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Kinder- und Jugendliteratur als Gegendiskurs?

Afrikavorstellungen in neueren deutschen und deutsch-afrikanischen Kinder- und Jugendbüchern (1990-2015)

von Alain Belmond Sonyem (Autor:in)
©2018 Dissertation 320 Seiten

Zusammenfassung

Der Afrika-Literatur für Kinder und Jugendliche wird meistens vorgeworfen, Afrika und AfrikanerInnen zu stereotypisieren. In neuerer Zeit ist das Konzept der Interkulturalität entstanden, das die Begegnung zwischen verschiedenen „Kulturen" „positiv" setzt und damit die entgegengesetzte Interpretation zur Stereotypisierung darstellt. Die „afrikanische" Literatur wird als Lösung des teilweise problematischen Schreibens über Afrika vorgeschlagen, als würde man dadurch zweifelsohne klischeefreie Afrikabilder bekommen. Das vorliegende Buch hinterfragt sowohl der interkulturelle als auch der auf dem Stereotyp-Begriff beruhende Ansatz und postuliert, dass das Schreiben über Afrika eine „diskursive Praxis" ist. Die Analysen beziehen die Bücher von deutsch-afrikanischen AutorInnen ein und stellen die Afrika-Literatur als Vermittler vielfältiger, unterschiedlicher und gegeneinander kämpfender Diskurspositionen. Sie zeigen somit, inwiefern die Kinder- und Jugendliteratur als Gegendiskurs betrachtet werden kann.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Abstract
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Forschungsstand: Afrikabilder zwischen Stereotypisierung und Interkultureller Bildung
  • 1.2 Problematik, Hypothesen und Ziele der Arbeit
  • 1.2.1 Afrikavorstellungen statt Afrikabilder
  • 1.2.2 Forschungsfragen und Hypothesen
  • 1.3 Korpus und methodische Vorgehensweise
  • 1.4 Gliederung der Arbeit
  • 2 Deutschsprachige (Kinder- und Jugend)Literarische Afrika-Diskurse und Gegendiskurse
  • 2.1 Begriffsdefinitionen
  • 2.1.1 Kinder- und Jugendliteratur und Kindheitsliteratur
  • 2.1.2 Afrika-Kinder- und Jugendliteratur, deutsch-afrikanische Kinder- und Jugendliteratur, interkulturelle Kinder- und Jugendliteratur
  • 2.1.3 Diskurs und Gegendiskurs
  • 2.1.4 Literarisches Feld und Afrikavorstellungen
  • 2.2 Kolonialer und postkolonialer Diskurs
  • 2.2.1 Kolonialer Diskurs
  • 2.2.2 Postkolonialer Diskurs – postkoloniale Exotik
  • 2.3 Zusammenfassung
  • 3 Reisen von und nach Afrika
  • 3.1 Die deutsche Perspektive: Reisen von Deutschland nach Afrika
  • 3.1.1 „Ägyptomanie und Orientalismus“: Erste Liebe Kairo von Henriette Wich
  • 3.1.2 „Afrika ohne Afrikaner“: Ein Brief aus Afrika von Carna Zacharias (1993, 10–12 Jahre).
  • 3.1.3 Afrika mit Afrikaner_innen. Marie-Thérèse Schins: In Afrika war ich nie allein (1999, 8–10 Jahre)
  • 3.1.4 „Wertevielfalt statt Ethnozentrismus“
  • 3.2 Die deutsch-afrikanische Perspektive: „Voyages à l’envers“: Reisen von Afrika nach Deutschland
