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Völkisch - Nationalsozialistisch - Rechtsradikal

Das Leben der Hildegard Friese - Teil 1

von Ulrich Linse (Autor:in)
©2022 Monographie 416 Seiten

Zusammenfassung

Diese Lebensbeschreibung könnte die harmlose Geschichte einer »höheren Tochter« aus deutschem Bildungsbürgertum mit teilweise jüdischen Vorfahren sein. Doch ihr Leben entgleiste, weil die politischen Lebensumstände in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts nicht mehr mit traditionellen Antworten zu bewältigen waren. Das jugendbewegt-autonome Denken aber führte diese »moderne Frau« ins völkische Abseits. Das Buch beschreibt drei große zeitgenössische Phasen dieser Radikalisierung und zeigt die jeweiligen Gruppierungen mit deren »Führern«, in denen sie sich als Aktivistin bewegte. Es ist die Geschichte einer moralisch »blinden Liebe zu Deutschland«.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Zusammenfassung
  • Abstract
  • Resumé
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung: „Ein unglückliches Schicksal“
  • Des Lebens Glück und Unglück
  • „Urszene“
  • Erster Teil Ursprung im 19. Jahrhundert: Demokratisch
  • Die Verleger Carl August Friese und August Robert Friese
  • Vom bürgerlichen Lesepublikum zur demokratisch-revolutionären Agitation: Robert Friese
  • Geschäftlich aktiv: Cäcilie Friese und der Robert Friese-Verlag
  • Der Musikdirektor und Naturkunde-Liebhaber Edmund Friese
  • Robert Martin Friese und die Reform der TH München
  • Elektroingenieur und Bildungsbürger: Robert Martin Friese
  • Robert Martin Friese im (verlorenen) „Ingenieurkrieg“
  • Hermann Friese: Lithograph, Kunstmaler und Naturfreund
  • Hermann Friese: Glaube, Politik und Kunst
  • Weibliche „Neurasthenie“ und Hausfrauenlob: Hermann Friese
  • Der Maurermeister Eduard Guttmann und die ostpreußischen Erfahrungen
  • Die schlesische Linie der Guttmanns
  • Die Ostpreußin Katharina Friese geb. Guttmann
  • Familiäre Einflüsse auf Hildegard Friese
  • Zweiter Teil 1901 bis 1933: Völkisch
  • I. Völkischer „Aufbruch“
  • Botschaft an die Kriegs- und Nachkriegsjugend: Georg Stammler
  • Jahrhundertgeneration und Erster Weltkrieg
  • Reformgymnasium und völkische Lebensreform: Friedrich Schöll
  • Aufbruch der Inflationsjugend: Der Tübinger „Siedlertag“ 1920/1921
  • Aufzug der „Inflationsheiligen“
  • Völkische Erweckung der Jugend
  • Landpraktikum auf dem Gutshof in Schleswig
  • Bündische Orientierung: „Jungnationaler Bund“
  • Ein frühes Schlüsseldokument
  • Studentenleben: Stuttgart, Graz, Tübingen
  • Der Stuttgarter lebensreformerische Freundeskreis: Die Gundert-Sippe
  • Zur weiblich-jugendbewegten sexuellen Problematik: Kloster Ochsenhausen
  • Stuttgart: „Stadt der Auslandsdeutschen“
  • Studium von Boden und Bauern: Erich Wunderlich
  • Gleichgeschaltete Heimat: Der Schwäbische Albverein
  • „Deutsche Vorgeschichte“: Hans Reinerth
  • „Deutsche Volkskunde“: Viktor von Geramb
