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Wissenskommunikation unter Bedingungen von Mehrsprachigkeit

von Tilo Weber (Band-Herausgeber:in) Hynek Böhm (Band-Herausgeber:in)
©2022 Konferenzband 348 Seiten
Reihe: Transferwissenschaften, Band 15

Zusammenfassung

Kommunikation über kulturelle Grenzen hinweg stellt die Beteiligten vor die Herausforderung, eine gemeinsame Sprache oder zumindest ein gemeinsames «Sprachregime» zu finden. Die Verwendung einer Lingua franca ist dabei nur eine – und nicht immer die optimale – Strategie zur Bewältigung dieser Herausforderung. Die hier versammelten Beiträge von Sprachpraktiker/inne/n, aber auch von Sprach- und Kulturwissenschaftler/inne/n reflektieren die Problematik aus ihrer jeweils spezifischen Perspektive. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der tschechisch-deutschen Grenzregion. Der Blick wird aber auch auf andere Konstellation einander benachbarter Sprachgemeinschaften sowie auf nicht-geographische Sprachgrenzen innerhalb spezifischer gesellschaftlicher Diskurse gerichtet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Zur Einleitung: Internationale Wissenskommunikation – warum ein Gespräch über Mehrsprachigkeit mehrsprachig geführt werden muss / Mezinárodní znalostní komunikace – proč musí být pojednání o vícejazyčnosti vedeno ve více jazycích? (Tilo Weber / Hynek Böhm)
  • I. Mehrsprachigkeit in tschechisch-deutschen Grenzräumen / Vícejazyčnost v česko-německém příhraničním prostoru
  • Knowledge of the German language among geography students at the Technical University of Liberec: a case study from the Czech-German borderlands / Znalost němčiny mezi studenty geografie Technické univerzity v Liberci: případová studie z česko-německého pohraničí (Artur Boháč)
  • Sprachliche (A-)Symmetrien in der Euroregion Neisse-Nysa-Nisa: Analyse von Projekten zur Förderung der Nachbarschaftssprachen / Jazykové (a)symetrie v Euroregionu Nisa: analýza projektů podporujících výuku jazyka souseda (Hynek Böhm)
  • Alte Drucke in den historischen Buchbeständen und Bibliotheken der Region Frýdlant/Friedland und Liberec/Reichenberg / Staré tisky v historických knižních fondech a knihovnách regionů Frýdlant a Liberec (Milan Svoboda)
  • Frühe nachbarsprachige Bildung – ein Ansatz zur Förderung von Mehrsprachigkeit in Sachsens Grenzregionen / Ranné vzdělávání jazyka sousedů – přístup k podpoře mnohojazyčnosti v příhraničních regionech Saska (Regina Gellrich)
  • SCHKOLA – ein Schulverbund im deutsch-tschechisch-polnischen Grenzland und das Unterrichtsfach Nachbarschaft und Sprache / SCHKOLA – svazek škol v německo-česko-polském příhraničí a vyučovací předmět Sousedství a jazyk (Ute Wunderlich)
  • II. Mehrsprachigkeit innerhalb von Ländergrenzen / Vícejazyčnost v rámci národních hranic
  • Jenseits von „Grüezi. Bonjour. Buongiorno. Allegra.“: schulische Fremdsprachenpolitik in der Schweiz / „Grüezi. Bonjour. Buongiorno. Allegra.“: přístup ke školní výuce jazyků ve Švýcarsku (Daniel Hugo Rellstab)
  • Mehrsprachigkeit, Code-Switching und die Entstehung neuer Stadtsprachen in Kenia / Vícejazyčnost, code-switching a vznik nových městských jazyků v Keni (Francisca Atieno Odero / Tilo Weber)
  • III. Mehrwert durch Mehrsprachigkeit – wissenschaftlich und praktisch / Přidaná hodnota vícejazyčnosti optikou vědců i praktiků
  • Warum Wissenschaft ohne Mehrsprachigkeit keine Wissenschaft ist – ein wissenschaftlicher informierter Standpunkt bezüglich eines oft unwissenschaftlich diskutierten Themas / Proč není věda bez vícejazyčnosti vědou? Vědecky podložené stanovisko k často nevědecky diskutovaným tématům (Winfried Thielmann)
  • Mehrsprachige und mehrkulturelle Wissenskommunikation aus der Perspektive der Fremdsprachenlehr- und -lernforschung / Mnohojazyčnost a multikulturní znalostní komunikace z pohledu výuky a výzkumu cizích jazyků (Chris Merkelbach)
  • Transdisziplinäre Zusammenarbeit impliziert Mehrsprachigkeit. Das Beispiel der Jigjiga University One Health Initiative / Transdisciplinární spolupráce implikuje vícejazyčnost: příklad Jigiiga One Health Initiative (Kristina Pelikan / Mohammed Ibrahim Abdikadir / Rea Tschopp / Jakob Zinsstag)
  • Transdisziplinäre Ko-Produktion von Wissen – das Potential einer Perspektive Pluri / Transdisciplinární tvorba znalostí – potenciál tzv. pluriperspektivy (Theres Paulsen / Sibylle Studer)
  • IV. Mehrsprachigkeit und Übersetzen / Mnohojazyčnost a překladatelství
  • Nur Grammatik. Das „weniger Wichtige“ aus der praktischen Perspektive des Übersetzers / (Ne)důležitá gramatika aneb praktická perspektiva překladatele (Kristina Kallert)
  • Arthur Koestler’s multilingualism: biography and authorship / O vícejazyčnosti Arthura Koestlera: život a autorství (Zénó Vernyik)
  • Die Sprache Kanaans. Kulturelle Mehrsprachigkeit und die Übersetzung traditionell‐religiöser Sprache / Kanonický jazyk. Kulturní vícejazyčnost a potřeba inovace překladu tradičního jazyka náboženství pro současnost (Christian Schwarke)
  • Verzeichnis der an diesem Band beteiligten Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

