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Das Gebot politischer Neutralität für Amtsträger – eine kritische Betrachtung

von Niema Movassat (Autor:in)
©2023 Dissertation 306 Seiten

Zusammenfassung

Darf eine Bundeskanzlerin die Wahl eines Ministerpräsidenten deutlich kritisieren? Das Bundesverfassungsgericht verneint dies. Es nimmt ein Gebot politischer Neutralität für Regierungsmitglieder an, welches Äußerungen zulasten politischer Parteien verbietet.
Die durch das Neutralitätsgebot bedingten äußerungsrechtlichen Einschränkungen sind bedenklich, da Regierungsmitglieder eine inhärent politische Rolle haben. Diese Untersuchung geht der Frage nach, ob es Aufgabe des Rechts ist, amtliche Äußerungen im politischen Wettbewerb durch Neutralitätsforderungen einzuschränken. Sie kommt zum Ergebnis, dass Regierungsmitglieder keinen Einschränkungen durch ein politisches Neutralitätsgebot unterliegen, da sie gestalten sollen und hierzu parteiergreifende Kommunikation notwendig ist.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • FM Epigraph
  • Vorwort
  • Abkürzungsverzeichnis
  • 1. Teil: Ausgangslage
  • A. Äußerungen politischer Amtsträger als aktuelles Problem
  • B. Ursachen für die Zunahme äußerungsrechtlicher Fälle
  • C. Aufbau der Untersuchung
  • 2. Teil: Grundlagen
  • A. Das staatliche Amt
  • I. Grundrechtliche Dimension
  • II. Erfüllung von Staatsaufgaben
  • III. Republikanische Gemeinwohlbindung
  • B. Neutralität
  • I. Etymologie
  • II. Staatliche Neutralität
  • III. Fazit
  • C. Das Äußerungsrecht staatlicher Amtsträger im politischen Meinungskampf
  • I. Staatliche Öffentlichkeitsarbeit
  • II. Staatliches Informationshandeln
  • III. Wertender Charakter als Kennzeichen staatlicher Äußerungen im politischen Meinungskampf
  • IV. Abgrenzung wertender amtlicher Äußerungen zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit
  • V. Die Frage der Verbandskompetenz- und Befugnisnorm
  • VI. Fazit
  • D. Inhalte und Formen wertender Äußerungen staatlicher Amtsträger im politischen Meinungskampf
  • I. Äußerungsinhalte
  • II. Äußerungsformen
  • E. Zusammenfassung des 2. Teils
  • 3. Teil: Das Gebot (partei-)politischer Neutralität in Judikatur und Schrifttum
  • A. Verfassungsrechtliche Herleitung des Gebotes (partei-)politischer Neutralität
  • I. Verfassungsprinzipien
  • II. Schutz der politischen Parteien
  • III. Schutz der Fraktionen
  • IV. Schutz von Vereinigungen ohne Parteienstatus
  • V. Fazit
  • B. Adressaten des Gebotes parteipolitischer Neutralität und des strikten Sachlichkeitsgebotes
  • I. Bundesregierung
  • II. Landesregierungen
  • III. Bundespräsident
  • IV. Kommunale Amtsträger
  • V. Abgeordnete
  • VI. Fazit
  • C. Voraussetzungen für die Geltung des Gebotes parteipolitischer Neutralität und des strikten Sachlichkeitsgebotes
  • I. Amtliche Kommunikation
  • II. Außenwirkung im konkreten Wettbewerbsverhältnis
  • III. Fazit
  • D. Rechtfertigungsmöglichkeiten
