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Handbuch Mittelalter und Renaissance in der Romania

von Lidia Becker (Band-Herausgeber:in) Elmar Eggert (Band-Herausgeber:in) Susanne Gramatzki (Band-Herausgeber:in) Christoph Mayer (Band-Herausgeber:in)
©2023 Andere 784 Seiten

Zusammenfassung

Das Handbuch gibt einen fundierten Einblick in die Epochen des Mittelalters und der Renaissance in der Romania. Es ist für Studierende und Fachkolleg*innen aus angrenzenden Disziplinen konzipiert. Das Buch vermittelt historisches, kulturelles und sprachlich-literarisch-künstlerisches Grundlagenwissen über die gesamte romanischsprachige Welt, vom Gebiet der Dakoromania auf dem Balkan über die Italo- und Galloromania sowie die Iberische Halbinsel bis hin zum amerikanischen Kontinent. Die Beiträge des ersten Themenbereichs führen in Wissens- und Denktraditionen von der Antike bis zum 16. Jahrhundert ein, der zweite Bereich zeichnet die religiöse, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung nach und im dritten Abschnitt werden sprachliche, literarische sowie künstlerische Phänomene exemplarisch erläutert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Zur Einführung
  • A 1 Antike und die Romania
  • A 2 Welt – Natur – Raum
  • A 3 Weltverständnis und Philosophie
  • A 4 Zeitvorstellungen und Geschichtsbilder
  • A 5 Wissenschaftsgeschichte – Kulturen des Wissens
  • B 1 Religion und Religionsgemeinschaften I: Judentum und Islam
  • B 2 Religion und Religionsgemeinschaften II: Dynamiken des Christentums und Hagiographie
  • B 3 Ritterwesen, Kreuzzüge und adliges Reisen
  • B 4 Wirtschaft und Handel in der Romania
  • B 5 Verwaltungs-, Herrschafts- und Sozialstrukturen
  • B 6 Kulturkontakte und neue Welten
  • B 7 Kulturkontakt in der Literatur
  • C 1 Kulturen der Mündlichkeit
  • C 2 Sprachbewusstsein und Institutionalisierung von Sprache
  • C 3 Schriftkulturen
  • C 4 Lyrische Gattungen
  • C 5 Narrative Erzählformen
  • C 6 Theater und Performanz
  • C 7 Bildende Kunst und Architektur
  • C 8 Kunsttraktate der italienischen Renaissance und Schlüsseltexte der bildenden Kunst
  • C 9 Rezeption von Mittelalter und Renaissance der Romania
  • Index Nominum
  • Index Rerum
  • Reihenübersicht

←6 | 7→

Zur Einführung

Lidia Becker, Elmar Eggert, Susanne Gramatzki, Christoph Oliver Mayer

Am Anfang des Handbuchprojekts stand der vom gleichnamigen Netzwerk Mittelalter und Renaissance in der Romania (MIRA) initiierte und von der VolkswagenStiftung geförderte Workshop im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen in Hannover (16.–19. Oktober 2013). Etwa 40 Wissenschaftler*innen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich und Italien gingen das Projekt an, das nun in der Schriftenreihe MIRA beim Peter Lang Verlag erscheint.

Das vorliegende Handbuch vermittelt historisches, kulturelles und sprachlich-literarisch-künstlerisches Grundlagenwissen auf der Basis der aktuellen Forschungslage, um so die mittelalterliche und frühneuzeitliche Welt der Romania in ganzheitlicher Weise für Studierende und interessierte Fachkolleg*innen aus angrenzenden Disziplinen zu erschließen. Leitgedanke bei der Konzeption war es, durch die Gesamtschau Wissen zu vernetzen und ein Problembewusstsein für die Beschäftigung mit diesen frühen Epochen des romanischsprachigen Raumes zu schaffen. Gerade im Hinblick auf andere Referenzwerke zeichnet sich dieses Handbuch durch seinen gesamtromanischen und transdiziplinären Zugriff aus. Damit füllt es eine Lücke im Bereich der Überblickswerke, ohne den Anspruch erheben zu wollen, die Gesamtheit des Gegenstands zu erfassen.

Üblicherweise findet in der romanistischen Lehre eine Beschäftigung mit den frühen Epochen der romanischen Kulturgeschichte disziplinär getrennt statt. Falls überhaupt noch Teil des Curriculums, sind an einigen Universitäten Einführungen in die älteren Sprachstufen vorgesehen, so zum Altfranzösischen oder Altspanischen, vereinzelt noch zum Altitalienischen, aber so gut wir gar kein Altokzitanisch, Altkatalanisch oder Altgalicisch/Altportugiesisch. Zum Teil sind die eigentlich traditionellen und das Fach gründenden Übungen heute ersetzt durch Veranstaltungen zur historischen Betrachtung der jeweiligen Sprache, wobei auch diese Form der Sprachgeschichte von der Gegenwart her aufgerollt und an aktuellen Fragen expliziert wird. Zur Literaturgeschichte werden allenfalls Einführungen in die Literatur des Mittelalters und ggf. Seminare zu einzelnen Textgattungen und Autor*innen angeboten, wie den Chansons de geste oder den fabliaux, natürlich auch zu Dante, Petrarca und Boccaccio oder Cervantes, womit bereits die Renaissance-Zeit erreicht ist. Nur vereinzelt finden innerhalb der Romanischen ←7 | 8→Philologie noch Veranstaltungen statt, welche Kulturaspekte wie die Schriftproduktion, die Kodikologie oder Paläographie behandeln, stattdessen werden eher thematische und kulturtheoretische Fragen auch an literarische Texte früherer Epochen herangetragen.

Gerade in den aktuellen BA-Studiengängen fehlt mittlerweile zumeist der Bereich der frühen Sprach- und Literaturgeschichte oder findet sich allenfalls in optionalen Studienmodulen, so dass viele Studierende nur punktuellen bis gar keinen Kontakt mehr mit den historischen Grundlagen der romanischen Philologie haben, die einst dieses Fach begründeten. Daneben sind eigene mediävistische MA-Studiengänge errichtet worden, die eine Vertiefung der historischen Kenntnisse vorsehen. Insbesondere sind die interdisziplinären Master-Studiengänge der Mediävistik1 zu nennen, welche grundsätzlich auch die Bereiche der romanischen Philologie abdecken, aber diesbezüglich oft nur ein spärliches Angebot und deshalb wenig Nachfrage für die genuin romanistischen Gegenstandsbereiche aufweisen. Dafür wäre gerade ein Grundlagenwissen über die Entstehungsphasen der romanischen Kulturräume unerlässlich: Diese Wissenslücke soll das vorliegende Handbuch schließen helfen.