  • 3.2.1 Der Flüchtlingsdiskurs: Ortwin Ramadan: Der Schrei des Löwen (2011, 13–17 Jahre)
  • 3.2.2 „Afrika ist keine Hölle“. Alles Gute für dich hier von Mouchi Blaise Ahua.
  • 3.2.3 Literarisches Feld und Afrikavorstellungen
  • 3.3 Zusammenfassung
  • 4 Afrikanische und afrodeutsche Kinder zwischen Tradition und Moderne
  • 4.1 Die deutsche Perspektive
  • 4.1.1 Kultur und Tradition in Marokko. Heidi Hassenmüller: Gegen meinen Willen (2010, 13–16 Jahre)
  • 4.1.2 Kultur und Tradition in „Afrika“ (Schwarzafrika): Sombo (1990 und 1994, ab 12 Jahre) von Nasrin Siege
  • 4.1.3 Dialog statt Fundamentalismus; Wertevielfalt statt Ethnozentrismus
  • 4.2 Die deutsch-afrikanische Perspektive
  • 4.2.1 Kultur und Tradition in Marokko: Ouarda Saillo: Tränenmond. ich war fünf, als meine Kindheit starb (2004)
  • 4.2.2 Kultur und Tradition in „Afrika“. Die Begegnung von Kulturen in Luisa Natiwis Barfuß durch das Horn von Afrika (2014)
  • 4.2.3 Afrikavorstellungen und literarisches Feld
  • 4.3 Zusammenfassung
  • 5 „Das afrikanische Problem“: Afrikanische Kinder zwischen Not und Hoffnung
  • 5.1 Die deutsche Perspektive
  • 5.1.1 Afrika, Schauplatz der extremen Armut: Zu Nasrin Sieges Juma (1998, 11–13 Jahre) und Ich kehre zurück Dadabé (2011)
  • 5.1.2 Zur Dekonstruktion des „Helfersyndroms“: Hermann Schulz: Mandela & Nelson, das Länderspiel/das Rückspiel (2010 und 2013, 10–12 Jahre)
  • 5.1.3 „Gleichwertigkeit statt Paternalismus“
  • 5.2 Die deutsch-afrikanische Perspektive
  • 5.2.1 Kriegskindheit: Feuerherz (2005) von Senait Mehari
  • 5.2.2 Armutskindheit: Mbu Maloni: Niemand wird mich töten (2011, 13–16 Jahre)
  • 5.2.3 Dekonstruktion des „Helfersyndroms“. Kofi, das afrikanische Kind (2007) von Patrick K. Addai
  • 5.2.4 Literarisches Feld und Afrikavorstellungen
  • 5.3 Zusammenfassung
  • 6 Der deutsch-afrikanische Afrika-Diskurs, ein Gegendiskurs?
  • 6.1 Die „Erwachsenenliteratur“
  • 6.1.1 Ein „schwierige[r]‌ Weg zur Interkulturalität“?
  • 6.1.2 Die afro-deutsche Literatur. Eine „Poesie des Überlebens“
  • 6.2 Kinder- und jugendliterarisches „Schreiben als Wortergreifung und Gegendiskurs“?
  • 6.2.1 Postkoloniale Exotik und Selbstkritik
  • 6.2.2 Antworten auf „koloniale Mythen und ihre Diskurse“
  • 6.3 Zusammenfassung
  • 7 Schlussbetrachtung: Sollte die Afrika-KJL „gereinigt“ werden?
  • 8 Literaturverzeichnis
  • 8.1 Primärliteratur
  • 8.1.1 Deutsche Kinder- und Jugendliteratur
  • 8.2 Sekundärliteratur
  • 8.2.1 Literatur zur Kinder- und Jugendliteratur, zu Afrika in der KJL und zu den analysierten Büchern
  • 8.2.2 Literatur zum Begriff Afrika, zur Afrika-Literatur, zur afrodeutschen Literatur und zu afrikanischen Literaturen
  • 8.2.3 Literatur zur Theorie und zur Methode
  • 8.2.4 Sonstiges
  • 8.3 Besuchte Webseiten
  • Autoren- und Begriffsregister