  • I. Replik auf Angriffe
  • II. Erfüllung verfassungsrechtlicher Aufgaben
  • III. Keine Rechtfertigung bei Schmähkritik
  • IV. Fazit
  • E. Zusammenfassung des 3. Teils
  • 4. Teil: Kritische Betrachtung der Forderungen nach politischer Neutralität
  • A. Kritik an der verfassungsrechtlichen Herleitung
  • I. Unterscheidung von Staat und Gesellschaft erfordert keine politische Neutralität
  • II. Neutralität zum Schutz der Demokratie?
  • III. Neutralität zum Schutz der Republik?
  • IV. Spezifischer Schutz für politische Parteien?
  • V. Die politische Rolle von Regierungsmitgliedern und kommunalen Amtsträgern
  • VI. Verfassung fordert Identifikation
  • VII. Fazit
  • B. Keine äußerungsrechtlichen Grenzen durch Kommunikationsgrundrechte
  • I. Schutzbereich der Kommunikationsgrundrechte
  • II. Eingriffsqualität
  • III. Fazit
  • C. Der Bundespräsident, das Neutralitätsgebot und die Inkonsistenz der Rechtsprechung
  • D. Überdehnung des Ressourcenbegriffs
  • I. Staatliche Wahlkampfwerbung als spezifische Problematik
  • II. Wertende amtliche Äußerungen
  • E. „Alles-oder-nichts-Lösung“ – Das Problem der Trennbarkeit von staatlichem Amt und parteipolitischer Eigenschaft
  • I. Kommunikationsverhalten als tatsächliche Erschwerung der Unterscheidbarkeit
  • II. Der Empfängerhorizont
  • III. Spontanäußerungen und fehlende Verantwortlichkeit für die amtliche Eigenschaft der Äußerung
  • IV. Conclusio
  • F. Ländervergleich: Österreich
  • I. Ähnlichkeiten zwischen dem österreichischen und dem deutschen Verfassungsrecht
  • II. Gebot politischer Neutralität in Österreich?
  • G. Zusammenfassung des 4. Teils
  • 5. Teil: Äußerungsrechtliche Grenzen jenseits des Gebotes politischer Neutralität von Amtsträgern
  • A. Willkürverbot
  • I. Herleitung und Inhalt
  • II. Geeignetheit des Willkürverbotes als äußerungsrechtlicher Begrenzungsmaßstab
  • III. Vergleich mit dem Gebot politischer Neutralität anhand von Fallbeispielen
  • B. Sachlichkeitsgebot
  • I. Herleitung und Inhalt
  • II. Geeignetheit des Sachlichkeitsgebotes als äußerungsrechtlicher Begrenzungsmaßstab
  • III. Vergleich mit dem Gebot politischer Neutralität anhand von Fallbeispielen
  • C. Verbot des asymmetrischen staatlichen Ressourceneinsatzes
  • I. Verfassungsrechtliche Herleitung
  • II. Inhalt
  • III. Geeignetheit des Verbots des asymmetrischen staatlichen Ressourceneinsatzes als äußerungsrechtlicher Begrenzungsmaßstab
  • IV. Vergleich mit dem Gebot politischer Neutralität anhand von Fallbeispielen
  • D. Gebot der Zurückhaltung im Wahlkampf
  • E. Leitbild politischer Neutralität
  • I. Bundespräsident
  • II. Parlamentspräsident, Stellvertreter, Ausschussvorsitzende
  • F. Zusammenfassung des 5. Teils
  • 6. Teil: Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Die hier verwendeten Abkürzungen orientieren sich grundsätzlich an Hildebert Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der deutschen Rechtssprache, 10. Aufl., Berlin 2021.