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Tilo Weber / Hynek Böhm

Zur Einleitung: Internationale Wissenskommunikation – warum ein Gespräch über Mehrsprachigkeit mehrsprachig geführt werden muss

Abstract: This introduction lays out the main premises that underlie the papers assembled in this volume. It is argued that international discourse on multilingualism, be it in the form of written papers and monographs or by way of oral face to face interactions, should be conducted multilingually. Sociological and epistemological arguments are proposed to support this position in spite of the considerable practical consequences that follow from it. This paper ends by giving a concise overview of the volume and its four sections.

Keywords: knowledge communication, border areas, multilingualism, linguistic market, epistemology

Schlüsselwörter: Wissenskommunikation, Mehrsprachigkeit, Grenzräume, sprachlicher Markt, Epistemologie

Die Herausgabe eines Sammelbands wie der vorliegende rechtfertigt sich dadurch, dass die einzelnen Beiträge ein übergeordnetes Thema aus unterschiedlichen Perspektiven erhellen, dabei nach spezifischen Einzelfragen und Perspektiven gruppiert und zu anderen in Beziehung gesetzt werden. In diesen so konstruierten Zusammenhängen können sie mehr aussagen als in der Form isolierter Einzelpublikationen, z.B. in Fachzeitschriften. Im gegenwärtigen Fall handelt es sich um Texte, die aus Beiträgen einer Tagung zum Thema Wissenskommunikation unter Bedingungen von Mehrsprachigkeit hervorgegangen sind. Der Fokus auf die Wissenskommunikation ergibt sich aus dem größeren Rahmen, in den sich die Tagung einordnet und der durch eine Reihe von aufeinander aufbauenden Kolloquien zur Transferwissenschaft und entsprechenden Publikationen definiert ist (vgl. zuletzt Pelikan/Roelcke 2020; Ballod 2020). Wissenskommunikation lässt sich – typischerweise, denn die Grenzen sind keineswegs scharf gezogen – etwa von Alltagskommunikation als eine Form der sozialen Interaktion unterscheiden, bei der es den Beteiligten ausdrücklich und vor allem um die Vermittlung, den Austausch, die gemeinsame Konstruktion von Wissen geht.←11 | 12→

