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Hungerleider werden Bildungsbürger: Preußische Gymnasiallehrer 1820–1914

Profile einer Profession

von Wolfgang Jacobmeyer (Band-Herausgeber:in)
©2023 Monographie 368 Seiten

Zusammenfassung

Die Neuordnung des preußischen Gymnasiums im 19. Jahrhundert stellte eine unvergleichliche Reform dar. Durch seine Einheitsschule für höhere Bildung, sorgfältige staatliche Überwachung und beständige Bildungsprinzipien erlangte es anerkannten Erfolg. Von entscheidender Bedeutung waren die Lehrkräfte: Sie stammten oft aus nicht-akademischen Verhältnissen, doch ihre wissenschaftliche Kompetenz und hingebungsvolle Berufsverpflichtung waren unumstritten. Diese Studie analysiert die Perspektiven, Qualifikationen und soziale Herkunft der Lehrer sowie ihre Integration in das Gymnasiumssystem. Zusätzlich wird die Interpretation zeitgenössischer Veränderungen und die politischen Visionen der Lehrkräfte beleuchtet. Als Hauptquelle dienen die wertvollen und oft übersehenen Jahresberichte der Gymnasien („Schulprogramme“).

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungen
  • Vorbemerkung
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Fragestellung
  • 1.2 Quellenlage
  • Schulprogramme: Entstehung, Verbreitung, Form
  • Bildungsgeschichtlicher Quellenwert
  • Quellenwert der Nachrufe
  • Begrenzung auf Preußen
  • Überlieferung der Schulprogramme
  • Künstliche Quelle für die Direktoren
  • 2 Biographische Merkmale der Gymnasiallehrer
  • 2.1 Herkunft
  • 2.2 Studium und Berufseinstieg
  • Quellenlage und quantitative Vergewisserung
  • Zugang an Lehrern im gymnasialen Schulwesen
  • Studienorte
  • Konfessionelles
  • Lehramtsprüfung als Ordnungsfaktor
  • Ausbildung zum Lehramt: Probe- und Seminarjahr als Adaption
  • Indikator des Wandels: Absolventen-Trends in der Berufswahl [Exkurs]
  • 2.3 Lebensalter
  • 3 Die Direktoren
  • 3.1 Dienstliche Aufgaben
  • 3.2 Soziale Herkunft und gesellschaftliche Bindungen
  • 3.3 Wissenschaftliche Exzellenz und Bildungsziele
  • 3.4 Pädagogische Vorstellungen
  • 3.5 Leistungen und Erfolge
  • 3.6 Gesellschaftliche Bindungen
  • 3.7 Beruflicher Aufstieg im Gymnasium
  • 3.8 Aufstieg zum Direktor
  • 4 Die Oberlehrer: Kollegialität und berufsständisches Wir-Gefühl
  • 4.1 Die Hierarchie des Gymnasiums
  • 4.2 Amtsführung und Tugendmuster
  • 4.3 Tüchtige Lehrer und die Spanne des Berufs
  • Die 1820er Jahre
  • Die 1830er Jahre
  • Die 1840er Jahre
  • Die 1850er Jahre
  • Die 1860er Jahre
  • Die 1870er Jahre
  • Die 1880er Jahre
  • Die 1890er Jahre
  • 1900 bis 1914
  • 4.4 1848/49: Behördenmuster und Selbstbild des Lehrers
  • 4.5 Ansprüche der Schule gegenüber der Elternschaft
  • 5 Schüler als Klientel
  • 5.1 Einordnung
  • 5.2 Strenge, Zucht und Ordnung
  • 5.3 Das Bild vom Schüler
  • 5.4 Selbstdisziplinierung der Schule
  • 5.5 Ethos des Lehrerberufs
  • 5.6 Dankbarkeit der Schüler
  • 6 Orientierungen
  • 6.1 Bildungsziele
  • Wandel
  • Kontinuitäten
  • 6.2 Vom Patriotismus zum Nationalismus
  • 1813 als Gottesgericht: Sieg des Guten über das Böse
  • 1866: das deutsche Volk als Gottes Knecht
  • 1871: deutsches Kaisertum bei dem Grabgeläute des französischen
  • Sedan als Focus und Orientierung
  • Die politischen Heroen: Wilhelm I. und Bismarck
  • Nationalgefühl als Selbstfesselung
  • 1866 und 1871: Idee der politischen Wiedergeburt des deutschen Volkes
  • Dämpfungsversuche
  • 7 Zusammenfassung
  • Literaturverzeichnis
  • Lehrer und Schulverwaltungsbeamte
  • Reihenübersicht

Abkürzungen

BürgerSch

Bürgerschule

Dir

Direktor

FS

Festschrift

Gf.