Überdies werden folgende Abkürzungen gebraucht:

AfD

Alternative für Deutschland

AK

Alternativkommentar

bzw.

beziehungsweise

CDU

Christlich Demokratische Union Deutschlands

CSU

Christlich Soziale Union in Bayern e. V.

ders.

derselbe

HdbVerfR

Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland

HGR

Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa

HStR

Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland

NPD

Nationaldemokratische Partei Deutschlands

sog.

sogenanntes

Sp.

Spalte

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

u. a.

und anderem

v.

vom, von, vor

„Die Demokratie reicht so weit,
wie die Stimme des Herolds trägt“1.

Aristoteles (384 – 322 v. Chr.), griechischer Gelehrter


1 Aristoteles, Politik, Siebentes Buch, 4. Kapitel, nach 1326b.

1. Teil: Ausgangslage

A. Äußerungen politischer Amtsträger als aktuelles Problem

In einer Demokratie ist das „Schwert“ der Auseinandersetzung das Wort. Anders als in undemokratisch verfassten Gesellschaften soll nicht der Stärkste, Wohlhabendste oder Tyrannischste herrschen, sondern derjenige, der aufgrund eines fairen Wahlverfahrens durch die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler legitimiert worden ist. Deshalb fordert Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, dass die Mitglieder des Deutschen Bundestages aus einer allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl hervorgehen. Dies soll gewährleisten, dass die Bürgerschaft sich freiwillig hinter den Kandidierenden versammelt. Es soll kein Druck oder Zwang auf die Wählerschaft ausgeübt werden2.

Scheiden Zwang und Gewalt als Mittel der Wahlbeeinflussung aus, so bleibt das Wort übrig, um Mehrheiten hinter sich zu versammeln. Die verbale Artikulation der eigenen Auffassung mündet in den politischen Meinungskampf, in welchem divergierende Gemeinwohlkonzepte aufeinandertreffen. Der politische Meinungskampf ist die Voraussetzung dafür, in einer Demokratie Mehrheiten erringen zu können. Im (Wahl-)Wettbewerb3 zwischen den politischen Parteien entscheidet sich, wer das Vertrauen der Mehrheit der Wählerschaft gewinnen kann und somit die Möglichkeit erhält, die Regierung zu stellen. Um sich in diesem Meinungskampf artikulieren zu können, ist die Freiheit des Wortes, der verbalen Artikulation, notwendige Bedingung. Nicht ohne Grund erachtet das Bundesverfassungsgericht seit der Lüth-Entscheidung die Meinungsfreiheit als „schlechthin konstituierend“ für die Demokratie4. Denn die Demokratie „lebt von der ständigen geistigen Auseinandersetzung, vom Kampf der Meinungen“5.

Indes sollen laut der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts wie auch zahlreicher Landesverfassungs- und Verwaltungsgerichte bestimmte Personen in ihrer Äußerungsbefugnis eingeschränkt sein, nämlich solche, die ein staatliches Amt innehaben6. Sie dürfen nicht sagen, was sie wollen und wie sie es wollen. Vielmehr gilt für sie bei Äußerungen über politische Parteien das Gebot parteipolitischer Neutralität7. In der Folge sollen Amtsträger weder zugunsten noch zulasten politischer Parteien Einfluss auf den parteipolitischen Wettbewerb nehmen dürfen8. Bei amtlichen Äußerungen gegenüber Vereinigungen ohne Parteienstatus oder natürlichen Personen soll ein striktes Sachlichkeitsgebot gelten, welches de facto ein Neutralitätsgebot darstellt9.

Seit einiger Zeit ist eine Tendenz in der Rechtsprechung zu erkennen, die Äußerungsbefugnisse von Amtsträgern immer stärker zu limitieren10. In den letzten Jahren ergingen dutzende Entscheidungen, welche sich mit der Äußerungsbefugnis des Bundespräsidenten11, von Regierungsmitgliedern12 und (Ober-)Bürgermeistern befasst haben13. Zu Recht ist die Rede von einer „Konjunktur“ der Äußerungsrechtsfälle14. Die praktisch relevante Grundkonstellation ist nahezu immer identisch: Ein Regierungsmitglied oder ein (Ober-)Bürgermeister äußert sich in der Öffentlichkeit kritisch über eine rechtsextreme15 bzw. rechtspopulistische16 Partei oder Vereinigung, etwa indem es bzw. er deren Versammlung kritisiert. Die betroffene politische Partei erblickt hierin einen Eingriff in ihr Recht auf chancengleiche Teilnahme am politischen Wettbewerb (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG) und die politische Gruppierung ohne Parteienstatus oder Privatperson einen Eingriff in ihre Grundrechte; sie gehen sodann gerichtlich gegen die amtliche Äußerung vor.