Wissenskommunikation in Forschung, Lehre und in vielen Bereichen von Kultur, Ökonomie und Politik ist heute mehr denn je global, d.h. international und in vielerlei Hinsichten grenzüberschreitend. Dass es sich bei der Feststellung dieser Tatsache um einen Allgemeinplatz handelt, bedeutet nicht, dass die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, trivial wären oder man sich bei der Organisation effizienter Verständigung unter diesen Bedingungen auf die Reproduktion bewährter Routinen beschränken könnte. Eine Schwierigkeit ergibt sich vor allem daraus, dass Kommunikation über Grenzen von Kulturräumen hinweg immer auch mehrsprachige Kommunikation ist. Für die Beteiligten bedeuten dies unter anderem, dass sie sich, sei es mittels expliziter Aushandlung oder aufgrund einer stillschweigend akzeptierten Übereinkunft, darauf einigen müssen, „in“ welcher Sprache bzw. „in“ welchen Sprachen sie miteinander umgehen.

Mehrsprachigkeit in der Form von Verschiedensprachlichkeit macht die gemeinsame Arbeit an Lösungen für praktische Probleme komplex und aufwendig. Einfacher, so ist man geneigt zu sagen, wäre eine Zusammenarbeit in den meisten Fällen, wenn alle Beteiligten dieselbe Sprache sprächen. Wer jemals grenzüberschreitende Projekte koordinierte oder auch nur daran teilnahm, hat dies oder Ähnliches wohl erfahren. In Konstellationen, in denen die Projektteilnehmer/innen unterschiedliche Mutter- bzw. Erstsprachen sprechen und nicht über eine von allen auf etwa gleichem Niveau geteilte Verkehrssprache verfügen, geht die notwendige sprachliche Vermittlung einher mit einem mehr oder weniger großen, vom eigentlichen Projektanliegen wegführenden organisatorischen Aufwand. Diese negative Bewertung von Verschiedensprachigkeit scheint einer von vielen geteilten Alltagserfahrung zu entsprechen, wenn es etwa um die Verständigung innerhalb der Europäischen Union oder um die Integration von Migrantinnen und Migranten in aufnehmende Gesellschaften weltweit geht. Sie reicht weit zurück und findet sich bereits im biblischen Mythos (Genesis 11, 1–9), in dem von Vielsprachigkeit als Sprachverwirrung und Strafe Gottes für menschliche Hybris berichtet wird, die die Realisierung eines gemeinsamen Projekts unmöglich macht.

Aber ist der Fall so klar? Wenn man davon ausgeht oder es zumindest für möglich hält, dass Mehrsprachigkeit unter bestimmten Umständen einen anders nicht zu erzielenden Mehrwert, einen positiven Beitrag zur Lösung praktischer Aufgaben oder zur gemeinsamen Generierung von Wissen leisten kann, dann wäre es irrational, dieses Potenzial, diese Möglichkeit nicht näher zu erforschen und, wenn die entsprechenden Bedingungen erfüllt sind, möglichst auszuschöpfen. Und sollten dabei Gesprächspartner/innen aus unterschiedlichen Sprachräumen zusammenkommen, muss dieses Gespräch über Mehrsprachigkeit auch ←12 | 13→selbst mehrsprachig sein, wenn man nicht von Beginn an auf den potenziellen Mehrwert der Mehrsprachigkeit verzichten möchte.

Ein internationales Gespräch über Mehrsprachigkeit muss also selbst mehrsprachig sein, trotz der damit einhergehenden praktischen Schwierigkeiten und dem Aufwand, der zu deren Überwindung betrieben werden muss (vgl. Weber 2018). Über diese noch sehr allgemeinen und intuitiven Überlegungen hinaus, sprechen zwei theoretisch fundierte Argumente für ein Lob der Mehrsprachigkeit. Das eine ist soziologischer Art und bezieht sich gerade auch in Europa auf Erfahrungen von Marginalisierung und Ausschluss von Diskursen, die vor allem Sprecherinnen und Sprecher so genannter „kleiner“ Sprachen machen. Das andere, epistemologische, zielt darauf ab zu zeigen, dass mehrsprachig geführte Diskurse eben aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit das Potenzial haben, Gegenstände und Fragestellungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu erhellen, auf diese Weise ein vielseitiges und mehrdimensionales Gesamtbild zu erschaffen sowie neue Einsichten zu fördern, die einer einsprachigen Diskursgemeinschaft verschlossen bleiben müssen.

