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Normen und Praktiken des fremdsprachlichen Klassenzimmers

Der Alltag des Französisch- und Spanischunterrichts im Kontext von Bildungsreformen und gesellschaftlichem Wandel

von Bernd Tesch (Autor:in) Matthias Grein (Autor:in)
©2023 Andere 442 Seiten

Zusammenfassung

Die Rekonstruktion von Normen und Alltagspraktiken im Unterricht der romanischen Sprachen bildete bisher weitgehend ein Forschungsdesiderat. Der Band stellt die Ergebnisse eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts vor. Dieses greift normativ-programmatische Bezüge in der Didaktik der romanischen Sprachen auf und kontrastiert sie in einem empirisch-rekonstruktiven Vorgehen mit den tatsächlich im Unterrichtsalltag beobachtbaren unterrichtlichen Praktiken. Die via Unterrichtsvideographie und -audiographie rekonstruierten Fälle werden mit Blick auf die Logiken der Praxis bzw. des alltäglichen Französisch- und Spanischunterrichts typisiert. Der Unterrichtsalltag der romanischen Sprachen wird damit erstmals in einer größeren Studie in vier Bundesländern und an neun Schulstandorten zum Thema gemacht. Neben den drei ermittelten Typiken beziehen sich weitere relevante Ergebnisse auf die im Projekttitel enthaltenen Kontextuierungen, auf die Materialität des fremdsprachlichen Klassenzimmers (Körper, Dinge, Zeit und Räume) sowie auf die Forschungsmethodik der Verwendung einer Körperkamera.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • 0 Einleitung
  • Fokus Unterrichtsalltag
  • Alltag im Schulunterricht
  • Alltag und Sampling
  • Alltag, gesellschaftlicher Wandel und Innovation
  • Alltag im Fremdsprachenunterricht: rekonstruktiv-dokumentarische Studien
  • Alltag als Forschungsgegenstand und Forschungsfrage
  • Theoretische Grundlagen der Studie
  • Praxeologische Wissenssoziologie
  • Praxeologische Wissenssoziologie, Dokumentarische Methode und Norm-Praxis-Verhältnisse
  • Exkurs: Heterogenität und Humandifferenzierung in Daten und Darstellung
  • Unterrichtstheorien und Rekonstruktion von Unterricht
  • Normen und Ordnungen
  • Rekonstruktion von Unterricht
  • Wissenssoziologie, Systemtheorie und Wissenserwerb
  • Pädagogizität
  • Konzeptionelle und empirische Annäherungen an Fachlichkeit
  • Konzeptionierungen von Fachlichkeit des Fremdsprachenunterrichts
  • Fachlichkeit auf normativ-fachdidaktischer Ebene
  • Fachlichkeit als ‚Sache‘ des Unterrichts und als Forschungsgegenstand
  • Das didaktische Dreieck
  • Der Innenblick und der Außenblick auf die ‚Sache‘ des Unterrichts: emisch versus etisch?
  • Terminologische Ambiguitäten
  • Der Zugang zur Materialität im Fremdsprachenunterricht
  • Theoretische Verortung von Körper, Raum und Dingen im Sozialen
  • Konzepte und Begriffe der Analyse von Materialität
  • Die Materialität der Forschung
  • Empirische Studie: Normen und Praktiken im Unterricht der romanischen Sprachen
  • Fachdidaktische Synopse des beobachteten Unterrichts und Sampling
  • Fachdidaktische Beschreibung des Samplings
  • Sozialwissenschaftliche Beschreibung des Samplings
  • Fallbegriff
  • Typenbildung
  • Typenbildung als Interpretation und als Prozess
  • Typik A: Umgang mit der Zielsprache als Unterrichtssprache
  • Typik B: Konstituierende Rahmung durch Leistung, Bewertung, Prüfung
  • Typik C: Die Herstellung der ‚Sache‘ des Fremdsprachenunterrichts
  • Fallanalysen
  • Typik A: Umgang mit der Norm der funktionalen Einsprachigkeit
  • Typus A1: Orientierung an der didaktischen Norm der funktionalen Einsprachigkeit
  • Typus A2: Orientierung an Beziehung und Erziehung
  • Interaktion überwiegend ohne Lehrperson
  • Typus A3: Orientierung an Passung zur (Norm-)Erwartung
  • Typus A4: Orientierung an Auseinandersetzung mit der (Norm-)Erwartung
  • Typus A5: Orientierung an Ignorieren der (Norm-)Erwartung
  • Typik B: Konstituierende Rahmung durch Leistung
  • Typus B1: Orientierung am zeitweiligen Abblenden der Leistungslogik
  • Typus B2: Orientierung am ‚Durchziehen‘ eines Programms
  • Typus B3: Orientierung am sachbezogenen Können
  • Typus B4: Orientierung an Prüfungsvorbereitung als Selbstzweck
  • Typik C: Die Herstellung der ‚Sache‘ des Unterrichts
  • Interaktion mit der Lehrperson
  • Typus C1: Orientierung an öffnenden Arbeitsaufträgen und öffnendem Feedback: Selbstständige Herstellung eines Schreibprozesses bzw. eines Textprodukts
  • Typus C2: Orientierung an öffnenden Arbeitsaufträgen und schließendem Feedback: Gelenkte Herstellung politischer, kultureller und ästhetischer Themenbearbeitung
  • Typus C3: Orientierung an öffnendem Feedback bei ambivalenten Arbeitsaufträgen: Gelenkte Herstellung von Sprech- und Schreibprodukten
  • Typus C4: Orientierung an schließenden Arbeitsaufträgen und öffnendem Feedback: kokonstruktive Erarbeitung von performativem Anwendungswissen und von theoretischem Wissen über Sprache
  • Typus C5: Orientierung an schließenden Arbeitsaufträgen und schließendem Feedback: direktive Erarbeitung von performativem Anwendungswissen und von theoretischem Wissen über Sprache
  • Typus C6: Orientierung an schließenden Arbeitsaufträgen und schließendem Feedback: gelenktes Rollenspiel
  • Interaktion überwiegend ohne die Lehrperson
  • Typus C7: Orientierung an Passung zur fachlichen (Norm-)Erwartung
  • Typus C8: Orientierung an Ignorieren der fachlichen (Norm-)Erwartung
  • Postpandemische Befunde
  • Spurensuche
  • Diskussion
  • Bildungsreform und fremdsprachendidaktische Konzepte im Spiegel des Unterrichtsalltags
  • Funktionale kommunikative Kompetenz
  • Interkulturelle kommunikative Kompetenz
  • Text- und Medienkompetenz
  • Sprachbewusstheit
  • Sprachlernkompetenz
  • Lernaufgaben
  • Heterogenität und Inklusion
  • Gesellschaftlicher Wandel im Spiegel des Unterrichtsalltags
  • Umwelt
  • Migration
  • Gewalt und Diskriminierung
  • Digitalisierung
  • Unterrichtsalltag post-Corona
  • Fazit und Ausblick
  • Fazit der Typenbildung
  • Institutionelle und organisationale Strukturen des Unterrichts der romanischen Sprachen im Spiegel des Unterrichtsalltags
  • Des Kaisers neue Kleider: fachdidaktische Normen im Spiegel des Unterrichtsalltags
  • Unterrichtsalltag und Pandemie
  • Zur Theoretisierung des alltäglichen Französisch- und Spanischunterrichts
  • Ausblick
  • 6  Bibliographie
  • Anhang