  • Lebensort: Das „Ammernest“
  • Berufliche Situation als Lehrerin
  • II. Völkische „Kultur“
  • „Heimat“ und „Volkstum“: Gefühle und Konstrukte
  • Aufgeklärte Heimat: Hermann Mohn, Margarete Hannsmann, HAP Grieshaber
  • Eugen Diederichs „Kulturverlag“
  • Völkischer Organizismus: Paul Krannhals
  • „Landhunger“ und Jungbauernbewegung: Wilhelm Schloz
  • Das jungbäuerliche Siedlungslager „Schwäbische Landgenossen“
  • Der „älteste Freund“: Georg Stammler
  • Georg Stammlers „Deutsche Richtwochen“
  • Georg Stammlers „Werksiedlung“
  • „Arbeitsgemeinschaft Vogelhof“: Friedrich Schöll
  • Georg Stammler kontra Friedrich Schöll und Karl Otto Paetel
  • „Deutscher Arbeitskreis“
  • „Nordischer Lebensglaube“: Friedrich Schöll
  • „Deutscher Gottesglaube“: Mathilde Ludendorff
  • Völkische Geologie: Der „Wiking“ Alfred Wegener
  • Alfred Wegener-Kult im völkischen Kontext
  • III. Völkische Jugendbewegung
  • Völkisch-jugendbewegte Halbbildung und ihre Überwindung
  • Völkische Spielscharen: Kurt Gerlach, Albert Betzold und Alfred Broghammer
  • „Finkensteiner Singkreis“
  • Völkisches Singen und Tanzen statt pietistischer „Stunden“
  • Singende „Soldaten des Volkstums“
  • Der Nachkriegs-„Wandervogel“ und die „Deutsche Freischar“ in Ulm
  • Christliche und nationale Jugendorganisationen in Ulm
  • Die Ulmer „Freischar“-Jungengruppe von Heinrich Roth
  • Heinrich Roth als Ulmer „Schulreformer“
  • Musikalische völkische „Blasphemie“: Adolf Kern
  • Völkische „Fahrt“ mit einer „Ulmer Schachtel“ nach Wien und Budapest
  • Der „moderne Jungentyp“ und sein Motorrad
  • Sportiver Jugend-Lifestyle
  • Der gescheiterte Großbund „Deutsche Freischar“
  • Vom „Großdeutschen Jugendbund“ zur „Freischar junger Nation“
  • Die Ulmer „Mädel“-Gruppe der „Freischar junger Nation“
  • Ordensritter-„Balkenkreuz“ und Sonnwendfeier
  • Eberhard Köbels „Autonome Jungenschaft“ als Herausforderung
  • Schwäbische „Freischar“-Front gegen Köbel: Rudolf Daur und Max Guther
  • Das Ulmer Bollwerk gegen die „Autonome Jungenschaft“
  • IV. Völkische „Front“
  • „Freischar junger Nation“ und der Nationalsozialismus
  • „Jungnationale“ Militarisierung im Zeichen der Schwarzen Fahne
  • „Revolution aus Blut und Boden“: August Georg Kenstler
  • „Bedrohtes Volkstum“: Russlanddeutsche und Südtiroler
  • Albin Egger-Lienz als völkischer Bauernmaler
  • Beste Freunde: Eva und Hermann Hess
  • „Vater der Auslandsdeutschen“ und „Sippenforscher“ Ludwig Finckh
  • „Großdeutscher Gildenring“
  • Weltwirtschaftskrise und Ostpreußenfahrt
  • Innsbruck: „Frontstadt“ des Südtirol-Revisionismus
  • Südtirol in München
  • Südtiroler „Katakombenschulen“ und der Münchner Kreis um Emma von Leurs
  • Volkstums-Arbeit mit Tourismus
  • Potsdam auf der Schwäbischen Alb
  • Die schwäbische Landesführerin Eva Schmid
  • Mädel-„Fahrt“ nach Südtirol
  • Nationalrevolutionäre „Front der Kommenden“
  • Nationalbolschewismus und Kommunismus als bündische Alternativen?