Besondere Aufmerksamkeit erlangte hierbei zuletzt ein von der AfD angestrengtes Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel17. Streitgegenständlich war eine Äußerung, welche sie während einer Pressekonferenz bei einem Staatsbesuch in Südafrika im Februar 2020 tätigte. Anlass der Äußerung war die Wahl Thomas Kemmerichs zum thüringischen Ministerpräsidenten. Diese war nur durch die Stimmen der AfD im Landtag möglich. Die damalige Bundeskanzlerin sagte: „Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung für die CDU und auch für mich gebrochen hat, dass nämlich keine Mehrheiten mit Hilfe der AfD gewonnen werden sollen“, und forderte, „das Ergebnis rückgängig“ zu machen18. Das Bundesverfassungsgericht erblickte in dieser Äußerung einen Verstoß gegen das Gebot politischer Neutralität19.

Zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung des Gebots parteipolitischer Neutralität durch den damaligen Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat, Horst Seehofer, bejaht20. Dieser hatte in einem Interview die AfD als „staatszersetzend“ bezeichnet; das Bundesverfassungsgericht erblickte hierin eine Verletzung des Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG, also des Rechts auf Chancengleichheit der politischen Parteien21. In dem anderen Fall urteilte das Bundesverwaltungsgericht, dass der ehemalige Düsseldorfer Oberbürgermeisters Thomas Geisel rechtswidrig gehandelt habe, als er auf der städtischen Website zu einer „Lichter-aus“-Aktion gegen die rechtsgerichtete Vereinigung „Dügida“ aufrief22.

Die Forderung der Rechtsprechung und von Teilen des Schrifttums, dass Inhaber staatlicher Führungsämter im Rahmen ihrer Äußerungen (partei-)politische Neutralität zu wahren haben, stützt sich nicht auf den Wortlaut einer Verfassungsnorm. Das Grundgesetz fordert an keiner Stelle explizit (partei-)politische Neutralität. Die durch das Neutralitätsgebot bedingten, weitreichenden äußerungsrechtlichen Einschränkungen für Inhaber staatlicher Führungsämter begegnen Bedenken, da sowohl Regierungsmitglieder als auch kommunale Amtsträger eine dezidiert politische Funktion haben: Sie sollen das Gemeinwesen gestalten. Vor diesem Hintergrund wird in dieser Untersuchung der Frage nachgegangen, ob zur politischen Kommunikation staatlicher Amtsträger auch abgrenzende Äußerungen über die (partei-)politische Konkurrenz gehören. Wenn dem so ist, stellt das Gebot (partei-)politischer Neutralität eine Entpolitisierung derjenigen Amtsträger dar, deren Ämter inhärent politischer Natur sind23. Letztlich ist die Kernfrage dieser Untersuchung damit folgende: Ist es die Aufgabe des Rechts, amtliche Äußerungen im politischen Wettbewerb restriktiv durch Neutralitätsforderungen einzuschränken, oder ist Kommunikation und damit Auseinandersetzung im Kern ein nicht-justiziabler Bereich des freien Spiels der politischen Kräfte? Dieser Ansatz unterscheidet diese Arbeit von anderen Untersuchungen, die das Gebot (partei-)politischer Neutralität hinsichtlich staatlicher Äußerungen begrüßen24.

