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Inszenierte Heiligkeit

Soziale Funktion und symbolische Kommunikation von lebenden Heiligen im hohen Mittelalter

von Andreas Rentz (Autor:in)
©2019 Dissertation 468 Seiten
Reihe: Beihefte zur Mediaevistik, Band 24

Zusammenfassung

Lebende Heilige sind Personen, die zu Lebzeiten von ihren Zeitgenoss*innen verehrt wurden und wundertätig waren. Bis heute waren sie nur ausnahmsweise Gegenstand der Forschung. Ausgehend von sozialkonstruktivistischen Ansätzen und aktuellen Ergebnissen der Ritualforschung fragt der Autor nach dem Weg der Inszenierung lebender Heiliger und ihren gesellschaftlichen Funktionen. Verschiedene Akte symbolischer Kommunikation wie die Demonstration von Demut und Armut durch ärmliche Kleidung oder ausgiebiges Fasten werden ebenso behandelt wie die Funktion der Heiligen als Lehrer*innen und Mahner*innen, Friedensstifter oder Missionare. Entscheidend für ihre Etablierung und für die Wahrnehmung ihrer Funktionen sind ihre Wunder, die als ritualisierte symbolische Handlungen gedeutet werden.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Herausgeberangaben
  • Ãœber das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Vorbemerkungen zur Sprache
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1. 1. Hinführung
  • 1. 2. Forschungsgeschichte
  • 1. 3. Theorie und Methode
  • 1. 4. Quellen
  • 2. Die Konstituierung lebender Heiliger
  • 2. 1. Vorbemerkungen
  • 2. 2. Armut und Demut
  • 2. 3. Bestätigung durch signifikante Andere
  • 2. 4. Stigmata
  • 2. 5. Wunder
  • 2. 6. Visionen und Erscheinungen
  • 2. 7. Eloquenz und Gelehrsamkeit
  • 2. 8. Gehorsam und Ehrerweisung
  • 2. 9. Scheiternde Wunder, scheiternde Heilige
  • 2. 10. Zusammenfassung
  • 3. Die Funktionen lebender Heiliger
  • 3. 1. Heilige als Wunderheiler*innen, Exorzist*innen und Lebensretter*innen
  • 3. 2. Heilige als Friedensstifter
  • 3. 3. Heilige als Missionar*innen
  • 3. 4. Heilige als Kreuzzugsprediger
  • 3. 5. Heilige als Lehrer*innen und Mahner*innen
  • 3. 6. Heilige als politische Berater*innen
  • 3. 7. Biblische und spätantike Figuren als Rollenmodelle lebender Heiliger
  • 3. 8. Zusammenfassung
  • 4. Die Adressat*innen lebender Heiliger
  • 4. 1. Nähe und Distanz
  • 4. 2. Der Umgang mit ranghohen Geistlichen
  • 4. 3. Der Umgang zwischen lebenden Heiligen
  • 4. 4. Der Umgang mit verstorbenen Heiligen
  • 4. 5. Zusammenfassung
  • 5. Zusammenfassung und Ausblick
  • 6. Quellen- und Literaturverzeichnis
  • 7. Personenregister

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1. Einleitung

Abstract: This chapter introduces the main topics and themes of this study. It gives an overview of the research history of hagiography and living saints and introduces theories and methods, focussing on a social constructivist approach and on recent results concerning ritual theory. Afterwards the sources, which are going to be examined, are presented.

1. 1. Hinführung

Die Vogelpredigt des Franz von Assisi dürfte zu seinen bekanntesten Wundern zählen, gelten doch Vögel auch heute noch als seine wichtigsten Attributtiere1. Zahlreiche Kunstwerke aus dem späten Mittelalter bezeugen die Faszination dieser Geschichte für die Menschen2. Auch in seiner Hagiographie begegnet diese Episode immer wieder. Eine wenig bekannte Version überliefert Rufinus Bengarmi: „Es erzählte Bruder Massäus, der zugegen war, als der selige Franz den Vögeln predigte: Während dieser ganz in Andacht versunken längs des Weges eine Menge Vögel fand, wollte er ihnen predigen, wie er es früher schon bei anderen getan hatte. Doch als diese den seligen Franz sich ihnen nähern sahen, flogen sie alle weg, und keiner wartete wirklich. Wieder zu sich gekommen, begann er sich heftig zu tadeln und zu schmähen, indem er sagte: ‚Verwegener und eingebildeter Sohn des Pietro Bernardone!‘ Denn er wollte, dass die vernunftlosen Kreaturen seinem Befehl gehorchten, wie sie es ihrem Schöpfer gegenüber tun. Darum, wenn du es wohl bedenkst, Leser, so war dies eine Bestätigung des vorhergehenden Zeichens und bewahrte Franz vor aufgeblähtem Hochmut, falls solcher überhaupt im Sinn des seligen Vaters Franz hätte entstehen können.“3

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Ungewöhnlich an dieser Erzählung ist, dass Franz mit seinem Versuch, ein Wunder zu wirken und über Vögel Kontrolle auszuüben, scheiterte. Gezeigt wird eine Person, die von ihrer eigenen Gottesbegnadung überzeugt ist und ein Mirakel gewissermaßen erzwingen will. Bei der Lektüre von Wundererzählungen gewinnt man üblicherweise den Eindruck, es mit spontanen Handlungen zu tun zu haben. Ja mehr noch: Der oder die Heilige erscheint in Mirakelberichten eher als ein passives Medium, durch das Gott als eigentlich aktiver Part die Mirakel wirkt4. Hier jedoch wird Franz als eine Person gezeigt, die aktiv seine Wunderkraft unter Beweis zu stellen versucht. Dabei tun sich mehrere Fragen auf: Ist es denkbar, dass Heiligkeit lebender Personen und deren Wunder im Mittelalter inszeniert wurden? Aus welchen Gründen geschah das? Was wurde durch die Inszenierung zum Ausdruck gebracht?

Ob diese Erzählung historisch ist oder nicht: Hagiographisch bewältigt wird das gescheiterte Wunder durch die Selbstbeschimpfung des Franz, womit er seine Demut zum Ausdruck bringt, wie Rufinus betont. Diese Episode von einem Heiligen, der sich erfolglos als Wundertäter zu präsentieren versucht, wurde in der Forschung bislang kaum beachtet. Das mag daran liegen, dass Rufinus ein Franziskaner war, der etwa zwischen 1280 und 1300 einige Berichte von Gefährt*innen des Franz verschriftlicht hat, wobei diese Texte lediglich in einer italienischen Übersetzung aus dem beginnenden 16. Jahrhundert erhalten sind5. Im Fokus der Forschung standen zumeist die älteren Erzählungen von den Vogelpredigten des Franz6, die allerdings als Allegorien interpretiert wurden.

So berichtet der älteste Biograph Thomas von Celano nur wenige Jahre nach dem Tod des Heiligen folgendes: „Während sich inzwischen, wie erwähnt, viele den Brüdern beigesellt hatten, zog der hochselige Vater Franz durchs Spoletotal. Er wandte sich einem in der Nähe von Bevagna gelegenen Ort zu. Dort war eine große Schar von Vögeln aller Arten versammelt: Tauben, kleine Krähen und andere, die im Volksmund Dohlen heißen. Als der Diener Gottes sie erblickte, ließ er seine Gefährten auf dem Wege zurück und lief rasch auf die Vögel zu, war er doch ein Mann mit einem überschäumenden Herzen, das sogar den niederen und unvernünftigen Geschöpfen in hohem Grade innige und zärtliche Liebe entgegenbrachte. Als er schon ziemlich nahe bei den Vögeln war und sah, dass sie ihn erwarteten, grüßte er sie in gewohnter Weise. Nicht wenig aber staunte er, dass die Vögel nicht wie gewöhnlich auf- und davonflogen. Ungeheure Freude erfüllte ihn, und er bat sie demütig, sie sollten doch das Wort Gottes hören. Unter anderem sagte er zu ihnen: […] ←12 | 13→Bei diesen Worten jubelten jene Vögel auf ihre Art und fingen an, die Hälse zu strecken, die Flügel auszubreiten, die Schnäbel zu öffnen und auf ihn hinzublicken, wie er selbst und die bei ihm befindlichen Brüder erzählten. Er aber wandelte in ihrer Mitte auf und ab, wobei seine Kutte ihnen über Kopf und Körper streifte. Schließlich segnete er sie, und nach dem Kreuzzeichen über sie gab er ihnen die Erlaubnis wegzufliegen. Da zog nun auch Franz mit seinen Gefährten freudigen Herzens weiter und dankte Gott, den alle Geschöpfe auf ihre Art bekennen und verehren.“7

Die jüngsten Arbeiten, die sich kritisch mit dieser Episode auseinandergesetzt haben, stammen von Dominic Alexander8 und Paul Bösch9. Beide sind sich einig darin, es mit einer von Thomas von Celano erfundenen Allegorie zu tun zu haben, wobei sie die Funktion dieser Geschichte unterschiedlich erklären. Alexander betont die Stellung der Episode in der Vita, die direkt auf die Erzählung des misslungenen Versuchs von Franz, den ägyptischen Sultan al-Kamil zu bekehren10, folgt. Die Vogelpredigt solle auf die Ungläubigen ein schlechtes Licht werfen, da im Gegensatz zu diesen sogar vernunftlose Geschöpfe wie Vögel fähig wären, einer Predigt des Franz zuzuhören und auf diese positiv zu reagieren11. Darüber hinaus sei die Vogelpredigt wie jede andere Tiergeschichte zu Franz von Assisi eine Darstellung des Paradieses, in ←13 | 14→welchem der Heilige mit Tieren kommunizieren könne; Thomas hätte dies als bewussten Kontrast zur Realität im Italien des 13. Jahrhunderts konzipiert, das sich aufgrund der für die damalige Zeit fortgeschrittenen Urbanisierung weit von paradiesischen, natürlichen Verhältnissen entfernt hätte12.