Das soziologische Argument: In interkulturellen Umgebungen hat die Verwendung einer bestimmten Sprache oder Varietät zum einen immer auch einen symbolischen Wert, etwa indem ihr als Arbeitssprache schon dadurch, dass sie als solche gewählt wird, ein gewisses Prestige zukommt und anderen eben nicht. Zum anderen hat dies Auswirkungen auf die Chancen der Beteiligten zur Teilnahme an der Kommunikation, mit anderen Worten: auf Machtstrukturen. Denn wenn die Arbeitssprache eine der Varietäten meiner Muttersprache ist, dann bin ich in der Regel und vor allem, wenn gestritten wird, hinsichtlich meiner Ausdrucksfähigkeit, der Schnelligkeit, mit der ich Argumente, Vorschläge, Einwände, Fragen versprachlichen und in ein Gespräch einbringen kann, gegenüber all jenen im Vorteil, für die das nicht gilt. Was hier nur angedeutet werden kann, hat Pierre Bourdieu mithilfe einer komplexen Metapher als Mechanismen eines sprachlichen Markts analysiert (vgl. die Beiträge in 2017a, bes. 2017b [1984]), dessen Akteure in unterschiedlichem Maße über soziales und besonders über sprachliches Kapitel (Bourdieu 1983) verfügen und dieses zur Realisierung ihrer Interessen investieren, verlieren oder mehren.

Diese Auffassung von Sprache und von Sprachenwahl ist im Hinblick auf eine Veranstaltung, die – wie diejenige, aus der dieser Band hervorgegangen ist – Menschen aus den deutschen und den tschechischen Sprachräumen zusammenbringt, noch einmal von besonderer Relevanz. In dem historisch geprägten bilateralen Verhältnis nämlich, das zwischen ihnen besteht, werden die westlichen Partner nicht selten von beiden Parteien als die politisch, ökonomisch, kulturell Mächtigeren, Einflussreicheren, Überlegenen wahrgenommen. So spricht ←13 | 14→„man“ meist Deutsch, wenn Tschech/inn/en und Deutsche zusammenkommen. Von letzteren wird das als Routine und Selbstverständlichkeit praktiziert, so wie sie mit Brit/inn/en selbstverständlich Englisch sprechen, während erstere dies als gegeben, aber durchaus nicht „natürlich“ hinnehmen und vor allem auch dann als problematisch erleben, wenn hinsichtlich der Angelegenheit, um die es gerade geht, kein Konsens besteht.

Der Veranstaltung wissenschaftlicher Tagungen in der Tradition des europäischen Rationalismus liegt das Ideal des freien Austauschs und der gleichberechtigten Diskussion unterschiedlicher Standpunkte zugrunde. Argumente sollen sich aufgrund ihrer Plausibilität und Evidenz durchsetzen, nicht durch die überlegene Rhetorik, mit der sie vorgetragen werden. Auf einem freien, unregulierten Bourdieu’schen sprachlichen Markt deutsch-tschechischer Kommunikation, auf dem meist Deutsch gesprochen wird, sind die Beteiligungsressourcen jedoch nicht gleich verteilt. (Es ist ein wenig so, als ob man die Frage, ob die weltbeste Schachspielerin oder die weltbeste Damespielerin der je anderen überlegen sei, klären wollte, indem man die beiden eine Partie Schach (oder Dame) gegeneinander austragen ließe.) Sicher gilt, dass Deutsche, Österreicher/innen und Schweizer/innen kaum je Tschechisch, Tschech/inn/en hingegen häufig hervorragend Deutsch sprechen. Dies ist aber nicht nur Folge und Ausdruck einer historisch gewachsenen sozialen und kulturellen Asymmetrie, sondern gleichzeitig auch ein Faktor, der dieses Ungleichgewicht aus der Vergangenheit in die Zukunft verlängert. Wer diese Situation also in dem wünschenswerten Sinne der Herstellung gleicher Beteiligungschancen ändern möchte, muss den sprachlichen Markt durch konkrete Eingriffe regulieren, etwa indem man verbindliche organisatorische Festlegungen (z.B. hinsichtlich der Arbeitssprachen und Interaktionsformen) trifft und geeignete Ressourcen (z.B. technische oder personale Dolmetsch- und Übersetzungsdienstleistungen) zur Verfügung stellt.