B. Ursachen für die Zunahme äußerungsrechtlicher Fälle

Zwar verwendete das Bundesverfassungsgericht schon in seiner Entscheidung zur regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit 1977 den Begriff der Neutralität im politischen Kontext25. Indes ist die damalige Fallkonstellation nicht mit den heutigen streitgegenständlichen staatlichen Handlungen vergleichbar. Damals ging es um Wahlwerbung, welche von der damaligen Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt mittels Steuergelder finanziert worden war. So ließ die Bundesregierung vor der Bundestagswahl 1976 in Tageszeitungen und Zeitschriften Anzeigen drucken, in denen sie ihre Erfolge reklamehaft darstellte und die Kritik der Opposition an der Regierungsarbeit zurückwies. Zudem erstellte sie Publikationen mit Auflagen von bis zu einer Million Exemplaren, in denen sie über ihre Arbeit berichtete26. Der Inhalt der Äußerungen bzw. Werbebotschaften spielte in der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung eine untergeordnete Rolle. Entscheidungsrelevant war der massive Einsatz staatlicher Ressourcen; dieser führte zu der Annahme einer Verletzung des Gebotes parteipolitischer Neutralität27.

Viele Jahre spielte dieses Neutralitätsgebot im Rahmen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts keine Rolle mehr28. Wie gezeigt, ist es jedoch seit Kurzem mit der (gerichtlichen) Ruhe bei diesem Thema vorbei29. Das Bundesverfassungsgericht zieht das Gebot parteipolitischer Neutralität nunmehr heran, um Äußerungen staatlicher Amtsträger über politische Parteien zu bewerten30. Für das Aufkommen und die Zunahme von Äußerungsrechtsfällen gibt es eine technische und eine politische Ursache. Auf der technischen Ebene hat sich das Kommunikationsverhalten verändert: Spielten im politischen Meinungskampf früher vor allem amtliche Schriftstücke, Broschüren und Flugblätter eine maßgebliche Rolle, so sind es heute mündliche Äußerungen und Verlautbarungen im Internet31. Insbesondere die Nutzung sozialer Medien, zu denen unter anderem Facebook, Twitter, Instagram und YouTube gehören, ermöglicht es politischen Amtsträgern, sich häufiger und wahrnehmbarer zu aktuellen Ereignissen öffentlich zu äußern32. Je mehr Äußerungen von politischen Amtsträgern öffentlich werden und je höher die Reichweite der Äußerung ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass Betroffene darin eine Rechtsverletzung erblicken und gerichtlich gegen die Äußerung vorgehen. Dies hängt damit zusammen, dass durch die sozialen Medien jede Äußerung eines politischen Amtsträgers zugleich öffentlich wird. Waren Regierungsmitglieder oder kommunale Amtsträger früher darauf angewiesen, dass die klassischen Medien wie Zeitungen, Radio oder Fernsehen ihre Äußerungen abdruckten bzw. sendeten, so können Inhaber staatlicher Führungsämter über die diversen sozialen Medien und ihre dortigen Nutzerkonten heutzutage selbst für eine teils erhebliche Verbreitung ihrer Verlautbarung sorgen.

Die genannten technischen Veränderungen sind zwar die Ursache für das geänderte Kommunikationsverhalten von Amtsinhabern. Sie erklären gleichwohl nur bedingt die Zunahme amtlicher Äußerungen im politischen Meinungskampf. Denn nur weil es technisch möglich ist, existiert kein Zwang für Amtsträger, sich parteiergreifend in den politischen Meinungskampf einzubringen. Die Zunahme solcher Äußerungen lässt sich daher nur mit der aktuellen politischen Situation erklären. Diese ist vor allem gekennzeichnet durch das Aufkommen und Erstarken rechtsgerichteter Parteien und Gruppierungen33. So ist allen Fällen der letzten Jahre, in denen die Äußerungen von politischen Amtsträgern Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen waren, gemein, dass sich der jeweils Äußernde zu Aktivitäten und Verlautbarungen rechtsgerichteter Parteien und Gruppierungen wie der AfD, NPD und der diversen regionalen Pegida-Ableger einließ34. Auch in den Fällen, in denen es keine gerichtlichen Verfahren gab, bezogen sich die Äußerungen von Amtsträgern im politischen Meinungskampf vorwiegend auf rechtsgerichtete Gruppierungen35. Das ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass sich der politische Meinungskampf in Deutschland in den letzten Jahren verschärft hat. Drastische Äußerungen, die sogar so weit reichen, politische Vertreter „entsorgen“36 zu wollen, lassen vermuten, dass Gegenreaktionen politischer Amtsträger auch in Zukunft nicht ausbleiben werden. Somit dürfte der Aufstieg rechtsgerichteter Kräfte die Polarisierung des politischen Diskurses weiter vorantreiben37. Inhaber staatlicher Führungsämter wollen in Anbetracht des wachsenden Einflusses nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Gedankengutes durch ihre Äußerungen Haltung zeigen und demokratische Grundwerte verteidigen. Diese Motivation steht in einem Spannungsverhältnis zu der von der Judikatur und Teilen des Schrifttums geforderten (partei-)politischen Neutralität.

