 Jahren abgelegt werden. Je nach dem Wunsch der Eltern, stehen für Kinder, die speziell gefördert werden sollten, sonderpädagogische Förderzentren als Alternative zur Inklusion in Regelklassen zur Verfügung. Ebenso gegliedert sind die freien und privaten Schulen, die keine eigene Schulform sind.214 Mit der Berliner Schulstrukturreform seit 2010 wurde ohne Absicherung in einem Koalitionsvertrag und in Kooperation mit verschiedenen Interessengruppen ein jahrzehntewährender ideologisch geführter Streit um die „richtige“ Schule vorläufig beendet. Das Konzept „eine Schule für alle“ soll sukzessive eingeführt werden und betrifft alle neuen Klassen ab dem 1. August 2010. Den Titel „Sekundarschule“ tragen aber bereits alle entsprechenden Schulen. Seit der Berliner Schulstrukturreform 2010/11 sollen die Integrierten Sekundarschulen die Schüler/innen nicht mehr nur allgemein bilden, sondern sie auch auf die Berufs- und Arbeitswelt in angemessener Weise vorbereiten. Der Schulstoff soll sich praxisnahe Elemente aus dem Arbeitsleben und der Wirtschaft zu eigen machen. In der siebten bis zehnten Jahrgangsstufe sollen die Schüler/innen im Rahmen des "Dualen Lernens" individuell auf die Arbeitswelt und sich anschließende Berufsausbildungen vorbereitet werden. Damit legen die Berliner Schulstrukturreform und die einhergehenden Änderungen des Berliner Schulgesetzes den rechtlichen Rahmen für das Duale Lernen und der vertieften Berufsorientierung in den Integrierten Sekundarschulen fest.215 In der Opposition stellten sich die CDU und die FDP gegen die Schulreform. Diese sei "unausgereift" und ohne ein brauchbares Qualifizierungskonzept für die Verwirklichung der pädagogischen Konzepte: „Statt ←62 | 63→individueller Förderung werden Schüler ideenlos nebeneinandergesetzt.“216 Die Gewerkschaft GEW geht mit der Berliner Schulstrukturreform ebenfalls hart ins Gericht, da das Ziel der Gemeinschaftsschule nicht in einem Fortbestand eines hierarchisch gegliederten Schulsystems liegen könne. Es reiche nicht, Problemschulen abzuschaffen, ins besondere die Hauptschule, denn die „soziale Selektion besteht auch in einem zweigliedrigen Schulsystem weiter“.217 Vielmehr müsse die „Lernform“ an sich hin zu einem Lernen mit individueller Förderung in heterogenen Gruppen umgestellt werden. Die Schulstrukturreform in der jetzigen Form fuße auf keiner wirklichen pädagogischen Begründung, sondern auf „ausschließlich kurzfristige taktisch-politische Erwägungen“.218 Nach Aussage des zuständigen Senators für Bildung, Wissenschaft und Forschung haben sich die Anmeldezahlen für die Gymnasien nur insignifikant verändert. Weder gebe es einen Ansturm auf die Gymnasien, noch könne man die Sekundarschulen als "Restschule" bezeichnen.219 Es lässt sich feststellen, dass die Integrierte Sekundarschule mit entsprechender bedarfsgerechter Ausstattung und der pädagogischen Erfahrung der zahlreichen Berliner Gesamtschulen gute Chancen hat, die schulische Situation vieler Schüler/innen auch aus sozial unterprivilegierten Familien zu verbessern und leistungsstarke Schüler/innen auf einem direkten Weg zur allgemeinen Hochschulreife zu führen. Nach dem Regierungswechsel 2011 konnte sich die neue rot-schwarze Regierungskoalition in ihrer Koalitionsvereinbarung weitgehend mit der von der Opposition geschaffenen Reform abfinden: „Im Interesse eines Schulfriedens verändern wir die bestehende Schulstruktur nicht erneut. Berlin verfügt über ein leistungsfähiges zweigliedriges Schulsystem aus Integrierter Sekundarschule und Gymnasium. Reformen brauchen Zeit und Verlässlichkeit. Wir werden daher in der neuen Legislaturperiode am Schulsystem keine weiteren strukturellen Veränderungen vornehmen.“220 Die Koalitionsvereinbarung vom November 2011 sagt für die Zukunft der Berliner Gemeinschaftsschule aus, dass die „Pilotphase Gemeinschaftsschule ←63 | 64→fortgeführt und wissenschaftlich evaluiert (wird). Schulen können auch künftig auf Grundlage eines genehmigten pädagogischen Konzepts zu Gemeinschaftsschulen weiterentwickelt werden, wenn die Schulkonferenz im Einvernehmen mit dem Schulträger dies beschließt. Die bestehenden Ausstattungsstandards behalten wir in vollem Umfang bei.“221 Auch wenn die Pilotphase Gemeinschaftsschule in der Legislaturperiode 2011-2016 weitergeführt und wissenschaftlich evaluiert wurde, stellt sich doch die Frage, welche Rolle diese Schulform längerfristig im zweigliedrigen Berliner Schulsystem spielen wird, wenn sie nicht nur als Experimentierfeld einer inklusiven Schule gelten soll.222 Nach Meinung von Bildungssenatorin Scheeres habe die Studie bewiesen, dass die Berliner Gemeinschaftsschulen eines ihrer wesentlichen Ziele erreicht habe, wonach diese den Lernerfolg von der sozialen Herkunft entkoppelt habe.223 Kinder aus eher bildungsfernen und eher bildungsnahen Elternhäusern zeigten keinen Unterschied in der Lesekompetenz und nur geringe Unterschiede in der Orthographie. In der Mathematik konnten Schüler/innen aus bildungsferneren Elternhäusern sogar besser abschneiden. Das Land Berlin investiert dabei ganz gezielt in Schulen mit schwierigem sozialem Umfeld durch das sogenannte Bonus-Schulprogramm, mit welchem Schulen, in denen mehr als die Hälfte der Schüler/innen aus sozial schwachen Familien stammen, bis zu 100.000 € extra pro Jahr für Schulsozialarbeit, Schulbibliothek oder Theaterprojekte erhalten.224 Gemeinschaftsschulen sollen mit dem Ende der Pilotphase einen festen Platz in der Berliner Schullandschaft erhalten und als Schulart im Schulgesetz verankert werden. Nach der Abwahl von Rot-Schwarz 2016 wollte die neue Landesregierung in Berlin das „bestehende zweigliedrige Schulsystem sozial gerechter, leistungsfähiger und inklusiver gestalten“, die „Schulen des längeren gemeinsamen ←64 | 65→Lernens“ besonders unterstützen und alle Schulformen weiterentwickeln, so dass diese „die Heterogenität ihrer Schüler/innen positiv aufnehmen“.225 Der Koalitionsvertrag hielt fest, dass die Qualität einer Schule und des Unterrichts für ihre Akzeptanz ebenso bedeutsam sind, wie die Möglichkeit, die berufsbezogene oder allgemeine Hochschulreife zu erwerben. So soll an allen Integrierten Sekundarschulen der Weg zum Abitur geebnet und gestärkt werden. Wo eine Integrierte Sekundarschule keine eigene Oberstufe habe, sollen „leistungsfähige Verbundmodelle mit allgemeinbildenden bzw. berufsbildenden Schulen“ diese Aufgabe erfüllen.226 Hinsichtlich der Gemeinschaftsschule sollte diese nach Dafürhalten der drei Koalitionäre quantitativ und qualitativ verbessert werden. Ein Förderprogramm solle die Gründung weiterer Gemeinschaftsschulen begünstigen. So werde die Gemeinschaftsschule als „schulstufenübergreifende Regelschulart, die Grund-, und Sekundarstufe I und II umfasst, in das Schulgesetz aufgenommen“. Bezirke, die Gebäude für die neuen Gemeinschaftsschulen errichten wollen, sollen unterstützt werden.227 Damit sollte die Gemeinschaftsschule nach dem Willen der Koalition mit diesen Maßnahmen zum Prototyp einer inklusiven Schulart weiterentwickelt werden, „der auf die anderen Schulformen, die sechsjährige Grundschule, die Integrierte Sekundarschule und das Gymnasium, ausstrahlen soll.“228 So hat sich die Gemeinschaftsschule in Berlin von einem Pilotprojekt ab dem Schuljahr 2008/09 bis zum Ende des Schuljahres 2012/13 zu einem wichtigen Reformgegenstand des Berliner Schulwesens entwickelt, der mit dem Zwei-Wege-Modell zunächst als „Auslaufmodell“ erschien, um sich schließlich dank eines überzeugenden pädagogischen Konzepts, das ihr auch durch eine wissenschaftliche Expertise bescheinigt wurde, als Bestandteil des Schulgesetzes zu etablieren.229

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2.4.3 Modelle von Schulstrukturreformen in anderen Bundesländern

In weiteren Bundesländern gab es in der Sekundarstufe Veränderungen, die prinzipiell das Modell der „Zweigliedrigkeit“ favorisierten. Dabei wurde neben dem Gymnasium entweder die Haupt- und Realschule fusioniert oder es gab neben dem Gymnasium etwa in den Stadtstaaten sowie im Saarland als weiterführende Schule die „Schule des gemeinsamen Lernens“. So wurden bereits ab der fünften Klasse gymnasiale Standards und ein bruchloser Weg zum Abitur offeriert.230 Rösner übernimmt dabei die Übersicht der fortbestehenden Vielgestaltigkeit von Tillmann, der dies als Versuch deklariert, „etwas Ordnung in diese Unübersichtlichkeit zu bringen“ und unterscheidet dabei zwischen drei verschiedenen Schulstrukturvarianten der Sekundarstufe I:

1. „Zweigliedrigkeit pur (Gymnasium und eine weitere Schulform),

2. Zweigliedrigkeit plus (Gymnasium, eine weitere Schulform, zusätzlich Gesamtschule/Gemeinschaftsschule) und

3. Drei- oder Viergliedrigkeit (Gymnasium, Realschule, Hauptschule und eventuell Gesamtschule).“231

Nachdem in Schleswig-Holstein die CDU den Weg für Gemeinschaftsschulen frei gemacht hatte, konnte – wie bereits ausgeführt – auch in Berlin die Substitution aller nichtgymnasialen Bildungsgänge durch Sekundarschulen durchgeführt werden. So etablierte die Bundeshauptstadt aus Hauptschulen, Realschulen und Gesamtschulen ein Fusionsmodell namens Sekundarschule und errichtete im Rahmen eines Modellvorhabens rund zwanzig Gemeinschaftsschulen, die neben einer sechsjährigen Grundschule die Sekundarstufe I umfassen und eine gymnasiale Oberstufe beinhalten können. Nur ein Pilotprojekt waren die Gemeinschaftsschulen in Berlin, die die erste bis zehnte oder auch dreizehnte Klasse umfassten. Sie sollten keine innere Auslese betreiben. Offiziell wandelte Berlin seine Schulen in ein zweigliedriges System um, das aus Oberschulen und Gymnasien besteht. In der Hansestadt Bremen wurde 2009 eine neue Oberschule eingeführt, die neben dem Gymnasium die einzige weiterführende Schule darstellt, die ebenfalls den Erwerb der Hochschulreife offeriert. Hamburg behielt ←66 | 67→vorerst das bisherige Gymnasium als weiterführende Schule und fusionierte alle anderen Regelschulen einschließlich der früheren Gesamtschulen zu sogenannten Stadtteilschulen, bei denen ebenfalls der Erwerb des Abiturs möglich ist. Interessanterweise reagierten die westdeutschen Stadtstaaten mit Schulreformen zuerst, in denen die Hauptschulen um das Jahr 2005 nur noch von 10 Prozent des Altersjahrgangs besucht wurden und denen PISA besonders schlechte Lernergebnisse bescheinigt hatte.232 Seit 2010 führten Berlin, Bremen und Hamburg sukzessiv eine zweigliedrige Schulstruktur ein, wobei auch die zweite Säule zum Abitur führt. Dass nicht die integrierte Gesamtschule als Lösung für das Dilemma der Hauptschule in Betracht kam, lag letztlich daran, dass das Gymnasium in den meisten Bundesländern nicht zur Disposition stand.233 Eine Schulsystemreform tangierte somit nur die Grenzen zwischen Hauptschule, Realschule und Gesamtschule und die Zweigliedrigkeit wurde als politisches Konsensmodell zum entscheidenden Faktor für den Schulfrieden in den Ländern. Als Reaktion auf diese Ausgangssituation übernahmen mittlerweile 11 von 16 Bundesländern das Modell der Zweigliedrigkeit. Damit ging das Los einer „gemeinsamen Schule für alle“ an die Gemeinschaftsschule mit gewissen jeweiligen länderspezifischen Eigenheiten, um mit dem eigenen Erbe der Dreigliedrigkeit umgehen zu können. Bezogen auf Schulen des gemeinsamen Lernens heißt das, dass die Möglichkeit einer gymnasialen Oberstufe die Attraktivität dieser Schulart erheblich erhöht. Nur die Berliner Sekundarschulen verfügen diesbezüglich über einen ausgewiesenen Zugang zum Abitur. Sekundarschulen in anderen Bundesländern, die aus Hauptschulen hervorgegangen sind, verfügen entsprechend über eine geringere Anmeldequote.234 Dies zeigt, dass das Zwei-Säulen-Modell ein selektives Schulsystem ist, denn der größte Teil der leistungsstarken Schüler/innen wechselt zum Gymnasium. An Sekundarschulen mit gymnasialer Oberstufe sind entsprechend leistungsstärkere Schüler/innen vertreten, als an Sekundarstufe ohne die Möglichkeit, Abitur erwerben zu können.235

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2.4.3.1 Die Gemeinschaftsschule in Nordrhein-Westfalen

Nordrhein-Westfalen gehört neben Hessen und Niedersachsen zu den Bundesländern, in denen unter sozialdemokratisch geführten Landesregierungen seit den 1970er Jahren Gesamtschulen gegründet wurden, die zu heftigen schulpolitischen Konflikten mit CDU und FDP führten. Aufgrund des erwähnten politischen Widerstands etwa gegen die Einführung der Kooperativen Gesamtschule 1978 wurde die Integrierte Gesamtschule auch in der Koalition mit den Grünen nicht weiterentwickelt. Als Rot-Grün 2010 die Landtagswahl gewann, konnte die rot-grüne Minderheitsregierung im Koalitionsvertrag sich darauf einigen, dass es neben Haupt-, Real- und Gesamtschule und dem Gymnasium mit der Gemeinschaftsschule eine weitere Schulform geben solle.236 Bereits nach PISA hatten sich in Nordrhein-Westfalen die Parteien auf die Errichtung von „Schulen des gemeinsamen Lernens“ verständigt. Der Verband Bildung und Erziehung hatte 2005 Ernst Rösner den Auftrag gegeben, für die Schulentwicklung in Nordrhein-Westfalen ein Modell zu entwickeln. Unter dem Namen "Allgemeine Sekundarschule" gründete es auf dem Konzept, das Rösner 2004 für Schleswig-Holstein entwickelt hatte.237 Befürwortet wurde dieses Modell, da es einen Ausweg aus einer stark polarisierenden Schulstrukturdebatte wies, den Schulträgern den Erhalt eines umfassenden wohnortnahen Schulangebots ermöglichte, aber auch mehr Chancengleichheit für die Schüler/innen bot. Den Kommunen wurden damit zwei Möglichkeiten offeriert, entweder bedarfsgerecht neue Gesamtschulen oder aber Gemeinschaftsschulen mit gymnasialen Standards zu gründen, die in Klasse 5 und 6 integrativ arbeiten, um in den darauf folgenden Klassen nach Bildungsgängen differenziert oder aber integrativ weiter zu arbeiten und so quasi zu Gesamtschulen werden. Die Gemeinschaftsschule wurde als Ganztagsschule konzipiert, der eine eigene Oberstufe oder ein Oberstufenzentrum zugeordnet wurde oder in Kooperation mit Gesamtschule, Gymnasium ←68 | 69→oder Berufskolleg weiterentwickelt wurde.238 Im Schuljahr 2011/12 wurden die ersten zwölf Gemeinschaftsschulen in überwiegend ländlichen Regionen etabliert. Wie Rösner ausführt, setzte diesem Impuls das Oberverwaltungsgericht Münster am 9. Juni 2011 ein Ende, weil „es darin eine unzulässige Umgehung des Schulgesetzes sah.“239 Daraus resultierte ein „bildungspolitischer Konsens“ der im Landtag vertretenen Parteien für eine Schulrechtsnovelle, nach der aus der Gemeinschaftsschule die Sekundarschule wurde, die in der Sekundarstufe I mit der Gemeinschaftsschule weitgehend identisch war, doch keine Oberstufe mehr anbieten durfte.240 Durch Senkung der Mindestschülerzahlen wurde die Errichtung von Gesamtschulen erleichtert, so dass es ab 2011 zu einem stetigen Anstieg des Angebots von Sekundarschulen und Gesamtschulen kam. In Nordrhein-Westfalen hatte die Gemeinschaftsschule nur einen Versuchsstatus. Dort ersetzte sie meistens Hauptschulen, die man nicht mehr effektiv betreiben konnte. Die Landesregierung versuchte, die Kommunen zu überzeugen, an Stelle von Gesamtschulen eher eine Gemeinschaftsschule zu beantragen. Dafür wurden kleine Schuleinheiten und bessere Bedingungen beim Start versprochen. Der Hintergrund war, dass die vorhandenen Hauptschulgebäude besser zu den Raumanforderungen der Gemeinschaftsschulen passten. Da viele Kommunen Interesse an der Errichtung einer Gemeinschaftsschule zeigten, war die CDU bereit, ihre bisherige Blockadepolitik gegen die rot-grüne Bildungsstrukturreform aufzugeben. Ziel der Union war es, neben einer Gemeinschaftsschule die Weiterexistenz des bisherigen gegliederten Systems aus Realschule und Gymnasium aufrecht zu erhalten. Hinsichtlich der Hauptschule war man zu deren Auflösung bereit.241 Der am 20.10.2011 verabschiedete „Schulkonsens NRW“ wurde als Schulgesetz verabschiedet, wonach die Verfassungsgarantie für die Hauptschule gestrichen und durch den Passus, „Das Land gewährleistet in allen Landesteilen ein ausreichendes und vielfältiges öffentliches Schulwesen, das ein gegliedertes Schulsystem, integrierte Schulformen sowie weitere andere Schulformen umfasst“, ersetzt wurde. Alle bisherigen Schulformen können demnach weiter angeboten werden. Statt der Gemeinschaftsschule soll eine Sekundarschule alle gymnasialen Standards besitzen, so dass nach Klasse 6 entschieden ←69 | 70→werden kann, ob integriert weitergearbeitet oder bei den Abschlüssen unterschieden wird. Die integrative Variante der Sekundarschule wird, wenn sie eine hinreichende Größe besitzt, zu einer integrierten Gesamtschule umgewandelt, die eine eigene Oberstufe besitzt. Nach der zehnten Klassenstufe endet die Sekundarschule. Sie muss jedoch mit der Oberstufe eines Berufskollegs, einer Gesamtschule oder eines Gymnasiums zusammenarbeiten. Der "Schulkonsens NRW" sollte nicht einseitig aufgekündigt werden und bis zum Jahr 2023 Gültigkeit haben.242

Danach lag es in der Entscheidung der Schulträger in Absprache mit den Schulen und betroffenen Eltern, ob die Gemeinschaftsschule zukünftig bei steigender Nachfrage sich in NRW positionieren kann und der zwischen CDU, SPD und Grünen ausgehandelte Schulkonsens eine neue Phase der Schulentwicklung in NRW einleitet, nach der längeres gemeinsames Lernen gestärkt wird. „Dazu gehören u.a. die Gründung von Sekundar- und Gesamtschulen, die Sicherung eines wohnungsnahen und qualitativ hochwertigen Grundschulangebots sowie die schrittweise Absenkung der Klassengrößen in den Grundschulen, Realschulen, Gymnasien und bestehenden Gesamtschulen.“243 Kultusministerin Sylvia Löhrmann zog nach dem Schulkonsens eine erste Bilanz eines ihrer wichtigsten schulpolitischen Projekte, dem Modellvorhaben „Längeres gemeinsames Lernen – Gemeinschaftsschule“, in dessen Rahmen zum Schuljahr 2012/13 17 Gemeinschaftsschulen starten konnten.244 Da sich das Verhalten der Eltern beim Wahl der Schulform für ihre Kinder verändert hatte und die Forderung, den Bildungsaufstieg aus seiner Abhängigkeit von der sozialen Herkunft zu lösen, immer dringender wurde, beabsichtigte die Kultusministerin, die Bildungswege flexibler zu gestalten und mehr Kindern höhere Abschlüsse zu ermöglichen. Da überdies die Schülerzahlen rückläufig waren, boten die Gemeinschaftsschulen den Kommunen die Chance, wohnortnah ein vollständiges Schulangebot auch nach gymnasialen Standards anzubieten. Gemeinschaftsschulen sollten vor allem durch die Zusammenlegung existierender Schulen entstehen. Nach dem integrierten Unterricht in den Klassenstufen 5 und 6 sollten die Schulen autonom entscheiden können, ob in den höheren Klassen die Schüler/innen getrennt nach schulspezifischen Bildungsgängen oder gemeinsam unterrichtet werden. ←70 | 71→Alle Abschlüsse der Sekundarstufe I können in der Gemeinschaftsschule erreicht werden; hinzu kommt das Angebot gymnasialer Standards. Falls die Gemeinschaftsschulen keine eigene gymnasiale Oberstufe besitzen, können sie mit der Oberstufe eines Berufskollegs, eines Gymnasiums, einer Gesamtschule oder einer anderen Gemeinschaftsschule zusammenarbeiten. An Gemeinschaftsschulen wird die allgemeine Hochschulreife nach neun Jahren (G9) erreicht. Nach der Sekundarstufe I kann bei herausragender Leistung direkt in die Qualifikationsphase gewechselt werden. Pro Jahrgang sind drei Parallelklassen bei einer Gemeinschaftsschule notwendig, vier gelten als wünschenswert. Die Klassen müssen mindestens 23 Schüler/innen umfassen, wobei der Klassenfrequenzrichtwert 24 Schüler/innen beträgt. In der integrativen Form beträgt er 25 Schüler/innen und 29 ab Klasse 7 in der kooperativen Form. Diese Werte orientieren sind an denen der Hauptschule und nehmen Rücksicht auf die heterogene Schülerschaft, die sich auch dadurch ergibt, dass unterschiedliche Schularten in der Gemeinschaftsschule verschmelzen sollen. Die Lehrkräfte unterrichten unabhängig von der Art ihres Lehramtes verpflichtend mindestens 25,5 Stunden. Dieses Deputat entspricht der Pflichtstundenzahl an Gesamtschulen und Gymnasien. Höchstens ein Drittel der Lehrkräfte dürfen die Lehrbefähigung für Gymnasien besitzen; als Eingangsämter können den Gemeinschaftsschulen A12-Stellen des gehobenen Dienstes und A13-Stellen des höheren Dienstes zugewiesen werden. Gemeinschaftsschulen bekommen zusätzlich 0,5 Stellen pro Schule und Jahr, da der Schulentwicklungsaufwand höher ist. Das Fortbildungsbudget ist je Schule um 2.500 Euro erhöht, da der Fortbildungsbedarf größer ist. Für einen Schulversuch muss ein Antrag gestellt werden, der eine aktuelle Schulentwicklungsplanung einschließlich vorangegangener Elternbeteiligung voraussetzt. Die Schulentwicklungsplanung muss sich zudem überregional mit den Nachbarkommunen abstimmen. Eine Gemeinschaftsschule ist nicht genehmigungsfähig, wenn sie eine Schule eines anderen Schulträgers in ihrer Existenz gefährdet. Unterschiedliche Schulträger einer Region dürfen ihre Kooperationskonzepte miteinander abstimmen. In Ballungsräumen gelten die Gesamtkonzepte für einzelne Stadtteile. Dabei muss eine Hauptschule bzw. ein Hauptschulbildungsgang in zumutbarer Entfernung erreichbar.245

