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Die Anrede im Portugiesischen

Eine soziolinguistische Untersuchung zu Anredekonventionen des gegenwärtigen europäischen Portugiesisch

by Gunther Hammermüller (Author)
©2022 Monographs 398 Pages

Summary

Diese Untersuchung zur Anrede im europäischen Portugiesisch nimmt bestimmte Grundmuster kommunikativer Intentionalität in den Blick. Vor dem Hintergrund anthropologischer Bezüge wurde versucht, eine Übersicht über systematische Bedingungen und aktuelle Gegebenheiten der Anrede im Portugiesischen zu erarbeiten. Im Fokus stand dabei das portugiesische Anredepronomen você. Die Arbeit an den beschriebenen Befragungen diente zugleich einer methodologischen Erprobung von bewertenden Einschätzungen mittels differenzierter Parameter. Dafür wurde im Gegensatz zu traditionell meist mehr oder weniger direktem Fragen nach gebräuchlichen Anredeweisen die Bewertung von vorgegebenen Musteranreden erbeten. Auf diese Weise konnten individuell und/oder überindividuell sprachsteuernde Meta-Normen näherungsweise beschreibbar gemacht werden.

Table Of Contents

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort zur 2. Auflage
  • Vorwort zur 1. Auflage 1993
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungen
  • 0. Einleitung
  • 0.1 Zum Begriff von Anrede
  • 0.2 Die Anrede als sprachwissenschaftlich auffälliges Phänomen
  • 0.3 Die Anredeproblematik des Portugiesischen
  • 0.4 Theoretische und empirische Grundlagen
  • 0.5 Ziele der vorliegenden Arbeit
  • 1. Theoretische Vorüberlegungen
  • 1.1 Anrede und Konventionalität menschlichen Verhaltens
  • 1.2 ‚Anrede‘ als kommunikative Distanzgeste
  • 1.3 Anrede und Gruß
  • 1.4 Anrede und „Höflichkeit“
  • 2. Linguistisch-methodologische Einordnung der Anrede
  • 2.1 Formale Variation der Anrede
  • 2.2 Pragmatisch-semantische Funktion der Anredeformen
  • 2.3 Anredeformen im Diskurs
  • 2.4 Anredeformen als Bezeichnungen von ‚Anreden‘ und ‚Anrufen‘
  • 2.4.1 „Direkte“ vs. „indirekte“ Anrede
  • 2.4.2 Anredeformen, Appelleme und Vokative
  • 3. Portugiesische Anredeformen, Appelleme und Vokative
  • I. ANREDEFORMEN (AF)
  • I.1 Nominale Anredeformen (NAF) bzw. Nominalanrede (NA)
  • I.2 Pronominal-Anreden (PA)
  • I.3 Verbalanreden (VA)
  • I.4 Anredevermeidung (AV)
  • II. Appelleme (AP)
  • II.1 Nominal-Appelleme (NAP)
  • II.2 Pronominal-Appelleme (PAP)
  • II.3 Verbal-Appelleme (VAP)
  • II.4 Appellem-Vermeidung
  • II.1.1 – II.1.4  Vokative
  • II.1.1 Nominal-Vokative (NV)
  • II.2.1 Pronominal-Vokative (PV)
  • II.3.1 *Verbal-Vokative (VV)
  • II.4.1 *Vokativ-Vermeidung (ZV)
  • 4. Die Anrede als soziolinguistische Fragestellung
  • 4.1 Anrede und Sprachnorm
  • 4.2 Anrede als Faktor sozialen Handelns
  • 4.3 Anrede und „Status“ oder „Rollen“
  • 4.4 Anrede und Anredesituation
  • 4.5 Anrede und soziale Distanzen
  • 4.6 Weitere Variablen zur Funktionsbeschreibung von Anrede
  • 5. Zur Anrede-Forschungsgeschichte
  • 5.1 Wichtige Untersuchungen zur Anrede allgemein
  • 5.2 Bisherige Arbeiten zur Anrede im Portugiesischen
  • 6. Zur Datenerhebung im Bereich der Anrede
  • 6.1 Empirische Erhebung zur VOCÊ-Einschätzung
  • 6.2 Ausgangsproblematik im Bereich von VOCÊ
  • 6.2.1 Unsicherheiten bei der VOCÊ-Einordnung
  • 6.2.2 Die aktuelle VOCÊ-Problematik
  • 6.3 Bedeutungsdifferenzierung zum portugiesischen VOCÊ
  • 6.3.1 Erste Hypothese zur begrifflichen Analyse
  • 6.3.2 Erläuterungen zur begrifflichen Analyse von VOCÊ
