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Die soziale Herkunft der dänischen Studenten

Theodor Geiger Gesamtausgabe- Abteilung IV: Soziale Schichtung und Mobilität- Band 4

von Klaus Rodax (Autor:in)
©2015 Andere XLVII, 254 Seiten

Zusammenfassung

«Die vorliegende Untersuchung möchte Genaueres über die Abstammung der akademischen Jugend ermitteln. Die leitenden Fragestellungen waren: 1) Um wieviel lebhafter und bunter stellt sich die Umrekrutierung des Akademikerstandes dar, wenn man die jungen Akademiker nicht, wie üblich, nur auf ihre direkte väterliche, sondern auf ihre indirekte grossväterliche Abstammung hin untersucht? 2) Welche Zwischenglieder (Väter) stehen typischerweise zwischen Grossvätern in den verschiedenen Sozialschichten und deren studierenden Enkelkindern?» (Theodor Geiger)

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsübersicht
  • Vorrede: Klaus Rodax
  • Die Soziale Herkunft Derdänischen Studenten
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Erster Teil.: Theoretische Grundlagen
  • I. Die Akademiker in der Gesellschaft
  • II. Sozialstruktureller Hintergrund
  • III. Technik und Methode der Untersuchung
  • 1. Wie das Projekt in Gang gesetzt wurde
  • 2. Der Fragebogen
  • 3. Das Einsammeln des Materials
  • 4. Die Bearbeitung des Materials
  • Zweiter Teil. Ergebnisse und Konklusionen
  • I. Allgemeiner Überblick
  • II. Die Väter
  • 1. Erwerbszweige
  • 2. Berufliche Stellung und wirtschaftliche Lage
  • 3. Ausbildung
  • III. Die Großväter
  • 1. Direkte und indirekte Abstammung
  • 2. Wege der Umrekrutierung
  • Zusammenfassung
  • Résumé in deutscher Sprache
  • Tabellenanhang
  • Apparat
  • Editorischer Bericht
  • Erläuterungen
  • Personenregister
  • Sachregister
  • Reihenübersicht

Vorrede*

I.

In der nationalen wie internationalen Forschung zur Klassenanalyse stößt man immer wieder auf zwei dominierende Figuren in der Soziologie: auf Karl Marx und Max Weber. Sie werden unbestritten als die beiden überragenden Klassiker auf diesem Forschungsfeld angesehen und gewürdigt. Darüber ist ein anderer bedeutsamer Klassiker der deutschen und skandinavischen Soziologie, der ein exemplarisches theoretisches und empirisches Werk zur sozialen Schichtung und Umschichtung von ebensolcher Bedeutung hinterlassen hat, fast in Vergessenheit geraten: Theodor Geiger. Im Unterschied zu Marx und Weber, die beide den – mit unterschiedlichen Bedeutungsgehalten versehenen – Begriff der „sozialen Klasse“ verwendeten, legte Geiger seinen Untersuchungen den der „Gesellschaftsschicht“ als Oberbegriff zugrunde. „Er ist zwar nicht“, wie Rainer Geißler sicherlich mit Recht hervorhebt, „der ‚Erfinder‘ des Schichtbegriffs, so wenig wie Marx der Schöpfer des Klassenbegriffs ist. Aber so, wie Marx ‚Klasse‘ zum Angelpunkt der Sozialstrukturanalyse des 19. Jahrhunderts machte, so gebührte Geiger das Verdienst, den Begriff der sozialen Schicht zum zentralen Konzept der Analyse sozialer Ungleichheit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhoben zu haben.“1 In kritischer Auseinandersetzung vor allem mit der Klassenanalyse Marx’, aber auch mit der Webers und mit den neueren gesellschaftli ← VII | VIII → chen Entwicklungstendenzen der fortgeschrittenen kapitalistischen Industriegesellschaft in der anglo-amerikanischen Fachliteratur, entwarf Geiger eine Konzeption von sozialer Schichtung und Umschichtung, die die „moderne Klassengesellschaft“ differenziert und prägnant zu beschreiben und zu analysieren erlaubte.