Für die eingehende fachliche Beschäftigung in Lehre und Forschung gibt es schon eine große Zahl an exzellenten Referenzwerken, die jedoch immer nur einzelne Bereiche davon abdecken, was das MIRA-Handbuch bietet.2 Wir haben uns dafür entschieden, Mittelalter und Renaissance gemeinsam zu betrachten. Mehrere der Nachschlagewerke behandeln primär entweder nur das Mittelalter oder die Frühe Neuzeit bzw. Renaissance (Lexikon des Mittelalters, Enzyklopädie der Neuzeit, Encyclopedia of the Renaissance, Europe 1450 to 1789: Encyclopedia of the Early Modern World, Dictionnaire du Moyen Age, Encyclopedia of the Middle Ages, Lexikon der Renaissance, Historical Dictionary of the Renaissance, Narratologie und mittelalterliches Erzählen), wohingegen MIRA als Forschungsnetzwerk explizit auf die Verbindung dieser Epochen ausgerichtet ist. Die meisten der hier genannten Publikationen sind zudem Nachschlagewerke, mit denen unter Stichwörtern präzise Informationen gefunden werden können, aber sie liefern kein zusammenhängendes Wissen in Form von thematisch weiter gefassten Artikeln. Für Einzelaspekte gibt es ebenfalls einige deutschsprachige Handbücher zum Mittelalter, z.B. Handbuch Chroniken des Mittelalters (Wolf/Ott 2016), Handbuch der mittelalterlichen Architektur (Untermann 2009), Migrationen im Mittelalter: Ein Handbuch (Borgolte 2017), die weitere Vertiefungen liefern. Doch sind viele davon auf die Entwicklungen in Mitteleuropa fokussiert, v.a. auf das französische Königreich, das Heilige Römische Reich, die britischen Inseln und allenfalls noch Italien, aber weniger auf die Geschichte auf der Iberischen Halbinsel oder der Balkanromania.

←8 | 9→Viele Handbücher wiederum beschränken sich auf einzelne Sprachen und orientieren sich dabei tendenziell an den modernen Nationalstaaten, so Das französische Mittelalter (Albert 2001), Französisches Mittelalter (Hausmann 1996), Mittelalter: Französische Literatur (Mölk 2008), Histoire de la littérature française du Moyen Âge (Boutet 2003), Historia de la literatura española (Mainer 2012), Historia de la lengua española: Español medieval (Medina López 32018). Einige Werke betrachten die Geschichte der Sprachen und Literaturen in ihrer Gesamtheit, wodurch der Schwerpunkt aber nicht mehr auf den frühen Epochen liegt, so z.B. in Französische Sprachgeschichte (Klare 2011), Historia de la lengua española (Cano Aguilar 2005), Historia social de las lenguas de España (Moreno Fernández 2005), Historia política del español: La creación de una lengua (Del Valle 2015), Storia della lingua italiana (Migliorini 2019), Breve storia della letteratura italiana (Asor Rosa 2013), Manual de historia de la literatura española (Rodríguez Cacho 2016).

Herausragende neuere Referenzwerke behandeln die Romania teilweise übergreifend, beschränken sich dann aber auf die Sprachgeschichte(n) oder Literaturgeschichte, vgl. die Romanische Sprachgeschichte (Ernst 2003–2008), Oxford Guide to the Romance Languages (Ledgeway/Maiden 2016), Manual de lingüística románica (Gargallo Gil 2007), Traducción y práctica literaria en la Edad Media románica (Cantavella 2003), Literatura románica de la edad media (Vàrvaro 1983). Oder sie behandeln die gesamte Geschichte der westlichen Welt wie z.B. Historia de la Edad Media en Occidente (Mitre Fernández 2016).

Während diese Fokussierungen innerhalb der Forschung nachvollziehbar und sinnvoll sind, da Spezialist*innen über eine vertiefte Kenntnis einzelner Epochen oder Räume verfügen und sich v.a. für Einzelaspekte der Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte des Mittelalters interessieren, sind sie nicht für ein Überblickswerk geeignet. Die sprachlichen, thematischen oder zeitlichen Beschränkungen, denen sich die meisten dieser Referenzwerke verschreiben, lassen sich durch die innere Fokussierung begründen, stehen jedoch einer umfassenderen Erschließung des romanischen Mittelalters und der Renaissance entgegen. Das hat uns Herausgeber*innen des MIRA-Handbuchs bewogen, ein neues Referenzwerk zu konzipieren, das einen innovativen Grundansatz verfolgt: die Integration der verschiedenen Gegenstandsbereiche und Ansätze, womit disziplinäre und epochale Abgrenzungen überwunden werden sollen. Aus dieser Grundhaltung erwachsen mehrere Postulate, die das Handbuch erfüllen sollte:

1. Interdisziplinarität als Methode

Das Handbuch geht von kulturellen Phänomenen und Manifestationen aus, welche es aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und bewerten gilt. Die in dem gewählten Epochenrahmen und Beobachtungsraum verorteten Erscheinungen sind also mit sprach-, literatur-, kultur- und geschichtswissenschaftlichen Methoden und Ansätzen disziplinenverbindend und disziplinenübergreifend zu erläutern. Gerade aus der Überzeugung heraus, dass epochale Vorstellungen von Zeit und Raum in ihrer historischen Entwicklung grundlegend für das Verständnis der sozialen und ästhetischen Ausprägungen der jeweiligen Zeit und für die Einordnung von kulturellen Erscheinungsformen in Literatur, Sprache und Gesellschaft sind, werden sie zu Beginn behandelt. Die traditionellen Zugänge der Sprach- und Literaturwissenschaft sind zu einer gemeinsamen Sichtweise zusammengeführt worden, die sich in theoretisch-methodologischer Hinsicht u.a. an poststrukturalistischen, konstruktivistischen und postkolonialen Ansätzen orientiert und interpretativ-diskursanalytisch vorgeht. Die Beiträge des Handbuchs hinterfragen somit kritisch objektivistische und naturalisierte Vorstellungen von den Untersuchungsgegenständen.