  • 6.3.3 Funktionale Dia-Variation des VOCÊ
  • 7. Zur Überprüfung von VOCÊ-Verwendungshypothesen
  • 7.1 Informantenauswahl
  • 7.2 Fragebogenerstellung und Befragungsziele
  • 7.3 Datenaufnahme
  • 7.3.1 Typologie der Fragestellungen
  • 7.3.2 Typologie der indirekten Informantenbefragung
  • 7.3.3 Zur Erfassung von Informanteneinstellungen
  • 7.4 Zu berücksichtigende Steuerungsfaktoren
  • 7.5 Pilotstudie als Vorlauf
  • 7.6 Semantische Kritik von Bewertungsvariablen
  • 7.7 Zum Untersuchungsplan: Eingrenzung und Ausblick
  • 8. Untersuchungsbedingungen und -durchführung
  • 8.1 Der Fragebogen Q 2
  • 8.1.1 Informantenfindung
  • 8.1.2 Durchführung der Befragung
  • 8.1.3 Randbemerkungen
  • 8.2 Allgemeinere und speziellere Ergebnishypothesen
  • 8.2.1 Hypothese betr. G1: G2
  • 8.2.2 Hypothese betr. A1: B1
  • 8.2.3 Hypothese betr. C1: D1
  • 8.2.4 Hypothese betr. A2: B2
  • 8.2.5 Hypothese betr. C2: D2
  • 8.2.6 Hypothese betr. A3: B3
  • 8.2.7 Hypothese betr. C3: D3
  • 8.2.8 Hypothese betr. C4: D4
  • 8.2.9 Hypothese betr. C6: D6
  • 8.2.10 Hypothese betr. D6: B6
  • 8.2.11 Hypothese betr. B5: B6
  • 8.2.12 Hypothese betr. E4
  • 8.2.13 Hypothese betr. PARA VOCÊ: PARA SI
  • 8.3 Untersuchungsergebnisse
  • 8.3.1 Arbeitsmittel Randlochkarte
  • 8.3.2 Fragebogenauswertung: Bewertungsvergleich
  • 8.3.2.1 Gesamtstichprobe
  • 8.3.2.2 Befragte unter 30 Jahren
  • 8.3.2.3 Befragte über 40 Jahre
  • 8.3.2.4 Unverheiratete Befragte
  • 8.3.2.5 Herkunft aus ländlichen Bereichen
  • 8.3.2.6 Bildung gleich oder geringer als 4a classe
  • 8.3.2.7 Bildung höher als 4a classe
  • 8.3.2.8 Gr. I – Arbeiter/Porto
  • 8.3.2.9 Gr. II – Arbeiter/Barcelos
  • 8.3.2.10 Gr. III – Lehrer/Porto
  • 8.3.2.11 Gr. IV – Lehrer/Barcelos
  • 8.3.2.12 Gr. V – Vergleichsgruppe Oberschicht
  • 8.3.2.13 Gr. VI – Student(inn)en/Porto
  • 8.3.2.14 Gr. VII – Studentinnen/nicht aus Porto
  • 8.4 Zusammenfassende Gegenüberstellung von Ausgangshypothesen und Untersuchungsergebnissen
  • 8.5 Rückblick auf die Befragungsergebnisse (3. Sg.)
  • 9. Schlussfolgerungen
  • 9.1 Wiedergabe von ‚Distanzen‘ mittels der Anrede
  • 9.2 Zur Anredevermeidung
  • 9.3 Zur Vielschichtigkeit des portugiesischen Anredesystems
  • 9.3.1 Portugiesische Anrede und Distanzrelationen
  • 9.3.2 Portugal im Spiegel seiner Anredekonventionen
  • 9.4 Bedingungen und Möglichkeit anredespezifischer Sprachänderungen in Portugal
  • 9.5 Mögliche didaktische Schlussfolgerungen
  • 10. Abschließende Perspektiven zu Anredeformen und Anredekonventionen
  • 10.1 Anrede-Wahl und Distanz
  • 10.2 Anredeinitiativen versus Anredenormen
  • 10.3 Anredefreiheiten des Portugiesischen
  • 10.4 Zur Erforschbarkeit von Anrederegeln
  • 10.5 Anrede als Forschungsgegenstand dieser Arbeit
  • 10.6 Wiederaufnahme des Stichworts „Höflichkeit“ (vgl. Kap. 1.4)
  • 10.7 Die Wahl der richtigen Anredeform
  • Anhänge
  • A-1: Fragebogenmuster Q 1 (Inquérito provisório)
  • A-2: Fragebogenmuster Q 2
  • A-3: Informantenliste zu Q 2
  • A-4: Fragebogenauswertung zu Q 2
  • Inventar der Blätter 01 bis 22 zur Fragebogenauswertung:
  • Musterblatt – Erläuterungen zur Fragebogenauswertung (Q 2)
  • FRAGEBOGENAUSWERTUNGEN IM EINZELNEN:
  • A-5: Befragung zu TU in Q 2
  • Hypothese zum TU-Gebrauch:
  • TU-Auswertung:
  • A-6: Portugiesische Anredeformen/Appelleme alphabetisch
  • 11. Literaturverzeichnis („[zu 2. Aufl.]“ kennzeichnet eine Auswahl aktualisierender Titel)
  • Reihenübersicht