Geschäftsführender

Gym

Gymnasium

Höh.

Höhere

NR

Nachruf

OL

Oberlehrer

Prog

Programm

PSK

Provinzialschulkollegium

RealSch

Realschule

VO

Verordnung

Vorbemerkung

Die Geschichtswissenschaft kann das Einzelne nicht als Einzelnes, sondern nur die Gattung, und das Einzelne nur in Beziehung auf diese, beachten.11

Wenn man sich dem wirklichen Alter nähert und es trotz der durch unsere unsichere Lebenszeit (A. E. Imhof) begründeten Skepsis zu erreichen scheint, wundert man sich über die Wege in der Wissenschaft, die man zurückgelegt hat. Jeder Einzelschritt war zwar schlüssig, die Strecke insgesamt jedoch auf das krumme Holz geschrieben. Ein ausgedehntes Studium hat den Assessor des Lehramts nach dem Hildesheimer Referendariat nicht in die Schule geführt, sondern in Forschungsinstitutionen – 1971 in das Münchner Institut für Zeitgeschichte, 1978 in das Braunschweiger Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung2 und 1991 auf den Lehrstuhl an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Jeder Wechsel bereicherte durch andere Aufgaben. Der Ruhestand, fünfter Arbeitgeber, eröffnete 2005 zunächst die Freiheit, Angefangenes nach langen Jahren endlich fertigzustellen, und gab danach das Gelände für neue Schritte frei. 2011 erschien das dreibändige Inventar des deutschen Schulgeschichtsbuchs 1700–1945,3 durch die Braunschweiger Zeit angeregt, das aber nicht nach dem dortigen Modus fragte, dem internationalen Vergleich gegenwärtiger Schulbücher, sondern nach der Historizität des deutschen Lehrbuchs der Geschichte, nach seiner Gattungsgeschichte. Wegen des Umfangs und seiner Anspruchshöhe konnte es neben der Lehrstuhlarbeit nicht eher fertig gestellt werden. 2018 folgte eine zusammen mit Holger Thünemann edierte Quellensammlung deutscher Diskurse des 19. Jahrhunderts zum Geschichtsunterricht und zur Historik,4 die die historische Tiefenschärfe der Didaktik erweitert. Der jetzt vorliegende Versuch hebt sich von eigenen Arbeiten zum 20. Jahrhundert nicht zuletzt durch die honorige Klientel ab, deren Leben und Bedeutung hier skizziert wird. Denn die Gymnasiallehrer des 19. Jahrhunderts sind denkbar weit entfernt von den Verbrechern des 20. Jahrhunderts, denen einige meiner früheren Arbeiten gewidmet waren.5 Der Forschungsweg ist also dem Anreiz der historischen Profession gefolgt, dass man ebenso gut auf neuen Feldern ackern darf, wie man die alten bestellen muß. Langweilig war das nicht. – Altern, der grassierende Fortfall von Alternativen, scheint zunächst mit dem gewählten Thema wenig Berührung zu besitzen. Aber man fällt doch aus persönlicher Kontinuität nicht heraus. Erneut konnte ich hier meiner Neugier leben; zum anderen, mindestens ebenso mich geleitend, konnte ich im Geiste versuchen, das mir so wichtige Gespräch mit Karl-Ernst Jeismann fortzuführen, über seinen Tod am 25. Februar 2012 hinaus. Ich kann am besten abschätzen, wie sehr ich sein Urteil, seine Kenntnisse, seine Struktursicherheit, seine Freundschaft bei meinen Überlegungen gebraucht hätte.