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Einleitung: „Ein unglückliches Schicksal“

Des Lebens Glück und Unglück

Dieses Buch erzählt die Geschichte einer Jugendbewegten und ihrer radikalen Liebe zu Deutschland. Ihre Freundin bat 1994 in einem Interview darum, den Namen der Verstorbenen nur anonymisiert zu drucken, da diese „ein unglückliches Schicksal hatte“.1 Bei der so geschonten Toten handelte es sich um Hildegard Marianne Friese (geboren 19.03.1901, gestorben 06.09.1978; nachfolgend abgekürzt HF). „Glück und Unglück“, schrieb einmal der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, „sind Kategorien, denen man mit rationalen Argumenten schwerlich beikommen kann.“2 Trotzdem versuchen wir genau dies in der nachfolgenden biographischen Rekonstruktion von HFs Lebensgang. Es wäre freilich irreführend, vom seitenmäßigen Umfang dieser Biographie darauf zu schließen, dass hier eine große Persönlichkeit oder ein bedeutender Charakter behandelt wird. HF war keine wichtige historische Frauengestalt und keine herausgehobene Person von geschichtlichem Interesse, auch wenn dieser Mangel nicht die Ursache ihres Unglücklichseins war. Sie selbst maß ihrem Leben historische Bedeutsamkeit und damit Überlieferungswürdigkeit nur durch ihren Dienst an der Person und am Werk des völkischen Dichters Georg Stammler (Pseudonym für Ernst Emanuel Krauß) bei. HF mag immerhin für eine Spielart des politischen Radikalismus von „Weimar bis Bonn“ nicht untypisch gewesen sein und somit ein gutes Beispiel für jene „Minorität mit einem ordensmäßig-asketisch-elitären Selbstverständnis“, zu der auch die bekanntere nationalsozialistische BDM-Funktionärin Melita Maschmann zählte.3 HF stammte dabei aus keinem reaktionären gesellschaftlichen Umfeld, sondern aus dem künstlerisch sensiblen, naturwissenschaftlich-technisch aufgeschlossenen und fortschrittlich-lebensreformerischen Bildungsbürgertum des wilhelminischen Kaiserreiches. HF selbst hatte keine neue wissenschaftlichen Erkenntnis oder praktischen Erfindung in die Welt gesetzt, auch wenn sie als eine der ersten „Ingenieur“-Studentinnen an der Technischen Hochschule in Stuttgart ihren Abschluss machte, indem sie dort 1931 als naturwissenschaftliche Lehramtskandidatin in Geologie und Geographie promoviert wurde. Sie hätte mit der Fortführung ihrer Forschungsarbeit eine Wegbereiterin bei der wissenschaftlichen Erschließung des heutigen „UNESCO Biosphärenreservats Schwäbische Alb“ werden können, jedoch wurde bei ihr dieser rationale Erkenntnis-Impuls schnell ein Opfer obskurer Bauern-Ideologie. Aber auch diese „Weltanschauungs-Produktion“ ←23 | 24→enthielt kaum einen originellen Gedanken, sondern zehrte von den „völkischen“ Vordenkern in der Jugendbewegung,4 die sich wiederum aus dem „altvölkischen“ Gedankengut des 19. Jahrhunderts bedienten und es besonders im jugendbewegt-lebensreformerischen Milieu modernisierten.5 HFs Biographie könnte durch die hier vorliegende Rekonstruktion ihrer bis auf die demokratische und deutschreligiöse Revolution von 1848 zurückreichende Familientradition Stoff für wissenschaftliche Diskussionen über Kontinuitäten des Radikalen in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts liefern.

Quelle: Staatsarchiv Ludwigsburg F 215 Bü 127

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Ihre Berufsjahre als Gymnasial-Schullehrerin in den 1930er Jahren brachten der kontaktfreudigen jugendbewegten „Mädel“-Führerin HF die Zuneigung ihrer Schülerinnen. Die Wiederaufnahme des Lehrberufs in den 1950er Jahren war für sie nicht ohne Enttäuschung, da sie nicht nur älter geworden war, sondern sich auch die Schülermentalität nach dem Zweiten Weltkrieg geändert hatte. Noch mehr aber kränkte es sie, dass ihr die staatliche Anerkennung ihrer Dienstjahre und ihres unbestreitbaren Diensteifers durch beamtliche Beförderung versagt blieb, wodurch sie sich im Rentenalter als Opfer bundesrepublikanischer ministerieller Willkür fühlte. Mit diesem Punkt nähern wir uns zumindest einer oberflächlichen Schicht ihres Unglücklichseins, wenn auch nicht dessen tieferen persönlichen und geschichtlichen Ursachen.