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1Einleitung

This introductive chapter shows that most studies investigating the image of Africa in the German literature for children and young people focus on stereotypes. However, some recent studies lay emphasis on the intercultural function of Africa-literature and present it as a way of promoting intercultural understanding or dialogue. Both studies are presented as partial analysis of the image of Africa as they deliberately select books which justify their assumptions and ignore other aspects. The argument that is presented in this chapter examines representations of Africa and not images. The premise is that Africa appears only as a representation, as it is therefore subject of discourses and counter-discourses. The method used is discourse analysis which focuses on the aesthetic function of literature for children and young people by analysing two main fictive elements: the narrator and the characters. The position of the authors in the paratext is also presented as part of these representations about Africa.

Afrikabilder werden meistens im Rahmen von Studien zu Rassismus in Deutschland behandelt (vgl. Arndt 2001, 2006; Dulko/Kaufmann u.a. 2013). Dies ist auch der Fall, wenn es um die Kinder- und Jugendliteratur (KJL) geht. In einem Vortrag zum Thema Afrikabilder: Rassismus im Kinder- und Jugendbuch am 05. Mai 2013 im Rahmen der Jugendinitiative gegen Rassismus und Antisemitismus in Regensburg merkte Gertrud Selzer Folgendes an:

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Aus der Aussage geht hervor, dass „Afrika“2 mit bestimmten problematischen Vorstellungen in Verbindung gebracht wird. Diese Vorstellungen sind Selzer zufolge auf den kolonialen Diskurs zurückzuführen. Bemerkenswert ist in der Tat, dass die meisten Tagungs- und Ausstellungsberichte, wissenschaftlichen Artikel, Monographien etc. den Eindruck vermitteln, die deutschsprachige Afrika- Kinder- und Jugendliteratur (Afrika-KJL) transportiere nur kolonialrassistische Vorstellungen. Seit Ende der 70er Jahre gibt es jedoch bestimmte Instanzen, die eine Qualitätskontrolle der Afrika-KJL ausüben und jedes Jahr Empfehlungslisten veröffentlichen. Eine davon ist der Kinderbuchfonds Baobab.3 Der ←18 | 19→Gründerin Helene Schär zufolge entstand dieser, als in den 70er Jahren zum allerersten Mal in wissenschaftlichen Untersuchungen Eurozentrismus in Kinderbüchern als Auswirkung von Rassismus benannt wurde (1998b:31). Von der Erklärung von Bern4 unterstützt, stellte sich die Initiative drei Aufgaben: erstens die Herausgabe eines Verzeichnisses von empfehlenswerten Kinder- und Jugendbüchern über die Dritte Welt mit dem Titel FREMDE WELTEN, zweitens die Veröffentlichung einer eigenen Kinder- und Jugendbuchreihe unter dem Label Baobab-Books, die aus übersetzten Autor_innen aus dem Süden bestünde, und drittens die Erarbeitung einer Liste für den Kinder- und Jugendbuchpreis DIE BLAUE BRILLENSCHLANGE, bei dem jedes Jahr herausragende Bücher zum Thema Fremde Welten und Rassismus ausgezeichnet werden (vgl. Schär 1999a:115 f.). Die Rezension und Empfehlung von Kinder- und Jugendbüchern mit Afrika-Bezug gehörte zu einer der ersten Aufgaben der Initiative. Das ursprüngliche Verzeichnis lautete Dritte Welt: Empfehlenswerte Kinder- und Jugendbücher und hatte sich als Ziel den Kampf gegen „Rassismus“, „Ethnozentrismus“ und „Sexismus“ gesetzt (vgl. Schär 1987:6). Ab der neunten Ausgabe 1989 wurde der Name des Verzeichnisses in Fremde Welten geändert. Und seit 1999 wird es nicht mehr nur von der Berner Erklärung, sondern auch von Terre des hommes5 unterstützt. Die zu bekämpfenden Phänomene „Ethnozentrismus“, ←19 | 20→„Rassismus“, und „Sexismus“ wurden nun um die Problematik des „Paternalismus“ erweitert (vgl. Schär 1999b:4 f.). Ab der sechzehnten Ausgabe 2005 und mit dem seit 2013 bestehenden neuen Titel Kolibri: kulturelle Vielfalt in Kinder- und Jugendbüchern wird nicht mehr nur das Abzulehnende betont, sondern auch das Wünschenswerte benannt, z.B. „Wertevielfalt statt Ethnozentrismus“, „Gleichwertigkeit statt Paternalismus“, „Respekt statt Rassismus“, „Gender statt Sexismus“, „Dialog statt Fundamentalismus“ (vgl. Gadient 2015:4 f.). Die Kriterien vom Baobabfonds zur Selektion von empfehlenswerten Büchern sind u.a. die Charakterisierung der handelnden Figuren (differenziert oder klischeehaft), die Beziehung zwischen den Menschen verschiedener Herkunft (paternalistisch oder nicht), die Beschreibung unterschiedlicher Lebensformen und -normen (gleichwertig oder nicht), „versteckte Botschaften“, die Schreibintentionen der Autor_innen und Illustrator_innen und das Erscheinungsjahr des Werkes (ebd.:7 f.). Über das letzte Kriterium steht in der Ausgabe von 1999 zu lesen: „Ein neu erschienenes Buch ist zwar noch keine Garantie für Qualität, aber die Chance, dass das Bild der Menschen in diesen Kontinenten [Afrika, Asien und Lateinamerika] realitätsgerechter vermittelt wird, ist größer“ (vgl. Schär 1999b:11). Eine weitere nicht zu übersehende Aufgabe der Baobab-Initiative besteht darin, die ins Deutsche übersetzten Bücher aus der Dritten Welt zu fördern. Dies wird dadurch begründet, dass die Schriftsteller_innen aus Afrika, Asien und Lateinamerika andere Bilder der Dritten-Welt vermitteln. Helene Schär argumentiert hierzu:

Seit Jahrhunderten handeln Kinder- und Jugendbücher über die ‚Dritte-Welt‘ von Exotik, dunklen, faszinierenden oder furchterregenden Zauberritualen, Trommel schlagenden Männern und tanzenden Frauen, von ekelerregenden Essgewohnheiten und unzulänglicher medizinischer Versorgung oder von Elend, Hunger und Krieg, hilfsbedürftigen und Mitleid erregenden Menschen. (…) Sie bilden Antipoden zu unserem eigenen Leben und helfen uns, mit uns selbst zufrieden auf die anderen herabzusehen oder sie in der Unzulänglichkeit ihrer Lebensumstände zu bemitleiden. (…) Afrika z.B. gilt als ‚Fantasieort‘, wie etwa das Schlaraffenland. Afrikanische, asiatische, lateinamerikanische Schriftsteller und Schriftstellerinnen bestätigen uns solche Bilder in der Regel nicht (2010:5 f., Hervorhebung von mir).

Schär stellt somit den Diskurs über die Dritte Welt von deutschen Kinder- und Jugendbuchautor_innen dem Diskurs von Autor_innen aus der Dritten Welt gegenüber. Mit der Aussage im Motto dieser Arbeit schreibt Riesz afrikanischen Autor_innen eine gegendiskursive Aufgabe zu. Diese Aufgabe besteht darin, „den kolonialen Mythen und Diskursen“ von „Weißen“ (hier europäischen Autor_innen) antworten zu „müssen“. In Anknüpfung an die dargelegte Situation setzt sich die vorliegende Arbeit zum Ziel zu überprüfen, ob heute mit dem ←20 | 21→Einsatz von Empfehlungsinstanzen in der KJL zwischen 1990–2015 von einem neuen Afrikabild gesprochen werden kann und ob bzw. inwiefern deutsch-afrikanische6 Kinder- und Jugendbuchautor_innen einen Gegendiskurs zum deutschen kinder- und jugendliterarischen Afrika-Diskurs artikulieren, ob diese Literatur als „Wortergreifung und Gegendiskurs“ (vgl. Simo 2012) betrachtet werden kann. Die Entscheidung für die Periode ist damit zu begründen, dass in dieser Zeitspanne eine Vielzahl von Kinder- und Jugendbüchern mit Afrika-Bezug im deutschen Sprachraum erschienen ist. Im Bibliothekskatalog des Instituts für Jugendbuchforschung der Goethe Universität Frankfurt sind es genau 872 Titel zwischen 1990 und 2015 im Gegensatz zu 520 Titeln zwischen 1865 und 1990.7 Es bleibt zu untersuchen, ob all diese Bücher von Empfehlungsinstanzen kontrolliert wurden, und ob dieser Veröffentlichungs-Boom dem Versuch zur Verbesserung vom sogenannten problematischen Afrika-Diskurs zugrunde liegt. Ab den 90er Jahren ist auch die Entstehung der deutsch-afrikanischen KJL festzustellen. Diese Literatur soll in der vorliegenden Arbeit auf ihr gegendiskursives Potential untersucht werden. Die systematische Untersuchung der deutsch-afrikanischen KJL stellt bislang eine Forschungslücke dar, die mit der vorliegenden Arbeit geschlossen werden soll.

1.1Forschungsstand: Afrikabilder zwischen Stereotypisierung und Interkultureller Bildung

Die Forschung zeigt, dass Afrikabilder in der KJL einer Stereotypisierung von „Afrika“ und „Afrikaner_innen“ unterliegen bzw. das Ergebnis einer Stereotypisierung sind. Die Stereotype8 besitzen eine Entwicklung, welche sich von der Aufklärung bis in die 90er Jahren erstreckt. In neuerer Zeit ist das Konzept der ←21 | 22→Interkulturalität entstanden, das die Begegnung zwischen verschiedenen „Kulturen“ „positiv“ setzt und damit die entgegengesetzte Interpretation zur Stereotypisierung darstellt. Im Folgenden sollen deshalb zum besseren Verständnis des Forschungsfeldes verschiedene Autor_innen und ihre Analysen vorgestellt werden.