Bösch dagegen sieht in den Vögeln eine Metapher für Häretiker*innen und in der Geschichte eine allegorisch stilisierte Mahnung an die Leser*innen, Ketzer*innen zu bekehren13. Indizien hierfür wären die Tatsache, dass es sich bei der Vita um ein Auftragswerk Gregors IX. handelt14, der die Minderbrüder zur Missionierung von Häretiker*innen aufgerufen hat15, sowie ein im Text enthaltenes Bibelzitat, das auf eine Predigt Christi vor einem widerstrebenden Publikum verweist16. Auch wenn die Beobachtungen von Alexander und Bösch zur literarischen Funktion der Vogelpredigt ihre Berechtigung haben, so ist das Urteil, diese sei erfunden, doch in Frage zu stellen – zumal dann, wenn man noch andere Quellen, die von der Vogelpredigt berichten17, zum Vergleich heranzieht.

Beispielsweise den eingangs zitierten Rufinus Bengarmi. Denn dieser beruft sich auf einen Augenzeugen unabhängig von Thomas, den er auch beim Namen nennt: Bruder Matthäus. Obwohl auch Thomas von Celano seinen Bericht auf Augenzeugen zurückführt18, wird (abgesehen von Franz selbst) kein*e Beteiligte*r namentlich genannt. Daher handelt es sich bei der Erwähnung von Matthäus um einen bei Rufinus enthaltenen Informationsüberschuss. Und will man den Gewährsmann nicht für eine Erfindung des Autors halten, so liegen zur Vogelpredigt zwei voneinander unabhängige Quellen vor. Insofern ist es doch fraglich, ob die Geschichte selbst tatsächlich nur eine Erfindung des Thomas von Celano war. Allerdings zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass er und Rufinus zwei verschiedene Episoden schildern: Thomas beschreibt die erste Vogelpredigt überhaupt, während Rufinus einen Franz zeigt, der sie bereits häufiger gehalten haben soll – anscheinend ←14 | 15→auch mit Erfolg, da gerade das Scheitern des „Wunders“ in diesem Bericht außergewöhnlich ist19.

Der Befund lässt den Schluss zu, dass es sich bei mittelalterlichen Wundererzählungen durchaus um Reflexionen einer tatsächlichen historischen Praxis handeln könnte, durch die Heiligkeit und Wunderkraft lebender Heiliger inszeniert wurden. Mit dem Begriff der Inszenierung ist ein Stichwort gefallen, das im Sonderforschungsbereich 496 „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme“ der Universität Münster eine bedeutsame Rolle spielt. Folgende Fragen ergeben sich: Mit welchen Formen symbolischer Kommunikation inszenierten Personen zu Lebzeiten ihre Heiligkeit? Welche gesellschaftlichen Funktionen wurden ihnen zugesprochen, wenn sie einmal als Heilige anerkannt waren? Sind mittelalterliche Wunder als symbolische Handlungen oder gar Rituale interpretierbar? Welche Funktion hatten sie in der zeitgenössischen Gesellschaft?

1. 2. Forschungsgeschichte

Die Hagiographie stellt mit ihren unterschiedlichen Ausformungen wie Viten, Mirakelberichten oder Kanonisationsakten die wichtigste Quellenform für die Frage nach der Inszenierung von Wundern und Heiligen dar20. Mittlerweile hat sich in der Forschung die Auffassung weitgehend durchgesetzt, Hagiographie nicht mehr als eine Gattung aufzufassen, sondern als eine Kategorie21 oder als ein Diskurs, der „nicht nur durch seinen Gegenstand (Heilige), sondern auch in Hinblick auf seine Funktionen, seine Motive und Themen sowie ←15 | 16→das Verhältnis von Aussage und geschichtlicher Wirklichkeit bestimmt“22 wird und sich dazu verschiedener literarischer Gattungen bedienen kann. Zudem wurde auch der Anachronismus der Differenzierung zwischen Hagiographie und Historiographie herausgearbeitet; entwickelt wurde diese Unterscheidung im 19. Jahrhundert im Kontext des Positivismus, um Faktisches von Nichtfaktischem zu trennen23. Entsprechend sei heute demgegenüber „Hagiographie als Historiographie mit entsprechenden methodischen Konsequenzen“ aufzufassen24.

Diese knappe Ausführung zur Definition der Hagiographie führt bereits in die Problematik ein, der sich die Forschung im Umgang mit dieser konfrontiert sah. Ihre Untersuchung blickt nämlich auf eine wechselvolle Geschichte zurück, die hier aufgrund der unüberschaubaren Menge an Literatur nur in groben Zügen wiedergegeben werden kann25. Von Bedeutung ist, dass „nichts die Heiligenviten […] so sehr in Mißkredit gebracht [hat] wie die Berichte von Wundern“26. Bereits durch die Reformator*innen gab es Kritik am Wunderglauben, später auch durch verschiedene Aufklärer*innen. Während die Reformator*innen theologisch argumentierten und die Verehrung Heiliger mit Aberglauben gleichsetzten, lehnten manche Vertreter*innen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts Wunder als Vernunfterwägungen und Naturgesetzen widersprechend ab27. Allerdings galt das längst nicht für alle Aufklärer*innen: Viele von ihnen hielten am Wunderglauben fest, von einem Konsens der Wunderkritik in intellektuellen Kreisen lässt sich folglich nicht reden28.

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An den Beginn wissenschaftlicher Erforschung hagiographischer Texte werden gelegentlich die Acta Sanctorum des Johannes Bollandus gesetzt, deren erste Bände im 17. Jahrhundert erschienen29. Gegen die vielfach kolportierte Auffassung, dieses Werk wäre als Reaktion auf die Wunderablehnung durch Reformation und Aufklärung entstanden, mit dem Ziel, hagiographische Texte kritisch zu sichten und zu überprüfen, ist mittlerweile in der Forschung Kritik geäußert worden30. Vielmehr seien die Acta Sanctorum eine enzyklopädische Präsentation hagiographischer Texte mit memorialer Zwecksetzung31, die im Kontext des Antiquarianismus, also der Begeisterung vieler Gelehrter der Frühen Neuzeit für vergangene Epochen und für die Erstellung von Quellensammlungen und Enzyklopädien, zu sehen ist32. Zudem würde das Werk den eigenen editorischen Ansprüchen nicht gerecht und würde einen unkritischen und unmodernen Umgang mit Handschriften aufweisen33. Mithin sind die Acta Sanctorum eher als Hagiographie denn als Wissenschaft aufzufassen.

Die moderne Geschichtswissenschaft, die sich im Zuge des 19. Jahrhunderts entwickelte, lehnte jedenfalls die Beschäftigung mit der Hagiographie anfänglich ab. Das abschätzige Urteil Oswald Holder-Eggers, dass es sich bei Wundererzählungen um „historisch unbrauchbares Zeug“34 handele, steht stellvertretend für die im Zeichen des Positivismus stehende Epoche der Forschung. Das Interesse an hagiographischen Texten beschränkte sich auf ihre Verwertbarkeit für Fragen der Politik- und Ereignisgeschichte35. Dies hatte einerseits zwar die Edition verschiedener Viten zur Folge, wobei andererseits gerade die Wundererzählungen gestrichen und die betreffenden Texte damit unvollständig gedruckt wurden36. Als schließlich auch die Neobollandisten unter Hippolyte Delehaye in Wunderberichten Fantastereien der ungebildeten Masse zu erkennen glaubten, blieb dies bis weit in das 20. Jahrhundert die vorherrschende Sichtweise auf hagiographische Texte37. Auch heute noch wird ←17 | 18→eine Diskrepanz zwischen dem Wissenshorizont der Zeitgenoss*innen und dem moderner Betrachter*innen konstatiert38, mit der eine häufige Ablehnung von Wundergeschichten durch die Forschung einhergeht39.

Eine entscheidende Aufwertung ihres Quellenwerts erhielten sie nichtsdestoweniger durch die Mentalitätsgeschichte, die sich insbesondere in der französischen Forschung im Laufe des 20. Jahrhunderts etablierte. Nicht mehr die Frage nach dem Wahrheitsgehalt einer Quelle stand im Zentrum, sondern ihr Nutzen für die Erforschung mittelalterlicher Vorstellungswelten – wofür jeder zeitgenössische Text verwertet werden kann, unabhängig davon, ob der Inhalt erfunden ist oder nicht. Bereits in den Zwanziger Jahren untersuchte Marc Bloch, einer der Begründer der Annales-Schule, wunderheilende Könige40: Im Zentrum standen insbesondere hochmittelalterliche Könige Frankreichs, von denen es heißt, sie hätten auf mirakulöse Weise ihre Mitmenschen von Skrofeln heilen können. Zwar befasste er sich nicht mit hagiographischen Texten im engeren Sinn, da Könige statt Heilige im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen, allerdings mit vielen überlieferten Wundern, die diese gewirkt haben sollen. Insofern handelt es sich hierbei um die erste geschichtswissenschaftliche Arbeit, die sich dezidiert mit Mirakeln befasste und Berichte hierüber als Quellen zu einem besseren Verständnis historischer Vorgänge ernstnahm. Mentalitätsgeschichtliche Studien wurden zudem in der Auswertung hagiographischer Quellen für die Frage nach der Mentalität der Menschen in der Merowingerzeit41, und nach den Vorstellungswelten einer „Volkskultur“, die von einer Elitenkultur abgegrenzt wird, vorgelegt42.