Das epistemologische Argument: Wenn, wie oben dargelegt, die Verwendung einer Lingua franca in kulturell heterogenen Diskursgemeinschaften dazu führt, dass bestimmte, potenziell relevante Überlegungen, Ideen, Argumente, Rückfragen und Vorschläge überhaupt gar nicht erst zu Wort kommen, dann hat das nicht nur soziale Konsequenzen für diejenigen, die sie unter anderen Umständen vorgetragen hätten, was sich kurzfristig in Form geringerer Sicht- und Hörbarkeit und langfristig in verminderten Karrierechancen auswirken kann. Folgen hat dies jedoch auch für die wissenschaftliche Debatte selbst, für ihre Qualität und Ergebnisse. Wesentliches bleibt dann möglicherweise ungesagt. Dass Mehrsprachigkeit selbst da zu einem Erkenntnisgewinn oder zumindest zu einer umfassenderen Sicht auf einen Gegenstand führen kann, wo alle Beteiligten sich in dem Bewusstsein auf eine Verkehrssprache geeinigt haben, diese für ←14 | 15→die Zwecke des Gesprächs hinreichend zu beherrschen, lässt sich anhand von zwei Beispielen zumindest andeuten.

Im Jahr 1996 erregte die These des US-Politologen Samuel P. Huntington vom clash of civilizations (1996) weltweit Aufsehen; das Werk das diese Formulierung im Titel trug, wurde in viele Sprache übersetzt. Nach dem von Huntingtons Landsmann Francis Fukuyama (1992) – wohl etwas voreilig – konstatierten „Ende der Geschichte“ und der damit verbundenen Neutralisierung des Ost-West-Gegensatzes, sah Huntington die neuen Konfrontationslinien zwischen anderen Akteuren, dem Westen, der islamischen Welt, China und einigen weiteren. Für eine kritische Würdigung dieser These ist es unerlässlich zu verstehen, was Huntington und andere mit clash, vor aber allem mit civilization meinten. Dass sich seine eingängige Formulierung nicht ohne weiteres in andere Sprachen übertragen lässt, zeigt allein schon die Übersetzung des Titels ins Deutsche: Kampf der Kulturen (1996b). Es ist mehr als zweifelhaft, ob Kulturen im Kontext dieser Debatte tatsächlich dem englischen civilization entspricht, ob die Assoziationen, die mit den unterschiedlichen Formulierungen in den unterschiedlichen Diskussionszusammenhängen geweckt werden (vgl. z.B. Kampf ums Dasein, was auf die deutsche Übersetzung von Charles Darwins Formulierung struggle for life and existence verweist, sich im umgangssprachlichen Gebrauch mittlerweile aber davon gelöst hat) tatsächlich identisch sind. Es macht offenbar einen nicht ohne weiteres zu vermessenden Unterschied, ob man im Englischen vom clash of civilizations oder im Deutschen vom Kampf der Kulturen spricht. Für die Diskurse um civilizations/Kulturen, der gegenwärtig global, aber auch in einzelnen Gesellschaften so emotional aufgeladen wie politisch folgenreich geführt werden, ist jedoch entscheidend ist, dass der Versuch unternommen wird, die Implikationen beider Formulierungen und der damit verbundenen Auffassungen zu explizieren und einander gegenüberzustellen.1