Stereotypisierung

Der von Gottfried Mergner und Ansgar Häfner anlässlich der elften Oldenburger Kinder- und Jugendbuchmesse9 herausgegebene Sammelband Der Afrikaner im deutschen Kinder- und Jugendbuch (1985) setzt sich mit „rassistische[r]‌ Stereotypenbildung auseinander. Die Beiträge zeigen, wie „Afrika“ und „Afrikaner“ von der Aufklärungszeit bis zum Nationalsozialismus Gegenstand folgender stereotypisierender Vorstellungen gewesen sind: „Weites Land und edle Wilde“, „unheimliche[r] Wilde und treue[r], brave[r] Diener“, „nutzlose Helden“, „Erziehungsobjekt der christlichen Missionen“, „Neger“ etc. (vgl. Mergner 1985:18). Auffallend in diesem Buch ist der allgemeine Versuch zu zeigen, wie „Afrika“ in der deutschsprachigen KJL der behandelten Periode „negativ“ dargestellt wurde, und dass die Bücher zur rassistischen Stereotypenbildung beigetragen haben.10 Auch Brigitta Benzing betrachtet die Afrika-KJL der 60er und der 70er Jahre als eine Landliteratur, die dem Afrikaner bzw. der Afrikanerin eine ←22 | 23→sehr geringe Rolle einräumt. Das Land war immer besser als die Leute (1978), so lautet ihre Herangehensweise an die meisten Publikationen dieser Zeitspanne. „Afrika ohne Afrikaner“, „Afrikaner in der Kulisse und als Nebenakteure“, europazentrische „Begegnung mit der afrikanischen Geschichte“ und in geringem Maße „die afrikanische Gegenwart“ lauten die Schlussfolgerungen, die sie nachfolgend herausarbeitet.11

Das Bild des Schwarzafrikaners in der deutschsprachigen KJL der 80er und der 90er Jahre sowie in der afrikanischen KJL in deutscher Übersetzung behandelt Kodjo Attikpoe in seiner Monographie Von der Stereotypisierung zur Wahrnehmung des ‚Anderen‘. Vom Titel ausgehend gewinnt man den Eindruck, dass es um einen Übergang geht, aber es geht dem Autor vielmehr darum zu zeigen, wie Stereotype in den behandelten Büchern fortbestehen. Für den theoretischen Hintergrund der Arbeit bedient sich Attikpoe unter anderem des Stereotypenkonzepts und des Negermythos. Im Fokus seiner Werkanalyse stehen mehrere Diskurse. Zum einen der Diskurs des Exotischen, wobei „Afrika als Projektionsfläche exotischer Sehnsüchte“ (2003:89–116) fungiert. Ein weiterer zentraler Diskurs ist der des Primitiven. Während dieser „ein[en] Rest kolonialistischen Diskurses“ (ebd.:117–135) verbirgt, beruht der Diskurs des Rassismus auf „ästhetische[r]‌ Verwendung von rassistischen Stereotypen“. Und nicht zuletzt betont der Autor den Diskurs des Afro-Pessimismus12, bei dem das „afrikanische ←23 | 24→Problem“ literarisch verarbeitet wird (ebd.:136–155).13 Es gehe um „das leidende afrikanische Kind“ oder um „bejammerns- und bemitleidenswerte“ Afrikaner_innen. Auch die „Annäherung an afrikanische Realitäten“ und die „Suche nach dem authentisch Afrikanischen“ (ebd.:156–163) mündet in eine „phantasievolle Konstruktion Afrikas“ und „die Romantisierung des Erzählten“. Als abschließende Bemerkung schreibt Attikpoe:

Das Afrikabild in der neueren deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur hat keinen substantiellen Wandel erfahren. Die Darstellung des afrikanischen Kontinents und seiner Bewohner knüpft an die Kontinuität der gängigen tradierten Afrikavorstellungen und ist insgesamt von negativem Charakter. Das Bild ist vielschichtig. Nach wie vor bleibt Afrika der Kontinent der Projektionen. (…) Stereotypisierung im Kinder- und Jugendbuch scheint unvermeidbar zu sein (ebd.:207).

Den afrikanischen Kinder- und Jugendbüchern in deutscher Übersetzung spricht Attikpoe als Alternative zum fragwürdigen deutschen Afrikabild eine interkulturelle Aufgabe zu. Er spricht dabei vom „autochthone[n]‌ Afrika-Diskurs“ (ebd.:164–206). In den analysierten Büchern zeige sich „Afrika“ in neuer Sicht. Ein „anderes“ Bild werde durch eine „neutrale und authentische Erzählweise“ im Gegensatz zu „Kulturüberheblichkeit und Ethnozentrik“ gezeichnet, welche die original deutschsprachige Afrika-Literatur kennzeichne.14