Für Geiger war ein grundlegendes Prinzip des Systems sozialer Schichtung das Ausmaß ihrer Offenheit. Dieses könne zwar graduell durchaus verschieden sein, es gebe jedoch keinen wirklich geschlossenen Typus.2 Er lehnte daher eine strenge Scheidung nach offenen und geschlossenen Schichtstrukturen strikt ab3 und kam statt dessen aufgrund seiner Ausgangsüberlegungen zur für ihn grundlegenden Einsicht: „Was von der Unterscheidung geschlossener und offener Schichtstrukturen übrig bleibt, ist folgendes: 1) Statuswechsel im Einzelfall ist vermutlich in allen, gleichviel wie geschichteten Gesellschaften möglich. – 2) Lebhafte Fluktuation kennzeichnet notwendigerweise alle Perioden des Übergangs von einer Schichtstruktur zu einer anderen. – 3) Gewisse historische Schichtstrukturen mögen der Fluktuation günstiger sein als andere – aber das dürfte mehr ein Unterschied des Grades als der Art sein.“4

Im Rahmen der Forschungen, wie man heute in terminologischer Abgrenzung sagen würde, zur sozialen Mobilität5 und zum sozialen Wandel6, oder, wie es Geiger auszudrücken pflegte: zur sozialen Umschichtung ← VIII | IX → (= soziale Fluktuation und sozialer Statuswechsel),7 interessierten ihn vornehmlich Fragen, die mit den lebhaften gesellschaftlichen Veränderungsprozessen des sozialen Schichtungssystems und den ihnen zugrundeliegenden Rekrutierungsverhältnissen zu tun hatten. Diese waren für ihn „eines der wichtigsten Probleme der Soziologie.“8

Dem Studium der Gesellschaftsschichtung und der Umschichtungsvorgänge widmete er deshalb – zusammen mit seinem wissenschaftlichen Assistenten Torben Agersnap und einem kleinen Stab qualifizierter Schüler – gegen Ende der vierziger Jahre am neugegründeten Institut für Gesellschaftsforschung an der Universität Aarhus in theoretischer und empirischer Hinsicht besondere Aufmerksamkeit. Geiger vertrat dabei die Ansicht, wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn bedeute, zu untersuchen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen diese Umschichtungsvorgänge typischerweise stehen. Sie setzten, methodisch gesehen, notwendigerweise eine differenzierte, allseitige Bewegungsanalyse zwischen den zu untersuchenden Gesellschaftsschichten innerhalb einer regional in unterschiedlichen Altersgruppen abgegrenzten Population voraus. „Nur in einem solchen Gesamtbilde ist es möglich, die beobachteten Bewegungen synoptisch in ihrem doppelten Aspekt zu erfassen, nämlich als Abströme von und als Zuströme zu den einzelnen Schichten.“ Denn die „Gliederung der untersuchten Population in Altersklassen und die gesonderte Analyse der Zu- und Abströme in jeder einzelnen Altersklasse erlaubt die Ablesung eines Bewegungs-Trends, wobei die im Zeitablauf (durch die Serie der Altersklassen) ihrer Frequenz nach schwankenden Umschichtungen der Personen mit Grössenänderungen der Stand- und Herkunftsschichten selbst in Beziehung gesetzt werden ← IX | X → können.“9 Dieses Verfahren ermöglichte, mit anderen Worten, für unterschiedliche Altersklassen gleichzeitig aufzuzeigen, wie im Zeitverlauf die Befragten aller Standortschichten sich auf Herkunftsschichten und wie die Befragten aller Herkunftsschichten sich auf Standortschichten verteilen.