Die Interdisziplinarität hat überdies die Sprachenfrage mit sich gebracht, denn in unterschiedlichen Sprachräumen treten auch verschiedene theoretische Konzepte und Interpretationstraditionen miteinander in Konkurrenz. Im Hinblick auf unser Zielpublikum ist versucht worden, unterschiedlichste Ansätze aufzunehmen ←10 | 11→und in eine gemeinsame Darstellung zu integrieren, sodass das Handbuch grundsätzlich auf Deutsch verfasst ist. Wir haben uns entschieden, Zitate aus den modernen romanischen Sprachen nicht ins Deutsche zu übersetzen, wohingegen Zitate in älteren Sprachstufen und Latein wo immer möglich mit Übersetzungshilfen versehen wurden.

2. Gesamtromania als Gegenstand

Da die Grenzen moderner Nationalstaaten und die heutigen Standardsprachen, wie sie im Bewusstsein der Studierenden (und auch einiger Forscher*innen) fest verankert sind und die heutigen Studienstrukturen prägen, ohnehin nicht die Grundlage für historische Betrachtungen sein können, wird die Gesamtromania in den Blick genommen. Anachronistisch wäre es überdies, nur zentrale und kanonische Ereignisse, Kunstwerke oder Regionen und Räume der Romania zu berücksichtigen.

Das traditionsreiche Konstrukt der ‚Romania‘, das die Romanistik in ihren Anfängen im frühen 19. Jahrhundert geleitet hat, scheint heute wieder in Diskussionen um das „lateinische Imperium“ bzw. „Lateineuropa“ auf. Giorgio Agambens vieldiskutierter Beitrag „Que l’Empire latin contre-attaque!“3 in der französischen Tageszeitung Libération vom 24. März 2013 greift Gedanken des russisch-französischen Intellektuellen und Politikberaters Alexandre Kojève (Koževnikov) auf, der im August 1945 vorschlug, die drei großen ‚lateinischen‘ Nationen Frankreich, Spanien und Italien sollten sich unter französischer Führung zum „lateinischen Imperium“ zusammenfügen.4 Imperien oder Vereinigungen von „unités politiques trans-nationales“ bzw. „nations apparentées“ würden gerade in der Romania entstehen können, aufgrund ihres Katholizismus und ihrer Latinität, „car les Anglo-Saxons, les Germains et les Slaves ne possèdent pas et ne posséderont jamais ce que les Latins, ayant les Français à leur tête, ont offert et offrent encore au monde civilisé“.5 Die Renaissance hält Kojève für „la période historique latine par excellence“.6 Unter weiteren kohäsionsstiftenden Merkmalen des durchaus imperialistisch gedachten, mediterranen „Empire latin“ nennt er die Verwandtschaft der Sprache, der Zivilisation und der Mentalität.7 Als im Jahr 1990 Dominique-Antoine Grisoni eine gekürzte Fassung dieses Textes im ersten Heft der Zeitschrift La règle du jeu herausgab, belebte dies die Debatte über die Zukunft der Nationalstaaten nach Ende des Ost-West-Konflikts.

Kojèves eurozentristische Faszination von der Romania als Nachfolgerin Roms erinnert an die Ideen des dominikanischen Intellektuellen Pedro Henríquez Ureña, der sich des Prestiges der imperialen Latinität sowie des europäischen Spanisch bediente, um so das lateinamerikanische Spanisch ,aufzuweißen‘, während ←11 | 12→er den Beitrag der schwarzen und indigenen Gemeinschaften gleichzeitig ausgeblendet hat: „[N]‌o sólo escribimos el idioma de Castilla, sino que pertenecemos a la Romania, la familia románica que constituye todavía una comunidad, una unidad de cultura, descendiente de la que Roma organizó su potestad: pertenecemos – según la repetida frase Sarmiento – al Imperio Romano“.8

Agamben wiederum rief mit der Erinnerung an Kojève dazu auf, eine Alternative zur fragilen, ausschließlich in ökonomischen Kategorien gedachten Europäischen Union zu denken. Obwohl damit, ein Jahr nach der 2012 erfolgten Auflösung der 1954 gegründeten Lateinischen Union mit zuletzt 36 Mitgliedsstaaten, keine politischen Folgen verbunden waren, offenbart dieses Beispiel das identitätsstiftende Potenzial des im 21. Jh. nach wie vor prestigereichen Begriffs ‚Romania‘, der kritisch betrachtet werden sollte.

Wo Agambens Vorstoß, der Hegemonie der wenigen reichen Staaten innerhalb der Europäischen Union, darunter Deutschland, eine kulturelle Verwandtschaft der Romania entgegenzusetzen, eindeutig politisch begründet ist, möchte das vorliegende Handbuch ein ausdifferenziertes Bild der mittelalterlichen und rinascimentalen Romania zeichnen. Wie es die einzelnen Artikel eindrücklich aufzeigen, vollzieht sich die Ausformung der romanischen (Proto)-Nationalstaaten und -kulturen in einem langwierigen und komplexen Prozess aus der Rückbesinnung auf das und der Emanzipation vom politischen, kulturellen und sprachlichen Erbe des römischen Imperiums. Auf Zäsuren und Durchbrüche des Populären folgen Phasen der Traditionsbewusstheit und Orientierung an der Hochkultur. Es sei daran erinnert, dass die Anfänge des Faches Romanistik durch das Interesse am prestigearmen ‚Vulgärlatein‘ und an den immer stärkeren Divergenzen zwischen dem klassischen Latein und den späteren romanischen ‚Volkssprachen‘ geprägt waren. Ferner fand in allen Epochen eine tiefgreifende, gegenseitige Beeinflussung der romanischen und nicht-romanischen Kontaktsprachen und -kulturen statt, wobei Grenzen zwischen solchen Entitäten nicht immer ausgemacht werden können. Im Mittelalter und der Renaissance ist die ‚Romania‘ keineswegs nur lateinisch- romanisch, sondern zugleich arabisch, jüdisch, germanisch, slawisch und in Ansätzen amerikanisch, auch wenn der Grad der Durchdringung und der Freiwilligkeit des Kulturaustauschs örtlich und zeitlich stark variiert.