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Abkürzungen

a < ba ‚jünger‘ als b (bzw. ‚weniger‘, ‚niedriger‘ u.ä.)
a = bAnredende (a) und Angeredete (b) ‚gleich (alt)‘
a > ba ‚älter‘ als b (bzw. ‚mehr‘, ‚höher‘ u.ä.)
AAArtikelanrede – Typ O JOÃO/A MARIA (ART + FN &/LN)
AFAnredeform(en)
AKATITakademischer Titel (engl. educational title)
ArBaArbeiter/innen aus dem Gebiet von Barcelos
ArPoArbeiter/innen aus Porto
ART.best. Artikel
Ausn.Ausnahme
AVAnredevermeidung
BAAnrede im Briefformular
BEW.Erläuterung der Bewertungen betr. Q 2 (außer zu (NÃO) ÍNTIMO)
bras.regionale Differenzierungen betr. Brasilien
c/acontra, gegen
DDistanz (Korrelat zu intimidade)
D.Dona
DIST.Distanz; Bewertung betr. (NÃO) ÍNTIMO (Q 2)
dt.deutsch
E.Eltern
ENTH.„Enthaltung“ bzw. nicht beantwortete Fragebogenteile betr. Q 2
erw.erwartet
Ez.Einzahl
fem.feminin (als formale grammatische Kategorie)
Fac.Faculdade
FAMTITFamilientitel (engl. kinship term)
FNVorname (engl. first name)
IMP.Imperativ
INF.Infinitiv
Kap.Kapitel
Koll.Kolleg(inn)en
L1ungesteuert gelernte Sprache („Muttersprache“)
L2gesteuert gelernte Sprache („Fremdsprache“)
lat.lateinisch
←15 | 16→ländl.ländlich
LeBaLehrer/innen aus dem Gebiet von Barcelos
LePoLehrer/innen aus Porto
LNNachname (engl. last name)
mmännlich
masc.maskulin (als formale grammatische Kategorie)
MSMittelschicht (soziokulturell)
Mz.Mehrzahl
Ntitelähnliche Anrede-Nomina (Menina, Colega, etc.)
n.a.nicht akzeptabel/não aceitável (betr. Q 2)
NAnominale Anrede
NOBTITAdelstitel (engl. nobility title)
OSOberschicht (soziokulturell)
PApronominale Anrede
PAPPronominal-Appellem(e)
PaFPortugiesisch als Fremdsprache (bzw. PLE)
Portug.Portugal bzw. das Portugiesische (als Sprache)
Pl.Plural (als grammatische Kategorie)
PLEPortuguês Língua Estrangeira (bzw. PaF)
pos.positiv
POSS.Possessiv-Adj. (Typ meu/minha)
PROFTITBerufs-/Amtsbezeichnung (engl. professional title)
pt.portugiesisch
Q 1Fragebogen der Pilotstudie
Q 2Fragebogen der eigentlichen Befragung
rum.rumänisch
Sg.Singular (als grammatische Kategorie)
SIT.Situation
soz.sozial
Soz.Pos.soziale/soziokulturelle Position
span.spanisch
SR/Sr.Senhor
SRA/SraSenhora
städt.städtisch
StuPoStudent(inn)en aus Porto
Tlat. TU und Äquivalente
ungl.ungleich bzw. nicht übereinstimmend (betr. Q 2)
USUnterschicht (soziokulturell)
Vlat. VOS und Äquivalente
←16 | 17→VAVerbalanrede
Vgl.Vergleich
vh.verheiratet(e)
voc.(als) Vokativ/vokativisch (verwendbar)
wweiblich

N.B.: 1. Majuskelschreibung wird im Bereich der Anredeformen als Typ-Kennzeichnung verwendet, also z.B. VOCÊ, A GENTE + 3. SG., usw.

   2. Punkte hinter Abkürzungen entfallen im Text manchmal aus Platzgründen.

←18 | 19→

0. Einleitung

0.1 Zum Begriff von Anrede

Mit dem einen Ausdruck o tratamento scheint das Portugiesische – wie das Deutsche mit Anrede und etwa im Gegensatz zur Vielfalt der Ausdrücke im Französischen1 – die terminologische Möglichkeit zu bieten, schon vorwissenschaftlich begrifflich-funktionale und formale Phänomene als einen einzelsprachlichen Bereich mit inhaltlichen und formalen Gemeinsamkeiten zu erfassen.2

Mit Portugiesisch ist im Folgenden – wenn nicht anders gekennzeichnet – die Sprache des europäischen Portugal gemeint, da insbesondere dessen Anrede(formen) Gegenstand dieser Arbeit sein sollen. In den Bereichen Brasilien,3 lusophones Afrika4 und Asien liegen bekanntlich mehr oder weniger davon unterscheidbare eigene Anredesysteme vor, die ggf. gesondert zu behandeln wären.

Im begrifflich-funktionalen Sinn soll ‚Anrede‘ als explizite sprachliche Referenz von Sprechenden auf faktisch oder imaginär vorhandene Kommunikationspartner5 verstanden werden. Damit begrenzt bzw. schafft aber eigentlich erst eine vollzogene Anrede die Situation oder den Kontext als ‚Anredesituation‘ oder ‚Anredekontext‘.

Es gilt zu unterscheiden:

a)Die von den Sprechenden gesehene Möglichkeit eines explizit sprachlichen Bezugs auf anzuredende Personen gibt einen formalen Hinweis auf das (möglicherweise auch nur vorgestellte oder virtuelle) Vorhandensein von Kommunikationspartnern. Dabei ist die Anrede ein deutlicherer weil explizit-formaler Hinweis, als es eine nur implizite Annahme wie etwa „Wenn jemand redet, gibt es (einen) Kommunikationspartner“ wäre.

←19 | 20→b)Die so vollzogene Konstitution eines Anredekontextes (bzw. einer Anredesituation)6 beinhaltet zumindest auch eine genauere Situierung des besprochenen Gegenstandsbereiches und nicht zuletzt der Ansprechenden/Angeredeten selbst.