Für vielfältige Hilfe bei Vorbereitung und Niederschrift schulde und empfinde ich tiefe Dankbarkeit, vor allem gegenüber meinem engeren Lebenskreis. Denn meine Frau ist auch nach mehr als 56 Ehejahren meiner antiquarischen Interessen noch nicht überdrüssig; nach wie vor formt sie unsere lange Gemeinsamkeit mit Umsicht, Gleichmut und Energie, und zugleich ist sie ein Kompaß für pädagogische Qualität von Graden. Weiterhin ist das Gespräch mit den Töchtern Hannah und Rebecca Jacobmeyer und ihren Männern Thomas Hark und Lars Fischer nicht fade oder karg geworden; und endlich bereichern die drei Enkel, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten, unser Leben: Johann Fischer in Lübeck und die Brüder Sebastian und Alexander Hark in Lüneburg. Hinzu kommen die direkten Unterstützer der Recherchen, von denen ich Hermann-Josef Schroers, den umsichtigen, hilfsbereiten, unermüdlichen Hüter der Schulprogramme im Landesarchiv NRW Abt. Westfalen in Münster, herausheben möchte. Sehr herzlichen Dank schulde ich meinem Freund Prof. Dr. med. Dr. phil. Heiner Raspe, der die Übernahme der von mir extrahierten biographischen Daten von über 1600 Gymnasialdirektoren in das Programm SPSS ermöglicht hat und der mich mit taktvoller Geduld bei der Auswertung unterstützt und begleitet hat, der Kenner den Anfänger. Ferner haben mich unsere Freundin Dr. Sabine Rogge und Frau Julia Schulte vom Institut für Didaktik der Geschichte sehr zuvorkommend in EDV-Fragen unterstützt.

Nicht zuletzt gedenke ich mit den hier vorgetragenen Überlegungen meiner eigenen Schullehrer, alle seit langem verstorben: Thiess (Bürgerschule 55, Hannover-Limmer), Welge, Eicke und Dr. Burandt (KWG Hannover), Siegfried Galley, Dr. Scheller, Dr. Haake, Engelhardt, Mauss, Vaßmer, Moldenhauer, Schäling (Lutherschule Hannover). Sie stehen mir in ihrer Unterschiedlichkeit trennscharf vor Augen und zeigen mir für den hier vorgelegten Versuch, wie waghalsig es ist, betonte Individuen in eine gemeinsame Erzählung zu bannen.

W.J.

Münster im September 2023


1 Wilhelm Wachsmuth, Entwurf einer Theorie der Geschichte. Halle 1820, 8.

2 Heute Institut für Bildungsmedien.

3 Das deutsche Schulgeschichtsbuch 1700–1945. Die erste Epoche seiner Gattungsgeschichte im Spiegel der Vorworte. 3 Bde. (= Geschichtskultur und histor. Lernen, hg. v. Saskia Handro u. Bernd Schönemann; 8). Münster 2011.

4 Grundlegung und Ausformung des deutschen Geschichtsunterrichts (Geschichtskultur u. histor. Lernen. Hg. v. S. Handro u. B. Schönemann; 17). Münster 2018.

5 Eine Sammlung von Aufsätzen zu meinen Interessengebieten und Fragestellungen hat Barbara Hanke herausgegeben: Wolfgang Jacobmeyer, Zeitgeschichte – Zeitverständnis (Geschichtsdidaktik diskursiv Hg. v. J. Elvert, C. Gundermann, W. Hasberg, H. Thünemann; 9). Berlin 2020.

1.0 Einleitung

1.1 Fragestellung

Wenn man angehalten wird, nicht so kleinlich, nicht gar zu detailversessen, nicht auf schwer erträgliche Weise lehrhaft zu sein, benutzt der Tadel oft die Formulierung, man bitte um einen weniger oberlehrerhaften Tonfall.6 Bedenkt man aber den Vergleichs- und Orientierungspunkt des Tadels näher, den Oberlehrer als tertium comparationis, so ist es keine Frage, dass mit dieser Abwehr von Strenge, vielleicht auch Pedanterie eine virtuelle Figur angezogen und zugleich verzeichnet wird. Denn mit der floskelhaften Abwehr wird die historisch nicht leicht fassbare Person des Oberlehrers geradezu abwegig in Anspruch genommen. Schon gar nicht wird in diesem Tadel der inkriminierende, angebliche Habitus des Oberlehrers durch dessen historisch erkennbare Verdienste in der deutschen Bildungsgeschichte balanciert. Überhaupt sollte man endlich wohl fragen, mit welchem Recht sich denn Strenge oder die Forderung nach Genauigkeit und Gleichmaß auf der Ebene professionellen Handelns abqualifizieren lassen.