Vorwort

2019 bekam unser Projektantrag „Normen und Praktiken des fremdsprachlichen Klassenzimmers. Der Unterricht der romanischen Sprachen im Kontext von Bildungsreformen und gesellschaftlichen Wandel“1 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft den Förderzuschlag. Zuvor hatte das deutsche Bildungswesen bereits fast zwei Jahrzehnte lang im Fokus einer Krisenerfahrung gestanden: Die Erfahrung der Insuffizienz im internationalen Leistungsvergleich (PISA-Schock) und die Erfahrung tiefgreifender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, insbesondere mit Blick auf Migration, Umwelt und Digitalisierung, die sich auch im Bildungswesen niederschlagen mussten. Dass sich die Krisenerfahrung mit dem neuen Jahrzehnt noch einmal massiv beschleunigen würde (Pandemie, Krieg, Inflation, Energie), war 2019 noch nicht absehbar. Dennoch war die Wahrnehmung von Krise und Wandel bereits 2019 omnipräsent und unser Forschungsinteresse daher auf die Frage gerichtet, welche (didaktischen, institutionellen, gesellschaftlichen) Normen sich vor diesem Hintergrund in einer größeren Gelegenheitsstichprobe des Französisch- und Spanischunterrichts nachweisen ließen, einem Fachunterricht, der bis dahin empirisch kaum erforscht worden war. Die Ergebnisse unserer Forschung stellen wir in dieser Projektmonographie vor.