Eine inhaltliche Gliederung der hier angesprochenen Thematik wird also folgende Punkte umfassen müssen:

  • allgemeine Problematik von Anrede-Verwendung und Anrede-Situation;
  • Forschungsbericht zum Thema Anrede, speziell der im Portugiesischen;
  • empirische Erfassung sprachlicher und methodischer Phänomene;
  • Ansätze zu einer systematischen Übersicht betr. die Anrede im Portugiesischen;
  • sprachliche und linguistisch-methodologische Perspektiven zum Thema.

0.2 Die Anrede als sprachwissenschaftlich auffälliges Phänomen

Anredeformen als Belege für spezifische Zusammenhänge zwischen dem Anredegebrauch und seinen (im weiteren Sinne) gesellschaftlich-historischen Bedingungen haben erst in den letzten Jahrzehnten die sprachwissenschaftlichen Bemühungen um Klärung eben dieser Zusammenhänge verstärkt angeregt. Man vergleiche dazu besonders Svennung (1958), Brown/Gilman (1960) und als neueren Versuch einer möglichst umfassenden Aufarbeitung der Problematik für diverse Einzelsprachen Braun (1988)7 sowie speziell zum Französischen Lebsanft (1987).8

←20 | 21→Anredeformen der verschiedensten Art hatten und haben herkömmlich ihren Platz in Grammatiken und Lehrbüchern vor allem bei den Pronomina. Als allgemeinere Bezeichnung für Anredeformen findet man im Deutschen etwa „Höflichkeitsformen“ und in sprachwissenschaftlichen Arbeiten auch „Distanzformen“.9

Anredeformen und Hinweise auf ihre „korrekte“ Verwendung finden sich traditionell auch in Etikette-Büchern als Empfehlungen bezüglich gesellschaftlich relevanter Normen des mündlichen und schriftlichen Umgangs mit anderen Menschen. Durch die Befolgung vergleichbarer Normen dürften sich immer schon Leser derartiger Werke gesellschaftliche Akzeptanz bzw. sozialen Aufstieg versprochen haben.10

Insbesondere der wohl in den letzten Jahren meistzitierte Aufsatz zu Anredeproblematik und -geschichte The Pronouns of Power and Solidarity von Roger Brown und Albert Gilman aus dem Jahr 1960 hat weltweit die Aufmerksamkeit vor allem der Sprachwissenschaft auf die Anrede als einen äußerst interessanten und möglicherweise eminent aufschlussreichen Verknüpfungspunkt von sprachwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Forschung gelenkt.

Die folgenden ausgewählten Zitate aus dem zeitlichen Umfeld dieses Anstoßes von 1960 belegen die sich vom Ende der 1950er-Jahre an ständig verstärkende wissenschaftliche Aufmerksamkeit in Sachen Anrede:

Each language is a different story in the relations between the pronoun of address and social status. (Gilman/Brown 1958, 173)

Die Verwendung der Anredeformen ist in erster Linie ein gesellschaftliches, weniger ein linguistisches Problem. (Albrecht 1972, 359)

L’instabilité qui existe actuellement dans l’usage des pronoms d’adresse peut être perçue comme témoignant d’un malaise réel. (Bustin-Lekeu 1973, 774)

Dass Titel in diesem Zusammenhang der Erhaltung von Herrschaftsverhältnissen dienen, ist ebenso offensichtlich, wie es angezeigt ist, darüber nachzudenken, ob dies wünschenswert ist. (Engelkamp 1974, 186)

←21 | 22→[…] modes of addressing give a clear picture of the society in which the respective languages are spoken. (Adler 1978, 167)

Sicher ist es nicht erstaunlich, dass im 20. Jahrhundert über sprachliche Konventionen reflektiert wird, welche – wie andere Konventionen sicher auch – ein (im Einzelfall je genauer zu bestimmender) Ausdruck historisch gewachsener menschlicher Beziehungen sind.

Auch darf es wohl nicht verwundern, wenn – etwa besonders im Zusammenhang mit (berufs- oder verdienstbezogenen) Titeln – entdeckt wird, dass durch Anredeformen offensichtlich weniger etwas denotativ bezeichnet wird, als dass vielmehr ihre Verwendung (z.B. als Anrede) selbst der eigentliche Wert ist, der die Aufnahme der betreffenden Formen in sprachliche und sprachwissenschaftliche Inventare begründet.

In vielen Sprachgemeinschaften hat schon früher – aber auch gerade wieder in jüngster Vergangenheit – der auffällige Wandel des Anredegebrauchs (vgl. in der sog. alten BRD der Übergang zum gegenseitigen Duzen unter Studierenden seit 1968) durchaus mehr Aufmerksamkeit erregt als herkömmlich etwa die (offenbaren oder latenten) Schwierigkeiten bei der Übersetzung bzw. Übertragung von Anredeformen in literarischen und anderen Werken.11

Für Brown/Gilman (1960) ist die als „T : V“ (für lat. TU und VOS bzw. deren einzelsprachliche Entsprechungen) übereinzelsprachlich binär (bzw. dyadisch) dargestellte formale Opposition von Anredepronomina bzw. Anredeweisen für eine Einzelperson so etwas wie eine universelle Vorgabe, die die genannten Autoren zum Hypothesenbilden über historisch belegbare Entwicklungen in europäischen Sprachen anregte. Letztere hätten sich nämlich von mehr ‚Macht‘ zu mehr ‚Solidarität‘ hinsichtlich instrumenteller Funktionen des Anredegebrauchs entwickelt.12