Im Zentrum vieler moderner mentalitätsgeschichtlicher Arbeiten standen und stehen verschiedene hagiographische Texte43, wobei sich insbesondere Mirakelsammlungen zunehmender Beliebtheit in der Forschung erfreuten44. Friedrich Lotter legte in Anlehnung an die Erkenntnisse der Annales-Schule verschiedene methodische Grundlagen zum Umgang mit der Hagiographie ←18 | 19→dar, von denen er sagt, sie ähnelten „eher einem Forschungsprogramm als einer Forschungsbilanz“45. Neben dem Versuch, Heilige, Viten und Wunder in Kategorien einzuteilen46, betont er mehrfach den Realitätsbezug hagiographischer Quellen und ihren Wert für die Mentalitäts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte47.

Kritisiert wurde an den mentalitätsgeschichtlichen Zugängen, dass sie die Quellen aus ihrem jeweiligen Kontext reißen und in übergreifende Kategorien hineinzwängen würden48. Neuere Studien aus der modernen Kulturgeschichte49 folgten dem Forschungskonzept der „pragmatischen Schriftlichkeit“50 und erklärten daher die Kontextualisierung hagiographischer Texte und Textstellen zum Erkenntnisziel. Hatte man zuvor die Frage nach dem Abfassungsgrund eines solchen Textes allgemein damit beantwortet, dass er der Propagierung eines Heiligenkultes gedient hätte51, stand nun die Frage nach der causa scribendi bzw. nach dem „Sitz im Leben“52, der spezifischen Funktion eines Textes unter den jeweiligen zeitlichen Umständen, in denen er entstand, und nach dem konkreten zeitgenössischen Adressat*innen im Zentrum53. Um mit Stephanie Coué zu sprechen: „Es stellte sich heraus, daß zwischen den Besonderheiten einer Vita und den ‚Begleitumständen‘ jedes Mal ein ursächlicher Zusammenhang bestand, d. h. daß die Sorgen des Autors bzw. die seiner Trägergruppe Form und Inhalt der jeweiligen Vita prägten. Der Anlaß, eine Vita zu schreiben, ist also nicht auf ein unbestimmtes ‚Bedürfnis‘ von Verehrung zurückzuführen, sondern hat seinen Grund in einer ganz konkreten Situation einer geistlichen Gemeinschaft.“54

Kontextualisierung meint aber auch die Frage nach der Funktion von Wunderepisoden innerhalb eines literarischen Werkes. In einigen Studien wurden ←19 | 20→Mirakelberichte als gleichrangige Bestandteile eines Textes neben „profanen“ Episoden aufgefasst, womit eine deutliche Aufwertung gerade von Wundern in der Forschung einherging55. Im Zentrum dieser kulturwissenschaftlichen Arbeiten stand die Kommunikation der Autor*innen der jeweiligen hagiographischen Texte und Wunderepisoden mit ihren anvisierten Rezipient*innen. Neben der Frage nach dem spezifischen gesellschaftlichen Kontext und dem Adressat*innenkreis der Texte befassten sich die einzelnen Studien damit, welche Absichten die Autor*innen verfolgten, welche Funktion sie den einzelnen Textabschnitten beimaßen und mit welchen sprachlichen und stilistischen Mitteln sie vorgingen, um ihre Ziele zu erreichen56. Einige jüngere Arbeiten behandelten schließlich die Frage, in welchem Kontext gegenüber welchen Adressat*innen durch welche kommunikativen Prozesse und zu welchem Zweck postum Heilige konstruiert57 und welche Funktionen ihnen dabei zugesprochen wurden58.

Einerseits blieben diese Fragen bislang auf verstorbene oder fingierte Heilige beschränkt, andererseits wurden in all den genannten kulturgeschichtlichen Arbeiten hagiographische Texte wie auch Wunderepisoden stets auf ihre erzählerische Funktion und ihren literarischen Charakter reduziert. Doch brachten die Ansätze des „cultural turn“ auch Fragen nach der Funktion von Heiligenkulten und nach den spezifischen gesellschaftlichen Kontexten ihrer Entstehung hervor, für die hagiographische Texte aller Art verwendet werden konnten59. Zudem wurden auch die Kanonisationsakten, die von der Forschung zumeist unbeachtet geblieben sind, nicht nur nach der Entstehung und Entwicklung des Heiligsprechungsprozesses befragt, sondern auch nach ihren spezifischen Entstehungsbedingungen und ihrer Funktion60. Im Zentrum ←20 | 21→dieser Arbeiten standen folglich weniger die Texte als solche mit ihren Kontexten und Funktionen, als die Realität spätantiker oder mittelalterlicher Kultur, die sich in den Texten spiegelte.

Doch blieb die Frage nach der sozialen Realität von Wundern in der Forschung lange Zeit unberücksichtigt. „Der für das Verständnis dieser Quellengattung [gemeint sind Mirakelberichte, Anm. Rentz] zentralen Frage nach dem Realitätscharakter der Wunder wichen die genannten Historiker einfach aus, indem sie sich ihr gar nicht erst stellten.“61 Zwar ging bereits Friedrich Lotter davon aus, dass sich Wundererzählungen auf reale Ereignisse bezogen und in der Erinnerung als Mirakel gedeutet und aufgeschrieben wurden, ohne jedoch die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass bereits Augenzeug*innen und nicht erst die Autor*innen die Deutung von Ereignissen als Wunder vorgenommen haben könnten62. Jüngere Arbeiten nahmen stattdessen den Wunderglauben der Menschen ernst und fassten Mirakel als „soziale Tatsache“63 auf und nicht nur als literarisch überformte Erinnerung. So betonte Barbara Schuh in Anlehnung an Aaron Gurjewitsch die Bedeutung eines kollektiven Wahrheitsfindungsprozesses, der den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden versuchte. Über den Realitätscharakter von Wundern schrieb sie: „Ob diese Wunder ‚echt‘ waren, stand vermutlich solange außer Zweifel, solange eine Gemeinschaft von der Echtheit und Glaubwürdigkeit, die durch beteiligte Personen namhaft gemacht wurden, überzeugt war.“64

Dies hatte eine weitere Aufwertung von Wundern in der Forschung zur Folge, die seither nicht mehr nur nach den Vorstellungswelten der Zeitgenoss*innen oder nach ihren Funktionen in kommunikativen Prozessen zwischen Hagiograph*innen und ihren Adressat*innen befragt wurden. Einige jüngere Studien bemühten sich daher um wissenschaftliche Erklärungen der geschilderten Wunder und wählten einen medizinhistorischen Zugang. Mit modernen naturwissenschaftlichen Kenntnissen sollten sowohl die Erkrankungen als auch die Wunderheilungen mittelalterlicher Menschen nachvollzogen werden, wofür zahlreiche verschiedene Quellenstellen gesammelt, quellenkritisch nach ihrer Glaubwürdigkeit gefragt und in ihren Schilderungen mit modernen Diagnosen verglichen wurden65. Mit dem Anspruch, ←21 | 22→Naturwissenschaften und mittelalterlichen Wunderglauben einander näher zu bringen, wurden mittlerweile nicht nur medizinische Erkenntnisse auf Wunderberichte angewandt, sondern auch der gesellschaftliche und kulturelle Kontext des Mittelalters stärker berücksichtigt. Gestützt auf sozialmedizinische Studien, die die Bedeutung des Glaubens und der Emotionen erkrankter Personen für einen als wundersam wahrgenommenen Heilungsprozess herausstrichen, bemühten sich andere Studien nicht nur um eine natur-, sondern auch um eine sozialwissenschaftliche Erklärung mittelalterlicher Wunderheilungen. Auch setzten sie sich mit den Fragen auseinander, welche Kriterien einer Gesellschaft dafür ausschlaggebend waren, den Glauben an übernatürliche Fähigkeiten verstorbener Heiliger zu etablieren und welche Qualitäten und Eigenschaften diesen zugeschrieben wurden, damit sie ihre Rolle als Wunderheiler*innen zu erfüllen vermochten66.

Uta Kleine ging einen Schritt weiter und deutete postume Mirakel als soziale Tatsachen „im lokalen Sozial-, Raum- und Herrschaftsgefüge“67. In Anlehnung an verschiedene mentalitäts- und kulturgeschichtliche Zugänge wurde nicht nur nach der Funktion von Wunderberichten gefragt, sondern auch von Wundern selbst und wie diese „die Beziehungen zwischen dem Kloster und seiner ländlichen oder städtischen Umgebung gestalteten“68. Die Notwendigkeit des Wunderglaubens wurde mit der Alltäglichkeit von Krankheiten, dem Fehlen schützender Institutionen und medizinischer Theorien sowie dem Weltbild der Zeitgenoss*innen, das in der christlichen Natur- und Heilslehre begründet war, erklärt69. Kleine differenzierte zudem zwischen Mirakeln, je nachdem, ob sie als Gesta (Wunder als Ereignisse), Fama (Wunder in der Gestalt oraler Überlieferung) oder Scripta (Wunder als schriftlich fixierte Berichte) kursierten70. Wunder begriff sie als „ritualisierte Ereignistypen“71 mit vielfältigen sozialen Funktionen wie der Legitimierung kirchlicher Autorität oder der Repräsentation von Reichtum und Macht eines Klosters. Betont wurde die Bedeutung ritueller Handlungen und Gesten wie das Speisen oder der Gabentausch am Grab einer*eines Heiligen zur Erzeugung sozialer Bindungen insbesondere mit der*dem verstorbenen Heiligen selbst72.