Die CDU lehnte die Schulpolitik von Kultusministerin Löhrmann von Anfang an strikt ab. Der im Koalitionsvertrag von Rot-Grün festgeschriebene Weg in ein „Einheitsschulsystem“ würde das Land spalten, denn der „Wettlauf um die immer weniger werdenden Schülerinnen und Schüler“ teile das Land zusätzlich ←71 | 72→in Gewinner- und Verliererkommunen auf.246 Die Opposition wertete die Etablierung der Gemeinschaftsschule als einen Frontalangriff auf das Gymnasium und damit auf das dreigliedrige Schulsystem von Haupt-, Realschule und Gymnasium. Die CDU sah in der Gemeinschaftsschule keine „demographiefeste“ Schulart, denn durch die erforderliche Mindestgröße würden viele dezentrale und ortsnahe Schulstandorte aufgrund zu geringer Schülerzahlen nicht gehalten werden können. Die Gemeinschaftsschule sei die falsche Antwort auf zurückgehende Schülerzahlen, da diese als eine „Angebotserweiterung“ zusätzliche Schüler/innen brauche und ein Verdrängungswettbewerb zwischen Kommunen ausgelöst werde, denn die Einführung der Gemeinschaftsschule habe “kannibalisierende Effekte auf Schulen und Schulstandorte.“247Die CDU werde es nicht durchgehen lassen, dass die Einführung der „Einheitsschule“ durch den „Versuchsparagraphen“ im Schulgesetz248 das vielfältige Schulsystem abschaffen würde. Zudem schaffe die mit dem Schulversuch verbundene Besserstellung und Privilegierung der Gemeinschaftsschule gegenüber dem Regelsystem Ungerechtigkeit und Unfrieden bei den Lehrenden, denn die Standards könnten nicht auf die übrigen Schularten übertragen werden, wie etwa das Versprechen, kleinere Klassen zu schaffen. Die Opposition warf der Kultusministerin ferner vor, dass die Qualitätsstandards für die Gemeinschaftsschulen nicht die leistungsschwachen Schüler/innen der Hauptschulen berücksichtigen würden, die keine Chance auf dem Arbeitsmarkt hätten. So würden die „Verlierer der Gemeinschaftsschule (…) wieder die Leistungsschwächeren und Bildungsbenachteiligten sein.“249 Im neuen Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Landesregierung vom 16.6.2017 werden alle Schularten erwähnt, nur das Wort „Sekundarschule“ im Kapitel „Schulvielfalt in NRW“ kommt nicht mehr vor. Dies ist umso erstaunlicher, als die Sekundarschule, auch als Gemeinschaftsschule geläufig, im Juli 2011 von der rot-grünen Landesregierung mit Zustimmung der CDU eingeführt worden war. Man verständigte sich auf ein reformiertes Schulsystem, das ein längeres gemeinsames Lernen ermöglichen sollte. Die von der rot-grünen Regierung bevorzugte Gemeinschaftsschule war damit als Experiment überholt. Die ←72 | 73→Bundes-CDU hatte seit 2010 eine auf zwei Säulen basierende Struktur des Schulwesens als Richtlinie verankert. Entsprechend einigte man sich in Nordrhein-Westfalen auf die Sekundarschule. Diese war im Kern ein Kompromiss zwischen der Gemeinschaftsschule und der Verbundschule, die die schwarz-gelbe Koalition zuvor favorisiert hatte.250 Als am 20.10.2011 die gesetzlichen Grundlagen für das neue Schulsystem geschaffen wurden, wurde die Sekundarschule als weitere Regelschulform eingeführt unter gleichzeitiger Aufgabe der Bestandgarantie der Hauptschulen. So existierten im Schuljahr 2016/17 in NRW bereits 117 Sekundarschulen, die als Schule der Sekundarstufe I die Jahrgänge 5 bis 10 umfasst, mindestens dreizügig ist und in der Regel einen neunjährigen Bildungsgang zum Abitur ermöglicht unter verbindlicher Kooperation mit der gymnasialen Oberstufe eines Gymnasiums, einer Gesamtschule oder eines Berufskollegs. Die Sekundarschule bereitet die Schüler/innen auf die Hochschulreife und auch auf die berufliche Ausbildung vor. Dabei orientieren sich die Lehrpläne an denen der Realschulen und der Gesamtschulen unter Sicherung gymnasialer Standards. Wird in den Jahrgängen 5 und 6 noch gemeinschaftlich und differenzierend zusammen gelernt, kann ab der siebten Klasse „der Unterricht auf der Grundlage des Beschlusses des Schulträgers unter enger Beteiligung der Schulkonferenz integriert, teilintegriert oder in mindestens zwei getrennten Bildungsgängen (kooperativ) erfolgen“.251 Die Sekundarschule wird in der Regel als Ganztagsschule geführt.

Die rot-grüne Regierung ging davon aus, dass mit der Sekundarschule der Bestand der noch existierenden Haupt- und Realschulen weiter zurückgehen würde.252 Allein 2013 wurde deutlich, dass durch die Neugründung der 42 Sekundarschulen und 30 Gesamtschulen 74 Hauptschulen, 58 Realschulen und zwei Gymnasien und fünf Verbundschulen geschlossen werden mussten.253 Auch 2014 gab es in NRW noch 53 Neugründungen, wovon 33 Sekundarschulen und 20 Gesamtschulen waren. Der Wunsch der rot-grünen Regierung nach einem längeren gemeinsamen Lernen und der damit verbundenen Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems schien in Erfüllung zu gehen. So wurden nach dem rot-grünen Regierungsantritt in NRW innerhalb der ersten drei Jahre 108 neue Sekundarschulen und 73 neue Gesamtschulen gegründet. Zu den ←73 | 74→Sekundarschul- und Gesamtschulgründungen kamen in diesem Zeitraum noch fünf Primus-Schulen. In einem Schulversuch sollten sie in den Klassen 1 bis 10 herausfinden, auf welche Weise die pädagogischen Konzepte der Primar- und der Sekundarstufe optimal miteinander verbunden werden können.

Im Schuljahr 2016/17 erhöhte sich die Gesamtzahl der Sekundarschulen nur geringfügig auf insgesamt 117. Es wurden zwar fünf Sekundarschulen neu gegründet, aber bereits zwei wieder geschlossen, weil diese in eine Gesamtschule umgewandelt wurde.254 Zum Schuljahresbeginn 2017/18 ging nur noch eine einzige neue Sekundarschule in NRW an den Start; im Gegenzug wurden dafür zwei Verbundschulen und ein Gymnasium aufgelöst. Gab es zu Beginn der rot-grünen Regierung eine große Anzahl von Gründungen von „Schulen des gemeinsamen Lernens“ aufgrund des Schulkonsenses, hat das Interesse mittlerweile deutlich nachgelassen. Aus der gegenwärtigen Situation lässt sich noch nicht eindeutig erkennen, ob bei der Sekundarschule von einer zukunftssicheren Schulform gesprochen werden kann, da bereits einige die Umwandlung in Gesamtschulen vollzogen haben und andere entsprechende Anträge gestellt haben. Damit scheint die Gesamtschule besser gestellt zu sein, zumal an diesem Schultyp das Abitur als Perspektive zweifellos gegeben ist. Es lässt sich feststellen, dass sich in NRW der Weg zu einem Zwei-Säulen-System abzeichnet: „Das Gymnasium mit dem Abitur nach 8 Jahren wird die Standardwahl der Eltern für einen qualifizierten Bildungsabschluss werden. Die Alternative wird die neunjährige Gesamtschule sein, die das Abitur für diejenigen anbietet, die es etwas langsamer und leichter angehen wollen.“255 Der Rest der Schüler/innen wird zur Sekundarschule gehen, die nach gewisser Zeit zu einem Auslaufmodell werden wird, wenn diese in Ermangelung qualifizierter Schüler/innen keine Oberstufe bekommt. „Die Qualität einer Sekundarschule wird sicherlich auch daran gemessen werden, welches Konzept sie hat und an welche Schulform mit Oberstufe sie angebunden ist.“256 Diese Entwicklung wird durch die Tendenz verstärkt, nach der einige Kommunen Sekundarschulen in Gesamtschulen umwandeln, da die Eltern diese eher favorisieren.257 Doch vorerst werden mit dem Gymnasium, der Gesamtschule, der Sekundarschule, der Primusschule, der Real- und der Hauptschule insgesamt sechs Schulformen in NRW existieren, auch wenn Haupt- und Realschule in den Folgejahren als Auslaufmodelle aus dem bestehenden ←74 | 75→Schulsystem ausscheiden werden. Der Regierungswechsel in NRW im Sommer 2017 brachte keine gravierenden Änderungen des bisherigen Schulsystems mit sich. Die Vielfalt der Schulformen, die der rot-grünen Koalition zum Verhängnis wurde, will die neue Landesregierung vorläufig nicht antasten.258 Auch die Absichtserklärungen zur individuellen Förderung der Schüler/innen ähneln sich. Wichtige Vorhaben sind die Rückkehr zu G9 als Regelfall. Gymnasien dürfen – sofern genehmigt – weiter das Abitur nach acht Jahren anbieten.259

2.4.3.2 Die Gemeinschaftsschule im Saarland

Als 2009 im Saarland eine Koalition aus CDU, FDP und Grünen gebildet wurde, konnten die Grünen als kleinster Bündnispartner den beiden anderen Koalitionären ein Zwei-Wege-Modell abtrotzen: Neben das Gymnasium soll eine Gemeinschaftsschule treten, in der die Gesamtschule und die Erweiterte Realschule zusammengefasst werden. Das Abitur sollen die Schüler/innen in beiden Schularten erlangen können. Zudem fand nach 2010 im Saarland eine massive Veränderung der Schulstruktur in der Sekundarstufe I statt: Obwohl die SPD-Fraktion die geplante Schulreform blockieren wollte, wurde diese vom Landtag beschlossen, nachdem die Linke ihre Zustimmung zugesichert hatte, mit deren Stimmen die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit erreicht werden konnte.260 So konnte mit Hilfe der Linken die schwarz-gelb-grüne Regierung an der Saar im Februar 2011 ihre Schulreform umsetzen, bei der die Gemeinschaftsschule eingeführt wurde.261 Interessanterweise wurden die Saar-Linken dabei zum entscheidenden Faktor bei der Umsetzung eines zentralen Regierungsvorhabens im Saarland, bei dem die Gemeinschaftsschule zu großen Teilen gemäß den Ankündigungen der Regierungskoalition durchgesetzt werden konnte. Mit der Schulreform wurde damit das CDU-Konzept262 eines „gegliederten Systems“ umgesetzt und keine ←75 | 76→Einheitsschule eingeführt, wie sie von den Linken vorab gefordert wurde.263 Die SPD hatte sich gegen diese Reform entschieden, da es nach Auskunft von Heiko Maas „nicht um den kleinsten parteipolitischen Nenner [geht], sondern um den größtmöglichen bildungspolitischen Fortschritt. Schulfrieden wird dadurch nicht erzielt.“264 Neben das Gymnasium könne die Gemeinschaftsschule als gleichberechtigte Schulform treten. In der Gemeinschaftsschule solle das Abitur nach 13 Jahren erworben werden, am Gymnasium weiterhin nach zwölf Jahren.