Vielleicht kann man das metaphorische Unrecht, das dem Oberlehrer angetan wird, noch besser einschätzen, wenn man den historischen Ort und die bildungsgeschichtliche Funktion des Oberlehrers näher beleuchtet. Denn wir haben es bei bildungsgeschichtlichen Fragen mit einem ganz eigenen Kontext zu tun. Der alte Zweifel, ob denn wirklich Männer Geschichte machen, ist im Binnenklima dieser Arena so trivial wie der Sachverhalt selbst. Die Antwort ist: ja. Weiter verkennen wir leicht, wie hochgradig das Bildungswesen personalisiert ist, besetzt durch die Interaktion von Lehrern und Schülern, beide vor den Herausforderungen durch die Sache. Wenn man die deutsche Bildungsgeschichte des 19. Jahrhunderts enger fasst und konkretisiert, dann dürfte es ganz unstrittig sein, dass es Personen sind, nicht Umstände, die deren tragende Institutionen von innen geformt haben, weil sie in ihnen lebten und arbeiteten. Gerade im höheren Bildungswesen ist es keine Frage, dass die Schulform des Gymnasiums mit ihren besonderen Eigenschaften – Zugangswesen, Leistungsforderung, Kollegialität, erwünschten Verhaltensmustern, regelmäßigen Gewohnheiten, Berechtigungswesen, sozialer Belohnung der Abschlüsse usw. – auf weite Strecken der erkennbaren schulischen Realität ihre konkrete Ausformung nicht von oben, also nicht durch behördliche Weisung, durch Verordnung und Erlass erhalten hat,7 sondern durch individuelle Leistungsbereitschaft innerhalb der Institution Schule, der Anstalt. Zudem waren als Mittelbehörde des Schulstaats Preußen die Provinzial-Schulkollegien seit den 1830er Jahren wegen der jährlich stattfindenden, regelmäßig unangekündigten, meist zweitägigen Visitationen der Gymnasien8 durch fachlich hocherfahrene Beamte mit der Schulpraxis vor Ort eingehend vertraut. Geradezu modellhaft ging das so vor sich:9

Am 15. Juni v.[origen] J.[ahres] traf ganz unvermuthet Morgens 71/2 der Geheime Ministerialrat Prof. Dr. Wiese aus Berlin ein und revidirte die Anstalt am Vor- und Nachmittag und am 16. Vormittag von 7–1, desgleichen die Schülerhefte, die Bibliotheken, das Archiv, und hielt Nachmittag von 5–7 eine Conferenz, in welcher er das Ergebniß der Revision mittheilte und auf einzelne Mängel aufmerksam machte, im Ganzen jedoch durch seine eben so treffende, wie humane Kritik, durch Anerkennung des Gelungenen, sowie durch seine ganze Persönlichkeit einen freudigen und in hohem Grade anregenden und belebenden Eindruck auf die Lehrer machte.

Aufmerken lassen zwei Umstände, durch die die jährlichen Revisionen sich auszeichneten: die routinisierte Genauigkeit, an der sich die Schulerfahrung und die Prinzipientreue der Provinzialschulräte ablesen läßt, und die Freundlichkeit der Überprüfung, die durch ungekünstelte, von Gefühlen der Dankbarkeit geleitete Berichte der geprüften Schulleitungen bezeugt ist:

…Schulrat Dr. Klix, der am 22. Juni hier eintraf und in den drei folgenden Tagen die gesamte Anstalt der eingehendsten und dabei wohlwollenden Prüfung unterwarf. Dank ihm für die mannichfachen anregenden Winke, die er allen Lehrern zu Theil werden ließ, aus denen jeder sofort den scharfen Blick, aber auch das warme Herz erkennen konnte.10 – Als besonderes Ereignis ist hervorzuheben die Revision der Anstalt durch den Geheimen Regierungsrath, Herrn Dr. Wiese. Derselbe wohnte drei Tage hindurch dem Unterrichte in allen Classen bei, prüfte auch die Schüler selber und unterwarf die Hefte derselben einer genauen Durchsicht. Am Schluß theilte der Herr Revisor seine Wahrnehmungen dem Lehrercollegium in einer mehrstündigen Conferenz mit. Die Anerkennung, welche der Anstalt, sowohl hier als später in einem schriftlichen Erlaß, zu Theil geworden ist, wird uns unvergeßlich bleiben, da sie nach der sachkundigsten und strengsten, bis in das Einzelne gehenden, Prüfung erfolgte und wegen der Stellung des Herr Revisors für die Anstalt entscheidende Bedeutung gewinnen muß. Wir können nicht anders, als dem Herr Geheimrath unseren ehrerbietigen und tiefsten Dank aussprechen.11

Das Dirigat der Behörde12 konnte daher viel weniger offensichtlich erfolgen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wandelte sich das Behördenverhalten. Mehr und mehr formierten sich nunmehr die behördlichen Eingriffe zu dem uns gewohnten breiten Strom von Weisungen, Erlassen und Verordnungen, weil an der Stelle beherzt sanierender Reformen, die etwa Maß und Richtung von Schule aus gesellschaftlichen Veränderungen abgeleitet hätten, nunmehr das Kleinmuster der nur fallweise reparierenden Anpassungen dominiert oder, wie heute, die an kurzfristige Wahlperioden gekettete Spielfreude von Kultusministern nach politischer, finanzieller u.a. Opportunität. Das staatlich-öffentliche Bildungswesen hat aber ein Recht darauf, sich in langen Linien weitgehend autonom zu entwickeln, wenn es denn wirksam sein soll. Redet man für das 19. Jahrhundert nicht breitflächig und wenig distinkt vom Bildungswesen, sondern konkret von Schule und von der Aktion vor Ort, dann waren es die Akteure in der Schule selbst, die Gymnasiallehrer, die ihre jeweilige Anstalt unter Nutzung behördlicher Vorgaben, aber nicht durch deren blinden Vollzug zu einem funktionalen und leistungsfähigen Organismus geformt haben. Darum stehen sie hier im Mittelpunkt der Überlegungen.

Wir können inzwischen die ebenso jäh aufbrechende, qualitätvolle und auf der Wahrung von Qualität insistierende, am Ende des Jahrhunderts schließlich in die Fläche arbeitende Karriere abschätzen, die das deutsche Gymnasium nach dem Modell des preußischen bis zum Ersten Weltkrieg gemacht hat. Wir haben ein Urteil über seine über die deutschen Verhältnisse hinaus reichende Bedeutung. Daher ist es berechtigt, nun einmal nicht nach den bauenden Königen, sondern nach ihren Kärrnern zu fragen. Aus diesem Grunde auch werden in den Anmerkungen bei der ersten Erwähnung immer das Geburts- und Sterbejahr der Lehrer genannt, soweit die oft sehr verborgene Überlieferung persönlicher Daten das zuläßt. Auch die Sentenzen, die jeweils zu Beginn eines Abschnitts gegeben werden, sind bei der Materialsichtung zu Tage getreten und dienen hier als Erinnerungen, sind implizite Verweise auf den beleuchteten Personenkreis und die Auffassungen, von denen die Lehrer sich haben leiten lassen.