Die ‚Romania‘ „umfasst in zeitlicher Hinsicht zwei Jahrtausende und in räumlicher Hinsicht, vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer, große Flächen der Alten und, von Mexiko bis zum Kap Horn, riesige Flächen der Neuen Welt. All dies ist Romania. Frage: kann man von einer Einheit der Romania sprechen?“.9 Diese Frage ist berechtigt. Wir fassen die Romania in einem fundamentalen Sinne als jenes west- und südeuropäische Gebiet vor den außereuropäischen Kolonisierungsprozessen auf, in dem sich die romanischen Sprachen allmählich aus dem ←12 | 13→Latein im Kontakt mit anderen Sprachen und Kulturen entwickelten (berücksichtigen aber dort, wo es von der Sache her geboten ist, natürlich auch die außereuropäischen Gebiete). Die Prägung durch das klassische Latein bzw. das Römische Reich und die geographische Nähe dieser Sprachräume gestatten es, sie unter den Begriff der ,Romania‘ zu subsumieren, zumal in Mittelalter und Renaissance, als die Expansion der romanischen Sprachen in außereuropäische Gebiete und damit die globale Ausdehnung der romanischen Sprachfamilie nur in Ansätzen gegeben war. Für uns ist die Romania ein gewissermaßen konstruierter, aber dennoch vor allem in Europa wahrnehmbarer Raum: Seine Grenzen nach außen sind durchlässig, dennoch lässt er sich von anderen Kulturräumen – z.B. dem germanischen, slawischen, griechischen und arabischen – unterscheiden. Diese externe regionale Bestimmung hat vorrangig heuristische Funktion und ist nicht als absolute Grenzziehung aufzufassen – die zahllosen Transferprozesse, Filiationen und gemeinsamen Entwicklungen zwischen den genannten Sprach- und Kulturräumen ließen dies auch nicht zu.

Natürlich macht es wenig Sinn, bei Themen wie Philosophie, Wirtschaft oder Kunst pauschal von der ,Romania‘ zu sprechen, da dies mit Blick auf die Phänomene zu allgemein und der Erkenntnisgewinn dementsprechend gering wäre. Es muss differenziert werden, wobei die Artikel versuchen, für die interne regionale Bestimmung nicht auf die heutigen Sprachräume oder die modernen Nationenbegriffe zurückzugreifen (wie Italien, Spanien oder Rumänien); vermeiden lässt sich dies jedoch nicht immer. Wo es geschieht, geschieht es aber immer mit dem Bewusstsein, dass dies eine anachronistische Verwendung ist. Bei der Lektüre der Artikel wird ohnehin deutlich, dass es je nach Untersuchungsgegenstand sinnvoller ist, diesen nicht in den Grenzen der modernen Staaten, sondern nach dialektalen Gebieten, politischen Machtbereichen, religiösen Einflusssphären oder geographischen Teilräumen unterscheidend zu denken.

Eine gesamtromanistische Perspektive zu entwickeln, entspricht der Fachtradition der deutschen Romanistik, die von Beginn an bis heute eine übergreifende Sichtweise auf die Sprachen, Literaturen und Kulturen der Romania einnimmt. Der viele Jahre an der Bonner Universität tätige Gelehrte Friedrich Diez (1794–1876) hatte zunächst die Trobadorlyrik erforscht,10 dann aber mit sprachwissenschaftlichen Arbeiten wie der Grammatik der romanischen Sprachen (1836–1838) und dem Etymologischen Wörterbuch der romanischen Sprachen (1853) die Grundlage der Romanischen Philologie gelegt. Gegen Ende des Jahrhunderts hatte diese sich als Universitätsfach etabliert, das mit Gustav Körtings Encyclopaedie und Methodologie der Romanischen Philologie (1884) selbstbewusst Forschungsinhalte und -methoden bilanzieren konnte. In dem von Gustav Gröber herausgegebenen mehrbändigen Grundriß wird unter dem Stichwort der ,Romanischen Philologie‘ ←13 | 14→in selbstverständlicher Weise sprach-, literatur- und kulturwissenschaftliches Wissen über alle romanischen Länder bzw. Sprachen zusammengetragen.11

Die Romanistik, dieses „unmögliche Fach“,12 scheint gewissermaßen aus der Zeit gefallen, denn ihr weiter Gegenstandsbereich lässt sich nur schwer mit modularisierten Studiengängen und dem Gebot eines effizienten, möglichst berufsbezogenen Studiums vereinbaren. Sie diffundiert in verschiedene Objekt- und Metasprachen, zu deren letzteren in erheblichem Maße auch die deutsche Sprache gehört, was die internationale Sichtbarkeit der deutschen Romanistik und die weltweite Rezeption ihrer Forschungsergebnisse erschwert – im Gegensatz etwa zu einem Fach wie Anglistik, in dem Gegenstands- und Metasprache zusammenfallen. Die in der Fachtradition wurzelnde transnationale Perspektive droht allerdings, vor allem im Bereich der Literatur- und Kulturwissenschaft, zu verschwinden und die interkulturell-mehrsprachige Verfasstheit der Romanistik auf die nur recht oberflächliche Verpflichtung zur zweiten romanischen Sprache einzuschrumpfen. Dabei ist die Romanistik keinesfalls ein ,unmögliches‘ oder aus der Zeit gefallenes Fach, sondern eine Disziplin, die seit jeher mit den Konzepten arbeitet, die gerade in der rezenten Forschungsdiskussion eine große Rolle spielen, wie etwa Trans-/Interkulturalität, Kulturkontakt, Identität/Alterität, Migration usw. Das Nachdenken über Kulturtransfer, wechselseitige Austauschprozesse und kulturelle Identitätsbildung ist für die Romanistik selbstverständlich und verleiht ihrer traditionellen plurilingualen Betrachtungsweise aktuelle Relevanz (vgl. Becker et al. 2020).

3. Epochenintegration als zeitlicher Rahmen

Die bekannte chronologische Aufteilung in die Epochen ‚Mittelalter‘ und ‚Renaissance‘ wird im vorliegenden Handbuch zugunsten einer gemeinsamen Betrachtung des Zeitraums von ca. 400 n.Chr. bis ca. 1600 aufgegeben.13 Dadurch rücken Kontinuitäten und Paradigmenwechsel innerhalb dieser Periode in den Fokus, was für einige der Themenbereiche auch explizit angesprochen wird. Diese Gesamtschau auf traditionell unterschiedene Epochen soll das Augenmerk darauf lenken, wo mit welcher Begründung ein Einschnitt für die jeweiligen kulturellen Felder gesetzt werden könnte. Dort, wo durch die chronologische und historische Abfolge Zusammenhänge nicht erkennbar sind, unterbleibt selbstverständlich die integrative Darstellung.