Mit der Umsetzung der Schulreform zum Schuljahr 2012/13 wurde das Saarländische Schulsystem auf das Zwei-Säulen-Modell umgestellt, welches im Koalitionsvertrag von CDU und SPD bestätigt wurde: „Ab dem Schuljahr 2012/13 wird mit dem Start der Gemeinschaftsschule flächendeckend ein Zwei-Säulen-System im Bereich der weiterführenden allgemeinbildenden Schulen eingeführt. Dieses System bietet die Chance, Strukturdebatten zu beenden und die Qualität der Bildung in den Mittelpunkt zu stellen. Die neuen Gemeinschaftsschulen bieten alle Bildungsabschlüsse an – inklusive dem Abitur nach neun Jahren; sie sind somit eine Alternative zum grundständigen achtjährigen Gymnasium. Die beiden Schulformen Gymnasium und Gemeinschaftsschule sehen wir als gleichwertig an. Deswegen wollen wir alle Parameter mit dem Ziel überprüfen, diese Gleichwertigkeit im Rahmen eines Stufenplans umzusetzen.“265 Der Koalitionsvertrag erwähnte keine grundlegende Strukturreform der Lehrerbildung im Hinblick auf die „Gleichwertigkeit“ von Gymnasium und Gemeinschaftsschule. Dies hätte einer Regelung bedurft, nach der an Gemeinschaftsschulen die Unterrichtung an den dazugehörigen Oberstufen vorbereitet hätte werden müssen, so dass „an allen Gemeinschaftsschulen auch Lehrkräfte mit der Fakultas für die Oberstufe unterrichten“ hätten können.266 Das Zwei-Wege-Modell aus Gymnasium und Gemeinschaftsschule wurde von der Großen Koalition zwar bestätigt, doch zunächst blieb die Frage offen, ob die Gemeinschaftsschule in Anbetracht ihrer avisierten Ausstattung wirklich zur gleichwertigen Schulform wird, wie es die SPD wünscht. Die saarländische Gemeinschaftsschule setzte sich somit als gemeinsame Schulform aus Hauptschule, Realschule und Gesamtschule ←76 | 77→zusammen und bildete die zweite Säule neben dem Gymnasium. So gab es 2015 im Saarland 28 Gymnasien und bereits 70 Gemeinschaftsschulen. Von diesen Gemeinschaftsschulen waren 53 aus den ehemaligen „Erweiterten Realschulen“ und 17 aus ehemaligen integrierten Gesamtschulen hervorgegangen. Von den gegenwärtig 70 Gemeinschaftsschulen verfügen die 17 ehemaligen Gesamtschulen über Oberstufen, die damit eine günstige Ausgangsposition für die weitere Schulentwicklung aufweisen. Ob die übrigen 53 Gemeinschaftsschulen, die aus „Erweiterten Realschulen“ hervorgegangen sind, ebenfalls eine gymnasiale Oberstufe erhalten, war 2016 noch nicht absehbar.267 Damit wurde im Saarland268 ein zweigliedriges Schulsystem eingeführt, so dass vom Schuljahr 2012/13 an nur noch Gemeinschaftsschulen und Gymnasien existieren. Die Gemeinschaftsschulen beinhalten dabei die früheren Gesamtschulen, die ihrerseits Realschulen und Hauptschulen beinhalten, da diese eine eigene Oberstufe führen.269 Die CDU konnte jedenfalls erreichen, dass das Gymnasium unverändert bestehen bleibt und die erfolgreiche Gesamtschule verschwunden ist. Tillmann konstatiert in diesem Zusammenhang, dass eine Zukunft von Gemeinschaftsschulen in der Konkurrenz mit dem allgemeinbildenden Gymnasium nur gewährleistet werden kann, wenn diese neue Schulart sich mit entsprechender pädagogischer Qualität auszeichnet und über eine zum Abitur führende eigene Oberstufe verfügt. Gerade aus Sicht der Eltern wäre die eigene Oberstufe der „Prüfstein für die behauptete Gleichwertigkeit gegenüber dem Gymnasium“.270 Es lässt sich feststellen, dass der Schulstrukturwandel im Saarland im Kontext einer gesamtdeutschen Entwicklung zu sehen ist, bei der fast in allen Bundesländern bis auf Bayern, das das bisherige dreigliedrige allgemeinbildende Schulsystem bis auf ←77 | 78→Weiteres beibehalten wird, es zur Einführung eines Zwei-Säulen-Modells kam. Ausgelöst wurde dieser Reformschub durch vergleichbare Faktoren, jedenfalls war die Krise der Hauptschule ein wesentlicher Auslöser für die Auflösungserscheinungen des dreigliedrigen Schulsystems.

2.4.3.3 Die Gemeinschaftsschule in Thüringen

Im Thüringischen Jena gründeten 1991 Lehrer und Eltern, die nicht ohne weiteres das westdeutsche Schulsystem übernehmen wollten, die „Jenaplan-Schule“, die sich mit ihren pädagogischen Grundsätzen auf den Jenaplan Peter Petersens aus den 1920er Jahren bezog.271 Im Verlauf von zehn Jahren wurde daraus eine Gemeinschaftsschule, die bereits Vierjährige in den angegliederten Kindergarten aufnahm, eine Grundschule umfasste und über die Sekundarstufe I und II sowohl zum Haupt- und Realschulabschluss als auch zum Abitur führte. Entsprechend des Schulkonzepts sieht sich die Schule als „ein übersichtliches Haus der Bildung“ für alle Kinder, als „inklusive Schule für junge Menschen mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen“.272 In Thüringen setzte die SPD gegenüber der CDU in den Koalitionsgesprächen die Einführung der Gemeinschaftsschule durch. Nach einer Pilotphase im Schuljahr 2009/10 begann die Gemeinschaftsschule im folgenden Schuljahr offiziell mit dem Unterricht. Damit deckt sich die Einführung der Gemeinschaftsschule zum Schuljahr 2010/11 in Thüringen273 zeitlich mit Schulreformen in anderen Bundesländern, die ebenfalls Schulsystemstrukturen vornahmen, um soziale Ungerechtigkeit zu vermeiden und einen besseren Umgang mit Heterogenität unter den Schüler/innen zu erreichen. Die Motive für die Einführung der Gemeinschaftsschule ähneln sich daher auch denen anderer Bundesländer. In Thüringen geht es primär um das pädagogische Ziel, den Schüler/innen ein längeres gemeinsames Lernen zu ermöglichen. Bis zur Vollendung der achten Klassenstufe bleiben die Schüler/innen von ←78 | 79→der ersten bis zur achten Klassenstufe in einer Lerngruppe zusammen. Ab der neunten Klasse erfolgt je nach gewünschtem Abschluss das abschlussbezogene Lernen. Damit wird gewährleistet, dass der Erwerb aller allgemeinbildenden Schulabschlüsse an einer Thüringer Gemeinschaftsschule möglich ist. Je nach angestrebtem Abschluss und Klassenstufe werden an den Gemeinschaftsschulen die gleichen Lehrplaninhalte gelehrt wie an den anderen allgemeinbildenden Schulen Thüringens. Für die Einrichtung einer Gemeinschaftsschule gelten auch infrastrukturelle Gesichtspunkte, wie die Bereitstellung eines vielfältigen Bildungsangebots im städtischen Raum oder der Erhalt eines Schulstandorts im ländlichen Raum. Im Thüringer Schulgesetz wird die Gemeinschaftsschule im allgemeinbildenden Bereich neben der Grundschule, der Regelschule, die von der fünften bis zur zehnten Klasse geht und dem Gymnasium genannt und eine gleichberechtigte Schulart im Schulsystem des Landes ist.274 Ab der neunten Klassenstufe ist der Unterricht auf den angestrebten Abschluss ausgerichtet. Die Lehrpläne sind daher verschieden aufgebaut. Gemeinschaftsschulen dürfen die Klassenstufe 10 als Einführungsphase in die Oberstufe gestalten, wenn sie die Klassenstufen 1 bis 10 oder 5 bis 10 umfassen.275 Die Thüringer Gemeinschaftsschule hat einen spezifischen Aufbau und ist durch eine besondere Unterrichtskultur gekennzeichnet. So können Schüler/innen von der ersten bis zur zwölften Klasse eine Gemeinschaftsschule besuchen, die wie das Gymnasium nach der zwölften Klasse das Abitur vorsieht (vgl. ThSchg § 4 (1)). Wenn es reformpädagogische Ansätze erfordern, dürfen Grund- und Regelschulen organisatorisch zusammengeschlossen werden. Unter Umständen kann auch eine gymnasiale Oberstufe von drei Jahren angegliedert werden (vgl. ThSchg § 4 (8)). Die Organisationsentwicklung der Gemeinschaftsschulen in Thüringen wurde unter Beteiligung aller Entscheidungsträger vorangebracht. Dabei setzten die Beteiligten auf einen schulpolitischen Konsens für eine Vielfalt im Bildungssystem und etablierten die Gemeinschaftsschule als zusätzliche gleichberechtigte Schulart. Da diese Schulart in Thüringen mit unterschiedlichen Organisationsformen entsprechend des jeweiligen Bedarfs am Schulstandort und nur unter Billigung ←79 | 80→der Schulträger etabliert wird, ist ein umfänglicher Schulfrieden gewährleistet und die Akzeptanz der Gemeinschaftsschule entsprechend hoch. Eine Schule kann durch eine Schulartänderung zur Thüringer Gemeinschaftsschule werden, indem „die Schule oder die Schulen den Willen zur Umwandlung in eine Gemeinschaftsschule durch entsprechenden Beschluss oder entsprechende Beschlüsse der Schulkonferenz oder Schulkonferenzen gegenüber dem Schulträger zum Ausdruck bringen und über ein pädagogisches Konzept nach § 6a Abs. 2 entscheiden“.276 Ob eine Gemeinschaftsschule in Thüringen eingerichtet wird, soll vor Ort entschieden werden. Die Schüler/innen, Eltern, Lehrkräfte und der Schulträger klären dies in einem Dialog. Auch soll ein pädagogisches Konzept erarbeitet werden, das auf das gemeinsame Lernen ausgerichtet ist. Außerdem sollen im Rahmen eines überwiegend binnendifferenziert organisierten Unterrichts individuelle Lernstände der zu Unterrichtenden berücksichtigt werden. Um der Heterogenität der Schülerschaft an einer Thüringer Gemeinschaftsschule gerecht zu werden, beginnt der Unterricht auf verschiedenen Anspruchsebenen ab Klassenstufe 7. Vor dem Start einer Gemeinschaftsschule muss diese individuelle Entwicklungsziele erarbeiten, ein pädagogisches Konzept vorlegen sowie sich zur permanenten Weiterarbeit am Schulprogramm verpflichten.