Aber auch der Gegenpol soll nicht verschwiegen werden: Das tiefste Glück ihrer ersten dreißig Lebensjahre bedeutete ihr das Erwandern der Schwäbischen Alb. Die Orte ihrer Geburt, ihres Studiums und ihrer ersten zehn Berufsjahre – Stuttgart samt den umgebenden Städtchen Tübingen, Ulm, Reutlingen – grenzten, sei es im Norden oder Süden, an dieses eher karge Mittelgebirge mit seinen geologischen Reizen. Für sie war Schwaben mit der Schwäbische Alb als dessen Herz die geliebte „Heimat“, deren sprachlicher Dialekt-Ausdrücke sie sich auch in ihren Privatbriefen gerne bediente.

Wie HF ist auch der Verfasser ihrer folgenden Biographie ein gebürtiger Schwabe und spricht die heimische Mundart, hat prägende Kinder- und Jugendjahre in seiner Heimatstadt Ulm, auf einem nahen Dorf und dann als Student in Tübingen verbracht. Und auch er wanderte mehr als einmal auf den gleichen staubig-kalkigen Bauernwegen zwischen dem Ulmer Hochsträß und dem Eybachtal bei Geislingen wie zuvor HF mit ihrer jugendbewegten Ulmer „Mädel“-Gruppe. Und er war als Jugendlicher genauso fasziniert wie sie von den dortigen geologischen und prähistorischen Besonderheiten seiner Heimat:6 Ammoniten, Höhlen, ←25 | 26→Dolinen, Quelltöpfe, Grabhügel, vorgeschichtliche Moorfunde. Und von den einfachen bäuerlichen und handwerkenden Menschen, unter denen sich – im Gegensatz zu HF – auch seine Vorfahren befanden7. Er entdeckte sogar den Namen eines seiner frühen Ulmer Mentoren, den des Stadtgeschichtlers Albrecht Rieber,8 auf HFs Geschenkliste zu Weihnachten 1928 für die Kinder des damaligen Ulmer Münsterpfarrers Jakob Rieber (sein Sohn Albrecht war 1928 knapp 17 Jahre alt).9

So löste die zunächst eher zufällige Begegnung des Verfassers mit der damals schon toten HF und ihren schriftlichen Hinterlassenschaften in ihm auch heimelige Gefühle aus, aber bald mehr noch unheimliche. Denn im Lebens-Rückblick meinte HF dann doch, ihre „schönste Zeit“ seien die zweieinhalb im SS-Mustergau „Wartheland“ als NS-Funktionärin verbrachten Jahre gewesen.10 Ihre damalige Dienststelle war in Wieluń. Dort auf dem Marktplatz hat fast 80 Jahre später der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Rede daran erinnert, wie 1939 durch einen Terrorangriff der deutschen Luftwaffe das Inferno über die Stadt hereinbrach, „entfacht vom deutschen Rassenwahn und Vernichtungswillen […] und ein Vorzeichen für alles, was in den kommenden sechs Jahren kommen sollte“. Es sei an der Zeit, so Steinmeier weiter, dass Wieluń und andere dem Erdboden gleichgemachte Städte und Dörfer Polens ihren Platz neben anderen Erinnerungsorten deutscher Verbrechen finden.11 Anlässlich des 75. Jahrestags der Zerstörung Dresdens hat Steinmeier, bevor er vom Dresdener Feuersturm im Februar 1945 sprach, erneut an das Bombardement der polnischen Stadt Wieluń erinnert, mit dem das Deutsche Reich den Zweiten Weltkrieg sechs Jahre zuvor begonnen habe.12 Dort ←26 | 27→im zerstörten Wieluń also hatte HF ihre größtes Glück darin gefunden, sich, ohne dass sie sich das jemals eingestand, in den Dienst der nationalsozialistischen Verbrechen zu stellen. Sie fand wohl seelische Entlastung in ihrem lebenslangen persönlichen Engagement für das Deutschtum in Südtirol.