Für die Entstehung der Romanistik als Fach ist die Beschäftigung mit den vormodernen Epochen, vor allem dem Mittelalter, konstitutiv, wie oben bereits angedeutet wurde:14 Friedrich Diez, die ,Gründungsfigur‘ der Romanistik, hat aus der intensiven Beschäftigung mit der Lyrik der provenzalischen Trobadore wichtige ←14 | 15→Erkenntnisse für die Entstehung der romanischen Sprachen gewonnen. Den epochengeschichtlichen Hintergrund hierzu bildet im frühen 19. Jahrhundert das Interesse der Romantik für die Literatur und Kultur des Mittelalters, das bekanntermaßen literarische und bildkünstlerische, aber eben auch wissenschaftliche Produktivität nach sich zog.15 Im heutigen romanistischen Fachdiskurs sind das Mittelalter und die Renaissance – als Epochenbegriff ist auch diese eine Konstruktion des 19. Jahrhunderts – hingegen kaum noch präsent: Die vormodernen Epochen sind unter enormen curricularen Druck geraten und nur noch exemplarisch in Studium und Lehre vertreten. Dabei gelte es aufzuzeigen, dass Mittelalter und Renaissance keine fernen Epochen sind, die mit unserem Leben nichts mehr zu tun hätten: Das heutige Europa in seiner sprachlichen und kulturellen Vielfalt hat im Mittelalter seine Gestalt angenommen, die Herausbildung der europäischen Sprachen erfolgte in jener Zeit ebenso wie die Vorstellung einer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, einer universitas, die Menschen verschiedener nationes zum Zwecke der Wissensvermittlung und Wissensvermehrung zusammenführt. Es gibt kaum ein gesellschaftliches Feld, das sein Fundament nicht in der Vormoderne hätte: Kultur, Bildung, politisches Denken, Rechtssystem, Wirtschaftshandeln, Ethik …

Trotz der unübersehbaren historischen Transformationen und Paradigmenwechsel, die es sinnvoll erscheinen lassen, Zeiträume aufgrund bestimmter Merkmalshäufungen voneinander zu unterscheiden, gibt es immer auch Kontinuitäten, die eine Epoche mit der vorhergehenden oder nachfolgenden verbinden, was auch den Übergang von der Antike/Spätantike zu Mittelalter und Renaissance betrifft: Das antike Wissen wurde zwischen 400 und 1600 bewahrt oder wiederentdeckt, es wurde fortgedacht und weiterentwickelt. Das Mittelalter war zwar vor allem vom christlichen Glauben geprägt und stand dem ,Heidnischen‘ indifferent oder sogar feindlich gegenüber; zugleich wurden aber erhebliche Anstrengungen unternommen, um paganes Kulturgut zu bewahren, man denke etwa an die Sammlungen antiker Texte in den Klosterbibliotheken oder das Bemühen, ein Werk wie die Aeneis Vergils durch eine subtile allegorische Ausdeutung im Lektürekanon erhalten zu können.

Bereits ab dem 11. und 12. Jahrhundert, vor allem aber ab dem 14. Jahrhundert wurde das Postulat des unbedingten Glaubens von innen heraus, d.h. von christlich sozialisierten Gelehrten, zusehends in Frage gestellt und durch das Konzept des (überprüfbaren) Wissens ergänzt: Die Orientierung an der Empirie, experimentelles Vorgehen und theoretische Neugierde, die auch heute noch den wissenschaftlichen Fortschritt prägen, sind auf die epistemologische Wende der Renaissance zurückzuführen. In jener Zeit entwickelte sich zudem ein Denkmuster, das unverzichtbar für das Funktionieren moderner Gesellschaften ist, das ←15 | 16→der Pluralität: Es setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass es verschiedene – subjektive, standortbezogene – Perspektiven gibt, dass Menschen unter verschiedenen Voraussetzungen und in unterschiedlichen Rollen agieren. Der kulturelle und wissenschaftliche Aufbruch in der Renaissance hat sehr viel mit dieser gedanklichen Öffnung zu tun, die sich ihrerseits dem stetigen Wissenszuwachs, dem gelehrten Austausch und der Begegnung mit außereuropäischen Kulturen verdankt.

4. Relevanz als metakognitives Lernziel

Die Grundidee des Netzwerks MIRA besteht darin, die Aktualität der Epochen Mittelalter und Renaissance für die heutigen Gesellschaften herauszustellen.16 Die angebliche Entfernung zwischen der mittelalterlichen Welt und der modernen Gesellschaft und Kultur ist bei aller Differenz und Alterität gar nicht so groß und unüberwindbar, wenn man genau hinsieht und sich für Fragen der Herkunft und frühen Ursprünge moderner Erscheinungen interessiert. Der Blick auf diese Epochen zeigt damit zugleich die Relevanz der mittelalterlichen Strukturen und Mentalitäten bzw. der Entwicklungen in der Frühen Neuzeit für die heutige Welt – bei aller Verschiedenheit der jeweiligen kulturellen Prägungen. Aus diesem Grund ist den transhistorischen Verbindungen ein eigenes Kapitel zum Abschluss des Handbuchs gewidmet.

4.1 Innovationen und pragmatische Grenzen

Das vorliegende Handbuch möchte die vormoderne romanische Welt in möglichst umfassender Weise darstellen und gesellschaftlich-kulturelle Phänomene über die Epochengrenze zwischen Mittelalter und Renaissance hinweg verfolgen. Es versteht sich damit, wie oben bereits angedeutet, als Ergänzung der universitären Lehre, die selbstverständlich von Seiten der Dozierenden auch mit interdisziplinären Inhalten gefüllt wird, aber dennoch von der traditionellen Abgrenzung der Disziplinen geprägt bleibt. Die Studierenden schreiben sich nun einmal, gerade im B.Ed.- und M.Ed.-Bereich, für das Fach Spanisch oder Französisch oder Italienisch ein, so dass ihre Auseinandersetzung mit Sprache, Literatur und Kultur zwangsläufig in den Grenzen einer nationalsprachlich orientierten Fachkultur stattfindet und die sprach- und literaturwissenschaftlichen Inhalte nur unsystematisch von dem Wissen über wichtige Entwicklungen in Geschichte, Wirtschaft, Religion, Kunst usw. flankiert werden.