Diese Personenbindung ist jenseits der Ehrenpflicht auch sachlich begründet. Denn es geht nicht um Institutionen wie Schulverwaltungen oder um Abstraktionen wie Schulformen, sondern um eine Gruppe von Personen, die im System gewirkt haben, die mit ihrem Leben Schule gemacht haben. Welches Selbstverständnis haben sie gelebt, welchen Wertbildern haben sie sich nachgeordnet, was haben sie ihre Schüler über den Stoff hinaus gelehrt, wie haben sie ihre eigene Qualifikation erworben und gemehrt, wie haben sie sich in das System ihres Berufs gefügt, woher kamen sie sozial, wie und wie lange haben sie überhaupt gelebt, wann hat sich die Forderung und das Erlebnis von Kollegialität in der Schule zu einem berufsständischen Bewußtsein erweitert, welche politischen Visionen haben sie vertreten, wie haben sie den Wandel in ihrer Zeit aufgefaßt und moderiert? Wenigstens einige dieser weit verästelten und gleichzeitig subtil mit einander verketteten Fragen sollen untersucht werden mit der Hoffnung, ein wenig mehr als die bloßen Umrisse einer professionellen Elite abzubilden. Es geht also nicht um Einzelpersonen, sondern um eine Personengruppe. Aber für die Gruppe sprechen in der Überlieferung jeweils Einzelne. Hier muß der Historiker vermitteln, einfühlsam und methodenbewußt.

1.2 Quellenlage

Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci13

Schulprogramme: Entstehung, Verbreitung, Form

Kaum eine Quellensorte besitzt wohl größere Bedeutung für die Geschichte des höheren Bildungswesens als die seit 1824 regelförmig werdenden sog. Schulprogramme, also die gymnasialen Jahresberichte. Sie sind unerhört detailreich und stellen, da sie sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs bruchlos durchgehalten haben, eine Langzeitquelle von unvergleichlichem Wert dar. Den Lehrern des 19. Jahrhunderts, also den Verfertigern dieser Berichte, war zwar nicht der Quellenwert bewußt – dazu fehlten Abstand und Veranlassung –, wohl aber die Vieldimensionalität dieser Textsorte:14

Schulprogramme pflegen dreierlei Leser im Auge zu haben. Sie bringen nach altem Herkommen wissenschaftliche Abhandlungen, oft sehr specielle, für die engen und engsten Kreise der Fachgenossen bestimmt. Sie wenden sich auch an die Lehrerwelt mit Ausführungen über pädagogische und methodische Fragen. Sie laden endlich die Angehörigen der Schüler zu den Prüfungen ein und suchen ihnen dabei einen Einblick in die Zwecke, Mittel, Bestrebungen der Schule zu geben.

Sie waren Einladungsschriften zur öffentlichen Abiturprüfung15 und richteten sich damit an alle hiesige Beschützer, Gönner und Freunde des Schulwesens.16 Der Leiter der Anstalt ersuchte darin gehorsamst und ergebenst um die geneigte Gegenwart gebildeter Jugendfreunde,17 mit einer Formulierung also, in der das devote Ornament des Barocken noch in der längst eingetretenen Moderne fortwirkte. Eltern, Schüler, Lehrer

müssen über die Schule, zu welcher sie in näherer Beziehung stehen, auf’s innigste unterrichtet sein. […] Den Lehrern endlich, welche nicht bloß mit den Zöglingen und Eltern, sondern schon unter sich selbst und so vollkommen in Einklang stehen müssen, dass das ganze Collegium einer einzigen Person gleiche, – diesen besonders muß es ein Bedürfniß sein, den Geist ihres Verfahrens in Worte zu fassen.18

Ausführlicher in der Nennung von Schulträgern und direkten Interessenten adressierte das Titelblatt des Gymnasiums Erfurt 1872 den Leserkreis: ladet die Königlichen und Städtischen Obrigkeiten, die Geistlichkeit und Lehrer der Stadt, die Eltern und Pfleger19 der Schüler, desgleichen alle Gönner und Freunde des Schulwesens ehrerbietigst ein Director Dr. Dietrich.20 Das Programm des Archigymnasiums in Soest nennt 1822 Beschützer, Gönner und Freunde des Schulwesens.21 Aus dem Adressatenkreis lässt sich die offensichtliche Absicht der Programme erschließen; denn mit der Einladung zur jährlichen Okkasion der Abiturprüfung verbindet sich zugleich auch ein Rechenschaftsbericht der Anstalt.