←24 | 25→

Angesichts des sogenannten fortdauernden negativen Afrikabildes in der KJL versucht Komi Edinam Akpemado dieses Bild in der deutschsprachigen Literatur zu „(re)kontextualisieren“, stößt aber immer wieder auf Stereotype und Klischees. Am Beispiel von fünf Werken (einem Bilderbuch bzw. Comic, das er als fiktionale Literatur bezeichnet, drei journalistischen Reportagen, und einem autobiographischen Werk) versucht Akpemado „Afrika als Konstrukt“ zu analysieren (2013:13). Das einzige Kinderbuch, nämlich Tim im Kongo vom belgischen Autor Hergé untersucht er wegen dessen großer Resonanz in Deutschland. Darin verdeutlicht Akpemado das Bild des „hilfsbereite[n]‌ und ausländerfreundliche[n]“, des „gutgläubige[n]“, des „korrupte[n]“ und des „medientechnisch naive[n] und leicht beeinflussbare[n]“„Afrikaners“ wie auch das Bild eines „exotisch wilden“ „Afrikas“ im kolonialen Kontext (ebd.:107–144). Der Comicband stelle die Unterlegenheit der Afrikaner und in Gestalt der Hauptfigur Tim die Überlegenheit des weißen Belgiers dar. Mittels der interkulturellen Hermeneutik versucht Akpemado somit seinen Beitrag „zum besseren Verständnis der Geschichte, Kultur und Soziologie des afrikanischen Kontinents durch die (Re)kontextualisierung der Werke“ zu leisten (ebd.:9).

Interkulturelle Bildung

In sechs Afrika-Kinder- und Jugendbüchern, die zwischen 1985 und 2002 erschienen sind, untersucht Inga Pohlmeier (2004) „interkulturelle Erziehungsaspekte“.15 Sie beschäftigt sich einerseits mit Büchern, die das Leben afrikanischer ←25 | 26→Menschen in Europa thematisieren, wie auch mit Büchern, die das Leben afrikanischer Menschen in Afrika beschreiben. Ebenfalls Gegenstand ihrer Analyse sind die Bücher, die von Reisen europäischer Menschen nach Afrika handeln. Ihr Korpus besteht, wie bei Attikpoe, aus neueren Büchern von deutschsprachigen Autor_innen sowie aus übersetzter „afrikanischer“ KJL. Pohlmeiers Anliegen ist es, herauszustellen, welchen Beitrag diese Texte zur interkulturellen Erziehung leisten können. In diesem Sinne erscheinen alle analysierten Bücher als für interkulturelle Erziehungsarbeit gut einsetzbare Produkte. Den Autor_innen sei es gelungen, „Afrika“ und „Afrikaner“ klischeefrei darzustellen. Diese wirken

Allen bisher genannten Autor_innen ist gemeinsam, dass sie die von ihnen untersuchten Werke einseitig betrachten, das heißt entweder aus der Perspektive der Stereotypisierung oder der Interkulturalität. Diese Betrachtungsweise ist jedoch zu kritisieren, denn es werden entweder nur Bücher berücksichtigt, die ein stereotypisierendes Afrikabild vermitteln oder Bücher, die auf schöne Aspekte eingehen und die problematischen Aspekte außer Acht lassen. Eine Ausnahme ←26 | 27→bildet Amanda de Beer. In ihrer Analyse ist ein Gleichgewicht in der Behandlung beider Aspekte festzustellen.

Amanda Erika de Beer (2015) vergleicht in ihrer Dissertation17 die Abenteuerliteratur für Jugendliche18 von der Kolonialzeit bis ins Jahr 1945 mit der Abenteuer-Jugendliteratur der BRD und der DDR. Sie untersucht, ob und wie das Afrikabild sich entwickelt hat und ob in der Jugendliteratur nach 1945 eine postkoloniale Perspektive zu erkennen ist. Beer stellt in der Abenteuerliteratur des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts fest, dass „Afrika“ vornehmlich als „exotische Kulisse“ dient, was im Gegensatz zur Literatur nach 1945 steht (ebd.:201). Mit den Begriffen „Krieg, Paternalismus und Ambivalenz“ bezeichnet sie den Umgang mit Kolonialafrika in dieser Zeit (ebd.:36). Es gehe um eine Literatur, die die Überlegenheit gegenüber den anderen Völkern zur Grundlage hat. Zwischen 1950 und 1970 habe es in der BRD wie Beer zeigen kann überwiegend eurozentrische Erzählungen gegeben, aber „im gleichen Zeitraum auch gut recherchierte Romane und Erzählungen, die sich kritisch mit der Kolonialvergangenheit auseinandersetzten“ (ebd.:79). In der DDR sei ein „Akzent auf Authentizität und eine nichtrassistische Darstellung“ gelegt worden und es seien „postkoloniale literarische Annäherungsversuche“ (ebd.:167) im Missionsroman nach der Wende festzustellen.