Unter Einbeziehung neuester Forschungsergebnisse, welche von führenden Expert*innen der deutsch- und romanischsprachigen Romanistik, Mediävistik ←16 | 17→und Renaissance-Forschung zusammengetragen wurden, ist ein Werk entstanden, das erheblich von den üblichen Darstellungsformen in den oben angeführten Referenzwerken abweicht. Die Genese des Handbuchs beruht auf Arbeitsgruppen, die sich anlässlich des 2013 in Hannover durchgeführten Workshops gebildet hatten. Trotz der intensiven Abstimmung der Handbuch-Konzeption, die noch vor der eigentlichen Textarbeit für Kohäsion zwischen den zukünftigen Artikeln sorgen sollte, waren im weiteren Verlauf der Redaktionsarbeit einige Umstrukturierungen unvermeidlich. Während eine Reihe von Artikeln die Kriterien der ursprünglichen Konzeption voll und ganz erfüllen können (größere interdisziplinäre und internationale Arbeitsgruppen, Berücksichtigung möglichst vieler, insbesondere weniger gut erforschter Räume der Romania, vertiefende ,Exempel‘ usw.), kam es in anderen Fällen zu personellen Engpässen, die lediglich eine reduzierte Betrachtung ausgewählter Themenbereiche erlaubt haben bzw. die zum Verzicht auf die interdisziplinäre Zusammenstellung der Autor*innenteams sowie zu geringfügigen Modifikationen der geplanten Handbuchstruktur geführt haben. Dennoch sind die Herausgeber*innen überzeugt, viele Desiderata in kohärenter Weise und auf qualitativ hohem Niveau erfüllt zu haben. Thematische Erweiterungen sowie eine an die Bedürfnisse der Studierenden angepasste didaktische Aufbereitung sind für die digitale Edition des Handbuchs im Open-Access-Format vorgesehen, die in einem zweiten Schritt im Anschluss an die Drucklegung vorbereitet wird und die Vertreter*innen bisher unterrepräsentierter Disziplinen integrieren soll.

Am Anfang stand die Idee, der Komplexität und vermeintlichen Unzugänglichkeit der historisch so fernen Epochen Mittelalter und Renaissance mit einem umfassenden Kompendium zu begegnen, das insbesondere schon fortgeschrittenen Studierenden in ihrem Fachstudium den Einstieg in die Thematiken erleichtern soll. Vor allem Studierende der Romanistik, der Geschichts- und Kunstwissenschaften in Master-Studiengängen sollen sich auf der Basis eines akademischen Grundwissens einen Überblick über alle wesentlichen Bereiche der mittelalterlichen und rinascimentalen Kultur der Romania verschaffen können, durch ausgewählte Beispiele und entlang innovativer fächerübergreifender und interdisziplinärer Leitlinien. Aber auch für Wissenschaftler*innen in fächerübergreifenden Kooperationen soll das Handbuch eine Orientierung bieten.

Der Charakter eines Handbuchs erlaubte eine thematische Gliederung, wie sie die analogen diachronen Entwicklungen der Romania gegenüber einer chronologischen Ausrichtung privilegiert. Es ist zudem überschaubar und vom Umfang her komprimiert, andererseits interaktiv beliebig erweiterbar und – potentiell unbegrenzt – dauerhaft aktualisierbar. Seine konkrete Zielrichtung ist nunmehr eine doppelte: Es kann einerseits als Einführung genutzt werden, um innerhalb einer universitären Lehrveranstaltung einen Überblick über Literatur, Sprache ←17 | 18→und Kultur der vormodernen Epochen in der Romania zu gewinnen, was den begrenzten Ressourcen der Universitäten Rechnung trägt sowie unentbehrliches Zusatzwissen über die romanischen Sprachräume jenseits des einsprachigen Studiengangs verspricht. Interromanische Vernetzungen und geschichtliche Entwicklungen sollen sich durch die Lektüre der Handbuchartikel erschließen. Auf diese Weise lässt sich notwendiges Grundlagenwissen über das Mittelalter und die Renaissance auch in ein zeitlich und inhaltlich gestrafftes Romanistikstudium integrieren. Andererseits kann jeder Artikel des Bandes als Ausgangspunkt einer weitergehenden Beschäftigung mit dem jeweiligen Thema dienen und im Rahmen einer Lehrveranstaltung oder gerade auch im Selbststudium vertieft und weitergedacht werden.

Die Pragmatik der Entstehung des Handbuchs hat nun zu verschiedenen Verwerfungen und Umstrukturierungen, zugleich aber auch zu Verdichtungen und Verschränkungen geführt. Die drei großen Bereiche des Handbuchs A) Grundlagen des Wissens und Denkens, B) Gesellschaft und Kulturkontakte sowie C) Kultur, Sprache und Literatur sind dabei eng miteinander verzahnt und lassen sich nicht grundsätzlich voneinander trennen. Das Handbuch liefert weder eine chronologische Geschichtsschreibung noch einen Überblick über die Sprach-, Kunst- oder Literaturgeschichte und möchte dies auch gar nicht – diesbezüglich gilt es, auf die in den bibliographischen Angaben genannten disziplinären Fachbücher und Grundlagenwerke zu verweisen, die exemplarisch in den Handbuchartikeln als weiterführende Literatur auch genannt sind. Die Idee war es, durch zentrale Begriffe Themen so miteinander verzahnt zu denken, Gegenstände phänomenologisch so zu erschließen, dass die Leser*innen diese Verbindungslinien nachvollziehen können, ohne sie mit den herkömmlichen und rein disziplinären Gliederungsprinzipien zu konfrontieren. Umgekehrt formuliert: Eine erschöpfende Chronologie, wie sie Literaturgeschichten oder historische Chroniken bieten, war von vornherein nicht angedacht. Selbst wenn Doppelungen nicht völlig vermieden werden konnten, so ist es doch die Absicht, durch die Behandlung exemplarischer Beispiele sowohl dem etablierten Kunst- und Kulturkanon Rechnung zu tragen als auch diesen zu weiten. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass nicht jeder zu erwartende Eintrag, jeder Sachverhalt, jeder wichtige Name oder wichtiges Datum sich wiederfinden wird, die Auswahl soll explizit nicht erschöpfend zu verstehen sein, sondern zum Weiterlesen und Weiterdenken anregen.