Durch Studien wie die hier paraphrasierten lassen sich mittelalterliche Wunderheilungen nicht nur ohne weiteres (natur-)wissenschaftlich erklären, sie können auch nach ihrer sozialen Funktion in der mittelalterlichen ←22 | 23→Gesellschaft befragt werden. Die genannten Untersuchungen fokussierten sich auf verstorbene Heilige und postume Mirakel, doch gelangten vereinzelt auch lebende Heilige in den Blick der mentalitäts- und kulturgeschichtlich orientierten Forschung. Bereits Pierré-André Sigal fragte in seinem umfassenden Werk zum Thema Wunder nach der Funktion lebender Heiliger. Seine quantitative Auswertung zahlreicher hagiographischer Texte unterschiedlicher Gattungen führte zum eher allgemein gehaltenen Ergebnis, dass sie hauptsächlich als Heiler*innen oder Medien göttlicher Offenbarung fungierten73. Jüngere Untersuchungen grenzten demgegenüber ihren Untersuchungsgegenstand zeitlich und räumlich ein und stellten soziale Funktionen und performative Handlungen lebender Heiliger ins Zentrum.

Den Beginn machte eine Studie Peter Browns, die sich ausschließlich mit lebenden Heiligen im römisch-byzantinischen Orient der Spätantike befasste, so genannten „holy men“. Ausgehend vom Befund, dass sie im spätantiken Syrien und Kleinasien eine große soziale Rolle spielten, wurde nach dem sozialen Kontext, der dies ermöglichte, und nach der Aussagekraft dieses Befundes für die Mentalität der damaligen Gesellschaft gefragt74. Brown kam zum Schluss, dass Heilige als Führungskräfte auf dem Land, die mit antiken Patronen vergleichbar sind, oder als objektive Entscheidungsträger und Vermittler in Konfliktsituationen in den Städten wirkten. Zudem strich er die instabilen politischen und ökonomischen Verhältnisse des spätantiken Orients heraus, in deren Kontext lebende Heilige eine derartige Machtposition erlangen konnten. Im Zuge der Stabilisierung des byzantinischen Reiches seien Heilige durch institutionalisierte Formen politischer Macht- und Gewaltausübung verdrängt worden75.

Überhaupt spielt der Begriff „power“ eine übergeordnete Rolle in seiner Untersuchung. Die von Heiligen gewirkten Wunder wurden als „secondary“76 angesehen. Sie dienten nur dazu, die Macht des Heiligen zu demonstrieren und sind im Kontext der spätantiken Dorfgemeinschaft zu sehen, in der Gewalt ein dauerhaftes Problem war und vom Heiligen eine Art Gewaltmonopol eingefordert oder ihm selbiges zugeschrieben wurde77. Brown stellte in seiner Studie zwar die soziale Realität von Wundern nicht prinzipiell in Abrede, doch bleibt unklar, ob er sie historisch oder literarisch deutete. Eine weitere Parallele zu mächtigen Personen wurde im Bedürfnis der Heiligen, eine Menschenmenge um sich zu versammeln, gesehen. Brown erkannte darin eine auf antike Theater- und Sportveranstaltungen zurückreichende Tradition, ←23 | 24→in denen soziale Verhältnisse und die Machtposition der Konsuln inszeniert wurden78.

Wie erwähnt fragte Brown auch nach den Werten und Vorstellungswelten spätantiker Menschen, die in Verbindung mit lebenden Heiligen standen79. Einen mentalitätsgeschichtlichen Zugang wählte auch Georgia Frank, die nach den Vorstellungen und der Frömmigkeit spätantiker Pilger*innen fragte, die zu lebenden Heiligen der ägyptischen Wüste reisten und darüber Berichte abfassten. Allerdings betonte sie, ihre Quellen rein als literarische Werke zu behandeln80; Wunder wurden als „meaningful fictions“ aufgefasst, durch die ein auf die Rezipient*innen der Berichte zugeschnittenes Bild lebender Heiliger konstruiert wurde81. Durch die Arbeiten von Brown und Frank wird deutlich, dass auch die soziale Wirklichkeit lebender Heiliger für Fragen der Mentalitätsgeschichte nutzbar gemacht werden kann82.

Eine kulturgeschichtliche Arbeit lieferte Gabriella Zarri, die ähnlich wie Brown vom Befund ausging, dass lebende Heilige nicht nur als Modelle zur Nachahmung fungierten, sondern auch als „social operator[s];“83. Gefragt wurde nach den Beziehungen der Heiligen zu ihren Mitmenschen und nach dem kulturellen Kontext, der ihnen ihre sozialen Rollen ermöglichte. Ihren Fokus legte sie auf weibliche Heilige in den italienischen Städten des 16. Jahrhunderts. Die wichtigste Funktion wurde in ihrer Gabe der Prophetie und der Vision gesehen, durch die sie sich als Beraterinnen für die städtischen Eliten qualifizierten84. Wichtigste Merkmale zur Bezeichnung der Heiligkeit waren Stigmata, das Leben in Abstinenz oder in beständiger Krankheit85; auch die Demonstration von Demut und von Gehorsam gegenüber der Kirche wurde betont86. Zarri strich den Kontext der zunehmenden Urbanisierung Italiens mitsamt den Konflikten zwischen Bürgertum und Adel sowie zwischen der städtischen und der ländlichen Bevölkerung heraus87. Durch die Befriedung ←24 | 25→Italiens im Laufe des 16. Jahrhunderts übernahmen zunehmend Theolog*innen die Aufgaben von Berater*innen. Die Bedeutung lebender Heiliger sank dadurch88.

Anneke Mulder-Bakker lehnte sich in ihrer Studie über weibliche Inklusen, die im 12. und 13. Jahrhundert in den Niederlanden und am Niederrhein wirkten, sowohl an Brown als auch an Zarri an. Ihre Fragen kreisten um den kulturellen Kontext der Entstehung des Inklusentums, aber auch um die Motivation und Frömmigkeit der Frauen sowie die Charakteristika ihrer Lebensweise89. In Abgrenzung zu älteren Forschungsmeinungen kam sie zum Schluss, dass Inklusen durch ihre spezifische Lebensweise in Armut und Kontemplation eine öffentliche Autorität konstituierten, durch die sie dazu befähigt wurden, in der Gesellschaft als Prophetinnen zu fungieren90. Abschließend wurde die Legitimität des Begriffs der „living saints“ diskutiert, den erstmals Zarri verwendet und der sich in der Forschung etabliert hat91. Problematisiert wurde, dass keine der untersuchten Inklusen jemals kultisch verehrt oder heiliggesprochen worden wäre. In Anlehnung an die Studie von André Vauchez über das mittelalterliche Kanonisationsverfahren betonte Mulder-Bakker die Existenz verschiedener Heiligkeitskonzepte im Mittelalter, die nebeneinander bestanden und auch auf lebende Personen angewandt werden konnten. Ein*e Heilige*r war man im Mittelalter demnach, wenn Zeitgenoss*innen von der Präsenz der Heiligkeit in einer Person überzeugt waren. Dementsprechend ist die Bezeichnung der Inklusen wie auch anderer Gestalten früherer Epochen als „living saints“ trotz des Widerspruchs zur modernen kirchenrechtlichen Auffassung von (verstorbenen und kanonisierten) Heiligen sinnvoll.

Die hier dargestellten Studien von Brown, Zarri und Mulder-Bakker nahmen bestimmte zeitliche und geographische Räume in den Blick und untersuchten neben der sozialen Funktion lebender Heiliger auch viele andere Aspekte wie die Frömmigkeit der jeweiligen Heiligen oder den gesellschaftlichen und politischen Kontext ihres Wirkens. Aviad Kleinberg fragte demgegenüber in einer umfassenderen Arbeit, die verschiedene Heilige des hohen und späten Mittelalters in den Blick nahm, nicht nur nach ihrer sozialen Funktion, sondern auch nach theatralischen performativen Handlungen, durch ←25 | 26→die sie den Status als lebende Heilige überhaupt erst erlangten, und stellte seine Ergebnisse exemplarisch an Franz von Assisi, Christina von Stommeln, Lukardis von Oberweimar und Douceline von Digne dar, die in unterschiedlichen Regionen zu verschiedenen Zeiten wirkten. Im Zentrum stand der jeweilige historische Kontext, in dem sie ihre Heiligkeit konstituierten. Durch diesen biographischen Ansatz versuchte sich Kleinberg von älteren quantifizierenden Studien wie derjenigen von Vauchez zum Kanonisationsverfahren abzugrenzen92.

Heiligkeit wurde nach Kleinberg insbesondere durch Kleidung und Lebensweise sichtbar gemacht; unterschiedliche Adressat*innenkreise hatten diesbezüglich unterschiedliche Erwartungen. Übernatürliche Fähigkeiten wurden Heiligen erst zugeschrieben, nachdem sie öffentlich in ihrem Status als Heilige akzeptiert waren93. Wunder begriff er hierbei als eine Aneinanderreihung von „ritual acts“ wie Handauflegen, Gebet etc. und verglich sie mit griechischen Dramen, an deren Inszenierung neben den Heiligen auch ihre Gefährt*innen beteiligt waren, die sich auch um die Verbreitung erfolgreicher Wunder bemühten94. Als Funktion lebender Heiliger betrachtete er die Darbietung von Orientierung und Hoffnung95. In den Einzelfallstudien wurden zudem spezifischere Funktionen wie die Belehrung der jeweiligen Adressat*innen96 oder der Ausdruck der Spiritualität der den Heiligen umgebenden Menschen97 herausgearbeitet.

Kleinberg kam zudem zu weiteren Ergebnissen, die auch für die vorliegende Studie von Bedeutung sind, wie noch zu zeigen sein wird. So nahm er an, dass ein*e Heilige*r in jeder Interaktion mit anderen Menschen ihren*seinen Status als solcher neu konstituieren musste, weshalb weniger von Heiligen als von „saintly situations“ zu sprechen sei, in denen eine Person als Heilige*r fungierte98. Zudem wurde die Tatsache herausgestrichen, dass Heiligenviten seit dem elften Jahrhundert nicht mehr nur Topoi abarbeiteten, sondern neue Erzählungen und Motive aufnahmen99 – was gerade von Bedeutung ist, um dem möglichen Einwand zu begegnen, bei hagiographischen Texten handele ←26 | 27→es sich nur um eine Wiederaufbereitung biblischer Episoden. Und nicht zuletzt betonte er, keine objektive Wahrheit zu suchen und die Unterscheidung zwischen „real/fabricated“ bzw. „authentic/inauthentic“ in Bezug auf Wunder für unbrauchbar zu halten100. Das heißt, dass jede Wunderepisode für die eigene Fragestellung prinzipiell ernst genommen werden muss, gleich wie obskur und dem eigenen naturwissenschaftlich geprägten Weltbild widerstrebend sie auch erscheinen mag.