Es kann hier nicht untersucht werden, wieso bzw. inwieweit nicht schon wesentlich früher z.B. der doch wohl schon seit Langem bemerkte Kontrast von engl. you und der T/V-Opposition in anderen Sprachen zu weiter führenden Thematisierungen der Anredeproblematik hätte führen können oder müssen. Jedoch wird gerade im europäischen Rahmen das (von Brown/Gilman nicht berücksichtigte) komplexe Bild der portugiesischen Anredeformen und ←22 | 23→-konventionen Anstöße zu Untersuchungen und Überlegungen bieten, deren Ergebnisse durchaus über das Portugiesische als Einzelsprache hinausweisen dürften.13

0.3 Die Anredeproblematik des Portugiesischen

Im Bereich der deutschen Romanistik bzw. Lusitanistik finden wir früh Hinweise auf die Auffälligkeit der Anrede im Portugiesischen: „Denken wir daran, dass das Portugiesische im Gegensatz zu dem einen spanischen Vd. verschiedene Schattierungen der höflichen Anrede besitzt.“ (Schürr 1940, 116). Es geht dem zitierten Autor dann aber wohl „zeitgemäß“ eher um die Verschiedenheit von „Sprach- und Volksgeist“: „Überall liebt der Portugiese die Schattierung und hält daran fest, wo der Kastilier vereinfacht und strafft.“ (Schürr 1940, 116).

Harri Meier eröffnet mit seiner Syntax der Anrede im Portugiesischen (1951) einen für die gesamte Lusitanistik vergleichsweise frühen Versuch, über den bloßen Hinweis auf eine Merkwürdigkeit portugiesischer Anredeformen hinaus eine – auch heute noch interessante – recht konzise Analyse zu geben.

Nahezu gleichzeitig mit Meier (1951) findet sich bei M. L. Wagner (1952) der Hinweis auf Zusammenhänge zwischen der Anredevielfalt im Portugiesischen und sozialen bzw. soziokulturellen Gegebenheiten,14 wobei auch schon das Pronomen VOCÊ als Besonderheit hervorgehoben wird: „Die Gegensätze zwischen Arm und Reich, zwischen Ungebildet und Gebildet waren und sind in diesem Land gross; sie finden ihren sprachlichen Ausdruck in den überaus komplizierten Anredeformen, die für einen nicht im Lande Aufgewachsenen eine stete Quelle der Verlegenheit sind (und häufig für die Portugiesen selbst, die zwischen «Vossa Excelência» und «o Senhor Doutor», «o amigo» und dem vertraulichen, aber nur mit Vorsicht zu gebrauchenden «você» hin- und herschwanken).“ (Wagner 1952, 463–464).

Für dieses besondere VOCÊ verweist z.B. der Brasilianer Celso P. Luft auf diatopische Differenzierungen, die in Portugal möglicherweise zu beachten seien, während er für Brasilien eher diastratische und diaphasische Bedeutungs- bzw. ←23 | 24→Verwendungsunterscheidungen sieht: „Ainda hoje, em algumas povoações de Portugal, o tratamento de você soa como pejorativo, ‚ mesmo sentido por alguns como insulto. Pessoas tratadas por esse termo podem responder ofendidas, ou pelo menos chocadas: – «Vocêé (de) estrebaria!».“15 Und: „No Brasil, você‚ tratamento familiar, entre iguais, colegas ou de superior a inferior; fora disso denota desconsideração, falta de respeito, ou desprezo. É claramente «insultuoso, quando dado acintosamente a pessoa que deveria ser tratada por senhor».“ (Luft 1957, 202–203).16

Das in den letzten Jahren offensichtlich weltweit wachsende wissenschaftliche Interesse an der portugiesischen Sprache17 – sowie innerhalb dieser auch und gerade an den Anredeformen und -konventionen – betrifft also durchaus auch die („muttersprachliche“) Perspektive der L1-Verwender, bezüglich welcher mehr oder weniger puristisch eingestellte Autoren „grammatische Fehler“ (vgl. Amaral 1947, 545–547, zu „vocês amais“) oder z.B. „Pronominal Confusion in Modern Peninsular Portuguese“ (so der Titel von Preto-Rodas 1972) sehen.

Andererseits kommt natürlich insbesondere die Perspektive der L2-Lerner in den Blick, zu deren Nutzen traditionell meist nur ansatzweise versucht worden ist, Regeln für den Gebrauch von Anredeformen zu formulieren.

Als Ausnahme unter den frühen Lehrbüchern, Grammatiken, Sprachführern u.ä. zum Portugiesischen – was den Umfang und die Deutlichkeit des Analyseversuchs angeht – ist aber z.B. Dunn zu nennen, der (1928, 251–257) ein recht umfangreiches Kapitel den Pronouns of Address widmet.18

In Grammatiken und Lehrbüchern wurde die Komplexität der Anrede im Portugiesischen meist ausdrücklich unter Vorbehalten bezüglich ihrer Systematisierbarkeit beschrieben.19 Zwecks vollkommenerer Beherrschung einer differenzierenden Anrede wird auf das allmähliche Lernen „im Lande selbst“ oder auch – fast mit dem Unterton der Verzweiflung – auf die Unmöglichkeit einer auch nur angenäherten Beherrschung hingewiesen:

←24 | 25→Zumal für einen Ausländer sind die Anredeformen im Portugiesischen recht kompliziert. Man muss sich in der Sprache schon gut auskennen, wenn man nicht ständig gegen die Konventionen verstoßen will. (Kröll 1979, 133)

[…] um assunto tão complicado para um estrangeiro como é o das formas de tratamento em português. (Boléo 1983, 874)

Os Portugueses tratam-se uns aos outros da maneira mais inconsistente que há. Será uma metáfora abstrusa da nossa esquizofrenia? Enquanto não se resolverem os problemas simples do tratamento e da identidade individual, como se pode começar a falar em identidade nacional? Hoje é praticamente impossível explicar a um estrangeiro quais as formas correctas de tratamento: só a utilizaço da terceira pessoa levaria anos. Nem os Portugueses sabem. (Cardoso 1988, 4)

Doch nicht allein aus der – hier nur exemplarisch zitierbaren – Literatur zum Thema20 würde sich eine vertiefte Beschäftigung mit der Anrede im Portugiesischen begründen lassen können. Das Interesse der Portugiesischsprechenden selbst an „ihrer“ Anredeverwendung regt dazu an.21 Bei weitem nicht nur diejenigen Portugiesen, die ein explizites metasprachliches Interesse an ihrer Sprache haben, sind anscheinend jederzeit auf die Anrede(formen) ihrer Sprache bzw. auf die Schwierigkeiten, die andere (aber nicht zuletzt auch sie selbst) damit haben, bereitwillig anzusprechen und zu befragen.

In einem kleinen Aperçu zum Gegenstand der Anrede in Portugal findet sich z.B. – verbunden mit einem Hinweis auf „einfachere“ Lösungen in anderen europäischen Sprachen sowie einer Auflistung portugiesischer Formenvielfalt – folgender explizite Hinweis: „Só nós – pobres de nós! [...] –, nos agarramos a uma ensarilhada gama de fórmulas obsoletas, ou que assim me parecem, no nosso convívio diário. Gama tão subtil e caprichosa que nem sempre nós próprios sabemos qual escolher.“ (Dionísio 1986, 145).

Diese Feststellung macht exemplarisch deutlich, wie sehr Portugiesen selbst sich der Diversität und Differenzierbarkeit der Formen und Funktionen von Anreden bewusst sind.

←25 | 26→Vonseiten der Sprachwissenschaft weist innerhalb Portugal etwa Manuel de Paiva Boléo spätestens seit 1946 besonders auf die Fórmulas de tratamento em português hin. Sie seien eines der temas para trabalhos de filologia portuguesa, die wissenschaftlicher Bearbeitung besonders würdig seien. Er betont – neben Hinweisen auf historische und systematische Aspekte möglicher Untersuchungen zum Thema –: „O estudo do tratamento presta-se, como poucos, para fazer história da cultura.“ (Boléo 1946, 112–115).

0.4 Theoretische und empirische Grundlagen

Aus dem Wenigen hier Zitierten geht schon hervor, welch weites Feld die Anrede als Thema den Forschenden wohl gerade im Falle des Portugiesischen bietet.

In der zu diesem Thema vorliegenden Literatur finden sich in den letzten Jahren in zunehmender Zahl Diskussionsansätze für die verschiedensten Sprachen unter Berücksichtigung diverser möglicherweise relevanter soziokultureller Aspekte. Meist führen die vorliegenden Untersuchungsansätze zur Formulierung von Desiderata hinsichtlich noch zu leistender Grundlagen- und Schwerpunktforschung. So bemerkt zum Deutschen etwa Hartmann (1977, 91): „Insbesondere gibt es bis jetzt keine empirisch gesicherte Grundlage für die Verbreitung des ‚solidarischen Du‘ unter Arbeitern und damit eine Grundlage für entsprechende Theorien von solidarisch-kollektivem Handeln in der LC gegenüber individuell-konkurrierendem Verhalten in der UC.“22

Vorrangiges Ziel gegenwärtiger Forschung hätte – für die verschiedensten Sprachen wie eben auch für den Spezialfall des Portugiesischen – zu sein, diejenigen Variablen heraus zu finden und zusammen zu stellen, die den Anredegebrauch zu steuern scheinen. Alter, Berufszuordnung und sonstige „Statusgegebenheiten“, Situation oder Ko-Text sind zur Anrede in Beziehung zu setzen.

Was mögliche „Statussignale“ angeht, so dürfte etwa – nicht zuletzt in Portugal – die Kleidung ein gar nicht so sehr „verschleiertes Reglement“23 darstellen, sondern vielmehr ein akzeptiert-akzeptables Signalsystem sein, das abgestuftes ←26 | 27→Anredeverhalten (mit-)steuert, also z.B. den Anspruch auf eine Anrede mit o Senhor oder o Menino vermittelt.24

Daraus ergeben sich wichtige methodologische Konsequenzen: Wird es bei den meisten Anredeverwendern auch so sein, dass sie selbst die Kriterien einer formal zu treffenden oder schon getroffenen Formenwahl gar nicht (bzw. zumindest nicht erschöpfend) angeben können, so muss ein wissenschaftlich-kritischer Beobachter natürlich bemüht sein, derartige Kriterien aufzuspüren. Von Fall zu Fall kann dabei durchaus von der sprachreflektierenden Kompetenz der Sprechenden ausgegangen werden.25 Der Wissenschaftler wird also eine beobachtete Verbindung etwa von „Fakten und Bewertung“ bei der Anrede26 durchaus als Hinweis darauf betrachten können, dass es angeraten sein könnte, sich den möglicherweise steuernden Faktoren (d.h. denjenigen Faktoren, die die „Fakten“ steuern) über eben die Frage nach der Bewertung von Anredeverhalten durch Anredeverwender zu nähern.27