Dieses Vorwort dient dem Ziel, den Projektverlauf transparenter und nachvollziehbarer zu machen. Dafür unterscheiden wir zwischen der linearen Chronologie der Studie und dem Prozess, den wir eher mit den Metaphern von Schlaufen und Zirkeln beschreiben, also als rekursiv, iterativ und zirkulär hermeneutisch. Für eine Chronologie kann man den Vorlauf der Studie mit Bezug auf eine Vorstudie im Jahr 2017 von Bernd Tesch, die erste Antragstellung 2018 in Kassel und die überarbeitete Antragstellung 2019 der Autoren beschreiben. Den Vorlauf der Studie könnte man als Datenerhebungen durch Lisa Ströbel und Damian Vernaci sowie die Mittelbewilligung durch die DFG und die Einstellung von Matthias Grein skizzieren (2019). 2020 erfolgten weitere Erhebungen vor den Lockdowns und dann die Arbeit am empirischen Projekt. 2022 wurden Erhebungen „Post-Corona“ durchgeführt, unter anderem von Philipp Marzusch und eine Projektverlängerung wurde beantragt und bewilligt.

Der Prozess ist dagegen wesentlich unklarer zu begrenzen und eher als Umgang mit Kontingenz (vgl. Vogd 2010, 108 f.) zu beschreiben: Zum Beispiel ist die Entscheidung für die Dokumentarische Methode (DM, passim) nicht im Rahmen der Erarbeitung des Antrags gefallen, sondern war gewissermaßen ein eher unausgesprochener Grundpfeiler des Projekts, da sie zum einen unserem Interesse an Alltagspraktiken entsprach und wir zum anderen jeweils damit bereits gearbeitet hatten. Die Entscheidung für die Körperkamera als Teil der Datenerhebung erfolgte aufgrund der Erfahrungen der Pilotstudie (Tesch 2018; vgl. dazu Grein & Tesch 2021), letztlich wäre aber auch ein anderes Format wie eine dritte, von Hand geführte Kamera denkbar gewesen (vgl. Wagner-Willi 2021).

Die Datenerhebung, Auswahl der Schulen und Lehrpersonen, damit verbunden der Stunden, Themen und Methoden etc. wurde auch vom beforschen Feld beeinflusst – wo wir forschen durften und wo nicht. Das Ziel war ein breites und kontrastreiches Sample. Ursprünglich war dies auf Klasse 9 und 10 fokussiert, aber durch die Möglichkeit, an einem Oberstufengymnasium Daten zu erheben, kam die Oberstufe dazu, die in der Pilotstudie auch berücksichtigt wurde. Auch wenn das Sample sehr kontrastreich und somit aussagekräftig ist sowie im Sinne der Typenbildung Generalisierung ermöglicht, war nie intendiert, dass es sich um ein rein gymnasiales Sample handelt. Die Corona-Pandemie stellte für uns wie wohl für alle die größtmögliche Kontingenz dar. Dementsprechend war es pures Glück, dass wir eine Woche vor dem ersten Lockdown die Datenerhebung abgeschlossen hatten – und ebenfalls ein großes Glück, wofür wir sehr dankbar sind – dass wir 2022 u.a. bei drei Lehrpersonen aus den ersten Erhebungen noch einmal den Unterricht videographieren durften.

Die für uns extrem einflussreiche Monographie von Bohnsack (2017) erschien, kurz bevor wir mit der Arbeit am Antrag begonnen haben. Die Arbeiten von Asbrand und Martens (2018) und von Baltruschat (2018), deren Bedeutung für den Antrag und unsere Arbeit man ebenfalls nicht überschätzen kann, erschienen während der Arbeit am Antrag. Diese drei Texte haben wir (ebenso wie andere) im Laufe des Projekts auch immer wieder gelesen, diskutiert und dann neu und anders gelesen. Simplifizierend, aber nicht unbedingt fälschlich könnte man argumentieren, dass diese drei Monographien jeweils für eine unserer Typiken Pate standen: Bohnsack hat 2017 erstmals die konstituierende Rahmung bzw. Erstcodierung vorgestellt, die für Typik B zentral ist; Baltruschats Argumentation zur Gegenstandskonstitution durch Forschende und Beforschte waren wegweisend für Typik C; die unterrichtstheoretischen Überlegungen von Asbrand und Martens waren nicht nur methodisch sehr relevant, sondern haben die Fachlichkeit auch immer betont und zusammen mit der fremdsprachendidaktischen Vorarbeiten von Tesch (2010, 2016, 2019) gewissermaßen Typik A ermöglicht (vgl. auch Martens et al. 2022).