Mit „Ritual“ und „Inszenierung“ sind jedenfalls zwei Stichworte gefallen, die für das Modell der symbolischen Kommunikation von Bedeutung sind. Kleinberg kannte dieses 1992 noch nicht. Dabei könnte die Anwendung dieses Modells für die Fragen nach der Konstituierung eines lebenden Heiligen in der Gesellschaft und seiner sozialen Funktion besonders vielversprechend sein. Soweit die betreffende Literatur für die vorliegende Arbeit gesichtet wurde, ist es in der bisherigen Forschung noch nicht für hagiographische Texte nutzbar gemacht worden101. Nur vereinzelt wurden Studien veröffentlicht, die in eine ähnliche Richtung gingen, ohne sich explizit auf die symbolische Kommunikation zu beziehen. Verschiedene Episoden aus dem Leben des Franz von Assisi wurden bereits als symbolische Handlungen und Performanzen gedeutet102. Als ihre Funktion wurde primär der Versuch des Heiligen, seine Ideale zu präsentieren und sich selbst als imitator Christi103 zu inszenieren, herausgearbeitet. Wunder sind in diesen Studien bislang unberücksichtigt geblieben. Dass andere Heilige keine vergleichbaren Arbeiten provoziert haben, mag wohl damit zusammenhängen, dass in den Quellen zu Franz von Assisi ←27 | 28→performative Inszenierungen, die ohne übernatürliche Facetten auskommen, besonders stark vertreten sind104.

Auch in jüngeren Studien wird der Frage nach der Konstituierung lebender Heiliger nachgegangen. So widmete sich Stavroula Constantinou byzantinischen Viten und fragte, inspiriert durch die Gender Studies, nach der Konstruktion männlicher und weiblicher Heiliger durch unterschiedliche Akte performativer ritualisierter Handlungen. Sowohl Männer als auch Frauen demonstrierten ihre Heiligkeit durch karitative Tätigkeiten, wobei von weiblichen Heiligen zudem ein Leben in Askese erwartet wurde105. Besonders die Inszenierung des Körpers stand im Fokus ihrer Studie106. Sie unterschied zudem zwischen einem internen und einem externen Adressat*innenkreis performativer Handlungen („internal“ bzw. „external audience“), wobei ersterer das textimmanente Publikum meint, über das berichtet wird, zweiterer dagegen das Publikum der jeweiligen Vita selbst107. Diese Unterscheidung ist auch für die vorliegende Studie von Bedeutung.

In eine ähnliche Richtung geht die Untersuchung von Richard Valantasis, der die Funktion der Askese für die Konstituierung personaler Identitäten und sozialer Beziehungen lebender Heiliger herausstrich108. Peter Dinzelbacher näherte sich demgegenüber der Frage nach der Konstituierung lebender Heiliger von einem dezidiert psychohistorischen Blickwinkel aus und versuchte die Innensicht charismatischer Heiliger zu beleuchten. Betont wurde die Bedeutung ekstatischer und visionärer Erweckungserlebnisse, die manche Zeitgenoss*innen zum Glauben veranlasste, über eine besondere Stellung zu Gott zu verfügen109. Dinzelbacher wies zudem auch auf die Bedeutung des sozialen Umfelds für die Etablierung eines lebenden Heiligen hin, ohne jedoch auf symbolische ritualisierte Handlungen einzugehen110.

In einer gänzlich anderen Disziplin, der Theologie, befasste man sich (im Rahmen der Exegese) ausschließlich mit den Wundern Jesu. Ebenso wie Historiker*innen hatten auch moderne Theolog*innen Schwierigkeiten mit dem ←28 | 29→Widerspruch zwischen den Mirakelerzählungen und dem eigenen Weltbild. Das hatte zur Folge, dass man die Wunder naturwissenschaftlich zu erklären versuchte oder als Allegorien deutete, die zu dem Zweck erfunden worden seien, die christliche Botschaft zu vermitteln. Zugleich wurde auf Parallelen zur Messias-Idee des Alten Testaments, zu Wunderberichten aus der antik-heidnischen Kultur und zu zeitgenössischen Wundertätern hingewiesen111. Die moderne Exegese verwendet biblische Texte allerdings für vielfältige Fragestellungen, die sowohl aus der Ereignisgeschichte wie auch aus der Mentalitäts- und der Kulturgeschichte stammen112.

Verwendung findet der Begriff der „symbolischen Handlung“ in der Theologie allerdings nur, um nach der allegorischen Funktion der Wunder innerhalb der Bibel und nach dem sozialen Kontext, in dem sie überliefert sind, zu fragen113. Dieser methodische Zugriff ist dabei am ehesten mit den kulturgeschichtlichen Arbeiten zur causa scribendi von Wunderberichten und hagiographischen Texten zu vergleichen, doch wird auch auf die Frage nach der Historizität von Mirakeln eingegangen. Schematisch wird zwischen Wundern, die als „Nachwirkungen des historischen Jesus“ anzusehen sind, und solchen, die auf den Glauben und die Frömmigkeit seiner Anhänger*innen zurückzuführen sind, differenziert114. Dementsprechend unterscheidet sich das theologische Verständnis von symbolischen Handlungen von dem der modernen Geschichtswissenschaft. Da Wunder nicht als performative Inszenierungen aufgefasst werden, wird auch nicht nach spezifischen sozialen Funktionen gefragt, die sie gehabt haben könnten.

Die am Ende von Kapitel 1. 1 aufgeworfenen Fragen nach der Konstituierung lebender Heiliger und ihrer Funktionen wurde folglich in der Forschung bereits mehrfach gestellt. Übereinstimmend war man der Auffassung, dass Lebensweise und Kleidung für die Konstituierung bedeutsam waren. Auch wurde bereits häufiger auf den rituellen und symbolischen Charakter verschiedener performativer Handlungen lebender Heiliger verwiesen; gleiches ←29 | 30→gilt für Wunder, wenn auch hauptsächlich für postume. Allerdings fokussierte sich die Forschung bislang stets auf zeitlich und räumlich eng gefasste Kontexte wie das spätantike Syrien oder das frühneuzeitliche Italien; einzig Kleinberg behandelte einen umfassenderen Zeitraum, verfolgte anstelle eines systematischen jedoch einen biographischen Ansatz. Zudem wurden Begriffe wie symbolische Handlungen oder Rituale nicht genauer reflektiert. Nicht zuletzt lässt sich von einer Diskussion in der Forschung nur in Ansätzen reden, da viele der auf den vergangenen Seiten paraphrasierten Studien ohne Wissen von den jeweils anderen entstanden sind; viele haben also buchstäblich aneinander vorbeigeredet. An dieser Stelle des Forschungsstandes möchte die vorliegende Arbeit ansetzen: Ziel ist es, die aufgeworfenen Fragen systematisierend zu beantworten, ohne den Untersuchungsgegenstand zeitlich und räumlich zu eng zu fassen.

1. 3. Theorie und Methode

Vor dem Hintergrund des Überblicks über den bisherigen Gang der Hagiologie (der Erforschung hagiographischer Texte) lassen sich für die vorliegende Arbeit folgende Leitfragen formulieren: Durch welche Formen symbolischer Kommunikation wurden in der mittelalterlichen Gesellschaft lebende Heilige konstruiert? Welche Funktionen wurden diesen zugesprochen? Mit wem kommunizierten sie und welche Unterschiede zeigen sich je nach Adressat*innenkreis? Und welche Rolle spielten hierbei Wunder? Erkenntnisziel der Arbeit ist ein besseres Verständnis für die Alterität, die Andersartigkeit der mittelalterlichen Gesellschaft, in der die Existenz des Übernatürlichen integraler Bestandteil des Wissenshorizonts der Zeitgenoss*innen war und zu keiner Zeit hinterfragt wurde. In diesem Kapitel stehen die methodische Vorgehensweise und ihre theoretischen Grundlagen im Zentrum; es geht folglich darum, Ansätze aus der symbolischen Kommunikation, der Ritualforschung, der Perfomanztheorie, der Identitätsforschung, dem Sozialkonstruktivismus und der Vorstellungsgeschichte für die Leitfragen fruchtbar zu machen, einige zentrale Begriffe wie Heilige*r und Wunder, Rituale und symbolische Handlungen zu definieren und auf methodische Probleme wie dem Anachronismus dieser Definitionen und dem Verhältnis zwischen historischer Realität und Quellendarstellungen einzugehen.

a) Symbolische Kommunikation

Wie aus dem Überblick über die bisherige Forschungsgeschichte hervorgeht, hat die Hagiologie einen Stand erreicht, an dem sie keinen gattungsspezifischen Unterschied zwischen Hagiographie und Historiographie mehr kennt. Dementsprechend müssten sich Modelle, die bislang hauptsächlich auf historiographische Quellen angewandt wurden, auch für hagiographische Texte ←30 | 31→fruchtbar machen lassen. Gerade der Inszenierungscharakter der eingangs dargestellten Vogelpredigt des Franz von Assisi erinnert an das Konzept der symbolischen Kommunikation; wurde doch durch die erfolgreich demonstrierte Kontrolle über die Natur die eigene Heiligkeit symbolisch zum Ausdruck gebracht. Dieses Konzept wurde in der deutschsprachigen Mediävistik im Rahmen der „anthropologischen Wende“ seit den 1980er Jahren entwickelt und anfänglich insbesondere auf die politische Kultur des frühen und hohen Mittelalters angewandt115. Eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung des Modells bildete dabei die Betonung des oralen Charakters der mittelalterlichen Gesellschaft116.