Damit lassen sich in Thüringen drei Arten von Gemeinschaftsschulen differenzieren: Neben Schulen mit jahrzehntelanger Erfahrung mit individueller Förderung wie den Jena-Plan-Schulen oder Schulen mit der Montessori-Pädagogik lassen sich zum Erhalt des jeweiligen Schulstandorts im ländlichen Raum pragmatische Gründungen feststellen. Diese habe eine vergleichsweise geringe Schüleranzahl, sind einzügig organisiert und reichen von der fünften bis zur zehnten Klasse. Als weiterführende Schule fungiert ein nahegelegenes Gymnasium. Der zweite Typ von Gemeinschaftsschulen entwickelte sich aus städtischen Schulen, die aus Einrichtungen eines schulartübergreifenden Modells hervorgegangen sind und eine zum Teil langjährige reformpädagogische Tradition besitzen. Diese Schulen sind mindestens zweizügig. Charakteristisch für diese Schulen sind Jahrgangsmischung und eine differenzierte Ausgestaltung der Schulstruktur, die sowohl eine Primarstufe als auch einen gymnasialen Zug enthält. Der dritte Typ ging aus Regel- oder Hauptschulen in städtischen Regionen hervor und ähnelt dem zweiten Typ hinsichtlich einer reformpädagogischen Orientierung.277 Aus dieser Grundeinteilung lässt sich feststellen, dass diese Gemeinschaftsschulen ←80 | 81→sich hinsichtlich ihrer Ausgangsbedingungen, des Einzugsbereichs und der Zusammensetzung ihrer Schülerschaft erheblich unterscheiden. Die Leistungen werden an den Gemeinschaftsschulen gemäß denselben Regeln gemessen, die auch für die allgemeinbildenden Schularten gültig sind. Die Leistungseinschätzung erfolgt individualisierter, da die Schülerschaft an den Gemeinschaftsschulen in höherem Maße heterogen ist.278 Diese orientiert sich an den Leitgedanken zu den Thüringer Lehrplänen für den Erwerb der allgemeinbildenden Schulabschlüsse von 2011: „Der Begriff der Leistungseinschätzung wird in den Lehrplänen als Oberbegriff verwendet. Er beinhaltet die Selbsteinschätzung durch den Schüler und die Fremdeinschätzung durch andere Schülerinnen und Schüler, Lehrer und am Lernprozess beteiligte Akteure. Diese kann nonverbal (mit Hilfe von Mimik und Gestik), verbal (als Worturteil) oder in Form einer Note erfolgen.“279 Die Leistungseinschätzung erfolgt ganzheitlich und beinhaltet alle zu berücksichtigenden Kompetenzen: „Daraus erwächst der Anspruch, dass die Leistungseinschätzung die individuelle Eigenverantwortung, die Leistungsbereitschaft und Lernmotivation als eine Bedingung für erfolgreiches Lernen fördert, prozess- und produktbezogen ist, individuelles Lernen und Lernen in der Gruppe einschließt, dazu beiträgt, dass der Schüler lernt, den eigenen Lernprozess und die eigene Leistung sowie die der anderen Schüler bzw. der Lerngruppe zu reflektieren und einzuschätzen sowie die Bedingungen für erfolgreiches Lernen berücksichtigt.“280 Für die Leistungsbewertung durch Noten ist die Leistung des Einzelnen in Bezug zu Lehrplanzielen und Standards bestimmend.

Mittlerweile gibt es im Freistaat 54 Gemeinschaftsschulen neben insgesamt rund 1000 weiterführenden Schulen. Die Resonanz in Thüringen ist hinsichtlich der Gemeinschaftsschule überwiegend positiv: „Man kann länger mit seinem gewohnten Umfeld, also Freunden, Schulkameraden, auch Lehrerinnen und Lehrern, Sozialpädagogen etc. gemeinsam lernen und man wird nicht wieder aus einer Welt herausgerissen wie in der Grundschule.“281 Schüler/innen sollen sich nicht schon nach der vierten Klasse für eine Schulart entscheiden müssen, denn zu diesem Zeitpunkt ist ihr Leistungsvermögen oft noch nicht deutlich ←81 | 82→geworden. Indem die Schüler/innen in der Gemeinschaftsschule länger gemeinsam lernen, haben sie bis zur achten Klasse die Chance, die für sie passende Schulart zu entdecken. Erst danach erfolgt das sogenannte abschlussbezogene Lernen. Dennoch ist in Thüringen die Tendenz, nach der Grundschule auf das Gymnasium zu wechseln, ungebrochen stark. Abgesehen davon, bieten Gemeinschaftsschulen auf dem Land die Möglichkeit, den Schulträgern durch die Bestandsgarantie der Schule mehr Optionen an Bildungsabschlüssen zu bieten, so dass für diese Schulart nicht nur genügend Schüler/innen vorhanden sind, sondern auch Schulen vor Ort erhalten bleiben.282