Untersuchungen zur Anrede mittels Befragungen hätten dann u.a. schon bei der an Informanten gerichteten prinzipiellen Fragestellung folgende Alternative zu beachten: Einerseits kann Anredeverhalten mehr oder weniger direkt erfragt bzw. abgefragt werden; so war es wohl bei der weit überwiegenden Zahl der Befragungen mittels Fragebögen bisher der Fall.28 Andererseits könnte aber ←27 | 28→von Informanten auch die mehr oder weniger differenzierte Bewertung29 von durch Befragende anzubietenden (auf bestimmte Situationen oder auch auf anzusprechende Regelverletzungen bezogenen) Anredevarianten erbeten werden. Bewertungsmatrizen wären für den jeweiligen Zweck zu entwickeln.

0.5 Ziele der vorliegenden Arbeit

Forschungen zu Anredeformen und deren Gebrauch haben in Analogie zu der soziolinguistischen Schlüssel-Frage „Who speaks what language to whom and when?“ (Fishman 1965) Antwort(en) u.a. auf folgende Teilfragen zu suchen:

  • Wer gebraucht (in der Sprache Ln) gegenüber wem welche Form der Anrede in welcher Situation?“ bzw.
  • An wen wird welche Anrede von wem in welcher Situation gerichtet?“

Dabei gilt es, außer jeweiligen Dyaden von Anredendem/r und Angeredetem/r mehr Bestandteile des Untersuchungsgegenstandes bzw. des Untersuchungsbereichs in den Blick zu bekommen:

  • die zu untersuchende Einzelsprache evtl. nicht nur in diatopischer (im vorliegenden Fall also das Portugiesische Portugals in Abgrenzung von demjenigen Brasiliens, Afrikas usw.), sondern dieselbe möglicherweise auch in diastratischer, diaphasischer und generationenabhängiger Spezifizierung;
  • den Gebrauch, d.h. die Norm(en) der Sprachverwendung, die für den Bereich der Anredekonventionen als relevant zu beschreiben wären;
  • Kriterien/Parameter, die sich aus dem mit dem Terminus Situation meist nur sehr allgemein angegebenen Feld von Faktoren30 ergeben (die darauf beziehbaren Frageansätze „Wo?-Wann?-Wie gemeint?“ und evtl. „Wieso?-Warum?“ geben wohl nur einen Ansatz zur Auffächerung);
  • letztlich und thematisch von eigentlicher Bedeutung: das Inventar der Anredeformen und weiterer mit ihnen zusammenhängender sprachlicher Erscheinungen wie z.B. Flexionsformen, Possessiv- oder sonstige Pronomina bzw. Adjektive, Vokative, Satzmuster u.a.m.

Das Idealziel einer Arbeit über heute in Portugal geltende Anredekonventionen und ‑formen wäre somit die Erstellung brauchbarer, d.h. möglichst ←28 | 29→‚dynamischer‘ Hypothesen,31 die als Antwort auf die oben gestellten Fragen empirisch Vorfindliches wissenschaftlich verfügbar machten – und dadurch nicht zuletzt auch Material u.a. für sprachdidaktische Anwendung böten. „Brauchbar“ wären solche (supra-idiolektalen32) Hypothesen dann, wenn sie hinreichend ausführlich, präzise und explizit für mögliche (in der Realisierung ja immer idiolektal-individuelle!) Verwendungen darstellbar wären.

Die angesprochenen Hypothesen könnten in methodologischer Hinsicht gewissermaßen ‚dynamisch‘ in dem Sinne konzipiert werden, dass sowohl die Inventar-Liste der Anredeformen bzw. -verwendungen, als auch die jeweilige methodologische Meta-Ebene anpassungsfähig bzw. korrigierbar gehalten würden.

Solche Korrekturen können einerseits als (gewissermaßen natürliche) Reflexe des „Sprachwandels“33 im Bereich der Anrede auftreten – wie sie aus anderer Perspektive als Gegenstandsbereich der Diachronie erfasst würden. Andererseits sollten Daten, die sich aus einer besseren, d.h. vollständigeren und anders geordneten oder gedeuteten Einschätzung des untersuchten Sprachsystems ergeben, ebenfalls integrierbar sein.34

Hinsichtlich der Verwertbarkeit führte die Themenstellung vorliegender Arbeit zu möglichen Resultaten sowohl in Form entsprechender Grundlagen für eine Teilgrammatik des heutigen Portugiesisch, als auch in Form didaktischer Konsequenzen für Portugiesisch als Primär- und als Fremdsprache.35

Da eine auch nur annähernd wissenschaftliche Angemessenheit beanspruchende vollständigere Bearbeitung des Themas „Anrede im Portugiesischen“ mit Blick auf das angegebene Idealziel schon quantitativ den Rahmen der hier vorzulegenden Arbeit überschreiten würde, sind Einschränkungen ←29 | 30→vorzunehmen. Diese betreffen vor allem den Bereich spezifischer eigener Untersuchungen zu den Formen und deren Gebrauch innerhalb des vielschichtigen portugiesischen Anredesystems, weniger etwa grundsätzliche methodische und methodologische Überlegungen zu diesem Thema insgesamt.