Auch auf einer anderen Ebene will das Handbuch neue Wege beschreiten: Es verbindet Forscher*innen unterschiedlichen Alters und aus verschiedenen Forschungstraditionen. Die meisten Kapitel sind von neu zusammengestellten interdisziplinären und internationalen Teams verfasst worden. Dass Mediävist*innen mit Spezialist*innen der Epoche der Renaissance zusammenarbeiten und eine ←18 | 19→Gesamtschau auf die Romania als repräsentativer Ausschnitt Europas verstanden wird, ist seit Gründung des Netzwerks MIRA bereits gute Tradition und hat sich seitdem in einer gleichnamigen Publikationsreihe niedergeschlagen, in der auch dieses Handbuch erscheint. Die hier dargestellte Zeitachse reicht daher von ca. 400 n.Chr. bis etwa ins Jahr 1600; geographisch sind alle Gebiete angesprochen, auf denen romanische Sprachen und Kulturen sich entfaltet haben, von Lateinamerika bis zum Ostbalkan. Jeder Artikel arbeitet neueste Forschungsergebnisse auf und stützt sich dabei auf eine Auswahl an Sekundärliteratur und Deutungstheorie. Originaltexte werden interpretiert und bewertet, wobei vor allem auf solche Quellen rekurriert wird, die für Kontinuitäten und Paradigmenwechsel stehen.

4.2 Struktur des Handbuchs

Am Anfang des Handbuchs steht die Frage nach dem Fortwirken der Antike und ihres Erbes im engeren Sinn (A1). A2 führt unter den Aspekten „Welt – Natur – Raum“ in die Welt- und Raumvorstellungen von Mittelalter und Renaissance ein; Artikel A3 lotet die wichtigsten philosophischen Fragestellungen aus, die jene Epochen beschäftigten, während in A4 Zeit- und Geschichtsvorstellungen untersucht werden. In A5 wird die Herausbildung von Wissens- und Bildungskonzepten in den Blick genommen.17

Der zweite Teil des Handbuchs fokussiert die Ideologien und Weltanschauungen, die den konkreten Rahmen für das Handeln und künstlerische Schaffen darstellen. Dabei wird zunächst ein Überblick über Religion und Religionsgemeinschaften (B1) gegeben, der hinsichtlich des dominanten Christentums und seiner Dynamik vertieft wird (B2). Als zentrales Modell der Feudalgemeinschaft steht in Artikel B3 das Ritterwesen im Mittelpunkt, während in B4 ein Überblick über die Veränderungen durch das zunehmend kapitalistischere Wirtschaftsfeld gegeben wird. Verwaltungs-, Herrschafts- und Sozialsysteme werden dann überblicksartig in B5 dargestellt. Die aus eurozentrischer Perspektive glorifizierte Entdeckung neuer Welten und der Kontakt mit unbekannten Kulturen, was nicht nur einschneidende Veränderungen der institutionellen Voraussetzungen mit sich brachte, sondern die Kulturkontakte wesentlich veränderte, wird in B6 expliziert und in B7 mit Bezug auf Literatur und Fiktionalisierung ausgefächert. Diesen Beiträgen liegt ein Verständnis von der Verortung von Kultur in einem Kontext von Transfer, Vermittlung und Rezeption zugrunde, das sich ebenfalls in anderen Publikationen der MIRA-Reihe wiederfindet.

Der Part C des Handbuchs beschäftigt sich mit den genuinen Gegenständen der Romanistik, die allerdings nicht entlang der Leitlinien Sprach- und Literaturwissenschaft einseitig und disziplinär abgeschlossen entfaltet werden. C1 ←19 | 20→präsentiert sprachgeschichtliche Entwicklungen unter dem Aspekt der „Kulturen der Mündlichkeit“, C2 betrachtet Sprachbewusstsein und die Institutionalisierung von Sprache, sodass sich insgesamt ein Panorama sprachhistorischer Entwicklungen entfaltet, das mit einem Blick auf „Schriftkulturen“ (C3) abgerundet wird. Die Lyrik wird historisch korrekt zusammen mit Einblicken in die Musik im Artikel C4 abgehandelt, worauf ausgewählte Aspekte aus der Narrativik (C5) und der Theaterkultur (C6) diskutiert und erläutert werden, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität im quantitativen Sinn zu erheben. Auch der Sektor der Bildenden Kunst und Architektur ist vertreten: C7 widmet sich der mittelalterlichen und rinascimentalen Kunst, C8 stellt deren theoretische Fundierung anhand von italienischen Kunsttraktaten heraus. Abschließend wirft der Artikel C9 einen Blick auf Rezeptionsphänomene, womit das Weiterwirken der hier betrachteten Epochen exemplarisch beleuchtet wird und damit ein Anschluss an Ausgangsüberlegungen des Netzwerks MIRA hergestellt wird (vgl. Becker 2009).

Wie oben angeführt, waren ursprünglich weitere Bereiche oder umfangreichere Ausführungen von Expert*innen vorgesehen, die aber leider nicht realisiert werden konnten. So hätten wir uns z.B. ausführlichere Darstellungen zur Musik, zu sozialer und geschlechtlicher Identität und zu Raumvorstellungen gewünscht. Zugleich bestand Einigkeit darüber, dass mittlerweile hoffentlich etablierte Leitlinien unserer Gegenwart wie etwa Diversity nicht auf die Vormoderne angewandt werden, indem eigene Artikel hierzu entstehen, sondern diese als Grundsätze jedes einzelnen Artikels eine gewisse Selbstverständlichkeit darstellen, die sich auch in der Sprachwahl widerspiegelt.

Wir bedanken uns bei den folgenden Kolleg*innen, die in der Anfangsphase die Konzeption des Handbuchs mitgeprägt haben, zu einem späteren Zeitpunkt jedoch aus unterschiedlichsten Gründen aus dem Projekt ausgeschieden sind: Brigitte Burrichter, Philippe Depreux, Inga Mai Groote, Ursula Hennigfeld, Heinrich Lang, Beate Langenbruch, Jörn Steigerwald. Unser Dank gilt außerdem all denjenigen, die die Entstehung des Handbuchs mit Ratschlägen begleitet oder redaktionelle Arbeiten übernommen haben.