Es gibt verschiedene Facetten, die wir in diesem Buch nicht berücksichtigen konnten, obwohl wir sie gerne aufgegriffen hätten. Zeit, Umfang des Bandes und auch – bei aller thematischen Breite – ein Fokus auf das möglichst strenge bottom-up-Vorgehen haben dies nicht ermöglicht. Zu diesen Facetten, die wir zukünftig durchaus noch aufgreifen wollen, zählen unter anderem:

Ein deutlicherer Vergleich mit anderen fachdidaktischen Studien zum Alltag (z.B. Henkenborg & Kuhn 1999; Krummheuer & Fetzer 2004) erscheint vielversprechend, um den Alltag von Fachunterricht deutlicher konturieren und abstrahieren zu können. Eine weitergehende Theoretisierung des Verständnisses von Alltag, zum Beispiel in Anlehnung an de Certeau (vgl. Santello 2022, Winter 2007), wäre perspektivisch ebenfalls bereichernd.

Der Einbezug kleinerer romanischer Sprachen, insbesondere Italienisch und Portugiesisch, könnte sich ebenso als ertragreich erweisen wie der Vergleich mit Latein und Englisch, aber auch anderen Fremdsprachen. Auf diese Weise ließe sich diskutieren, inwiefern linguistische Verwandtschaft und schulstrukturell ähnliche Funktionen, z.B. als zweite Schulfremdsprache, ähnliche oder klar unterschiedliche Praktiken mit sich bringen. Auch die Frage nach Fachkulturen ließe sich so voranbringen.

Schließlich haben wir auch den großen Themenkomplex von Lernen, Bildung und Aneignung nur punktuell angeschnitten (2.3), obwohl wir in unserem Sample erhebliches Potential dafür sehen. Aus den oben genannten Gründen und weil wir die Logiken des Alltags in den Vordergrund der Untersuchung gestellt haben, müsste sich eine derartige Fokussierung allerdings gewissermaßen an die hier präsentierte Studie anschließen. So könnte beispielsweise eine erneute bzw. Sekundäranalyse aufzeigen, wie das Verhältnis der hier rekonstruierten Logiken und Ordnungen zu Praktiken des Lernens, der Bildung und der Aneignung zu verstehen ist. In diesem Rahmen könnte auch der Einbezug von Materialität fokussierter betrachtet werden, insbesondere in ihren Affordanzen für Lernen, Bildung und Aneignung.

Ein Hinweis zur Lektüre: die Arbeit umfasst sowohl methodologische wie auch empirisch umfangreiche Teile; beide stellen für uns gleichermaßen eine Notwendigkeit wie auch einen Ertrag der Arbeit dar. Die Beschreibung der Typologie in 3.3 bedeutet die verdichtete Darstellung der empirischen Ergebnisse, da sie eine Theoretisierung beinhaltet: Erstens stellen die Typiken drei zentrale Achsen der Beschreibung von Fremdsprachenunterricht der Fächer Spanisch und Französisch dar, zweitens bilden sie die abstrahierten empirischen Ausprägungen auf diesen Achsen ab. Was wir damit sagen, ist: Auf diese Weise können wir jede Sequenz von ca. 100 Unterrichtsstunden aus neun Schulen in vier Bundesländern beschreiben, d.h. in diesen drei Vergleichsdimensionen und deren jeweiligen Ausprägungen. Dies bedeutet nicht, dass es nicht auch andere relevante Vergleichsdimensionen oder andere Typen, also Ausprägungen gibt – unser Sample lässt sich auf diese Weise jedoch am besten abstrahieren. Weitere empirische Studien, die unsere Arbeit ergänzen, erweitern oder falsifizieren, sind sehr willkommen.