2.4.3.4 Vergleich und Überblick über die Gemeinschaftsschulen in den übrigen Bundesländern

Rheinland-Pfalz schaffte 2004 nach dem Saarland die Hauptschule ab, indem die „Realschule plus“ als Angebot für leistungsschwächere Schüler geschaffen wurde. Der Ausbau von Gesamtschulen wird dabei forciert.283 Diese „Erweiterte Realschule“ in Rheinland-Pfalz wurde somit um den Hauptschulabschluss ergänzt, so dass in mehr als der Hälfte der 185 betroffenen Schulen vom siebten Jahrgang an „abschlussbezogene Klassen“ vorhanden sind, somit eine Trennung zwischen Hauptschul- und Realschulklassen existiert. Damit wird Hauptschüler/innen die Möglichkeit genommen, sich in einem heterogenen Umfeld einzubinden und einen größeren Lernerfolg zu erzielen.284 Niedersachsen entschied sich mit der Einführung einer Oberschule für ein längeres gemeinsames Lernen. Die Oberschule besteht in ihrer Konzeption mit oder ohne Gymnasium. In Sachsen-Anhalt und Thüringen wurden Gemeinschaftsschulen ebenfalls eingeführt, die sich überwiegend aus ehemals nichtgymnasialen Vorgängerschulen gebildet haben. Mecklenburg-Vorpommern sieht ebenfalls einen gemeinsamen sechsjährigen Unterricht in Grundschule und anschließender Orientierungsstufe vor, bevor eine Aufteilung in kooperative oder integrierte Gesamtschule, Gymnasium und „Regionale Schule“ erfolgt.285 In Brandenburg erfolgte mittlerweile ←82 | 83→eine Straffung des Angebots dergestalt, dass aus Realschulen und Gesamtschulen ohne Oberstufe Oberschulen geschaffen wurden. Gesamtschulen mit eigener Oberstufe und herkömmliche Gymnasien führen zur Hochschulreife. In Sachsen war zum Schuljahr 2006/07 die Gemeinschaftsschule vorgesehen. So hätten aus Grundschulen, Oberschulen, Gymnasien oder Förderschulen Gemeinschaftsschulen werden können. Doch bereits kurz nach Amtsantritt im Herbst 2009 beschloss die neue schwarz-gelbe Staatsregierung, den „Schulversuch“ mit der Einführung von Gemeinschaftsschulen wieder abzuschaffen und wieder zur Zweigliedrigkeit aus Gymnasium und Mittelschule zurückzukehren, die eine Verbindung von Haupt- und Realschule darstellt. Immerhin wurden einige Punkte des Gemeinschaftsschulkonzepts in die neue Mittelschulordnung übernommen.286 Erst nach der Landtagswahl im Herbst 2019 sollten für ein längeres gemeinsames Lernen in Sachsen die Weichen neu gestellt werden. Die CDU hatte bisher das gemeinsame Lernen auch über die vierte Schulklasse hinaus strikt abgelehnt und die Idee nur in Modellprojekten zugelassen. Das Bündnis „Gemeinschaftsschule in Sachsen – Länger gemeinsam Lernen“ setzte sich mit einer Initiative vor der Landtagswahl das Ziel, mit einer Unterschriftensammlung die Ziellinie für einen Volksantrag zu erreichen, um eine entsprechende Änderung im Schulgesetz durchzusetzen. Die oppositionellen Linken und die Grünen unterstützten die Initiative, wie auch die SPD, die bereits seit fünf Jahren in Sachsen mitregiert. Modellschulen für gemeinsames Lernen in Sachsen wurden bereits zur Zeit der ersten SPD-Regierungsbeteiligung 2004 bis 2009 eingeführt.287 So stellte der Volksantrag des Bündnisses „Gemeinschaftsschule in Sachsen – Längeres gemeinsames Lernen“ einen wichtigen Impuls für die Koalitionsverhandlungen dar. CDU, Bündnis 90/Die Grünen und SPD verständigten sich im Koalitionsvertrag grundsätzlich darauf, längeres gemeinsames Lernen zu ermöglichen, so dass es keine Hürden mehr für die Gemeinschaftsschule von Klasse 1 bis 12 geben wird. Gemeinschaftsschulen können dort eingerichtet werden, wo der gemeinsame Wille des Schulträgers, der Lehrkräfte, der Eltern und der Schüler/innen dazu besteht. Mit differenzierten Regelungen für große und kleine Schulstandorte sollen dabei Bildungsqualität und Stabilität des Schulnetzes gewährleistet werden.288 Die Koalition ermöglicht neben dem Modell einer ←83 | 84→regulären Gemeinschaftsschule (1. bis 12. Klasse, an der alle Abschlüsse erreicht werden können) für Oberschulen außerhalb der Ober- und Mittelzentren das besondere pädagogische Profil „Längeres gemeinsames Lernen“, so dass sich diese zur Oberstufe+ entwickeln können, die die Klassenstufen 1 bis 10 umfassen sollen,289womit in ganz Sachsen flächendeckend diese neue Schulart etabliert wird.290 Der mit der Strukturreform einhergehende Wandel der Schulsysteme brachte nach PISA in der Zweigliedrigkeit eine Schulform neben dem Gymnasium hervor, die ebenfalls den gymnasialen Bildungsgang führt. Wegen der fast von Land zu Land unterschiedlichen Bezeichnung werden vereinfacht alle integrierten Schulen der Sekundarstufe I mit gymnasialem Bildungsgang Gemeinschaftsschulen genannt. Existieren neben Gemeinschaftsschule und Gymnasium keine weiteren allgemeinen Schulformen, heißt das Schulsystem „gleichberechtigte Zweigliedrigkeit“ und stellt damit die weitestgehende Strukturreform Nachkriegs-Deutschlands dar. Sie besteht in den drei Stadtstaaten291, im Saarland, mit Modifikationen in Rheinland-Pfalz und ist in Schleswig-Holstein gesetzlich beschlossen. Nordrhein-Westfalen gründete ebenfalls Gemeinschaftsschulen, so dass sich dort langfristig auch eine gleichberechtigte Zweigliedrigkeit etabliert.292 Der Stadtstaat Hamburg zeigt in seiner Zweigliedrigkeit des Schulsystems am deutlichsten das Beispiel einer Schulform, die neben dem Gymnasium zum Abitur führt. Eine von der Bürgerschaft einberufene Enquete-Kommission für das Bildungswesen präsentierte am 16. März 2007 ihren Bericht mit dem Titel „Konsequenzen der neuen PISA-Studie für ←84 | 85→Hamburgs Schulentwicklung“293. Die Kommission sollte u.a. prüfen, auf welche Weise sich die Vielgliedrigkeit des Schulsystems in Hamburg verringern lässt. Ihre Empfehlung lautete, dass es in Zukunft in Hamburg nur drei Schulformen geben solle. nämlich die Sonderschule, das Gymnasium und die Stadtteilschule, die neu zu schaffen ist: „Die Stadtteilschule führt zum ersten und zum mittleren Abschluss, zur (vollwertigen) Fachhochschulreife (mit Praxisanteil) sowie zum Abitur, zu letzterem Abschluss nach 13 Jahren. Das Gymnasium führt in 12 Jahren zum Abitur.“294 Als besondere Kennzeichen der „Stadtteilschule“ wurden u.a. „die Arbeits- und Berufsorientierung“, sowie „die anwendungsbezogene Akzentuierung der naturwissenschaftlichen Fächer [und] die Fächer Arbeitslehre und Technik genannt.295 Die Stadtteilschule soll zwar keine Oberstufe besitzen und auch nicht mit anderen Oberstufen eng zusammenarbeiten, jedoch die Schüler/innen mit „Angeboten der Wissenschafts- und Studienorientierung“ auf die Sekundarstufe II vorbereiten. Umgekehrt wird von den Gymnasien erwartet, dass sie ihren Schüler/innen „Angebote der Arbeits- und Berufsorientierung“ machen.296 Der Übergang zur weiterführenden Schule sollte nach der vierten Jahrgangsstufe erfolgen, ein Wechsel vom Gymnasium zur Stadtteilschule oder umgekehrt nur noch bis zum Ende der sechsten Jahrgangsstufe möglich sein. Interessant ist, dass die Vorschläge der Kommission fast mit denen identisch waren, die Klaus Hurrelmann 1991 der Kultusministerkonferenz gemacht hatte.297 Besonders deutlich wird dies darin, dass das Gymnasium als Schulform seine Wissenschaftsorientierung behalten soll. Hingegen wird für die neuen Stadtteilschulen die Orientierung an der beruflichen Ausbildung vorgesehen. Stadtteilschule und Gymnasium seien zwar gleichwertig, wie die Kommission versicherte, gleichwohl sah sie unterschiedliche Bildungskonzeptionen für die zwei Schulformen vor.298 Danach sollten Schüler/innen nach der vierten ←85 | 86→Klasse einem der beiden Bildungswege zugewiesen werden, dessen Ansatz entweder eine Wissenschafts- oder eine Berufsorientierung hat. Dies zeigt, dass dabei noch die veraltete Theorie Gültigkeit besaß, wonach in diesem Alter Kinder nach angeblich feststellbaren theoretischen bzw. praktischen Begabungen differenziert werden können. Nach den folgenden Bürgerschaftswahlen in Hamburg kam es durch die Koalition von CDU und Grünalternativer Liste (GAL) zu einer Reform des Schulwesens. Während die CDU vor der Wahl insbesondere für den Erhalt des Gymnasiums stand, propagierte die GAL eine Schule für alle. Der Kompromiss der Koalitionäre sah dafür vor, dass künftig neben den Sonderschulen, die nicht in die neue Struktur einbezogen werden sollten, drei Schulformen existieren sollten: Eine Primarschule von der ersten bis einschließlich sechsten Klasse, die Stadtteilschule mit den Jahrgängen 7 bis einschließlich 13 und das achtjährige Gymnasium mit den Jahrgangsstufen 7 bis einschließlich 12. Seit dem Schuljahr 2010/11 gilt das in Hamburg endgültige Konzept, das unter dem Titel „Eine kluge Stadt braucht alle Talente“ umgesetzt wurde. Es sieht vor, dass in der Primarschule die Schüler/innen sieben Jahre lang gemeinsam lernen. Die Aufteilung der Schüler/innen gemäß ihrer Leistung auf Lerngruppen ist nicht geplant. Damit wird keine Binnendifferenzierung angestrebt. Erst ab der vierten Klasse werden Lehrer/innen eingesetzt, die bislang an Gymnasien oder Sekundarschulen eingesetzt waren. Die Entscheidung, auf welche Schule die Kinder anschließend verteilt werden, hängt von den Lernberichten, die in der sechsten Jahrgangsstufe gegen Ende des ersten Halbjahres verfasst werden, dem „Kompetenzfeststellungsverfahren in Englisch, Deutsch und Mathematik ab, sowie davon, wie die Lehrer/innen die sozialen und überfachlichen Fähigkeiten der Schüler/innen einschätzen. Sichert die Stadtteilschule „den Erwerb einer breiten grundlegenden allgemeinen Bildung“ und den Schüler/innen „den Zugang zu einer erweiterten allgemeinen Bildung“, vermitteln die Gymnasien „eine breite und vertiefte allgemeine Bildung“ und „besonders leistungsfähige“ Schüler/innen werden gezielt gefördert. Interessant ist, dass für beide Schulformen auf Klassenwiederholungen verzichtet wird.299 Daneben besteht in den östlichen Flächenländern seit ihrer Gründung – mit dem ←86 | 87→Nachzügler Mecklenburg-Vorpommern – eine hierarchische Zweigliedrigkeit. Dabei umfasst die zweite Schulform keinen gymnasialen Bildungsgang und führt nur bis zur Mittleren Reife. In den kommenden Landtagswahlen wird möglicherweise über Fragen der Schulstruktur weniger gestritten werden, da es Kompromisse zwischen politischen Lagern nicht nur in den bereits beschriebenen Bundesländern gibt, sondern nunmehr auch in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt.300 Eine Große Koalition konnte in Sachsen-Anhalt die Gemeinschaftsschule 2012 im Rahmen eines neuen Schulgesetzes neben dem mehrgliedrigen Schulsystem einführen. Ab dem Schuljahr 2013/14 konnten sieben öffentliche Schulen und sechs in freier Trägerschaft ihre Arbeit als Gemeinschaftsschule aufnehmen, im darauffolgenden Schuljahr kamen neun weitere Schulen dazu, die auf Eigeninitiative die Gründung von Gemeinschaftsschulen realisierten. Gründe für diese Entwicklung lagen einmal in der sinkenden Schülerzahl und dem Wunsch, dass dennoch alle Schulabschlüsse erreichbar bleiben sollten. So bleiben bis zur siebten Klasse Schüler/innen in einer Klasse zusammen. Erst ab der neunten Klasse wird das gemeinsame Unterrichten abschlussspezifischer. Bis dahin wird zwischen der siebten und neunten Klasse der einzelne Schüler individuell nach Lernniveau gefördert, ohne dass die Schüler/innen getrennt werden.301 In Baden-Württemberg wurde seit 2011 das strikte dreigliedrige Schulsystem aufgegeben. In Niedersachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz gibt es noch keine Einigung über Lagergrenzen hinweg und Bayern ist das einzige Bundesland, das unverändert das dreigliedrige Schulsystem aufrecht erhalten hat, obwohl es bereits 2010 Vorstöße gab, die Gemeinschaftsschule als Lösung zu etablieren, um im ländlichen Bereich die „Schule im Dorf“ zu retten.302 Die SPD-Fraktion hatte im Mai 2011 ihr Modell für eine Gemeinschaftsschule im bayrischen Landtag vorgestellt und gleichzeitig einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht.303 Im Gesetzesentwurf wurde vorgesehen, dass die Gemeinschaftsschule gleichberechtigt mit den bereits existierenden Schularten sein werde. Die neue Schulform solle sich an den Lehrplänen und Bildungsstandards orientieren. Laut Konzept sollte die Gemeinschaftsschule die ←87 | 88→Jahrgangsstufe 1 bis 10 umfassen. Die selbständigen Grundschulen sollten sukzessive in das Konzept der Gemeinschaftsschule integriert werden. Das Übertrittsverfahren und damit der Auslesedruck entfielen in der vierten Klasse, da alle Schüler/innen unabhängig von ihrem Notenstand in die Gemeinschaftsschule aufgenommen würden. Die Gemeinschaftsschule war als Ganztagsschule konzipiert, um für die individuelle Förderung jeder Schülerin und jedes Schülers genügend zeitlichen Spielraum zu haben. So sollten die Schüler/innen in jahrgangsübergreifenden Klassen unterrichtet werden. Die Aufteilung innerhalb der Schule in Haupt- und Realschule sowie Gymnasium sollte entfallen, um den Fokus gezielt auf das gemeinsame Lernen setzen zu können. Nach der Sekundarstufe I sollten alle Schulabschlüsse möglich sein. Daher sollten an der Gemeinschaftsschule Lehrkräfte aus Grund-, Haupt-, Realschule und Gymnasium unterrichten.304 Fasst man die Ergebnisse im Ländervergleich zusammen, fällt auf, dass Gemeinschaftsschulen in der Regel einen unklaren Status besitzen und die Zielsetzung ebenfalls in der Theorie Schwächen aufweist. Die Gemeinschaftsschulen haben somit keine feste Form, unterliegen bildungspolitischen Veränderungen und haben in der Regel als zusätzliche Schulform zum Teil vorerst nur Versuchsstatus. Bei allen Zweigliedrigkeitsmodellen und Gemeinschaftsschul-Modellen bleibt das Gymnasium im Wesentlichen unangetastet.