C. Aufbau der Untersuchung

Zunächst werden im nachfolgenden 2. Teil die für den Gegenstand dieser Untersuchung relevanten Grundlagen behandelt. Dabei geht es vor allem um diejenigen Annahmen, die Forderungen nach (partei-)politischer Neutralität zugrunde liegen, ohne dass sie im Regelfall in Gerichtsentscheidungen thematisiert werden. Dies betrifft insbesondere die Frage, was das staatliche Amt ausmacht, welche Bedeutung der Begriff der Neutralität hat, wie staatliche Äußerungen im politischen Meinungskampf zu qualifizieren sind und welche Erscheinungsformen sie aufweisen.

Im anschließenden 3. Teil geht es darum zu zeigen, wie in Judikatur und Schrifttum die Frage der (partei-)politischen Neutralität diskutiert wird. In diesem Teil der Untersuchung wird daher der Forschungs- bzw. Meinungsstand dargelegt, und zwar im Wege einer systematischen Zuordnung: Zunächst werden die unterschiedlichen Varianten der verfassungsrechtlichen Herleitung des Gebotes (partei-)politischer Neutralität dargestellt. Sodann wird auf die Frage eingegangen, welche staatlichen Amtsträger Adressaten von Forderungen nach politischer Neutralität sind. Hierbei werden nicht alle Spezifika der jeweiligen Ämter erläutert. Vielmehr werden nur diejenigen Aspekte thematisiert, die für die Frage der Neutralitätsbindung relevant sind. Sodann werden die Voraussetzungen politischer Neutralität dargelegt; insbesondere wird die Frage erörtert, wann eine Äußerung amtlicher Natur ist. Zuletzt wird auf die in Judikatur und Literatur diskutierten Möglichkeiten der Rechtfertigung für den Fall eingegangen, dass eine staatliche Äußerung Neutralitätspflichten verletzt.

Im darauffolgenden 4. Teil wird das Gebot (partei-)politischer Neutralität kritisch beleuchtet. Zum einen wird die verfassungsrechtliche Herleitung einer kritischen Prüfung unterzogen, zum anderen geht es um die Fragen, ob der Begriff der staatlichen Ressourcen überdehnt wird und inwieweit eine Trennung des staatlichen Amtes von der parteipolitischen Funktion überhaupt möglich ist. Der kritischen Bewertung schließt sich ein Ländervergleich zwischen Deutschland und Österreich an. Im 5. Teil wird dargestellt, welche äußerungsrechtlichen Grenzen jenseits des Gebotes politischer Neutralität bestehen, namentlich das Willkürverbot und das Sachlichkeitsgebot. Vorgeschlagen wird zudem, ein neues Kriterium des „asymmetrischen staatlichen Ressourceneinsatzes“ einzuführen. In der Schlussbetrachtung im 6. Teil werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst.