Ebenso deutlich wird das hier Gemeinte im Zusammenhang der jüngeren Debatten um die Begriffe race in der englischsprachigen Welt und Rasse im deutschen Sprachraum. In letzterem Fall werden die mit dem Ausdruck Rasse verbundenen Konzepte in einem Zusammenhang mit biologistischem Rassismus und mit der nationalsozialistischen Rassenlehre gesehen. Die Verwendung ←15 | 16→des Ausdrucks Rasse zur Bezeichnung sozialer oder gar biologischer Humankategorien wird daher mit Argumenten abgelehnt, wie sie etwa die Ausstellung Rassismus. Die Erfindung von Menschenrassen (Wernsing/Geulen/Vogel 2018) vorträgt, um den fiktionalen und sozial konstruierten Charakter dieser Kategorie herausarbeiten. In diesem Zusammenhang wurden zuletzt u.a. von der deutschen Bundesjustizministerin Forderungen erhoben, den Ausdruck Rasse in Artikel 3, Absatz 3 des deutschen Grundgesetzes2 durch andere Formulierungen zu ersetzen. Demgegenüber wird race in englischsprachigen Diskursen und besonders im Kontext unterschiedlicher Spielarten der so genannten Critical Race Theory (vgl. Delgado/Stefancic 2017) gerade auch von Autorinnen und Autoren, die sich selbst politisch eher links verorten, in einem Sinn verwendet, der sich von den naturalistischen Implikationen des Worts Rasse deutlich unterscheidet, im Deutschen jedoch nicht ohne weiteres ausdrückbar zu sein scheint. Kristina Lepold und Martina Martinez Mateo entscheiden sich im einleitenden Beitrag zu der von ihnen herausgegebenen Ausgabe der Deutschen Zeitschrift für Philosophie zur Critical Philosophy of Race dafür, in den meisten Zusammenhängen nicht von Rasse, sondern mit dem Fremdwort von race zu sprechen und begründen das wie folgt:

Wir haben uns dazu entschieden, im Rahmen dieses Schwerpunkts den englischsprachigen Begriff „race“ zu verwenden, weil dessen Übersetzung ins Deutsche nicht unproblematisch ist. Während die biologisierenden, essentialistischen und rassistischen Implikationen des deutschen Begriffs „Rasse“ deutlich im Vordergrund stehen, verweist der englische Begriff „race“ – jenseits seiner rassistischen Geschichte – auch auf eine eigene Tradition kritischer Aneignungen und sozialkonstruktivistischen Umdeutungen. Den deutschen Begriff „Rasse“ verwenden wir tatsächlich nur an solchen Stellen, an denen wir auf Diskussionen um den biologischen Begriff verweisen. Wie wir zum Ende dieser Einleitung allerdings auch diskutieren werden, enthält auch eine solche Begriffsverwendung unserer Ansicht nach Fallstricke, die nicht aus dem Blick geraten sollten (Lepold/Martinez Mateo 2019: 572).

Hervorzuheben ist jedoch, dass eine solche Sprachregelung das damit angesprochene Problem möglicherweise anzeigt und kenntlich macht. Solange sich jedoch mit dem Fremdwort race im Deutschen über den engeren Fachdiskurs hinaus kein hinreichend klares Konzept verbindet und es damit eindeutig von ←16 | 17→Rasse abgrenzt, ist damit nicht viel gewonnen. Dies gilt vor allem darum, weil im deutschsprachigen Kontext die von den Autorinnen angesprochene, mit race im Englischen verknüpfte „eigene Tradition kritischer Aneignungen und sozialkonstruktivistischen Umdeutungen“ nicht verfügbar ist.