Es ist zwar wünschenswert, das Buch linear und in Gänze zu lesen, bei spezifischer Interessenlage – z.B. an methodischen Fragen der Unterrichtsforschung – können allerdings auch einzelne Kapitel fokussiert werden. Diejenigen Leserinnen und Leser, die sich spezifisch für Anschlüsse an die fremdsprachendidaktische Theoriebildung interessieren, finden diese überall im Buch, insbesondere aber in Kapitel 4 und verdichtet in Kapitel 5.

Wir danken allen beteiligten Lehrkräften und allen Schülerinnen und Schülern (SuS), die bereit waren, ihren Unterricht von uns filmen zu lassen. Auch wenn die vollständige Anonymisierung und Pseudonymisierung aller Daten zugesagt und natürlich auch umgesetzt wurde, so ist es dennoch alles andere als eine Selbstverständlichkeit, Forschende mit Kameras und Diktiergeräten ins Klassenzimmer zu lassen.

Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die großzügige Sachmittelförderung des Projekts. Wir danken der Special Interest Group Rekonstruktive fachdidaktische Unterrichtsforschung der Tübingen School of Education, dem Kolloquium Bildungsgangforschung, dem Hamburger Kolloquium Fremdsprachendidaktik und dem Göttinger Kolloquium Didaktik der romanischen Sprachen für ihr Feedback sowie allen Teammitgliedern (Teresa Blessing, Lea Brandt, Prof. Dr. Claudia Grümpel, Lisa Ströbel, Philipp Marzusch, Damian Vernaci) für ihre intensiven Forschungsbeiträge.

Tübingen, 2023


1 Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 427834126

0  Einleitung

Mitte 2019 startete unsere Datenerhebungen im – von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten – Projekt „Normen und Praktiken des fremdsprachlichen Klassenzimmers. Eine rekonstruktive Studie zum Unterricht romanischer Sprachen im Kontext von Bildungsreformen und gesellschaftlichem Wandel“. Die Ausgangslage war ein empirisches Forschungsdesiderat im Bereich des schulischen Fremdsprachenunterrichts (FSU), das sich im Projekttitel spiegelt und das insofern überrascht, als es eine unausgesprochene Erwartung an Fachdidaktik gibt, didaktische Konzepte aus einer präzisen, empirisch fundierten Analyse des Unterrichtsalltags heraus zu entwickeln. Häufig werden Konzepte jedoch allein mit Bezug auf fachliche Gegenstände entwickelt und der Unterrichtsalltag dabei nicht zum Gegenstand gemacht. Die alltäglichen Selektions- und Transformationsprozesse, denen die fachlichen Gegenstände unterworfen werden, bleiben in diesem Fall unbeachtet und der Alltag wird als – bezogen auf fachlich-fachdidaktische Normen – notorisch defizitär wahrgenommen.2

Diese Beobachtung gilt für den Englischunterricht weniger als für den Unterricht der romanischen Schulfremdsprachen, und sie gilt für spezifische Fragen und Interventionen, die untersucht werden, weniger als für den Alltag. Daher wählten wir den Alltag der beiden verbreitetsten romanischen Schulfremdsprachen, Spanisch und Französisch, als Fokus unserer Studie. Unser Forschungsprojekt fragt nach dem Alltag des Fremdsprachenunterrichts dieser beiden Sprachen. Die Fragestellung spitzen wir zu, indem wir weiter danach suchen, welche gesellschaftlichen, pädagogischen und fachdidaktischen Normen sich in diesem alltäglichen Unterricht finden lassen und inwiefern und auf welche Weise sie von den beteiligten Schüler*innen und Lehrpersonen aufgegriffen, bearbeitet oder auch abgewehrt werden.

Alltag ist ebenso wie Unterricht und auch Fachunterricht nur scheinbar ein trivialer Begriff und muss als solcher geklärt werden, damit wir nicht die eigenen Vorannahmen reproduzieren, die wir als fachdidaktisch Forschende mitbringen, zumal wir in unserer Biographie auch selbst unterrichtet haben. Auch der Begriff der Norm ist klärungsbedürftig sowie die Art und Weise, wie sich das Verhältnis der gesellschaftlichen, pädagogischen und fachdidaktischen Forderungen zu den Routinen und Eigenlogiken des jeweiligen Französisch- und Spanischunterrichts theoretisch verstehen und empirisch rekonstruieren lässt.