2 BVerfGE 7, 63 (69); 15, 165 (166); 44, 125 (139); 79, 161 (165 f.); 95, 335 (350); 103, 111 (130 f.); Schneider, in: AK-GG, Art. 38, Rn. 65; Frowein, AöR 99 (1974), S. 72 (104); Beispiele für rechtswidrige Beeinflussungen der Wahl finden sich z. B. in den §§ 108, 108a und 108b StGB, siehe dazu Oppermann, JuS 1985, S. 519 ff.

3 Zum Wettbewerbsbegriff in der Demokratie siehe Benz, in: ders. et al (Hrsg.), Handbuch Governance, S. 54 ff.; Hatje, VVDStRL 69 (2010), S. 135 (139 ff.); Morlok, in: FS Tsatsos, 2003, S. 408 ff.; Müller-Franken, DVBl 2009, S. 1072 ff.

4 BVerfGE 7, 198 (208); siehe auch BVerfGE 12, 113 (125); 20, 56 (97); 28, 36 (48); 35, 202 (222); 93, 266 (292 f.); 97, 391 (398).

5 Muckel, NVwZ 1997, S. 223 (227).

6 BVerfGE 138, 102; 148, 11; 154, 320; BVerfG, NVwZ 2022, 1113; VfGH RP, NVwZ-RR 2014, S. 665; SaarlVGH, Urt. v. 08.07.2014, Az. Lv 5/14; VfGH TH, ThürVBl. 2015, S. 295; VfGH, ThürVBl. 2016, S. 273; VfGH, ThürVBl. 2016, S. 281; VfGH BE, Urt. v. 14.07.2018 – Az. 79/17 (juris); VfGH BE, LKV 2019, S. 120; StGH NDS, Urt. v. 24.11.2020 – Az. 6/19 (juris); BVerwGE 159, 327; VGH Hessen, NVwZ-RR 2013, S. 815; VGH Hessen, NVwZ-RR 2015, S. 508; VGH Hessen, Beschl. v. 11.07.2017 – 8 B 1144/17; VG Stuttgart, NVwZ-RR 2011, S. 615; VG Gera, KommJur 2011, S. 138; VG BE Urt. v. 23.09.2013 – Az. 1 K 280.12 (juris); VG Trier, Urt. v. 20.01.2015 – Az. 1 K 1591/14.TR (juris); VG München, MMR 2016, S. 71; VG Göttingen, Beschl. v. 29.08.2018 – Az. 1 B 462/18 (juris); VG Münster, Urt. v. 08.02. 2019 – Az. 1 K 3306/17 (juris).

7 BVerfGE 44, 125 (160 f.); 138, 102 (115); 148, 11 (25, 31).

8 BVerfGE 44, 125 (144, 146); 136, 323 (333); 138, 102 (109).

9 Siehe BVerwGE 159, 327 (336, Rn. 29).

10 So auch Putzer, DVBl 2017, S. 136.

11 BVerfGE 136, 323.

12 Zur Äußerungsbefugnis der Mitglieder der Bundesregierung siehe BVerfGE 138, 102; 148, 11; 154, 320; BVerfG, NVwZ 2022, 1113; zur Äußerungsbefugnis der Mitglieder von Landesregierungen siehe VfGH RP, NVwZ-RR 2014, S. 665; SaarlVGH, Urt. v. 08.07.2014, Az. Lv 5/14; VfGH TH, ThürVBl. 2015, S. 295; VfGH, ThürVBl. 2016, S. 273; VfGH, ThürVBl. 2016, S. 281; VfGH BE, Urt. v. 14.07.2018 – Az. 79/17 (juris); VfGH BE, LKV 2019, S. 120; StGH NDS, Urt. v. 24.11.2020 – Az. 6/19 (juris).