HF war gewiss kein „Monster“ und auch nicht ohne liebenswerte persönliche Seiten. In ihren privaten Briefen erwies sie sich als liebevolle Tochter und Freundin. Eine dieser Freundinnen versicherte später: „Sie war ein großzügiger Mensch.“13 Und es war sicher nicht gelogen, wenn die Entnazifizierungs-Spruchkammer eine Reihe eidesstattlicher Erklärungen ihrer Kollegen im Beruf sowie ihrer Schüler und Bekannten anführte, die bestätigten, „dass sie sehr selbstlos und hilfsbereit war“.14 Freilich galt das alles nur gegenüber „Volksgenossen“, also Angehörigen der gleichen „Rasse“. Den „Fremdrassigen“ gegenüber war sie stets ohne Verständnis und Empathie. Diese Härte schuldete sie, wie wir später sehen werden, vor allem der Bekämpfung der fremden Rasse in sich selbst. Auch die sie berührende Begegnung mit dem Werk von Albert Schweitzer und Kurt Reuber konnte sie nicht mehr erweichen. Die Tatsache, dass sie schließlich eine Tochter des Kreisleiters von „Welun“ und führende Figur in der völkischen Esoterikszene („Armanen-Orden“) adoptierte, zeigt die rechthaberische Entschlossenheit ihrer Uneinsichtigkeit. Sie war zweifellos nicht nur die bloße „Mitläuferin“, als die sie von der Entnazifizierungs-Spruchkammer eingestuft wurde, sondern eine Überzeugungstäterin.

HF war „ein deutsches Mädchen“15 der „Jahrhundertgeneration“ ihrem Geburtsjahr nach,16 der „Kriegsjugendgeneration“ ihrer prägenden Jahre nach.17 Und sie war wiederum nur eine kleine Masche in einem größeren Personen- und Vereins-Netzwerk. Deshalb wird nachfolgend die Beschreibung des Lebens von HF als roter Faden benützt durch ein gelegentlich verwirrendes Kaleidoskop von Vereinigungen, häufig sektenartig sich abspaltend und bald wieder verschwindend oder unter anderem Namen erneut auftauchend. HF war aber nicht nur passives Mitglied dieses Netzwerks, sondern hielt dieses durch ihre unermüdlichen Aktivitäten als für sie sinnstiftende Institution mit aufrecht, gerade auch über das Jahr 1945 hinaus. Eine „klassische“ Biographie im Sinne der Beschreibung eines individuellen „Bildungs“-Wegs als freie Entwicklung eines Einzelmenschen durch Lebenserfahrung zu einem höheren Welt- und Selbstverständnis wäre dagegen im „Jahrhundert der Ideologien“ nur als Nachvollzug des Widerstands gegen diese „vereinnahmenden Ideologien“ möglich gewesen.18 Dazu fehlte HF, im Gegensatz zu den Geschwistern Scholl etwa, die Substanz. Der Akzent der folgenden Darstellung des jung-deutschen völkischen Radikalismus von Weimar bis Bonn soll aber nicht auf den ←27 | 28→Organisationen, sondern auf ganz konkreten Personen liegen. So wird die vorliegende Biographie zu einer Darstellung eines radikal-nationalistischen kulturellen Milieus, in das HF bereits während ihrer Schulzeit vor dem Ersten Weltkrieg hineingeriet, das sich in den Weimarer Jahren verdichtete, ab 1933 seinen Höhepunkt erreichte, den machtpolitischen Einschnitt des Jahres 1945 intakt überlebte und auch noch nach HFs Tod 1978 bis heute aufgrund der „historisch-politischen Dynamik des rechten Lagers“19 und der Kontinuität vieler seiner Denkmuster20 wirksam ist. Die verschiedenen Facetten dieses rechten Umfelds, in dem sich HF jahrzehntelang bewegte, werden nachfolgend durch dessen repräsentativ handelnde Personen dargestellt, denen HF „im realen Leben“ auch begegnete und mit denen sie sich freundschaftlich in Gesprächen und Briefen austauschte. Dazu gehörten völkische Wissenschaftler wie Hans Reinerth, Jakob Wilhelm Hauer, Erich Wunderlich und Viktor von Geramb, völkische „Dichter“ und Schriftsteller wie Georg Stammler, Friedrich Schöll, Wilhelm Schloz und Wilhelm Pleyer, für sie erotisch attraktive völkische „Helden“-Männer wie der „Wiking“ Alfred Wegener, August Georg Kenstler, Hans Wilhelm Hammerbacher, Wilhelm Bittrich, Josef Mengele oder Herbert Böhme. Die Beschreibung eines vergänglichen Einzelschicksals weitet sich deshalb zu einer umfassenden Kollektivbiographie eines auch heute aufgrund seiner Modernisierungsfähigkeit noch stabilen deutsch-radikalen Netzwerks. Seine Dynamik verband und verbindet dieser deutsche antidemokratische National-Radikalismus mit dem Anspruch, jung zu sein und deshalb die Zukunft zu verkörpern: „Mit uns zieht die neue Zeit!“21 Diese Aktualität mag zusätzlich die folgende umfangreiche archivalische Dokumentation eines exemplarischen Einzelfalls des politischen rechten Extremismus samt seinem stützenden Netzwerk rechtfertigen.