Der Schwierigkeit dieser wissenschaftlichen Aufgabe war sich Geiger wohl schon in den letzten beiden Jahren seiner Braunschweiger Zeit bewußt geworden, ja er zweifelte zunehmend, ob sich Umschichtungsvorgänge in der Klassengesellschaft überhaupt in eine einfache Formel kleiden lassen, etwa wenn er in Deutung des Schichtungsbildes in seiner Studie „Die soziale Schichtung des deutschen Volkes“ (Stuttgart 1932) die Kardinalfrage aufwarf, ob die deutsche Gesellschaft nach wie vor als eine Klassengesellschaft anzusehen sei, in der das Verhältnis zu den Produktionsmitteln wesentlich strukturbestimmend ist: „Gegen die Annahme einer totalen Umschichtung ist nichts zu sagen und es ist durchaus möglich, ja naheliegend, daß der Vorabend eines solchen Umbaus angebrochen ist. Manche Zuckungen deuten darauf hin. Daß das Klassenprinzip sich bis heute noch nicht voll durchgesetzt, noch nicht alle Teile der Gesellschaft erfaßt hat, ist kein Gegenargument. Es war immer so und wird immer so sein, daß eindeutige Schichtungsbilder nur eine Tendenz ausdrücken und daß, während die Rudimente gestriger Sozialstruktur in den heutigen absterben, sich schon die Keime der morgigen vorbilden. Die universalsoziologischen Schichtungsbilder sind Ty pen, zwischen denen die gesellschaftliche Realität sich hinbewegt, ohne je auf den Ruhepunkt zu gelangen. Aber ich halte es bis jetzt nicht für möglich, das, was vielleicht werden will, in die Formel einer neuen Struktur zu fassen; mag ein anderes Schichtungsprinzip sich anschicken, das klassenmäßige (des Verhältnisses zu den Produktionsgütern) abzulösen – ich sehe das neue Prinzip noch nicht klar und niemand hat es mir bisher so überzeugend weisen können, daß ich es für darstellbar hielte.“10 ← X | XI →

Die marxistische Analyse und Beschreibung der Entwicklung der Gesellschaftsstruktur schien Geiger jedenfalls aufgrund seiner empirischen Analysen zur sozialen Schichtung des deutschen Volkes gegen Ende der Weimarer Republik wissenschaftlich nicht mehr völlig überzeugend zu sein. Er mußte eine wachsende soziale Umschichtung zwischen „Klassen“ bzw. „Schichten“, ökonomische Nivellierungstendenzen, weitgehende Berufsdifferenzierung und relativ flexible Grenzen zwischen den jeweils benachbarten gesellschaftlichen Hauptgruppen „Kapitalisten – Mittelstand – Proletariat“ erkennen. Dieses Umschichtungsproblem ließ ihn in den nächsten Jahren nicht mehr los, und er beschäftigte sich weiter intensiv mit ihm – vor allem in seiner aufsehenerregenden wissenschaftlichen Streitschrift „Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel“ (Köln und Hagen 1949).11

Der Titel dieser Streitschrift war zugleich ein Signum für die These, daß die Marx’sche Klassentheorie für die fortgeschrittene kapitalistische Industriegesellschaft keinen angemessenen Erklärungshintergrund mehr abgab.12 Mit spitzer, zum Teil polemischer Feder konfrontierte er ihren ← XI | XII → wissenschaftlichen Aussagegehalt in den entscheidenden Punkten mit den sozialstrukturellen Entwicklungen einer solchen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und unterzog die Marx’sche Theorie, Terminologie und Prognose einer überwiegend vernichtenden Kritik. Für Geiger war die Entwicklung der Klassenstruktur um 1900 zum Stillstand gekommen, ja, seitdem habe vielmehr eine entgegengesetzte Bewegung begonnen, in der das Produktionsverhältnis nicht mehr die überragende Bedeutung als soziale Markscheide erlangt habe, die Marx ihm einst beigemessen hatte.13

Geiger nahm in der Auseinandersetzung mit Marx in konzentrierter Form all jene bedeutsamen Einwände gegen die Marx’sche Klassentheorie bereits vorweg,14 die für das sozialgeschichtliche und erkenntnistheoretische Verständnis seiner Forschungen zur sozialen Schichtung und Umschichtung bedeutsam sind. Es erscheint daher zweckmäßig, hier wenigstens in groben Zügen deren gemeinsamen theoretischen Hintergrund mitzuteilen. Das ermöglicht dem Leser, die vorliegende Studie in jenem größeren Zusammenhang aufzufassen, in den sie gehört.