2.5 Zur begrifflichen Unterscheidung von Gesamtschule und Gemeinschaftsschule

Zu unterschiedlichen Zeiten wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts über eine Reform des Schulsystems gestritten, etwa während der Reichsschulkonferenz 1920/21, 1959 in der BRD im Zusammenhang mit dem Rahmenplan des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen305, 1970 im „Strukturplan für das Bildungswesen“ 306 und 1995 in der Denkschrift der Bildungskommission ←88 | 89→des Landes Nordrhein-Westfalen307 mit dem Titel „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“, die die Tatsache kritisierte, dass in den Grundschulen lediglich vier Jahre gemeinsam verbracht werden. Als mögliche Alternativen wurde in den Gutachten seit 1959 entweder die Einführung einer zweijährigen integrierten Gelenkstufe zwischen Grundschule und weiterführenden Schulen oder die Verlängerung der Grundschulzeit nach dem Vorbild der Länder Berlin und Brandenburg erörtert. Die Eltern wählen die Schulart für ihre Kinder oft erheblich abweichend von den Empfehlungen der Schulen. Das ist der Fall in den Ländern mit sechsjähriger Grundschule und auch dort, wo es integrierte Orientierungsstufen gibt. Ein Ergebnis der Schulreformbemühungen der noch jungen Bundesrepublik Deutschland bildet die Gesamtschule als Schule für alle Kinder. Bei der Gesamtschule wird die integrierte und kooperative Gesamtschule unterschieden. Die Schüler/innen werden in der integrierten Form je nach Anforderungen und Leistung auf unterschiedliche Kurse verteilt, jedoch nur in einzelnen Fächern. Hingegen existieren bei der kooperativen Gesamtschule Klassen der verschiedenen Zweige (Hauptschule, Realschule und Gymnasium) parallel zu einander. Ab 1969 wurden die ersten 30 Gesamtschulen in der ganzen damaligen Bundesrepublik gegründet. Aus dieser Zeit rühren auch die wenig zahlreichen Gesamtschulen in Baden-Württemberg und Bayern her, die bis auf den heutigen Tag als „Schulen besonderer Art“ existieren.308

Die Gesamtschule, in der die äußere Differenzierung nach Schultypen zugunsten einer flexiblen und durchlässigen inneren Differenzierung aufgehoben werden sollte, konnte auf allen Ebenen der Reformargumentation begründet werden: Als „demokratische Leistungsschule“309sollte sie nach der Vorstellung eines Teils der Schulreformer helfen, jenseits einer zu frühen Festlegung Begabungsreserven in bisher unterprivilegierten Gruppen herauszufinden. Dies implizierte, zumindest oberflächlich gesehen, eine Vergrößerung der Chancengleichheit durch die verbesserten Möglichkeiten, die schulische Selektion nicht mehr, wie bisher, vorwiegend nach den Linien des sozialen Status, sondern nach der auszudifferenzierenden Leistungsfähigkeit durchzuführen. Die demokratische, offene Struktur der Gesamtschule sollte Modelle der Mit- und Selbstbestimmung der Schüler/innen ermöglichen und gleichzeitig zu einer angemessenen Kooperation der Lehrer untereinander, etwa ←89 | 90→durch Team-Teaching und im Zusammenarbeiten mit den Schüler/innen beitragen.310 Mit der Erkenntnis, dass jede Schulreform ohne eine grundlegende Veränderung der herkömmlichen Lehrinhalte und Lehrmethoden fragwürdig bleiben muss, wurde die Curriculumreform zum integrierten Teil der beabsichtigten Veränderung des Schulsystems: Unter der Prämisse der wissenschaftlich-technischen Zivilisation sollten die Inhalte der Ausbildung stärker als im alten Schulsystem schon von Anfang an die neuen Erkenntnisse der Wissenschaften angekoppelt werden, etwa durch die Einführung der Strukturwissenschaft ‚Mengenlehre‘. Unter den Vorzeichen einer konfliktbeladenen Welt sollten, im Gegensatz zur bisherigen Tendenz nach Harmonisierung und Entpolitisierung, die Probleme und Konflikte in den Erfahrungsfeldern der Schüler/innen in den Unterricht einbezogen werden. Die Unterrichtsmethoden sollten vom Idealbild des Frontalunterrichts abgelöst und flexibel auf Unterrichtsstoff und Interesse der Schüler/innen abgestimmt werden. Fragen, Probleme und Erfahrungen der Schüler/innen sollten in die Schule integriert, statt wie bisher als ‚Störfaktoren‘ ausgeschlossen werden.311 Die hier genannten und weitere Charakteristika der intendierten Schulreform waren zum Teil in sich widersprüchlich und offensichtlich waren einige Entwicklungen an das Kapitalverwertungsinteresse angelehnt, dennoch waren in ihnen Möglichkeiten, Potentiale vorhanden, zu einer besseren, gleichsam pädagogischen Schule beizutragen. Insofern ist jede Kritik an den Vorstellungen der Schulreformer, diese hätten in ihren Modellen Widersprüchliches ohne Berücksichtigung der realen gesellschaftlichen Struktur und der durch sie geprägten Machtverhältnisse vorgeschlagen, nur dann richtig, wenn gleichzeitig die vorwärtsweisenden Elemente berücksichtigt werden. So wurden Gesamtschulen, erst versuchsweise, dann darüber hinaus eingerichtet, Rahmenrichtlinien konzipiert, erprobt und verworfen. Des Weiteren wurden Curriculum-Materialien erarbeitet und verbreitet, konnte die Anzahl von Arbeiterkindern in weiterführenden Schulen erhöht werden, wurde die Elternarbeit ←90 | 91→intensiviert und die Unterrichtsmethoden differenziert. Aber diese Erfolge wurden durch den Trend zur Stabilisierung des etablierten Schulsystems und zur Restaurierung des alten Bildungssystems gebrochen.312 Die Gründe für diese Umkehrung liegen kaum in der Schule selbst, auch wenn dort ebenfalls zahlreiche Strukturen und Interessen der Schulreform Hindernisse in den Weg legten.313 Die CDU akzeptierte die Gesamtschule zunächst als Versuchsmodell und im Parteiprogramm der FDP fand sie als „Offene Schule“ ihren Platz. Dennoch unterstützten die beiden Parteien die Gesamtschule später nicht mehr. Vielmehr bekämpften sie die Gesamtschule mit Nachdruck. Sie betrachteten die Forderung nach Chancengleichheit als Bedrohung des Bildungsprivilegs ihrer Stammwählerschaft.314 Auch diese geschilderten gesellschaftlich-politischen Hemmnisse waren und sind bedingt durch die Veränderungen in der gesamtgesellschaftlichen Lage, die hier als Ausgangsbedingungen für eine Reform des Schulsystems und für die Möglichkeiten und Chancen alternativer Schulen skizziert werden. Spätestens mit der Krise 1966/67 war die Zeit des ‚Wirtschaftswunders‘ vorbei. In den 1970er Jahren zeigte sich offenkundig das wechselseitige Verhältnis zwischen ökonomischen Anforderungen bzw. Interessen und Bildungsreformen in der Unterstützung von Gesamtschulen. Mit dem Schwinden des materiellen Hintergrunds konnten die Bildungsreformer sich nur noch auf politische und gesellschaftliche Legitimationsebenen berufen. Da sich durch die krisenhafte Entwicklung die finanziellen Möglichkeiten von Bund und Ländern in der Unterstützung kostenrelevanter Reformprogramme verringerten, konnten die Reformgegner ihrerseits ihren Einfluss geltend machen, um Reforminitiativen zu blockieren oder rückgängig zu machen. Dieser Umstand wurde durch die föderalistische Struktur des Bildungswesens noch unterstützt, zumal es eine einheitliche Koalition von reforminteressierten Politikern, Pädagogen und Eltern nur in Ansätzen gegeben hat. Immerhin wurde noch 1969 in den Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates konstatiert, dass „durch Modelle im Prozess einer ständigen Reform und systematischen Kontrolle neue Antworten auf die Bedürfnisse einer sich wandelnden Welt gewonnen werden (können), an denen sich eine schrittweise ←91 | 92→Veränderung des Bestehenden zuverlässiger orientieren kann.“315 Damals auf die Einrichtung von Gesamtschulversuchen316 gezielt, gewinnt dieser Satz vor dem Hintergrund der Einführung von Gemeinschaftsschulen etwa in Baden-Württemberg eine nicht vorhergesehene Aktualität. In einer kooperativen Gesamtschule wird die Zusammenarbeit der Schularten als Option angelegt, doch nicht als konstitutives Merkmal einer solchen Schule. Dagegen wird in der Konzeption der Gemeinschaftsschule die Zusammenarbeit der Bildungsgänge als neue Qualität des Schulangebots hervorgehoben, insofern, als diese Schule alle Angebote des weiterführenden Schulwesens enthält bzw. aus vorhandenen Schulen entsteht: „Ausgangspunkt ist das Leitziel der Bereitstellung einer gemeinsamen Schule für alle Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I. Das bedeutet, dass der Übergang von der Grundschule zunehmend in Bildungseinrichtungen erfolgt, die alle Schülerinnen und Schüler aufnehmen und in diesem Sinne als ‚vollständige Angebote‘ zu bezeichnen sind. Vollständigkeit repräsentieren per definitionem integrierte Systeme, ebenso aber auch schulrechtliche Einheiten aus den drei Bildungsgängen des gegliederten Schulsystems.“317 Der Begriff „Gemeinschaftsschule“ wird in der aktuellen politischen Diskussion als ein „eher struktureller Zusammenschluss von Schulen verstanden, in dem Kinder und Jugendliche vom 1. bis zum 10. Schuljahr gemeinsam unterrichtet werden“318. Sie stelle „eine Variante der Gesamtschule und Einheitsschule mit innerer Differenzierung als Alternative zu einem mehrgliedrigen ←92 | 93→Schulsystem mit äußerer Differenzierung nach Klasse 4 oder 6“ dar.319 Nach Aussage des Artikels wurde der Begriff ursprünglich für eine „Simultanschule“ verwendet, in der Schüler/innen aller Bekenntnisse gemeinsam lernen und nur im Fach Religion getrennt unterrichtet werden sollten. In den 1920er Jahren kam es in diesem Kontext zu einer Art „Schulkampf“ über die nationale Bedeutung der „Gemeinschaftsschule“ und der „Bekenntnisschule“, in dessen Verlauf als Lösung eine „weltliche Schule“ als Kompromiss vorgeschlagen wurde.320 Dieser vorläufige Vorschlag muss vor dem historischen Hintergrund gesehen werden321, in dessen Verlauf die Schule die Forderung nach nationaler Einheit unterstützen sollte: Die Schule „kann sich von jenen Besonderheiten und Gegensätzen lösen und mitten in der Wüste der deutschen Zerrissenheiten eine Oase der Eintracht und des Friedens bilden (…) Sofern wir Deutsche ein einheitliches Volk sind, soll die Schule diese Einheit darstellen und dadurch sie bewahren und fördern.“322 Damit standen Schule und Volkseinheit in einem ideellen Zusammenhang, wurde die Schule gegenüber der Einheit des Volkes in die Pflicht genommen.323 In dieser propagierten „Gemeinschaftsschule“ sollten in einer Art „Arbeits- und Lebensgemeinschaft“ soziale Unterschiede aufgehoben werden: „Die Gemeinschaftsschule steht grundsätzlich allen volksschulpflichtigen Kindern offen. Sie erfüllt die Unterrichts- und Erziehungsaufgaben der deutschen Volksschule auf religiös-sittlicher Grundlage ohne Rücksicht auf die Besonderheiten einzelner Bekenntnisse und Weltanschauungen.