In ihrer Dissertation mit dem Titel Interkulturalität und Afrikabilder in der zeitgenössischen Jugendliteratur versucht Lorna Okoko (2014) differenzierter vorzugehen. Obwohl sie noch Spuren von Afro-Pessimismus in den ab 1990 erschienenen deutschsprachigen Jugendromanen am Beispiel der Armutsproblematik feststellt, interessiert sich Okoko vielmehr für interkulturelle Aspekte und postkoloniale diskursive Entwürfe in den Büchern. Sie zeigt, wie die zeitgenössische Jugendliteratur über ein interkulturelles Potenzial verfügt und zur interkulturellen Erziehung der Kinder beitragen könnte. Es gehe nicht nur um Beschönigung des Afrikabildes und offene Kritik gegen die Verachtung bzw. Misshandlung von Afrikaner_innen, sondern vielmehr um die kritische Reflexion einiger Aspekte des deutschen Kolonialismus und Postkolonialismus in Afrika und um die Infragestellung eurozentristischer Diskurse und eine authentischere Darstellung Afrikas. Okoko kommt zu dem Schluss, dass „Afrika“ in ←27 | 28→einer signifikanten Anzahl von Büchern „als kulturelle Ergänzung, als Komplementarität wahrzunehmen [sei], wobei die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den afrikanischen Realitäten bzw. den afrikanischen Kulturen deutlich wird“ (ebd.:281). Sie schließt ihre Dissertation mit dem widersprüchlichen Hinweis ab, dass eine realitätsnahe Darstellung bzw. interkulturelle Kompetenz in der deutschen KJL festzustellen sei, sie jedoch der Aufgabe, für kulturelle Informationen und Gegebenheiten Afrikas zu sensibilisieren noch nicht ganz gewachsen sei (ebd.:282). An dieser Stelle ist kritisch anzumerken, ob die der Afrika-KJL zugeschriebenen Aufgaben nicht selbst zu hinterfragen seien. Das heißt, werden vielleicht der literarästhetische Aspekt dieser Literatur und die damit gebundenen zentralen Aspekte übersehen, wenn der Fokus nur auf Stereotype oder auf interkulturelle Aspekte gelegt wird?19

Von „problematischen“ und „authentischen“ Afrikabildern

Seit dem Oldenburger Symposium im Jahr 1985 über rassistische Stereotypenbildung versuchen weitere Afrika-Kinder- und Jugendbuchaussteller politisch korrekter zu sein.20 Ein von Joachim Schulz (2008) herausgegebener Ausstellungskatalog handelt von Büchern – erschienen zwischen der Kolonialzeit und 2008 –, „die nicht unbedingt als rassistisch bezeichnet werden können“. Was unter „nicht unbedingt“ gemeint wird, bleibt dahingestellt. In seinem Katalog werden Afrika-Bücher aus Deutschland und Frankreich sowie Bücher – überwiegend Märchen – aus dem frankophonen Afrika dargestellt. Auffallend und kritisierbar ist die dabei implizite Anspielung an sogenannte rassistische Bücher, was eine Unterscheidung zwischen problematischen und unproblematischen Büchern im kinder- und jugendliterarischen Feld vermittelt. Ob „afrikanische“ ←28 | 29→Märchen ein „authentisches“ Afrikabild vermitteln, ist noch nicht abschließend geklärt. Das Oldenburger Symposium von 2012 zum Thema Wie schön fern ich bin21 handelt wieder von Afrikabildern, diesmal aber mit der Absicht „die Vielfalt des afrikanischen Kontinents, seiner Kinder- und Jugendliteratur sowie seiner Kulturen“ zu entdecken. Es geht um Überlegungen zur deutschsprachigen Afrika-KJL wie auch zur afrikanischen KJL. Von einem dynamischen, aktuellen wie auch traditionellen und dabei differenzierten Bild „Afrikas“ ist es diesmal die Rede. Die Einbeziehung von „afrikanischen“ Akteuren fällt auf. Der Eindruck entsteht wieder, dass man mit ihnen ein anderes Afrikabild bekomme.