1.Die Marx’sche Geschichtsphilosophie und der besondere Klassenbegriff, der ihr Kernstück bildet, sind jeder erfahrungswissenschaftlichen Kritik entrückt. Nicht Wissenschaft, sondern Metaphysik führt hier das Wort, zu dessen ideologischem Hausschatz immer der Hinweis auf eine materialistisch-geschichtliche Gesetzlichkeit gehörte, die das Proletariat zur letzten, erlösenden Klasse der Menschheitsgeschichte erklärte. Nichts hatte jedoch dieser „wissenschaftlichen Weltanschauung“ so sehr geschadet wie der irrige Glaube, zumindest in den Grundzügen über die einzig wirkliche wissenschaftliche Darstellung objektiv unbezweifelbarer Gesetze der Geschichte als Ganzer zu verfügen. Denn ← XII | XIII → schon Marx konnte die Konstruktion der Geschichte nur von einem Ende her, der klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft, das bis heute noch nicht eingetreten ist, durch eine implizite Teleologie auch nur scheinbar wissenschaftlich begründen. Gerade diese metaphysische Prophezeiung machte aber den Marxismus zu einem Grundpfeiler seiner ideologischen Selbstrechtfertigung und jener im nachhinein nur noch monströs anmutenden Selbstgewißheit, die ihn jede Verbindung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit verlieren ließ. Man habe daher „zu zeigen, wo und wie diese Lehre gegenüber den sozialen Tatsachen versagt“15 hat.

2.Die Verelendung der Arbeiterschaft bewahrheitete sich nicht in dem Maße, wie sie Marx vorhergesagt hatte. Im Gegenteil: Im Zuge der Durchsetzung der parlamentarischen Demokratie und der absichernden wohlfahrtsstaatlichen Sozialpolitik sowie insbesondere dank einer schlagkräftigen gewerkschaftlichen Interessenvertretung, die wahrhaft den Wahlspruch der Arbeiterbewegung der materiellen und geistigen Umsorgung „von der Wiege bis zur Bahre“ zu erfüllen schien, ging es der Arbeiterschaft mittlerweile wesentlich besser als früher, ja, sie näherte sich immer mehr dem „kleinbürgerlichen Standard“ an. Kurz: Ihre ökonomischsoziale Misere hatte sich nicht zugespitzt, sondern entscheidend gebessert.

3.Die Schichtstruktur war keineswegs homogener, polarisierender und antagonistischer geworden, sondern zunehmende soziale Differenzierung und ablauender Klassenkonlikt waren die hervorstechenden Kennzeichen ihrer gesellschaftlichen Entwicklung. Aus diesem Grund war der industrielle Hochkapitalismus, auf den sich Marx’ Transformationstheorie bezog, längst ein historischer Fall. Allerdings auch in ihrer gegenwärtigen, aufgeklärtgezähmten Version, das übersah Geiger keinesfalls, blieb die ökonomische Grundstruktur der Gesellschaft im wesentlichen eine kapitalistische. Das bewies nicht zuletzt die Bedeutung, die der moderne Sozialstaat gewonnen hatte: Er hatte einen sozial temperierten Kapitalismus zu gestalten und die negativen Folgen des unge ← XIII | XIV → zähmten Kapitalismus zu kompensieren. Aber er stabilisierte auch den Status quo der Eigentumsordnung im Grundsätzlichen, da die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel privater Entscheidung überlassen und umgekehrt die öffentliche Kontrolle ihrer Verwendung auf ein kaum hinreichendes Maß beschränkt blieb.