Dabei sollen auch mögliche historische Alternativen zur Sprache kommen, wiederum personalisiert, hier etwa durch den Holzschneider HAP Grieshaber und seine Schriftstellerfreundin Margarete Hannsmann für das Thema der Alb-„Heimat“, und durch Sophie und Hans Scholl, die an HFs örtlicher beruflicher Wirkungsstätte in deren bündischer Nachfolge (und nicht nur im Gegensatz zu ihr) standen. Letzteres eröffnet auch einen neuen Blick auf den bisher fast unbekannten jugendbewegten Kontext der Donaustadt Ulm in den 1920er und 1930er Jahren und auf die damalige württembergische völkische „Alternativszene“. Dabei soll auch deutlich werden, dass bereits die bündische Ulmer Jungen- und Mädchen-Gruppe, die erstere geführt von dem später führenden bundesrepublikanischen Reformpädagogen Heinrich Roth, die zweite von HF, in ihrer politischen Ausrichtung und in einem Teil ihrer Aktivitäten miteinander verzahnt und aufeinander bezogen waren, so wie das nachfolgend am gleichen Ort für die Hitlerjugend-Phase der Geschwister Scholl galt.←28 | 29→

Es wird sich im Verlauf dieser Geschichte zeigen, dass HFs radikale Liebe zu Deutschland mit einer Lebenslüge verbunden war – und hierin lag auch die tiefere Ursache ihres Unglücklichseins. „Blind vor Liebe“ – gibt es das auch im politischen Raum? Dann spiegelt die nachfolgende Biographie einer unglücklichen Rechtsradikalen die deutsche Geschichte, gesehen durch die „blinden“ Augen einer ihre Liebe zu Deutschland lebenslänglich Bekennenden und Praktizierenden. Die folgende Geschichte erzählt damit auch von einem durch äußere Umstände und inneres Unvermögen beschädigten einzelnen Leben, aber diese Schädigung ist im größeren historischen Maßstab durch das Handeln von Menschen wie HF auch ein Merkmal Deutschlands geworden.