Es wird von der Grundannahme ausgegangen, dass man in der mittelalterlichen Politik vor allem über symbolische Handlungen, Rituale und Zeremonielle kommunizierte, die, mit einem oftmals mehrdeutigen symbolischen Bedeutungsgehalt ausgestattet, den Anwesenden eine Botschaft vermitteln sollten. Zu unterscheiden ist zwischen der Sphäre des Privaten, in der der konkrete Ablauf eines Rituals oftmals abgesprochen wurde, und der Öffentlichkeit, vor der das Ritual im Anschluss aufgeführt wurde. Zu vergleichbaren Situationen wie Hoftagen, Königserhebungen oder Konfliktbeilegungen sind auch ähnliche vergleichbare symbolische Handlungen überliefert. Durch die dargestellten Akte wurden der anwesenden Öffentlichkeit die bestehenden sozialen Beziehungen zwischen den Beteiligten vor Augen geführt und Konsens oder Dissens angezeigt. In der mittelalterlichen Gesellschaft, in der kein Staat im modernen Sinne mit einem Gewaltmonopol und entsprechenden Exekutivmöglichkeiten bestand, war es notwendig, Vertrauen zu schaffen und das eigene Verhalten sowie das der anwesenden Öffentlichkeit berechenbar und erwartbar zu machen, etwa in Gestalt symbolischer Handlungen wie Ehrerweisung oder Unterwerfung. Durch diese verpflichtete man sich unter Bezugnahme auf die Vergangenheit117 gegenüber bestimmten Adressat*innen auf ein bestimmtes zukünftiges Verhalten. Hielt man sich nicht an das dargestellte Versprechen, drohten der soziale Ausschluss und im extremen Fall der Konflikt118. Die einzelnen Rituale waren bei ihrer Wiederholung stetig Veränderungen unterworfen und konnten sich in einzelnen Handlungselementen ←31 | 32→von Aufführung zu Aufführung unterscheiden119. Diese Erkenntnis führte auch zur Frage nach der Geschichte der Rituale und ihrer jeweiligen Entwicklung120.

Um es am Beispiel des Adventus-Rituals zu verdeutlichen, für deren Erforschung die symbolische Kommunikation viele Impulse geliefert hat121: Der Adventus bezeichnet den feierlichen Einzug einer*eines Herrscher*in die Stadt. Im Zuge dessen wurden generell Eintracht und Stabilität demonstriert, politische Machtverhältnisse geschaffen und das Selbstverständnis der Beteiligten als einer christlichen Sakralgemeinschaft bestätigt122. Diese Adventus wurden von den Stadtherren auch dazu genutzt, mittels spezifischer symbolischer Handlungen das eigene Selbstverständnis zum Ausdruck zu bringen. So ist von Norbert von Xanten bei seinem Einzug als frisch gewählter Erzbischof von Magdeburg 1126 in seiner Lebensbeschreibung Folgendes überliefert: „Zu seinem Empfang strömte das Volk zusammen; alle bezeugten ihre Freude, daß sie einen Mann, der im Ruf der Heiligkeit stand, als Hirten ihrer Seele empfangen durften. Als er aber bei seinem Herannahen die Stadt Parthenopolis [Magdeburg, Anm. Rentz] erblickte, entblößte er seine Füße und zog barfuß ein. Nach seinem Empfang in der Kirche begab er sich, von sehr vielen begleitet, zum Palast. Bekleidet mit einem armseligen Umhang, war er überhaupt nicht zu erkennen und mußte erleben, daß ihn der Pförtner zurückwies.“123

Die Vita entstand zwischen 1145 und 1161, also innerhalb weniger Jahrzehnte nach dem präsentierten Ereignis. Die Historizität ist möglich, lässt sich allerdings nicht weiter belegen – und ist auch irrelevant, da es um die dargestellten symbolischen Handlungen geht. Klaus Schreiner kommentiert diese folgendermaßen: „Die Art und Weise, wie Norbert in die Stadt einzog – in ärmlicher Kleidung, barfuß gehend, einen Esel als Reittier benutzend –, signalisierte ein Reformprogramm; waren doch seither die Magdeburger Erzbischöfe hoch zu Roß und mit kostbaren Gewändern angetan in ihre Bischofsstadt eingezogen. Norberts Habitus kam einem Bekenntnis zum apostolischen ←32 | 33→Armutsideal gleich, an dem er seine bischöfliche Reformarbeit auszurichten gedachte.“124 Norbert versuchte sich durch seine ärmliche Kleidung und seine Barfüßigkeit vom Pomp seiner Vorgänger abzuheben und demonstrierte gegenüber den Anwesenden sein Programm. Diese ritualisierte symbolische Handlung hatte dabei einerseits die Funktion, Norberts Verhalten für die Zukunft festzulegen und sein künftiges Handeln als Erzbischof erwartbar und vorhersehbar zu machen. Zudem wurde sein Status auf eine spezifische Art und Weise konstituiert. Nicht nur, dass die Stadtbevölkerung ihm durch ihr Entgegeneilen signalisierte, ihn als Erzbischof anzuerkennen. Er selbst demonstrierte ferner, ein Erzbischof sein zu wollen, der sich einer apostolischen Lebensweise verpflichtet hatte. Dass ein solches Verhalten ritualisiert, also auch wiederholbar war, zeigt das Beispiel Ottos von Bamberg, der nach seiner Bischofswahl ebenfalls barfüßig eingezogen ist125.

Norbert von Xanten und Otto von Bamberg werden im Laufe der Arbeit noch häufiger begegnen, da von ihnen auch diverse Wunder überliefert sind. Inwieweit sich aber auch ihre Mirakel oder die anderer Heiliger als symbolische Handlungen oder Rituale deuten lassen, bedarf es einer genaueren Definition und Unterscheidung der beiden Ausdrücke126. Der Begriff der symbolischen Kommunikation wird in der Forschung sehr eng gefasst: Unterschieden wird zwischen symbolischen Handlungen, die einen Sinn stiften, der in der Handlung selbst liegt, und instrumentellen Handlungen, die einem bestimmten Zweck außerhalb der Handlung dienen127. Auch wird die symbolische Kommunikation von einer begrifflich-diskursiven geschieden, die komplex und konkret ist, während erstere mehrdeutig und unscharf ist. Die symbolische Kommunikation ist nicht generell mit non-verbaler gleichzusetzen; auch eine rein verbale Kommunikation kann symbolischen Charakter enthalten128. Der Begriff des Symbols wird ebenfalls eng gefasst und ist durch ←33 | 34→seine Bildhaftigkeit wie auch seine Sinnfälligkeit und seinen Bedeutungsgehalt gekennzeichnet; unter einem Symbol werden damit Metaphern genauso verstanden wie Gebärden oder auch Mythen und Rituale129. Das Ritual wird als „eine aus mehreren Elementen bestehende, formal normierte, symbolische Handlungssequenz verstanden, die eine spezifische Wirkmächtigkeit besitzt“, wobei ihr ein performativer und inszenierter Charakter innewohnt130. Während eine symbolische Handlung also ein einzelnes Element darstellt, handelt es sich bei Ritualen um eine Abfolge mehrerer symbolischer Handlungen, die normiert und wiederholbar sind.

b) Ritualforschung und Performanztheorie

Hierbei handelt es sich um einen sehr spezifischen Ritualbegriff. Kurz sei im Folgenden auf die Ritualforschung eingegangen, die über die Erforschung symbolischer Kommunikation weit hinausgeht. Diese hat sich insbesondere in der Soziologie, der Ethnologie und den Religionswissenschaften entwickelt131. Dabei sind zahlreiche Ritualbegriffe entwickelt worden132, deren metatheoretische Behandlung bereits die Entstehung eigener Studien evoziert hat133. Auch wurde vereinzelt bereits die Frage aufgeworfen, inwieweit eine trennscharfe Definition einem zu untersuchenden Gegenstand überhaupt gerecht werden kann134. Daher wird darauf gelegentlich auch verzichtet135. Andere Vertreter*innen der Ritualforschung postulieren demgegenüber die Notwendigkeit, den Begriff durch eine Annäherung aus unterschiedlichen Perspektiven zu bestimmen und ihn zugleich offen zu lassen136. Dabei sind Kataloge von ←34 | 35→Charakteristika entwickelt worden, die Rituale im Allgemeinen kennzeichnen können, aber nicht in jedem einzelnen Fall vollständig vorhanden sein müssen. Zu den für die vorliegende Studie bedeutsamsten Charakteristika zählen die Kollektivität, also die Integration von Akteur*innen und ihrer Adressat*innen, die Zusammensetzung aus mehreren einzelnen Handlungssequenzen, der symbolische Bedeutungsgehalt, ihre gesellschaftliche Konstruiertheit, ihre Wiederholbarkeit, ihre Performativität, oder auch ihre Funktion, die sozialen Status der Beteiligten zu transformieren137.