4.Nichts deutete darauf hin, daß die Zwischenschichten ihre Daseinsberechtigung verlören. Die kühne marxistische Prognose vom gesellschaftlichen Untergang des „alten Mittelstands“ trat nicht ein; dieser blieb vielmehr erhalten und übernahm neue Funktionen und Aufgaben im sich ausdifferenzierenden Wirtschaftsgefü-ge. Auch der Anteil der lohnabhängigen Angestelltenschaft, der neue Mittelstand, war stark angewachsen; aber innerhalb dieser Sozialgruppe entstanden neue Schichtungen, deren trennende Wirkung bei weitem größer war als die einende Kraft des Lohnabhängigkeitsverhältnisses. Von diesem Prozeß wurde ebenso die Arbeiterschaft voll erfaßt, weil der technische Fortschritt die Arbeitsprozesse immer stärker differenzierte und spezialisierte, was wiederum beträchtliche Unterschiede in der beruflichen Qualifikation und dem Lohnniveau nach sich zog, die teilweise bis an das des neuen Mittelstandes heranreichten. So verlief eine Linie „Proletariat – neuer Mittelstand“ quer durch die Lohnempfängerschaft, die keineswegs zur Vereinheitlichung der Klasse der Lohnarbeiter beitrug.

5.Der Klassenantagonismus verlor nicht nur durch das Anwachsen des neuen Mittelstandes an Schärfe, sondern ebenso durch eine Abkühlung des proletarischen Klassenbewußtseins und Spaltung innerhalb der Arbeiterschaft selbst, insofern, „als erhebliche Teile der Klasse ihrer Einkommensstufe nach in kleinbürgerliche Verhältnisse aufgerückt sind. Ihre soziale Haltung und Denkweise folgt weit mehr dieser veränderten Einkommenslage als dem ‚Produktionsverhältnis‘. Sie sind, wie man zu sagen pflegt, verbürgerlicht. Sie sehen ihr Interesse nicht länger in der Sozialisierung der Produktionsmittel, sondern in der Bewahrung und weiteren Verbesserung ihrer wirtschaftlich-sozialen Lage innerhalb der bestehenden Gesellschaft. Eine Spaltung in ‚Bewußtseins ← XIV | XV → und Interessenfronten‘ hat sich im Zusammenhang damit eingestellt. Große Teile der Lohnarbeiterklasse haben sich innerhalb der bestehenden Gesellschaft zurechtgefunden und eingerichtet. Die Klasse als solche ist in eine Vielzahl von Teilschichten gegliedert, die unter recht ungleichen Umständen leben. Innerhalb der Lohnarbeiterklasse haben sich damit Interessengegensätze herausgebildet.“16

Geiger fiel es aus diesen Gründen vergleichsweise leicht, die Schwächen der marxistischen Klassenanalyse aufzudecken. Er mißbilligte folglich scharf die Nibelungentreue ihr gegenüber, schien sie ihm doch das Maß des Nützlichen und Vertretbaren bei weitem zu überschreiten, weil sie einer realitätsgerechten erfahrungswissenschaftlich orientierten Forschung grundlegend im Wege stünde. „Andere Schichtungslinien“, betonte er hierbei mit so zunehmendem Nachdruck, wie seine wissenschaftliche Arbeit immer strengere empirische Züge annahm, „würden sich seinem unvoreingenommenen Auge weit mehr aufdrängen als die nach dem ‚Produktionsverhältnis‘.“17 Auf sie ging er deswegen in seinem Schlußkapitel über die „Neuen Linien“ der Entwicklungen näher ein und gelangte zu einigen durchaus zutreffenden empirischen Beobachtungen, die allerdings den Charakter einer vorläufigen Aufzählung trugen und noch nicht zu einem stimmigen Gesamtbild verknüpft wurden.18 Neben den bereits erwähnten sozialen Differenzierungsprozessen in den Mittelschichten und in der Arbeiterschaft waren dies vor allem vier bemerkenswerte, quer zum traditionellen Klassenantagonismus verlaufende gesellschaftliche Entwicklungstendenzen:

1.Verteilung der Einkommen. In einer Zeit des Verblassens traditioneller Standesvorstellungen wurde die Einkommenslage, die Stellung als Verbraucher, entscheidend für den sozialen Status des einzelnen. An sie knüpfte sich freilich „nicht eine Schichtung nach markierten Linien, aber sie hat, was die Arbeiterschaft an ← XV | XVI → geht, die frühere Klassenlage durchbrochen, weil sie die Arbeiter gruppenweise mit einzelnen Gruppen aus anderen Schichten gleichstellt. Damit hat das Klassenverhältnis viel von seiner trennenden Kraft eingebüßt.“19 Mit seinem Schwinden wurden die Stärke der meisten Arbeiter als Verbraucher, ihre Kauf- und Verbrauchsgewohnheiten zu einem charakteristischen Kennzeichen ihres kleinbürgerlichen gesellschaftlichen Ranges. „Soweit sie es nicht in ihrer politischen und wirtschaftlichen Gesinnung sind, ist das wohl mehr der Bekenntnistradition der Arbeiterbewegung des vorigen Jahrhunderts und einer durch krampfhafte Agitation aufrechterhaltenen Doktrin zuzuschreiben, als der vermeintlichen Tatsache, daß ‚das soziale Bewußtsein durch das soziale Sein bestimmt‘ ist.“20

2.Spannung zwischen Land und Stadt. Sie durchkreuzten die Klassenkluft keineswegs, vielmehr stand die Agrargesellschaft mit ihrer besonderen Struktur außerhalb und neben der Klassengesellschaft der städtischen Bevölkerung. Die Spannung zwischen beiden fände ihre sehr einfache Erklärung darin, so betonte Geiger, daß der durch die Industrialisierung ermöglichte rapide Bevölkerungszustrom vor allem den Städten zugute gekommen sei. Dementsprechend hatte sich verständlicherweise das Interesse der Öffentlichkeit und der politischen Führung verstärkt der städtischen Bevölkerung zugewandt. Während die ländliche Gesellschaft sich wirtschaftlich und kulturell so zurückgesetzt fühlte, weithin auch wirtschaftlich und kulturell rückständig war, beherrschten Industrie und Großstadt die Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Nicht selten führte dies in vielerlei Hinsichten zu entgegengesetzten Interessen zwischen Stadt und Land, Industrie und Landwirtschaft.21

3.Interessenverwandtschaft zwischen Kapital und Lohnarbeit innerhalb der städtisch-industriellen Gesellschaft. Der Klassenge ← XVI | XVII → gensatz tritt nach bestimmten rechtlich abgesicherten institutionalisierten Spielregeln zugunsten des harten Ringens um einen annehmbaren Kompromiß über Lohnhöhe, Arbeitszeit und andere Arbeitsbedingungen in den Hintergrund. Das Endergebnis dieser Verhandlungen jedoch ist mittelbar entscheidend für die Preisbewegung der Waren. Damit ist zugleich die Voraussetzung dafür gegeben, daß die organisierte Warenproduktion – Kapital und Lohnarbeit – einen fühlbaren Druck auf die übrige Gesellschaft auszuüben vermag. Die Leidtragenden sind dann in erster Linie jene, wie beispielsweise Arbeitslose oder Rentner, die man als „Nur-Verbraucher“ bezeichnen kann, das heißt diejenigen, die keinen unmittelbaren Anteil an Herstellung und Umsatz materieller Güter haben. Auf ihnen lastet das harte Los, daß ihr soziales Elend mit der Entfernung von der Güterproduktion wächst.22

Details

Seiten
XLVII, 254
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653057072
ISBN (ePUB)
9783653975109
ISBN (MOBI)
9783653975093
ISBN (Paperback)
9783631658062
DOI
10.3726/978-3-653-05707-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (April)
Schlagworte
Umrekrutierung Volks- und Berufszählung 1940 Technik und Methode direkte und indirekte Abstammung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. XLVII, 254 S., 46 Tab.

Biographische Angaben

Klaus Rodax (Autor:in)

Theodor Geiger (1891 bis 1952) war von 1928 bis zu seiner Entlassung 1933 durch die Nationalsozialisten wegen «nationaler Unzuverlässigkeit» Professor für Soziologie an der Technischen Hochschule Braunschweig. Mit seiner Berufung 1938 an die Universität Aarhus (Dänemark) wurde er zum Wegbereiter soziologischer Forschung und Lehre in Skandinavien. Geiger war erster Vorsitzender sowohl der «Nordischen Gesellschaft für Soziologie» und der «Dänischen Gesellschaft für Soziologie» als auch Mitbegründer der «International Sociological Association». – Klaus Rodax ist Herausgeber der Theodor-Geiger-Gesamtausgabe.

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