Die eigenen – dabei von vornherein eher als exemplarisch verstandenen – empirischen Analysen beziehen sich, wie unten genauer darzulegen sein wird, vor allem auf die Einschätzung des VOCÊ in einem bestimmten Gebiet Nordportugals.36

Arbeiten über die portugiesische Anrede stufen zumeist gerade diese Form VOCÊ als besonders „schwierig“ ein (vgl. etwa Wagner 1952, 463–464), heben sie demzufolge explizit von den anderen Anredeformen ab oder sparen sie aus (auch dies teils explizit, zumindest was speziellere Betrachtungen angeht).37 So scheint die bisherige wissenschaftliche Behandlung des VOCÊ geradezu die Notwendigkeit einer vertiefenden Beschäftigung mit dieser Anredeform aufzudrängen. Daraus dürften sich dann aber zugleich wiederum nützliche Einsichten für das Gesamtsystem der portugiesischen Anrede ergeben.

Im Sinne einer möglicherweise ebenfalls dynamisch(er) zu gestaltenden metasprachlichen Kommunikationsgemeinschaft der am Thema interessierten und mit diesem befassten Fachwissenschaftler38 sind die Untersuchungsergebnisse von Vorläufern zum Thema (bzw. Teilbereichen davon) kritisch sichtend heranzuziehen, bzw. wird zumindest auf sie zu verweisen sein.39

←30 | 31→

1. Theoretische Vorüberlegungen

Für die Betrachtung des Phänomens Anrede im Rahmen jeweiliger Sprachgemeinschaften ist innerhalb der Sprachwissenschaft der Fachbereich Soziolinguistik zuständig, dessen Aufgabengebiet per definitionem die Untersuchung zwischenmenschlicher Kommunikation im Zusammenhang sozialer Phänomene ist.40

Möglicherweise ist gerade die Beschäftigung mit Anredekonventionen geeignet, einen spezifischen Blick auf den „soziolinguistisch konstitutive[n]‌ Bezug zwischen Sprechen und Handeln“41 zu werfen, insbesondere was Fragen wie etwa die nach „der Übereinstimmung der ‚Kompetenz‘ innerhalb einer Sprachgemeinschaft“42 betrifft.

Zweifellos liefert aber die Soziolinguistik nicht nur einfach die (oder zumindest Teile der) „Brille, durch die wir die Welt sehen“43, sondern eben diese Brille hat gleichermaßen laufend justierende Korrekturen – als Ergebnis von (nicht nur wissenschaftlicher) Analyse der Welt, um deren Erfassung sie bemüht ist – zu erwarten.44

Der Verwendung einer „soziolinguistischen Brille“ gewissermaßen vorgeschaltet, wird im Folgenden die Funktion von Anreden überhaupt in ansatzweise anthropologischen bzw. soziologischen Vorüberlegungen zu betrachten sein.

1.1 Anrede und Konventionalität menschlichen Verhaltens

In den folgenden Unterabschnitten soll die Anrede in Beziehung zu verschiedenen semiotischen Aspekten gesetzt werden. Dabei wird nicht zuletzt auch den mit der Anrede Beschäftigten wieder einmal Folgendes vor Augen geführt: „[…] there is clearly no simple relationship between linguistic forms and other forms of behavior.“45

←31 | 32→Als gemeinhin akzeptiert gilt, dass Anredende über ein bloßes symbolfunktionales „Bezeichnungsbedürfnis“46 hinsichtlich zu besprechender Weltbezüge hinaus immer eine (im Einzelfall zu spezifizierende) spezielle Intention in Bezug auf jeweilig Angeredete haben.47 Diese gewissermaßen biologisch-anthropologische Grundbedingung des Kommunikationselements ‚Anrede‘48 führt unter den jeweiligen sozio-kulturellen Rahmenbedingungen zur je einzelsprachlichen Differenziertheit der Anredeformen bzw. -konventionen.49

Als universelle Grundbedingtheiten bzw. -muster der angesprochenen kommunikativen Intentionalität dürften – insbesondere bei der appellativen Anrede – zumindest folgende Handlungsaspekte50 gelten, die Konventionen des Kontakts markieren:

Details

Pages
398
Year
2022
ISBN (PDF)
9783631871294
ISBN (ePUB)
9783631871300
ISBN (Hardcover)
9783631870501
DOI
10.3726/b19310
Language
German
Publication date
2022 (September)
Keywords
Angemessenheit Anredeform Anredevermeidung Appellem Artikelanrede confiança Einschätzungsbefragung Nominalanrede Normbewusstsein Pronominalanrede você Vokativ
Published
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 398 S., 63 Tab.

Biographical notes

Gunther Hammermüller (Author)

Gunther Hammermüller studierte Romanische Philologie, Evangelische Theologie und Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, wo auch seine Promotion erfolgte. Er war als DAAD-Lektor an der Philosophischen Fakultät der Universität von Porto/Portugal sowie mehrere Jahre als Oberstudienrat im Hochschuldienst an der Christian-Albrechts-Universität tätig.

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Title: Die Anrede im Portugiesischen
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