Unsere Fragestellung bezieht sich erstens auf den Alltag des Französisch- und Spanischunterrichts (Was ist Alltag?) und zweitens auf rekonstruierbare Norm-Praxis-Verhältnisse im Alltag des Französisch- und Spanischunterrichts (Welchen Normen und Praktiken lassen sich rekonstruieren?). Weiter fragen wir: Wie lässt sich dieser Alltag beschreiben? Wir rekonstruieren Ordnungen, die wir gemäß der Norm-Praxis-Verhältnisse beschreiben. Diese Ordnungen sind implizit und verweisen auf die Unterschiede, die in formell bzw. administrativ gleichem Unterricht immer zu beobachten sind. Unsere eigenen Normen sind geradezu minimalistisch:

  • • wir glauben nichts und erwarten alles;
  • • wir wollen keine Normen und Forderungen, polemisch: didaktische „Wunschzettel“ reproduzieren und auch keine phantom normalcy (Goffman 1963, Bohnsack 2017).

Zweitens: Wir haben eigene soziale Standorte, mit denen Normalitätsvorstellungen einhergehen. Die Dokumentarische Methode zielt darauf, diese durch den Fallvergleich zu limitieren; manches ist uns aber so normal geworden, dass wir uns kaum davon lösen können. Und von manchem lösen wir uns deshalb nicht, wenn auch mit erklärenden Fußnoten, weil wir befürchten, dass unsere Texte sonst unlesbar werden (Benennung von Fällen mit Vornamen, Reproduktion von Zweigeschlechtlichkeit). Bestehende Forschung aus der Didaktik der Romanischen Sprachen hinterfragt natürlich durchaus ihre eigenen Normen, allerdings typischerweise mit Bezug auf andere Normen (vgl. Abendroth-Timmer et al. 2012), auch immer wieder mit Blick auf die Empirie, aber selten mit Alltagspraxis als explizitem Vergleichspunkt.

Zu Erstens: wir hoffen zwar auf vieles, aber wir sind darauf eingestellt, auch enttäuscht zu werden. Hinzu kommt vermutlich noch ein „akademisches Leiden“: von den ca. 100 Stunden Fremdsprachenunterricht im Sample hat uns keine begeistert, wir sind so sehr in die Produktion und Umwälzung von Forderungen von gutem Unterricht eingebunden, dass wir an jedem Kurs etwas kritisieren könnten. Möglicherweise handelt es sich um eine Erwartungserwartung: Wir erwarten, dass man von uns eine stets kritische und suchende Haltung erwartet.

Allerdings ‚funktionierte‘ auch jeder Unterricht (Näheres s. Kap. 3.4), jede Stunde, die wir gesehen haben, in ihrer eigenen Logik und Dynamik, ob sie uns nun mehr oder weniger begeisterte. Und teilweise ‚funktionierte‘ gerade der Unterricht besonders gut, der uns kaum begeisterte. Andere Stunden haben uns auf den ersten Blick gut gefallen, im Rahmen der Analyse sind wir aber sehr kritisch geworden. In dieser Perspektive verkörpern wir auch die Wunschzettel!

Während wir hoffen, den soziologischen bzw. unseren soziogenetischen oder sozialbiographischen Standort und die damit einhergehenden Scheuklappen methodisch limitieren zu können, kommt der akademisch-disziplinären fachdidaktischen Standortgebundenheit noch eine etwas andere Funktion zu: Das versuchen wir mit Verweis auf die Frage nach den Eigenlogiken des FSU darzustellen.