Aus den hier vorgestellten Forschungsständen ergeben sich verschiedene Schlussfolgerungen. Zum einen macht die Auseinandersetzung mit diesen Autor_innen die Breite des Spektrums deutlich. Es wird von dem Interkulturellen Ansatz und dem Bemühen um Political Correctness durch die Kontrolleinstanzen und die Kinder- und Jugendbuchausstellungen als Reaktion auf den Dritte-Welt-Diskurs und die „Stereotypisierung“ mittels der Afrika-KJL gesprochen. Die „afrikanische“ Literatur wird als Lösung des teilweise problematischen Schreibens über Afrika vorgeschlagen, als würde man dadurch zweifelsohne klischeefreie Afrikabilder bekommen. Die Betrachtung des Forschungsstandes hat auch gezeigt, dass die Überfokussierung auf bestimmte Werkaspekte infrage gestellt werden kann. Ebenso ist der Hinweis auf den afrikanischen Afrika-Diskurs als Gegendiskurs einer Überprüfung zu unterziehen.

Von besonderem Interesse für die vorliegende Arbeit sind vor allem die These von Kodjo Attikpoe (2003) über die Stereotypisierung und die These von Lorna Okoko (2014) über die Interkulturalität, denn daraus, wie im Folgenden gezeigt wird, ist die Hauptthese der vorliegenden Arbeit entwickelt worden.

1.2Problematik, Hypothesen und Ziele der Arbeit

Dieser Arbeit und den Dissertationen von Kodjo Attikpoe und von Lorna Okoko sind die Wahl der Untersuchungsperiode sowie des Korpus gemeinsam.22 Eine ←29 | 30→weitere Gemeinsamkeit mit den Arbeiten der oben erwähnten Autor_innen bildet in der vorliegenden Arbeit die besondere Berücksichtigung der Motive des Reisens (das bei den beiden Autor_innen vorkommt) und des „afrikanische[n]‌ Problem[s]“ (das nur bei Attikpoe vorkommt).

Im Gegensatz aber zu Attikpoe, der bewusst Bücher untersucht, die überwiegend „nicht als Lektüre“ empfohlen werden und sie als „Eckpfeiler der literarischen Repräsentation des Afrikabildes im deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuch“ (Attikpoe 2003:26 f.) wahrnimmt, und zu Okoko, die sich nur für „renommierte Schriftsteller [interessiert], die sich im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur etabliert haben und deren Bücher bei Verlegern und anderen namhaften Institutionen sowie Literaturkritikern Beachtung gefunden haben“ (Okoko 2014:59), werden in dieser Arbeit sowohl fast unbekannte als auch renommierte Autor_innen, empfohlene und nicht empfohlene Bücher behandelt, um der Vielfalt der Positionen zum Afrika-Diskurs Rechnung zu tragen. Der Korpus von Attikpoe sowie der von Okoko soll dazu führen, die Theorie des literarischen Feldes näher in Betracht zu ziehen. Damit wird überprüft, ob die Afrikavorstellungen der Autor_innen davon abhängen, ob sie renommiert sind oder nicht, und was genau der Empfehlung bestimmter Bücher zugrunde liegt. Hinterfragt werden in dieser Arbeit auch sowohl der interkulturelle, als auch der auf dem Stereotyp-Begriff beruhende Ansatz und es wird postuliert, dass das Schreiben über Afrika eine „diskursive Praxis“ ist.23 Der Begriff „Afrika“ wird in dieser Arbeit nicht als eine wahrnehmbare Realität, sondern als „Idee“ (vgl. Simo 2010:75) oder als „Konstrukt“ (vgl. Macamo 1999), besser als Vorstellung angewendet. Aus diesem Grund wird eher von Afrikavorstellungen statt von Afrikabildern gesprochen.

Details

Seiten
320
Jahr
2018
ISBN (PDF)
9783631772904
ISBN (ePUB)
9783631772911
ISBN (MOBI)
9783631772928
ISBN (Hardcover)
9783631757192
DOI
10.3726/b15137
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Kinder- und Jugendliteratur Afrika Afrikabild Diskurs Diskursanalyse Erzähler Figur Reisen Tradition
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2018. 320 S.

Biographische Angaben

Alain Belmond Sonyem (Autor:in)

Alain Belmond Sonyem ist Lehrbeauftragter an der University of Yaoundé I in Kamerun. Er forscht seit fünfzehn Jahren zur deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur und hat bereits zwei Monographien und zahlreiche Artikel veröffentlicht

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Titel: Kinder- und Jugendliteratur als Gegendiskurs?
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