„Urszene“

Die „Urszene“ in HFs Leben wurde in der bisher einzigen publizierten historischen Erwähnung ihrer Person festgehalten:22 In einer bündischen Mädchen-Gruppe der „Deutschen Freischar“23 in Ulm/Donau übte im Winter 1931,24 also noch vor der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten, die evangelische Oberschülerin Leonore Dürr25 mit den „Küken“, das waren die Kindergruppe der unter Zehnjährigen, das Märchen „Schneewittchen“ als Theaterstück ein. Der ←29 | 30→Zwergen-Älteste wurde von dem jüdischen Kind Ruth Laupheimer26 gespielt. Ruth lernte ihre Rolle ernsthaft und übte viel. Sie war von der Mutter in den „Kinderverein“ geschickt worden, „da ich viel allein war und sehr scheu“. Doch eines Abends erschien HF, die Leiterin der Ulmer Mädchen-Gruppe und Studienassessorin an der Ulmer Mädchen-Oberrealschule, bei Ruth zuhause und „sprach lange und ernst mit den Eltern. Ohne Erklärung war alles vorbei. Nach langer Zeit wurde mir klar, dass ich nichts Schlimmes angerichtet hatte, sondern dass ich – durch Unvorsichtigkeit [meiner Mutter] – einer deutschnationalen Kindergruppe angehört hatte. Mein Vati hat ganz schön die Mutti ausgeschimpft. Aber das wurde alles vor mir geheimgehalten.“27 HF hatte Ruths Eltern mitgeteilt, dass die Tochter aufgrund ihrer jüdischen Herkunft nicht mehr Mitglied der Kindergruppe sein könne, da der Bund „deutsch-national“ und „deutsch-christlich“ in seiner Ausrichtung sei. Das Kind war durch das plötzliche und ihm gänzlich unverständliche Herausreißen aus der Gruppe tief verletzt und konnte, ebenso wie Leonore Dürr, den Vorfall nicht vergessen.28 Dieser kleine Vorgang war bereits eine Vorwegnahme der Ulmer ←30 | 31→Ereignisse an der Jahreswende 1932 auf 1933, als jüdische Kinder von ihren Mitschülern, scharfgemacht wohl durch Eltern oder einzelne Lehrer, diskriminiert wurden. Das evangelische Gemeindeblatt sah sich zu einem „Wort an eine christliche Mutter“ genötigt und forderte diese im Zeichen der christlichen Nächstenliebe auf, „dass sie ihr Kind dahin unterweist, solche Ausschreitungen gegen jüdische Schulkameraden nicht mitzumachen und auch andere davon abzuhalten“.29 Damals lebten in Ulm etwa 530 jüdische Bürger bei einer Gesamtbevölkerung von 62.472 Einwohnern.30

Es war also der rechtsradikalen Lehrerin HF vorbehalten gewesen, hier in Ulm mit schlechtem antisemitischem Beispiel voranzugehen. Aber sie war hier nur das ←31 | 32→absichtsvolle und doch blinde Instrument der Bündischen Jugend in deren mit fatalen Irrtümern behaftetem „Weg zur Nation“.31

Leonore Dürr stand mit HF bis zu deren Tod im nahegelegenen Altenheim in Dornstadt im Jahre 1978 in Verbindung. Erst nach dem Tod von HF, so Leonore Dürr, habe es sich dann herausgestellt, dass HF selbst einen jüdischen Großvater gehabt habe.32

Details

Seiten
416
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631874868
ISBN (ePUB)
9783631874875
ISBN (Hardcover)
9783631874820
DOI
10.3726/b19524
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (August)
Schlagworte
Jugendbewegung Judentum Bund Deutscher Mädel Georg Stammler Geschwister Scholl Radikalisierung
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 416 S., 1 s/w Abb.

Biographische Angaben

Ulrich Linse (Autor:in)

Ulrich Linse ist Historiker mit den Forschungsschwerpunkten auf alternative soziale Bewegungen vom Deutschen Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, insbesondere Anarchismus, Lebensreformbewegung, Jugendbewegung, Neureligionen und Umweltschutzbestrebungen. Bis zu seiner Emeritierung lehrte er an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München als Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte.

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