Obligatorisch in Preußen wurden die Programme durch den Erlaß des preußischen Unterrichtsministeriums vom 23.8.1824. Es gab sie aber schon eher,22 auch da schon Rechenschaftsbericht und Werbemedium zugleich. Der Titel des Programms des Warendorfer Gymnasiums von 1793 bezeugt mit der doppelten Nennung von Inhalt und Zweck gleichsam die Urform: Oeffentliche Endprüfung über die Erfahrungsseelenlehre, mathematischen Wissenschaften und Geographie.23 Das Schulprogramm als Format machte nach seiner offiziellen Installation 1824 rasche Karriere. Denn andere Länder folgten dem preußischen Beispiel: Bayern (1825), Sachsen (1833), Baden (1836); die innere Ordnung der württembergischen Programme wurde sogar durch Verfügung des Königlichen Studienraths vom 14. Februar 1856 an die der preußischen Programme angeglichen.24

Die Wirkung der Programme erschöpfte sich allerdings nicht durch den Umlauf am jeweils eigenen Schulort. Vielmehr wurden sie gleichzeitig auf dem Weg über das Königliche Ministerium der Geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten in Berlin allen anderen Gymnasien zur Kenntnisnahme zugestellt.25 Das steigert auch ihr Quellengewicht, denn vor allem normative Stellungnahmen in den Programmen blieben nicht auf die einzelne Schulgemeinde beschränkt, sondern wurden Ideengut und Handlungsmaxime aller Gymnasien. Ab 1873 erfolgte auf Beschluß der Reichsschulkonferenz 1872 der Austausch nicht länger durch die Schulverwaltung, sondern durch die buchhändlerische Centralstelle B. G. Teubner in Leipzig.26 An dem landesweiten Austausch zunächst nur in Preußen beteiligten sich schon 1831 die Freien Städte Frankfurt am Main und Lübeck, 1836 Sachsen. Auch wenn die Provinzial-Schulkollegien als Mittelbehörde über die bloße Mitwirkung am Verteilungsprozeß hinaus die Programme sorgfältig im Auge behielten,27 waren die Programme doch kein Amtsblatt der oberen Verordnungsebenen, sondern eine Selbstdarstellung der Aktionsebene an der Basis. Sie sind damit als eine institutionelle und berufsständische Autobiographie aufzufassen. Denn sie dienten nicht nur der Berichtspflicht, sondern auch dem Austausch von Wissen zwischen den Schulen. Auf diese Weise arbeiteten sie einer Vereinheitlichung des gymnasialen Schulwesens zu. Sie sicherten vor allem eine Gemeinsamkeit der ideellen Ausrichtung, wie sie sich durch Verordnungen von oben schwerlich hätte erreichen lassen. Die Unterrichtsbehörden haben die Wirkung der Programme daher fraglos begrüßt und dürften ihre Drucklegung, wie aus einer Negativmitteilung zu erschließen ist, finanziell regelmäßig gefördert haben.28

Von der Rezeption der Programme vor Ort und von ihrem direkten oder indirekten Einfluß auf die institutionelle Entwicklung des Gymnasiums haben wir im Einzelnen keine gesicherten Kenntnisse. Wie fern wir von wirklicher Kenntnis des Formenreichtums und einer befriedigenden inhaltlichen Durchdringung dieser Quellensorte insgesamt stehen, können wir am Material selbst ablesen, an erstaunlichen Zufallsfunden demonstrieren, etwa an dem in bester Kanzleischrift geschriebenen, dann aber lithographisch vervielfältigten, also nicht gedruckten Programm des Gymnasiums Leobschütz von 182629, das in dieser Form wirklich einzigartig sein dürfte. Man muß allerdings gerecht sein: Der Forschungsrezeption steht auch die ungeheure Fülle dieser Überlieferung entgegen. Die Gesamtmenge von mehreren Hunderttausend Programmen ist für den einzelnen Forscher eigentlich unfassbar, erst recht die Inhaltsfülle der häufig bemerkenswert subtilen Detailmitteilungen, die sich allenfalls durch präzise Forschungsfragen einhegen und erschließen ließe.30