Aneignung und Vermittlung spielen dabei keine spezifische Rolle. Nicht weil sie uns nicht interessieren würden oder für eine dokumentarische Rekonstruktion nicht zugänglich wären (vgl. Asbrand & Martens 2018, Bonnet & Hericks 2020, Tesch 2018, 2019, 2022b), sondern möglicherweise, da insbesondere Aneignung eher still und zudem eher unsicher, suchend und tentativ verläuft. Große Heureka-Momente haben wir nicht beobachten können, sondern eher kleinschrittiges Abarbeiten und punktuelle enkorporierte Aktionismen oder schüler- und schülerinnenseitige Verbegrifflichungen (vgl. Asbrand & Martens 2018), die auf das Aufkeimen neuer Gedanken oder die Aneignung spezieller Begriffe hindeuten können – hier sind wir also von der Empirie gelenkt, noch mehr aber von unserer Fragestellung (s.u.). Hätten wir Aneignung und Vermittlung stärker in den Vordergrund gerückt, so hätten wir unsere Empirie auch noch stärker fokussiert, möglicherweise aber um den Preis, andere Phänomene weniger zu beachten. Dabei wäre wiederum auch die Normativität von Aneignung und Vermittlung zu reflektieren: Aneignung und Vermittlung können ebenso aus psycholinguistischen Lerntheorien wie aus rein psychologischen Lerntheorien wie aus praxeologisch-wissenssoziologischer Perspektive beschrieben werden. Unsere Fragestellung haben wir gewählt, weil wir nicht davon ausgehen, dass sich durch Aneignung und Vermittlung allein der Alltag des Fremdsprachenunterrichts erklären lässt. Sondern wir wollen den Alltag des Fremdsprachenunterrichts als Fremdsprachenunterricht untersuchen. Darin unterscheiden wir uns von der Erziehungswissenschaft, die in erster Linie das Unterrichten interessiert, uns dagegen ebenso sehr die Fremdsprachen. Wir betreiben auch nicht eine Soziologie, die sich für Interaktionen und Institutionen, Normen und Praktiken interessiert, aber Fremdsprachen und Unterricht nur als Beispiele neben anderen dafür sieht, ohne deren Eigenlogiken aufzugreifen.

Wie kann man aber dieser Eigenlogiken habhaft werden? In der Erziehungswissenschaft (z.B. Gruschka 2011, Baltruschat 2018, 5) wird auf „einheimische Begriffe“ der Pädagogik nach Herbart verwiesen, die als Erziehung, Bildung, Didaktik im 19. Jhd. als solche benannt und herausgearbeitet wurden. Die Fremdsprachendidaktik hat keine eigenen „einheimischen Begriffe“, sie kommt aus der Praxis und aus den Bezugswissenschaften (Literatur und Kulturwissenschaft, Linguistik, Psychologie, Pädagogik und Soziologie…). So ist auch „Kompetenz“ psychologisch geprägt (Weinert, Chomsky), und „interkulturelle Handlungskompetenz“ kann man nicht als Alleinstellungsmerkmal der Fremdsprachendidaktik sehen, darauf zielen auch monolinguale „interkulturelle Workshops“ und andere Schulfächer (z.B. Religion, Ethik, Gemeinschaftskunde) ab.

Und die Gegenstände? Zwischen Kinderliedern in der Grundschule, moralischen Diskussionen über Camus Les justes und Protokollen im Chemie-CLIL-Unterricht ist viel Platz und wenig eindeutiger Gegenstand. Das ‚Können‘ ist auch stark im jeweiligen Genre enthalten, und liegt zumindest teilweise in der Moralphilosophie und in der Chemie – und im Singen. Dennoch brauchen wir die Gegenstände als Orientierungspunkte, wenn auch nicht als fixe, im Sinne der über Jahrhunderte tradierten „einheimischen Begriffe“ (vgl. Baltruschat 2018, 5). Stattdessen greifen wir auf, was die Disziplin zumindest über Jahrzehnte diskutiert – betrachten dies aber nicht als gesetzten Gegenstand, den wir suchen und deshalb auch finden werden –, sondern als Normen, die uns so dominant scheinen, dass man sie im Fremdsprachenunterricht nicht nicht- thematisieren kann: funktionale Einsprachigkeit, Sprache als Gegenstand, interkulturelle Themen und Kompetenz/Leistung. Diese Thematisierung muss nicht explizit ablaufen, sie kann auch implizit, materiell vermittelt oder als Randaspekt in Interaktionen zu finden sein – aber wir finden sie. Die o.g. Themen werden in ihren Bearbeitungsweisen in Typiken rekonstruiert.

Es gibt Gegenstände (z.B. sprachlich funktionale Mittel), die wohl nur im Fremdsprachenunterricht behandelt werden, aber diese beschreiben den Fremdsprachenunterricht und die Ziele der Fremdsprachendidaktik nicht ausreichend. Und es gibt andererseits vermutlich KEIN Thema, das nicht zum Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts werden kann – z.B. haben wir zu „Umwelt“ im Datensatz sehr viele verschiedene Facetten der Umgangsweise und der Thematisierung.

Mehr noch, was wirklich Gegenstand einer Interaktion ist, hängt nicht von dem Gegenstand selbst ab, wie auch immer dessen philosophische, naturwissenschaftliche oder soziologische Beschreibung lauten möge, sondern auch zentral von der Art und Weise, wie der Gegenstand zum Gegenstand gemacht wird – oder auch nur zum Anlass, ein Grammatikthema einzuführen (Bonnet & Hericks 2020) oder ein Prüfungsformat fürs Abitur oder eine Abschlussprüfung in Jahrgang 10 zu üben.