An dieser Stelle kann es folglich nicht darum gehen, eine allumfassende und endgültige Definition des Ritualbegriffs aufzubieten, sondern einen zu entwickeln, der für die Fragestellung und die Quellen der vorliegenden Studie am fruchtbarsten ist. Das Modell der symbolischen Kommunikation bietet hierbei den sinnvollsten Zugang, weil es an historischen Quellen entwickelt wurde. Allerdings wäre es verengt, ausschließlich geschichtswissenschaftliche Arbeiten zu berücksichtigen und Ergebnisse benachbarter Disziplinen zu Ritualen und symbolischen Handlungen außen vor zu lassen. Von Bedeutung ist daher ein interdisziplinärer Zugang. So weisen Jürgen Martschukat und Steffen Patzold auf Parallelen und Überschneidungen des Konzepts der symbolischen Kommunikation zur Performanztheorie hin, die ursprünglich aus der Theaterwissenschaft stammte und in den letzten Jahrzehnten im Zuge des „performative turn“ auch in den Kulturwissenschaften Eingang fand, ohne jedoch vorher von Historiker*innen rezipiert worden zu sein138. Dabei bietet gerade sie wichtige Überlegungen zu Begriffen wie Ritual und Inszenierung: Rituale werden hier als „eine bestimmte Gattung von Aufführungen [definiert], die der Selbstdarstellung und Selbstverständigung, Stiftung bzw. Bestätigung oder auch Transformation von Gemeinschaften dienen und unter Anwendung je spezifischer Inszenierungsstrategien und -regeln geschaffen werden“139. Der Inszenierungscharakter von Ritualen wird hier eigens betont140. Dabei wird darauf hingewiesen, dass eine Inszenierung nicht notwendigerweise als solche wahrgenommen werden muss – aber durchaus als solche aufgefasst und rezipiert werden kann, ohne jedoch an Wirkmächtigkeit einzubüßen141.

←35 | 36→

Die Frage, wo genau die Grenze zwischen Inszenierung und Nicht-Inszenierung verläuft, ist jedoch nicht zu beantworten und auch nicht weiter von Belang: Es ist vielmehr davon auszugehen, dass eine Inszenierung immer dann schon vorliegt, wenn ein „wenigstens potentielles Publikum“142 vorhanden ist143. Für ein besseres Verständnis des Inszenierungsbegriffs dürfte die Überlegung Steffen Patzolds beitragen, der zwischen praktischem und diskursivem Wissen unterscheidet. Unter ersterem versteht er „Wissen, das wir brauchen, um erfolgreich in unseren Routinen fortzufahren“, während letzteres reflektiertes Wissen bezeichnet, das artikuliert und über das debattiert und gestritten wird144. Um ein Ritual bewusst zu inszenieren, indem es vorab ausgehandelt wird, ist diskursives Wissen über die aufzuführenden Handlungen notwendig. Doch ist auch die Existenz von Ritualen denkbar, die ohne vorherige Absprachen aufgeführt und inszeniert werden, indem allein unreflektiertes „praktisches Wissen“ zur Anwendung gelangt.

In der Performanztheorie werden zudem Kategorien wie „Aufführung“ oder „Performance“ verwendet, unter die der Ritualbegriff subsumiert wird. Gemeint sind damit Ereignisse, in denen symbolische Handlungen verknüpft werden, deren Inszenierung unmittelbar mit ihrer Rezeption zusammenfällt145. Als Aufführungen oder Performanzen lassen sich auch komplexe Handlungssequenzen verstehen, die im Gegensatz zu Ritualen nicht normiert und wiederholbar sind. Das Ritual wird nicht nur durch die Performativität, durch die Einordnung des Einzelnen in den kollektiven Ordnungszusammenhang, den Rituale konstituieren und verändern, durch die Funktion, kollektive wie personale Identitäten zu erzeugen und zu bestätigen, und durch die Abhängigkeit von bestimmten Regeln bestimmt, sondern auch durch seine zeitliche, räumliche und soziale Kennzeichnung. Davon zu unterscheiden sind „Ritualisierungen“, die aus einer Verkettung wiederholbarer Handlungen mit symbolischem Charakter bestehen, aber nicht eindeutig zeitlich, räumlich und sozial vom Alltag getrennt sind146. Dementsprechend werden in der Forschung mittlerweile auch rituelle Aspekte von Handlungen untersucht, bei denen es sich nicht um Rituale im engeren Sinne handelt147. Insofern lässt sich zwischen Ritualen, Ritualisierungen und sonstigen Aufführungen differenzieren: Während Rituale und sonstige Aufführungen in Hinblick auf Normiertheit und Wiederholbarkeit extreme Pole darstellen, handelt es sich bei Ritualisierungen ←36 | 37→um eine Zwischenform. Bei Wundern, die in dieser Arbeit begegnen, hat man es streng genommen mit Ritualisierungen zu tun, da sie – wie sich zeigen wird – vom Alltag nicht eindeutig normativ getrennt sind. Das unterscheidet sie auch von Ritualen wie Kirchenmessen oder Krönungszeremonien.

c) Identitätsforschung und Sozialkonstruktivismus

In der Performanztheorie wird zudem der transformative Charakter von Ritualen und Ritualisierungen hervorgehoben148. Gemeint ist damit der Statuswechsel von Individuen wie Gruppen, den Rituale häufig anzeigen. So wird beispielsweise im Zuge einer Königserhebung aus einem Großen ein König – und aus der anwesenden Gruppe eine Gemeinschaft von Untertan*innen dieses Königs. Dabei geht die Performanztheorie auch mit den Ergebnissen der soziologischen bzw. sozialphilosophischen Identitätsforschung konform, die die Bedeutung von Ritualen und gemeinschaftlicher Praktiken für die (Re-)Konstituierung einer kollektiven Identität betont149. Unter einer kollektiven Identität wird eine Vergemeinschaftung verstanden, die bestimmte Überzeugungen und Praktiken teilt150; im Falle des Mittelalters teilte die christliche Sakralgemeinschaft als kollektive Identität beispielsweise ihren christlichen Glauben, vor deren Hintergrund die Praxis des Barfußgehens bei Bischofseinzügen eine symbolische Bedeutung entfaltete. Als Funktion einer solchen Identitätsbildung wird angenommen, dass die Adressat*innen in ihren Erwartungen stabilisiert werden und ihnen eine metaphysische wie moralische Orientierung geboten wird151. Wichtig ist auch die Feststellung der Identitätsforschung, dass die kollektive Identität keine natürliche Selbstverständlichkeit, mithin eine anthropologische Konstante sei, sondern eine Konstruktion, eine Inszenierung vor dem Hintergrund gemeinsam geteilter Illusionen über eine gemeinsame Vergangenheit und eine historische Mission; um die Entstehung und Funktion kollektiver Identitäten zu verstehen, ist eine Untersuchung ihres jeweiligen historischen Kontextes vonnöten152. Im Falle des Mittelalters lässt sich sagen, dass der größere Ordnungszusammenhang, der durch unterschiedliche Rituale bekräftigt wurde, durch den christlichen Glauben geprägt war, mithin dieser bestätigt wurde.

Ähnliches lässt sich auch zur Entwicklung personaler Identitäten von Subjekten sagen. Die hier verwendete Differenzierung zwischen personalen und kollektiven Identitäten geht auf Jan Assmann zurück153. Der Begriff der ←37 | 38→„kollektiven Identität“ wird allerdings von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, auf die sich Assmann bezieht, abgelehnt, die eine Fixierung des Identitätsbegriffs auf Individuen postulieren und andernfalls eine „Verdinglichung“ des Identitätsbegriffs befürchten154. In Anlehnung an Karl Marx verstehen sie unter Verdinglichung die Auffassung sozial konstruierter Phänomene als über- oder außermenschlich und ahistorisch155. In ihrem Hauptwerk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ gehen beide in Anknüpfung an Überlegungen von George H. Mead, Max Weber, Emile Durkheim und eben Marx156 von der Konstruiertheit sozialer Realitäten und Identitäten aus. Von unterschiedlichen soziologisch, ethnologisch und historisch untersuchten Gesellschaftsformen abstrahierend157 wird die Theorie einer gegenseitigen dialektischen Bedingung von Subjekt und Gesellschaft entwickelt. Zweifellos handelt es sich bei einer kollektiven Identität um eine Verdinglichung, mithin um eine gesellschaftliche Konstruktion, die als übergesellschaftlich wahrgenommen wird. Das gilt auch für die christliche Gesellschaft des Mittelalters. Allerdings spricht nichts dagegen, in einer wissenschaftlichen Arbeit diesen Begriff auf einen bestimmte Gegenstand anzuwenden und sich seiner gesellschaftlichen Konstruiertheit stets bewusst zu bleiben. Schließlich geht das auch mit den oben paraphrasierten Ergebnissen der modernen Identitätsforschung konform, die sich auf kollektive Identitäten fokussierte und ihren gesellschaftlichen und historischen Charakter betonte.

Jedenfalls ist auch für die Konstruktion personaler Identitäten die soziale Interaktion der Individuen einer Gesellschaft von Bedeutung. Berger und Luckmann betonen stets den dialektischen Charakter von Subjekt und Gesellschaft158. In ihren eigenen Worten formuliert ist damit gemeint: „Im ←38 | 39→Augenblick ist zu betonen, daß die Beziehung zwischen dem Menschen als dem Hervorbringer und der gesellschaftlichen Welt als seiner Hervorbringung dialektisch ist und bleibt. Das bedeutet: der Mensch – freilich nicht isoliert, sondern inmitten seiner Kollektivgebilde – und seine gesellschaftliche Welt stehen miteinander in Wechselwirkung. […] Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.“159 Das heißt, dass erst soziale Interaktionen eine Gesellschaft konstruieren, die ihrerseits gleichzeitig Subjekte bildet, die zu Interaktionen fähig sind. Das gilt auch für die Entstehung personaler Identitäten, die nicht ohne gesellschaftliche Vermittlung möglich ist. Mit seiner Identität hängt auch die soziale Rolle eines Individuum zusammen. Unter einer Rolle verstehen Berger und Luckmann die Typisierung eines Verhaltens im Kontext eines gemeinsamen Wissensbestandes160. Gemeint sind damit im Grunde ritualisierte performative Handlungen, durch die die Träger*innen einer Rolle eine bestimmte soziale Funktion ausüben. Darin zeigt sich ein entscheidender Anknüpfungspunkt des Sozialkonstruktivismus zum Modell der symbolischen Kommunikation.