“324 Dabei war vorgesehen, den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach allen Klassen zugänglich zu machen und nach Bekenntnissen getrennt zu erteilen.325 Der Gedanke der Gemeinschaftsschule konnte sich in der Weimarer Republik jedoch nicht durchsetzen. Man befürchtete die Gefahr eines „Unitarismus auf dem Gebiete der Schulorganisation“326 und begründete diesen Vorwurf damit, dass diese neue Schulform eher die „Gefahr leerer Gemeinschaftslosigkeit, ja neuer Zerklüftung und mannigfacher Störung“327 nach sich ziehe: „es besteht (…) die ernste ←93 | 94→Gefahr, dass diese Organisation, so verbindend sie zu wirken bemüht ist, doch gleichzeitig das Bewusstsein um die in ihr vereinigten Verschiedenheiten entfacht und so die Gemeinschaft mehr hemmt als fördert.“328 Schließlich sollte diese „Verschiedenheit“ an der Konfessionalisierung erklärt werden, doch eine Art Kulturkampf drohte in diesem Kontext zu eskalieren329, da eine Gleichbehandlung der Konfessionen nach dem Paritätsgedanken in der „Gemeinschaftsschule der Zukunft“ nicht zu realisieren sei. Würde demnach als Konfliktlösungsansatz einerseits dieser Schule der „Charakter der Unbestimmtheit“ anhaften, wäre andererseits damit zu rechnen, dass diese zukünftige Schule eine Vielfalt an Erscheinungsformen annehmen würde, die durch eine auffällige Oberflächlichkeit gekennzeichnet sein würde330und sich äußerlich als „ein sehr veränderliches und unsicheres, unklares Gebilde“ erweise.331 Entsprechend wäre diese Schule schutzlos dem Parteienkampf ausgeliefert und für Ideologien empfänglich.332 Der Konflikt um die angemessene Schulform im Deutschen Reich Ende der 1920er Jahre sah schließlich die Lösung in einer „Volkseinheitsschule“ mit starker christlicher Prägung.333 Die damit gemeinte „Bekenntnisschule“ war der Garant für die „klarste und einheitlichste Struktur“ im Schulwesen. Dagegen musste die Gemeinschaftsschule, die für „Verschiedenartiges“ stand, der einheitlichen „Entwicklung eines kräftigen deutschen Volksbewusstseins“ entgegenstehen. Um einen konfessionellen Konflikt zu vermeiden, sah man in der „Doppelform der katholischen und der evangelischen Schule“ die einzig mögliche Realisierung einer „christlichen Bekenntnisschule in Deutschland“.334 Vor dem Hintergrund der völkischen Bewegung des Nationalsozialismus trägt die Diskussion um die „wahre deutsche Nationalschule“ eine gewisse Tragik in sich, die sich im damaligen Schrifttum ausdrückt und im Kompromiss einer „deutsch-christ- lichen Schule“ gipfelt.335 Generell stehen nach heutigem Sprachgebrauch ←94 | 95→Gemeinschaftsschulen „für verschiedene Formen längeren gemeinsamen Lernens. Das Grundprinzip ist die flexible Kooperation verschiedener Schularten bis hin zur vollständigen Zusammenführung zu einer Schulart mit dem Ziel einer längeren gemeinsamen Schulzeit (bis zur 8. oder bis zur 10. Klasse)336, das heißt bis zur 8. oder bis zur 10. Klasse, sei. Ziele seien dabei eine erhöhte Durchlässigkeit im Bildungssystem und eine effektivere Integration von Migrantenkinder.337 Da eine Schulbezeichnung nicht zu schützen ist, wird der Begriff aufgrund des föderalen Bildungssystems in der Bundesrepublik Deutschland variabel eingesetzt und entsprechend für unterschiedliche Schulversuche bzw. Modelle adaptiert, auch wenn dabei kaum Gemeinsamkeiten mit dem ursprünglichen Modell aufzuweisen sind.338 Der Unterschied zur Gesamtschule besteht damit hauptsächlich darin, dass im Gemeinschaftsschulkonzept die einzelnen Schulen vor Ort mit Rücksicht auf lokale Bedürfnisse sukzessiv verändert werden und selbstbestimmt agieren können. Zudem kommen verstärkt moderne Lernmethoden wie etwa offener Unterricht, individuelles und kooperatives Lernen der Schüler/innen zum Einsatz, um heterogene Lerngruppen (Binnendifferenzierung) besser individuell fördern zu können. Damit erhält die Lernkultur als eine „andere“, eine zielorientierte, eine besondere Bedeutung. Zudem darf nicht vergessen werden, dass Gesamtschulen in den 1960er/1970er Jahren oft als Reaktion auf den „Babyboom“ gegründet wurden, die Gemeinschaftsschulen dagegen als Antwort auf den demografischen Wandel hinsichtlich wohl sinkender Schülerzahlen zu verstehen sind, denn Schulstandorte werden mittelfristig nur fortbestehen können, wenn diese als „integrierte Sekundarschulen, unter Einschluss des gymnasialen Bildungsganges, für viele Schulträger die einzige Möglichkeit darstellen, im ländlichen Raum finanziell akzeptable Schulstandorte (…) zu sichern.“339 Auch wenn ‚vollständige‘ Gemeinschaftsschulen flächendeckend realisiert werden sollen, spiegelt die tatsächliche Schullandschaft eher eine gewisse „Vielfalt in der Einheit“ wieder, wie es Ernst Rösler in seiner genannten Studie als (möglichen) Kompromiss formuliert.340 Rösner versteht unter „vollständigen Gemeinschaftsschulen“ „vorhandene Gesamtschulen ebenso wie rechtliche, ←95 | 96→organisatorische und pädagogische Einheiten, die aus den Bildungsgängen der Hauptschule, der Realschule und des Gymnasiums bestehen.“341 Diese Parallelstrukturen haben insoweit eine gewisse Daseinsberechtigung, sofern diese Schulen des gegliederten Systems geeignet seien, auf demographische Entwicklungen reagieren zu können.342 So äußerte sich der Deutsche Bildungsrat 1970 in einer Empfehlung, dass „in dem Bildungswesen, wie es im Strukturplan empfohlen wird, nebeneinander Platz für die Gesamtschule wie für verschiedene Formen des Schulverbundes (Schulzentren, kooperative Systeme) (ist). Kein Platz ist mehr für das unverbundene Nebeneinander von Schulen, die sich – volkstümlich für die einen, wissenschaftlich für die anderen – von verschiedenen Bildungsideen her legitimieren.“343 Unabhängig von der jeweiligen Ausgestaltung des Schulsystems bleibt der Übergang von der vierjährigen Grundschule in weiterführende Schulen problematisch, wie Studien belegt haben. So kam die Hamburger LAU-Studie zu dem Ergebnis, dass eine Gymnasialempfehlung schwieriger zu erhalten sei, „je höher das allgemeine Leistungsniveau in der Klasse ist, je ungünstiger auf Klassenebene die typische Bildungssituation in den Elternhäusern ist und je niedriger der Ausländeranteil in der Klasse ist.“344 Auch eine Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre würde das Problem nur zeitlich verzögern, wie Studien belegen.345 Daher läge, wie Rösner betont, eine Lösung des Problems „eher in der Struktur und Binnenorganisation der aufnehmenden Schulen“346, wofür Gemeinschaftsschulen gegenüber dem bestehenden System die beste Lösung darstellen, denn alle Grundschulabgänger besuchen eine gemeinsame Schule. Außerdem sei die Durchlässigkeit in Gemeinschaftsschulen von anderer Qualität als in unverbundenen Systemen.347 Mit Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 2. Juni 2006 erfolgte jedenfalls die Anerkennung der Gemeinschaftsschule als Organisationsform der Sekundarstufe ←96 | 97→I.348 Fasst man die wichtigsten Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Gesamtschule349 und Gemeinschaftsschule zusammen, lässt sich feststellen, dass es die Gesamtschule – sieht man von den Hamburger „(Lebens-)Gemeinschaftsschulen“ ab – schon lange gibt, während die (neue) Gemeinschaftsschule – wie noch ausgeführt wird – häufig als sogenannter „Schulversuch“350 startet, bis diese als Regelschule offiziell in das jeweilige Schulsystem des entsprechenden Bundeslandes eingefügt werden kann (Vgl. Nordrhein-Westfalen unter der rot-grünen Landesregierung, die seit dem Schuljahr 2012/13 die Gemeinschaftsschule als Schulversuch etablierte). Der markanteste Unterschied bei der Errichtung einer der beiden Schulformen liegt darin, dass für eine Gesamtschule mindestens vier Eingangsklassen mit jeweils mindestens 28 Schüler/innen notwendig sind, während für die Gemeinschaftsschule nur drei Klassen mit jeweils mindestens 23 Schüler/innen erforderlich sind. Sowohl Gemeinschafts- als auch Gesamtschule können nur ab Klasse 5 neu aufgebaut werden, es können dabei nicht bestehende Schulen zu einer Gemeinschafts- oder Gesamtschule verschmolzen werden.351 Beide Schulformen ermöglichen ein längeres gemeinsames Lernen. Bei der Gesamtschule werden in den allermeisten Fällen die Schüler/innen von der Klasse 5 an durchgehend gemeinsam unterrichtet. Das heißt, es gibt Grundkurse (G-Kurse) und Erweiterungskurse (E-Kurse), in denen Schüler/innen je nach ihrer Leistungsfähigkeit differenziert unterrichtet werden. Auch in der „neuen“ Gemeinschaftsschule wird in Klasse 5 und 6 generell gemeinsam unterrichtet, so dass den leistungsstarken Schüler/innen der Weg zum Abitur ermöglicht wird, wenn die Gemeinschaftsschule mit einer Sekundarstufe II ausgestattet wird. Gesamtschulen müssen immer über eine eigene gymnasiale Oberstufe verfügen, die zum Abitur führt. Die Gemeinschaftsschule muss den Weg zum Abitur offenhalten; sie braucht selbst aber keine eigene gymnasiale Oberstufe. Dies erfordert aber eine Kooperation mit einem Gymnasium oder einem Berufskolleg mit gymnasialer Oberstufe, so dass die Lernenden einer Gemeinschaftsschule dort ←97 | 98→auf jeden Fall ihr Abitur ablegen können. Ob die Kooperationsschule das Abitur nach acht Jahren (G8) oder nach neun Jahren (G9) anbietet, ist dabei unerheblich. Findet die Kooperation mit einem G8-Gymnasium statt, an dem die Oberstufe bereits mit dem Jahrgang 10 beginnt, würde der Schüler/die Schülerin der Gemeinschaftsschule, der bzw. die nach dem zehnten Schuljahr wechselt, die Jahrgangsstufe 10 der Form nach wiederholen – nicht aber den Inhalten nach, die neu wären. Für begabte Schüler/innen von Gemeinschaftsschulen würde als Sonderregelung der Wechsel in die Jahrgangsstufe 11 für ein G8-Gymnasium gelten. Sowohl die Gesamt- als auch die Gemeinschaftsschulen sind für den Ganztagsbetrieb vorgesehen. Dies setzen häufig die pädagogischen Konzepte der Gemeinschaftsschulen voraus.352

Details

Seiten
440
Jahr
2021
ISBN (PDF)
9783631859278
ISBN (ePUB)
9783631859285
ISBN (Hardcover)
9783631854136
DOI
10.3726/b19151
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Oktober)
Schlagworte
Bildungsreform Schulpolitik Gymnasium Pädagogik Schulgeschichte
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2021. 440 S.

Biographische Angaben

Jan Friederichs (Autor:in)

Jan Rolf Friederichs studierte Geschichte, Politikwissenschaften, Germanistik und Pädagogik an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Der promovierte Historiker und Pädagoge unterrichtet als Gymnasiallehrer die Fächer Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde. Als Lehrbeauftragter leitete er Seminare im Bereich der Schul- und Bildungsgeschichte an der Universität Tübingen im Fach Pädagogik. Er veröffentlichte Beiträge im Bereich der Kommunal-, Schul- und Landesgeschichte Baden-Württembergs.

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Titel: Schulreformen als Antwort auf gesellschaftliche Veränderungen
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