13 BVerwGE 159, 327; VGH Hessen, NVwZ-RR 2013, S. 815; VGH Hessen, NVwZ-RR 2015, S. 508; VGH Hessen, Beschl. v. 11.07.2017 – 8 B 1144/17; VG Stuttgart, NVwZ-RR 2011, S. 615; VG Gera, KommJur 2011, S. 138; VG BE Urt. v. 23.09.2013 – Az. 1 K 280.12 (juris); VG Trier, Urt. v. 20.01.2015 – Az. 1 K 1591/14.TR (juris); VG München, MMR 2016, S. 71; VG Göttingen, Beschl. v. 29.08.2018 – Az. 1 B 462/18; VG Münster, Urt. v. 08.02. 2019 – Az. 1 K 3306/17 (juris).

14 Krüper, JZ 2015, S. 414; zustimmend Muckel, JA 2015, S. 717; Gundling, ZLVR 2017, S. 12; ähnlich („Legion“) Ferreau, NVwZ 2017, S. 1259.

15 „Rechtsextrem“ sind „jene Gruppierungen und Personen, die aus rassistischen (Nationalsozialisten) oder nationalistischen (Nationalisten, Neue Rechte) Gründen bestimmten Teilen der Bevölkerung, vor allem Ausländern und Staatsbürgern ausländischer Abstammung, keine oder nur stark eingeschränkte Rechte zubilligen und/oder diese aus dem Land treiben wollen. Bei den einen steht die ‚Volksgemeinschaft‘ im Mittelpunkt ihrer Gedankenwelt, bei den anderen die Nation. Allen Rechtsextremisten, den Nationalisten wie den Rassisten, ist das Streben nach einer ethnisch homogenen Gemeinschaft eigen. Politische Gewalttaten aus diesem Spektrum richten sich in erster Linie gegen Angehörige ethnischer Minderheiten. Im Vordergrund steht der Gegensatz zur Demokratie“, Kailitz, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, S. 23

16 Rechtspopulismus bedeutet, einen Gegensatz zwischen „Volk und Elite“ zu erzeugen, wobei das Volk für Rechtspopulisten nicht die Bürgerschaft eines Staates, sondern jene Personen meint, welche eine gemeinsame Abstammung und Kultur aufweisen. Das Volk ist für Rechtspopulisten mithin eine homogene Gemeinschaft. Nicht nur die (vermeintliche) Elite wird von Rechtspopulisten als Gegner markiert, sondern auch Migranten, weshalb Fremdenfeindlichkeit und Rassismus Teil des Rechtspopulismus sind. Zu den „weiteren Eigenschaften des Rechtspopulismus zählen eine euroskeptische bis eurofeindliche Einstellung, Ethnopluralismus, ein überhöhtes Sicherheitsbedürfnis und Wirtschafts- und Sozialprotektionismus“, Wolf, Rechtspopulismus, S. 12 ff.

17 BVerfG, NVwZ 2022, 1113.

Details

Seiten
306
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631907382
ISBN (ePUB)
9783631907399
ISBN (Hardcover)
9783631907368
DOI
10.3726/b21112
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Oktober)
Schlagworte
Neutralitätsgebot Regierung Staatliche Kommunikation Politische Neutralität Bundespräsident Politische Parteien Demokratie Politik
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 306 S.

Biographische Angaben

Niema Movassat (Autor:in)

Niema Movassat, geboren 1984 in Oberhausen, studierte von 2004 bis 2008 Rechtswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und legte 2009 sein erstes juristisches Staatsexamen ab. Von 2009 bis 2021 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. 2016 schloss er an der FernUniversität Hagen seinen Master of Laws (LL.M) mit der Masterarbeit „US-Drohneneinsatz von deutschem Boden aus: Völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Probleme" ab. Von 2021 bis 2023 absolvierte er sein Rechtsreferendariat beim Kammergericht Berlin. Mit der vorliegenden Dissertation wurde er an der FernUniversität Hagen zum Dr. jur. promoviert.

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Titel: Das Gebot politischer Neutralität für Amtsträger – eine kritische Betrachtung