„Umgang mit funktionaler Einsprachigkeit“ oder „Umgang mit Leistungsnorm“ als tertia comparationis sind Ergebnisse einer Rekonstruktion, die aber natürlich nie ohne gegenstandsbezogenes Vorwissen der Forschenden zustande gekommen ist3 – wir verkörpern den Bezug zur Fremdsprachendidaktik. Erziehungswissenschaft und Soziologie hingegen sind für uns Bezugsdisziplinen. Unsere Sozialisation, so die habitustheoretische Annahme, sorgt dafür, dass Fremdsprachendidaktiker*innen fremdsprachendidaktische Forschung machen – das ist zwar an der Grenze zum Tautologischen, aber aufgrund der genannten Unschärfe des Bereichs des Fremdsprachenunterrichts kaum anders möglich. Allerdings sind die drei Typiken, die das empirische Kernstück der Arbeit darstellen, sehr unterschiedlich entstanden (vgl. dazu auch Grein & Tesch i.E.): Typik A bezieht sich auf den Umgang mit einer spezifisch fremdsprachendidaktischen Norm, Typik B ist in Auseinandersetzung mit schulpädagogischen und soziologischen Theorien zum Leistungsparadigma entstanden und Typik C in Anlehnung an schulpädagogische und allgemeindidaktische Überlegungen. So hoffen wir, durch empirische Rekonstruktionen und verschiedene Bezugsdisziplinen dem Alltag gerecht zu werden und dabei fachdidaktische Forschung zu betreiben, ohne in den Daten spezifische fremdsprachendidaktische Normen zu setzen.

Zudem ist diese Normativität durch das Sample performativ umgesetzt – wir haben Fachunterricht und nur Fachunterricht Spanisch und Französisch aufgenommen, denn unser Horizont ist begrenzt. Auch wenn diese Formulierung selbstironisch klingt, so handelt es sich doch um den Versuch einer wissenssoziologisch fundierten Reflexion von Fachdidaktikern, die eine „soziologische[] Methode pädagogischer Prägung“ (Grein & Tesch 2022, 75) zur Erforschung von Fachunterricht nutzen4. Natürlich sind es nicht nur unsere habitualisierten Horizonte, die unsere Perspektive lenken, sondern auch eine Fragestellung, die Fachlichkeit möglichst ohne zu starke gegenstandstheoretische Setzungen untersuchen will. Für die Mikroanalyse und die dort stattfindenden pausenlosen Entscheidungen für oder gegen eine Sequenz bzw. ein Standbild nutzen wir reflektiert bestimmte Heuristiken (Bonnet & Hericks 2020, Grein & Tesch 2022; Erickson 1982; Tesch, Vernaci & Ströbel 2020).

Details

Seiten
442
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631901007
ISBN (ePUB)
9783631901014
ISBN (Hardcover)
9783631899472
DOI
10.3726/b20783
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (September)
Schlagworte
Dokumentarische Methode Unterrichtsvideographie Unterrichtsaudiographie Fachlichkeit Materialität Typenbildung Romanische Sprachen Spanisch Französisch
Erschienen
Peter Lang – Lausanne · Berlin · Bruxelles · Chennai · New York · Oxford. 2023. 442 S., 69 s/w Abb., 17 Tab.

Biographische Angaben

Bernd Tesch (Autor:in) Matthias Grein (Autor:in)

Bernd Tesch ist Professor für Romanistische Fachdidaktik an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er unterrichtete an Schulen im In- und Ausland, war am Berliner Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) tätig und lehrte an der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Didaktik der romanischen Sprachen sowie interpretativ-rekonstruktive Forschungsmethoden. Matthias Grein hat in Hamburg promoviert und war als wissenschaftlicher Mitarbeiter u.a. an der Eberhard Karls Universität Tübingen im DFG-Projekt «Normen und Praktiken des fremdsprachlichen Klassenzimmers» tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Didaktik der romanischen Sprachen, interpretativ-rekonstruktive Forschungsmethoden und soziale Ungleichheit.

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Titel: Normen und Praktiken des fremdsprachlichen Klassenzimmers
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