Dies sind, im Kern, die theoretischen Überlegungen, die am Anfang der Planungen der Tagung Wissenskommunikation unter Bedingungen von Mehrsprachigkeit standen. Die Ausgangsbedingungen für dieses 3. Kolloquium Transferwissenschaft (zu den ersten beiden vgl. Pelikan/Roelcke 2000; Ballod 2020), das dann im Jahr 2018 in Liberec stattfand, waren allerdings konkreter und ganz praktischer Natur. Der Tagungsort, das ehemalige Reichenberg, liegt im deutsch-tschechischen3 Grenzgebiet und in einer Region, in der die beiden Sprachgemeinschaften bis 1945 jahrhundertelang miteinander gelebt hatten. Diese geographischen, kulturellen und historischen Faktoren waren mitgemeint, wenn das Generalthema der Kolloquiumsreihe, Wissenskommunikation mittels Sprache, in diesem Fall unter dem Gesichtspunkt von Mehrsprachigkeit in den Blick genommen werden sollte. Dadurch bedingt, kamen im Rahmen der Veranstaltung vor allem Teilnehmer/innen zusammen, deren Erstsprachen Deutsch oder Tschechisch sind. Mehrsprachigkeit wurde somit nicht nur in thematischer Hinsicht immer wieder aus einer tschechisch-deutschen Perspektive betrachtet. Auch bezüglich der Praxis der Vorträge, Gesprächsrunden, öffentlichen Podiumsdiskussionen und Lesungen war über die zu verwendete(n) Sprache(n) zu entscheiden.

Dabei ist zunächst einmal festzustellen, dass es sich hier, wie immer bei internationalen Kooperationen, tatsächlich um eine Entscheidung handelt, die zwischen unterschiedlichen Alternativen zu wählen hatte und die konkrete Folgen für den Verlauf des Folgenden implizierte. Dies kann man von Bourdieus Theorie des sprachlichen Markts lernen. Mit anderen Worten: Es gibt in solchen Fällen keine „natürliche“, sich „von selbst“ anbietende, im Hinblick auf das Thema, die Beteiligten und die geplanten Interaktionsformen „neutrale“ Arbeitssprachen.

So wurde bei der Organisation der Tagung eine möglichst weitgehende Gleichverteilung des „sprachlichen Kapitals“ angestrebt. Dieses Ziel steht in Einklang mit der von epistemologischen Überlegung motivierten Absicht, allen ←17 | 18→Teilnehmenden zu ermöglichen, die eigenen Gedanken, Argumente, Rückfragen und Einwände frei zu verbalisieren und gleichzeitig ein wechselseitiges Verständnis zu gewährleisten. Der Realisierung dieser Idealvorstellungen standen u.a. begrenzte finanzielle, technologische und personelle Ressourcen für Dolmetscher- und Übersetzungsdienste entgegen sowie Abwägungsprozesse hinsichtlich der Frage, ob sich ein finanzieller, vor allem aber auch zeitlicher Aufwand im Hinblick auf die Interaktionsergebnisse lohnen würde. Konkret ergab sich so die Herausforderung, das aus theoretischer Sicht Wünschenswerte mit dem praktisch Realisierbaren zu verbinden, so dass man eventuell auf die Möglichkeit, sich der je eigenen Sprache zu bedienen, verzichten und z.B. Englisch sprechen würde, wenn man auf diese Weise den Dialog, den spontanen, direkten Austausch von Positionen nicht durch eingeschobene Konsekutivübersetzungen unterbrechen müsste.

Details

Seiten
348
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631874066
ISBN (ePUB)
9783631874073
ISBN (Hardcover)
9783631795446
DOI
10.3726/b19457
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Juli)
Schlagworte
Interkulturalität Grenzregionen Deutsch-tschechische Kooperation Nachbarsprachen Transdisziplinarität Übersetzung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 348 S., 13 farb. Abb., 1 s/w Abb., 15 Tab.

Biographische Angaben

Tilo Weber (Band-Herausgeber:in) Hynek Böhm (Band-Herausgeber:in)

Hynek Böhm ist Associate Professor (Docent) für Politische Geografie an der Technischen Universität Liberec sowie für Politische Wissenschaften an der Universität Oppeln/Opole. Seine Hauptinteressen liegen in den Bereichen grenzüberschreitender Zusammenarbeit und Europäischer Integration. Tilo Weber ist Associate Professor (Docent) für Deutsche Sprache an der an der Technischen Universität Liberec und apl. Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Hauptinteressen liegen in den Bereichen kognitive Grammatik, linguistische Pragmatik und Gesprächsanalyse sowie interkulturelle Kommunikation und Mehrsprachigkeitsforschung.

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Titel: Wissenskommunikation unter Bedingungen von Mehrsprachigkeit
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