Entscheidend für die Identitätsbildung ist die Identifikation mit „signifikanten Anderen“ und der Spiegelung der eigenen Identität durch diese vor dem Hintergrund einer gemeinsam geteilten „symbolischen Sinnwelt“161. Unter „signifikanten Anderen“ – ein Begriff, der auf Mead zurückgeht162 – sind Personen zu verstehen, mit denen sich ein Subjekt im Zuge des Prozesses seiner Identitätsbildung identifiziert; die personale Identität dieser Anderen spiegelt sich dann in der Person, deren Identität dadurch erst konstituiert wird. Signifikante Andere stehen in diesem Prozess stellvertretend für die gesamte Gesellschaft, bestimmen die Situation des Individuums in dieser und ←39 | 40→vermitteln ihm das gesellschaftlich notwendige Wissen163. Zwar wendet Mead diesen Begriff auf die Entwicklung der Identität von Kindern an164, doch nutzt Assmann ihn allgemein für die Erklärung personaler Identitätsbildungen165. Dabei knüpft er an Überlegungen von Berger und Luckmann an, die Meads Überlegungen weiterführend zwischen einer primären und einer sekundären Sozialisation differenzieren166. Während die primäre Sozialisation die Internalisierung notwendigen gesellschaftlichen Wissens in der Kindheit meint167, wird unter der sekundären Sozialisation die Verinnerlichung speziellen Wissens verstanden168. Das Verhältnis zwischen dem Wissen der sekundären und dem der primären Sozialisation wird mit den Begriffen „Subwelt“ und „Grundwelt“ zum Ausdruck gebracht169.

Den Begriff des signifikanten Anderen wird von Berger und Luckmann hier weit differenzierter angewandt als bei Mead oder auch Assmann170. In der sekundären Sozialisation spielen signifikante Andere nicht notwendigerweise eine Rolle, da eine Identifizierung mit dem sozialisierenden Personal aufgrund seiner Austauschbarkeit (beispielsweise als Lehrer*in) und mangelnder emotionaler Bindung nicht immer stattfinden muss171. Ausdrücklich ausgenommen wird hier der Bereich der Religion, in dem eine sekundäre Sozialisation affektiv aufgeladen wird und eine umfassendere Transformation der subjektiven Wirklichkeit des Individuums stattfindet. Hier sind auch wieder signifikante Andere von Bedeutung172. Das lässt sich auch auf die Frage nach der Konstituierung lebender Heiliger anwenden, die als sekundäre Sozialisation aufzufassen ist, als Vorgang der Vermittlung speziellen Wissens und der Transformation ihrer Auffassung von der Wirklichkeit. Aus Menschen, die ihre Kindheit und primäre Sozialisation hinter sich haben, werden Personen mit einer bestimmten sozialen Rolle und personalen Identität – lebende Heilige nämlich – gemacht, die hierfür neues Wissen internalisieren: Wissen, wie ←40 | 41→sie ihre Identität symbolisch zum Ausdruck bringen und ihre gesellschaftlichen Funktionen ausüben. Hierbei stellt sich die Frage nach den signifikanten Anderen lebender Heiliger. Aufgrund der offenen Definition von Heiligkeit unter den Zeitgenoss*innen konnten etablierte Wundertäter*innen genauso als signifikante Andere fungieren wie Päpste oder Bischöfe, denen eine „Amtsheiligkeit“173 zugesprochen wurde.

Bei der „symbolischen Sinnwelt“ handelt es sich um einen Begriff, der von Berger und Luckmann selbst aufgeworfen und im Rahmen ihrer sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie entwickelt wurde. Durch die Interaktionen der Mitglieder einer Gesellschaft wird nicht nur diese als solche konstruiert, sondern auch das, was die Mitglieder über diese Gesellschaft, mithin über ihre soziale Wirklichkeit subjektiv wissen respektive glauben174. Gleiches gilt auch für die mittelalterliche Gesellschaft: Von den damaligen Zeitgenoss*innen wird sie durch kommunikative Prozesse wie beispielsweise Rituale und ritualisierte Handlungen konstruiert und wirkt ihrerseits auf die Individuen, ihre sozialen Identitäten und Funktionen zurück; die Bedeutung der Wechselwirkung von lebenden Heiligen und ihrem sozialen Umfeld wurde auch schon von Kleinberg und Dinzelbacher erkannt, wie unter Kapitel 1. 2 bereits erwähnt wurde.

Entscheidend hierfür ist das, was Berger und Luckmann eben „symbolische Sinnwelt“ nennen. Gemeint sind damit gemeinsam geteilte Traditionsbestände, die die gesellschaftliche Ordnung symbolisch aufladen und mit einer höheren Sinnhaftigkeit ausstatten, die jenseits alltäglicher Wirklichkeitserfahrungen liegen, den Alltag aber ebenso integrieren wie seine Grenzerfahrungen. Auf diese Weise werden auch persönliche Erfahrungen und das individuelle Bewusstsein mit Bedeutungen versehen175. Symbole bzw. Zeichen werden als „Objektivationen“ verstanden, um Ausdrücke subjektiver Intentionen, die dadurch intersubjektiv begreiflich gemacht werden können. Diese Zeichen lassen sich zu einem System verdichten176. Ein besonderes Zeichensystem ist die Sprache177, allerdings lassen sich auch andere Kommunikationsformen wie ←41 | 42→performative Handlungen und Rituale darunter subsumieren. Darin zeigt sich ein weiterer Anknüpfungspunkt des sozialkonstruktivistischen Ansatzes zur symbolischen Kommunikation. Eine spezifische symbolische Sinnwelt bietet jedenfalls auch im Mittelalter den Hintergrund für kommunikative und ritualisierte Handlungen, durch die personale und kollektive Identitäten ebenso wie die gesellschaftliche Ordnung konstituiert wurden. Gleichzeitig wird jede symbolische Sinnwelt ihrerseits durch die Mitglieder einer Gesellschaft immer wieder neu erzeugt und bestätigt.

d) Der christliche Glaube als symbolische Sinnwelt der mittelalterlichen Gesellschaft

Im Mittelalter war die symbolische Sinnwelt, wie erwähnt, insbesondere vom christlichen Glauben geprägt. Dieser wirkte sich auch auf den Wissenshorizont der Zeitgenoss*innen aus. Bereits Uta Kleine zog die christliche Natur- und Heillehre als Erklärung für die soziale Realität von Wundern heran; was man für möglich und wahrscheinlich hielt, war durch die Rezeption biblischer und älterer hagiographischer Texte vorgegeben178. Arnold Angenendt bezeichnete zudem Jesus Christus als „Grundgestalt des Heiligen“ und betonte, beim Glauben an ihn und an die Heiligen handele es sich um die gleiche „Religionslogik“179. Bei der Untersuchung der Symbolhandlungen lebender Heiliger in der vorliegenden Arbeit ist der Charakter der Evangelien wie auch der Viten Martins von Tours, Benedikts von Nursia und Antonius‘ des Großen als Rollenmodell stets zu berücksichtigen180; deren Lebensbeschreibungen waren im Hochmittelalter nämlich besonders weit verbreitet181. Dass der Verdacht der ←42 | 43→Vorbildhaftigkeit biblischer Gestalten gerechtfertigt ist, zeigen beispielsweise die vielen Quellenstellen, in denen hochmittelalterliche Heilige Wasser zu Wein verwandelten182, wie es auch von Jesus Christus überliefert ist – ebenso wie die gelegentlichen expliziten Vergleiche mittelalterlicher mit spätantiken Heiligen.

So wurde Edmund von Abingdon mit Martin verglichen183 oder Godrich von Finchale mit Benedikt184. Die Besichtigung der Stadtmauer Roms durch Dominik von Guzmán während einer Predigt verleitet den Berichterstatter Stephan von Bourbon zu einem Vergleich mit der alttestamentlichen Bibelgestalt Tobias, der sich in assyrischer Gefangenschaft befand und auch als Wundertäter galt185. In der Forschung ist zudem auf die Bedeutung der imitatio Christi für die literarische Inszenierung Heiliger hingewiesen worden186. Insofern kann der Einfluss biblischer und spätantiker Texte als Vorbilder für die symbolische Kommunikation hochmittelalterlicher Heiliger nicht ernsthaft angezweifelt werden. Ihre Protagonisten wie Jesus, Antonius, Martin und Benedikt sind integrale Bestandteile der symbolischen Sinnwelt der mittelalterlichen Gesellschaft. Ihre Lebensgeschichten prägten das Wissen mittelalterlicher Zeitgenoss*innen um die Vergangenheit, in deren Tradition sie sich selbst sahen und bewegten. Da Rituale und symbolische Handlungen immer auch auf die Vergangenheit Bezug nehmen, um eine eigene Sinnhaftigkeit entfalten zu können, ist der Aspekt der Modellhaftigkeit der Evangelien und spätantiker Viten für bestimmte Formen der Konstituierung und Funktion lebender Heiliger stets zu beachten. In den jeweiligen Kapiteln wird darauf und auf Einzelbeispiele näher einzugehen sein.

Details

Seiten
468
Jahr
2019
ISBN (PDF)
9783631778463
ISBN (ePUB)
9783631778470
ISBN (MOBI)
9783631778487
ISBN (Hardcover)
9783631778104
DOI
10.3726/b15098
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
Wunder Ritual Sozialkonstruktivismus Kulturgeschichte Hagiographie Performance
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2019. 468 S., 4 Tab.

Biographische Angaben

Andreas Rentz (Autor:in)

Andreas Rentz studierte Geschichte und Lateinische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er auch promoviert wurde.

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Titel: Inszenierte Heiligkeit
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