Zur Form der Programme: Die fachwissenschaftlichen Interessen und berufsständischen Kompetenzen der Gymnasiallehrer wurden jeweils im ersten Teil der Programme in der Form von Aufsätzen demonstriert. In dieser Abteilung wurde regelmäßig die Abhandlung eines Lehrers über ein wissenschaftliches, ein theoretisches oder praktisches Thema des Unterrichts oder Lehrerberufs oder eine Rede, meist des Direktors,31 veröffentlicht. Ferner dokumentieren die Programme dort in rund 200 Katalogen die Lehrer- oder Schülerbibliotheken oder die oft bedeutenden Schulsammlungen alter Drucke, nicht selten auch als Separatum,32 dazu Kataloge zu Sondersammelgebieten.33 Die Forschungsbeiträge der Schulmänner waren jeweils zu ihrer Zeit fraglos nicht unbeachtlich. Aber sie waren von sehr enger, ja minutiöser Themenstellung, waren wegen ihrer Liebe für das Detail auch rasch veraltet gegenüber dem Fortschreiten der Fachwissenschaften. Das galt selbst für die numerisch stark vertretenen altphilologischen Beiträge, vor allem aber für die wissenschaftlich zumeist insuffizienten mathematisch-naturwissenschaftlichen; oder sie erschienen in der Substanz bald unerheblich, weil sie nur örtliche Verhältnisse und Phänomene von Flora, Fauna, Geologie und Wetterbedingungen dokumentierten und erörterten. Die Fachwissenschaften mögen zwar zeitweilig Kenntnis von diesen Sachmitteilungen besessen haben, aber sie haben die wissenschaftlichen Leistungen der Lehrer nicht systematisch genutzt und zunehmend als veraltet beiseite gelegt.

Als Beispiel sowohl für die Kleinschrittigkeit als auch die thematische Oszillation der Programmaufsätze folgt hier als ein ebenso typisches wie beliebiges Beispiel die Auflistung von Programmen des Kgl. Friedrich Wilhelms Gymnasium Berlin von 1797, des Friedrichskollegiums Königsberg von 1701 und des Kgl. Katholischen Gymnasiums Köln, jeweils aus den Jahren 1835 bis 1839:

Bemerkungen über den Wert und die Glaubwürdigkeit der Commentarien Caesars (OL E. Bresemer, *1802)

Elementare Syntax (OL G. Drogan, *1804)

De fabulis, quae media aetate de Publio Virgilio Marone circumferentur (Prof. Siebenhaar, *1786)

De varia Cantici Canticorum interpretandi ratione commentatio historica (Prof. Dr. Fr. Uhlemann, *1794)

Kaiser Tiberius. Ein Beitrag zur Charakteristik desselben (Prof. E. A. Wigand, *1795)

Quaestionum Flavianarum specimen (Dr. Friedrich Lewitz, *1805)

Ueber den Ursprung der Erasmischen Aussprache des Griechischen (F. A. Gotthold, *1778)

An- und Aussichten die Mathematik und Physik in den Gymnasien betreffend (Prof. Leonhard Lentz, *1814)

De vocabulis [griech.:]filologos, grammatikos, kritikos (Prof. Dr. Lehrs)

Die Geschichte des Preussischen Jagdwesens von der Ankunft des Deutschen Ordens in Preussen bis zum Schlusse des siebzehnten Jahrhunderts, mit besonderer Bezugnahme auf einige schwierige Aufgaben der Zoologie (OL Prof. J. Georg Bujack, *1835)

Details

Seiten
368
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631909126
ISBN (ePUB)
9783631909133
ISBN (Hardcover)
9783631909119
DOI
10.3726/b21269
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (November)
Schlagworte
Erinnerung Europa Gedenkjahr Gedenktag Geschichte Geschichtskultur Public History Deutschland
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 368 S., 11 Tab.

Biographische Angaben

Wolfgang Jacobmeyer (Band-Herausgeber:in)

Wolfgang Jacobmeyer, 1940 in Hannover geboren, studierte in Hamburg, Oxford und Göttingen, legte Staats- und Assessorexamen ab. Nach der Promotion 1971 war er Referent am Institut für Zeitgeschichte in München, 1978 stellv. Direktor des Georg-Eckert-Instituts in Braunschweig, 1991 (nach der Habilitation 1985 in Hannover) Ordinarius an der Universität Münster. 2005 trat er in den Ruhestand.

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Titel: Hungerleider werden Bildungsbürger: Preußische Gymnasiallehrer 1820–1914