Bibliographie

Im Handbuch verwendete Siglen:

Anmerkungen

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A1 Antike und die Romania

Lidia Becker, Elmar Eggert, Susanne Gramatzki, Roland Ißler, Johannes Kramer, Christian Maier, Kai Schöpe

1. Einleitung

2. Sprache

2.1 Lateinische Literatursprache

2.2 Spätantikes Latein

2.3 ‚Vulgärlatein‘

2.4 ‚Mittellatein‘

2.5 Kontinuität des Lateins in den romanischen Sprachen

2.6 Exkurs I: Quantitätenkollaps

2.7 Exkurs II: Entwicklung im Griechischen

3. Literatur

3.1 Gattungen und Strukturen der mittellateinischen Literatur

3.2 Rezeption antiker Autoren in volkssprachlichen Literaturen

3.3 Antike Literatur und die Stoffkreise der Erzählliteratur

4. Materielles Erleben der Antike

5. Humanismus

6. Fazit und Ausblick

1. Einleitung

Roland Ißler, Johannes Kramer, Kai Schöpe

„Antike Welt – das heißt die Gesamtantike von Homer bis zur Völkerwanderung, nicht etwa das ‚klassische‘ Altertum“, stellt der Romanist Ernst Robert Curtius1 fest und gibt damit den zeitlichen Rahmen für diejenige lateinisch- und griechischsprachige Kultur vor, die in ihrer Beziehung zur Romania Gegenstand dieses Kapitels ist. Wenn also von ‚Antike‘ die Rede ist, dann ist die griechisch-römische Antike gemeint. Wie aber ist das Verhältnis von Antike und Romania zu verstehen? Schon Curtius hat Begriffe wie „Nachleben“, „Fortleben“ oder „Erbe“ zurückgewiesen und eine organische Metapher bevorzugt, indem er Ernst Troeltsch folgte. Nach diesem beruht die „europäische Welt nicht auf Rezeption und nicht auf Lösung von der Antike, sondern auf einer durchgängigen und zugleich bewussten Verwachsung mit ihr.“2 Das Bild bringt zum Ausdruck, dass im ‚Verwachsen‘ von Antike und Romania etwas Neues entsteht, indem antike Referenz- und romanische Aufnahmekultur wechselseitig aufeinander einwirken. Dieser Prozess der ‚Transformation‘ vollzieht sich mithin in zwei Richtungen. So wird in den Rezeptionsdokumenten die ‚Antike‘ erst hervorgebracht, indem sie rekonstruiert und tradiert wird und indem Teile aus ihr bewusst oder unbewusst ausgewählt werden. Dabei konstruieren sich die rezipierenden Aufnahmekulturen stets auch selbst:

Indem die Antike zum privilegierten oder polemischen Objekt von Wissensprozessen, künstlerischen Adaptionen oder politischen Aushandlungen wird, funktioniert das dabei entworfene Antike-Bild als Selbstbeschreibung der jeweiligen Rezipientenkultur.3

Diese grundlegende Einsicht gerade für die Erforschung der Romania, die über Mittelalter und Frühe Neuzeit hinaus immer wieder ihre tiefe Verbundenheit zur Antike betont hat, sei diesem Kapitel paradigmatisch vorangestellt.

2. Sprache

Lidia Becker, Johannes Kramer

2.1 Lateinische Literatursprache

Alle romanischen Sprachen gehen auf das Lateinische zurück – soweit gibt es keine Diskussionen. Die Fragen treten auf, wenn man die genauere Gestalt des Lateinischen beschreiben will. Versuchen wir zunächst eine historische Annäherung.

Die Latinität der Antike ist uns natürlich nur in schriftlichen Zeugnissen greifbar, und eine grobe literarische Periodisierung in ←25 | 26→Vorklassik, Klassik, Nachklassik und Spätantike ist sicher unumstritten.4 Wenn man das Schema allerdings mit konkreten Werken oder gar mit genauen Zahlen füllen will, dann stehen mannigfache Diskussionen an, und noch schwieriger wird es, wenn man aus den literarischen Werken eine sprachgeschichtliche Periodisierung ableiten will, die eine Verbindung zur politischen Geschichte und auch zu den Fakten der uns nur schattenhaft greifbaren Geschichte der gesprochenen Sprache haben muss. Eine – keineswegs die einzige – Möglichkeit, bei der wie in jeder Schematisierung im konkreten Fall Übergänge von der einen zur anderen Epoche anzusetzen sind, wäre folgender Ansatz:5

Details

Seiten
784
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783653061338
ISBN (ePUB)
9783631705759
ISBN (Hardcover)
9783631666708
DOI
10.3726/978-3-653-06133-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (März)
Schlagworte
Sprachgeschichte Literaturgeschichte Kulturgeschichte Sozialgeschichte Mediävistik Sprachwissenschaft Literaturwissenschaft Geschichte Philosophie Kunst
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 784 S., 56 farb. Abb., 3 s/w Abb., 10 Tab.

Biographische Angaben

Lidia Becker (Band-Herausgeber:in) Elmar Eggert (Band-Herausgeber:in) Susanne Gramatzki (Band-Herausgeber:in) Christoph Mayer (Band-Herausgeber:in)

Lidia Becker ist Professorin für Romanische Sprachwissenschaft / Hispanistik an der Leibniz Universität Hannover. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören romanische Sprachgeschichte und Sprachgeschichtsschreibung, kritische Soziolinguistik, Glottopolitik, Diskurslinguistik sowie Lateinamerikanistik. Elmar Eggert ist Professor für Romanische Sprachwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsbereiche betreffen die Sprachgeschichte des Spanischen und Französischen, insbesondere die Diskurstraditionen, die Diskurse über sprachliche Normen in Geschichte und Gegenwart sowie die Kultur regionaler Mehrsprachigkeit. Susanne Gramatzki ist Dozentin für Französische und Italienische Literaturwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Kultur der italienischen Renaissance, die Beziehungen zwischen Literatur und bildender Kunst sowie die Beziehungen zwischen Literatur, Philosophie und Wissensgeschichte. Christoph Oliver Mayer ist Gastprofessor für Fachdidaktik der romanischen Sprachen und Literaturen an der Humboldt-Universität zu Berlin und Privatdozent für Französische und Italienische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Er forscht zur Literaturdidaktik und zum Transkulturellen Lernen sowie zu Rezeptionsphänomenen der Frühen Neuzeit.

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Titel: Handbuch Mittelalter und Renaissance in der Romania
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