Lade Inhalt...

Identitätsbildung und Partizipation im 19. und 20. Jahrhundert

Luxemburg im europäischen Kontext

von Norbert Franz (Band-Herausgeber:in) Thorsten Fuchshuber (Band-Herausgeber:in) Sonja Kmec (Band-Herausgeber:in) Jean-Paul Lehners (Band-Herausgeber:in) Renée Wagener (Band-Herausgeber:in)
©2016 Sammelband 455 Seiten
Open Access

Zusammenfassung

Gesellschaften mit starker Einwanderung kennzeichnen vielfältige Formen von Identitätsbildung und das Ringen um politische und zivilgesellschaftliche Partizipation. Dies gilt in besonderer Weise für Luxemburg im 19. und 20. Jahrhundert. Hier entstand in einem Kleinstaat eine der jüngeren Nationen Europas und zugleich eine besonders offene, plurikulturelle Einwanderungsgesellschaft. Ziel dieses Bandes ist es, die Entstehung dieser Mehr-Kulturen-Gesellschaft im europäischen Zusammenhang zu verstehen. Die einzelnen Beiträge analysieren mit Hilfe unterschiedlicher sozial- und kulturwissenschaftlicher Annäherungen exemplarische Konfliktlinien der Identitätsbildung und des Kampfes um Partizipation.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Einführung
  • Identität und Teilhabe in Luxemburg – eine Einleitung (Norbert Franz und Sonja Kmec)
  • Vernunftphantasien. Zu vermeintlichen Auflösungen des Spannungsverhältnisses von Universalismus und Partikularismus (Winfried Thaa)
  • I. Politische Teilhabe in der ländlichen Gesellschaft
  • Landwirtschaftliche Interessenvertretung in Luxemburg im Spannungsfeld von Berufskammern, Parteiensystem und Genossenschaften (Michel Dormal und Dominik Trauth)
  • Partizipation ohne Integration? Das gesellschaftspolitische Engagement der Bäuerinnen Elizabeth Bobbett und Augusta Gillabert-Randin in der Schweiz und in der Republik Irland (Peter Moser)
  • II. Minderheiten und Nationalstaat
  • Die Arbeiter aller Nationalitäten wünschen die italienischen Arbeiter ins Pfefferland. Zwischen Internationalismus und Xenophobie: Italienische Arbeitsmigranten in Düdelingen und die Anfänge der luxemburgischen Gewerkschaftsbewegung (ca. 1890–1930) (Fabian Trinkaus)
  • Verspätete Verbürgerlichung. Politische Partizipation Luxemburger Juden im 19. Jahrhundert (Renée Wagener)
  • Und darin fühlen totsicher die alteingesessenen luxemburger Juden parallel mit ihren arischen Mitbürgern. Die Abwehr jüdischer Einwanderung in den 1930er Jahren als Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus (Marc Gloden)
  • Der Umgang mit der Shoah im Nachkriegs-Luxemburg (Renée Wagener)
  • III. Politische Partizipation im Zeichen des Nationalstaats
  • Proportionen des Volkes. Der Wandel im Verhältnis von politischer Repräsentation und Nation am Beispiel Luxemburgs (1841–1939) (Michel Dormal)
  • Anarchisme(s) au Luxembourg dans l’entre-deux-guerres. Contre le fascisme, le communisme… et la démocratie parlementaire (Frédéric Krier)
  • Mal Blumenstrauß, mal Handschellen. Luxemburgische und ostbelgische Wehrmachtrückkehrer zwischen gesellschaftlicher Teilhabe und sozialer Ausgrenzung (Peter M. Quadflieg)
  • Le Grand-Duché de Luxembourg face à la décolonisation au tournant des années 1960. Influence des acteurs non-gouvernementaux sur la politique étrangère (Régis Moes)
  • Politische Partizipation im 21. Jahrhundert: Krise, Wandel oder Erneuerung der demokratischen Teilhabe? (Michel Dormal)
  • IV. Kulturelle Partizipation
  • Die kulturelle Partizipation von Frauen der Oberschicht in Luxemburg (1850–1900) (Josiane Weber)
  • Das „Regieren der Bevölkerung“: Die Problematisierung der Prostitution in Luxemburg um 1900 aus einer intersektionalen Perspektive (Heike Mauer)
  • Nationalsprache und nationale Identität. Die Debatten im Vorfeld des Sprachengesetzes (1974–1984) (Fernand Fehlen)
  • Anhang
  • Die „Partizip“-Projekte – Ergebnisse und laufende Arbeiten
  • Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren
  • Orts- und Personenregister

← 8 | 9 →

Vorwort

Der vorliegende Band präsentiert ausgewählte Ergebnisse zweier Tagungen, die das Projekt „Nationenbildung und Demokratie“ und sein Nachfolgeprojekt „Gesellschaftliche Partizipation und Identitätsbildung“ durchgeführt haben. Ziel dieser Tagungen war es, Ursachen, Formen und Grenzen gesellschaftlicher Partizipation in Luxemburg vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die jüngste Vergangenheit hinein im europäischen Zusammenhang zu verstehen. Beide Projekte bemühten sich um einen Austausch verschiedenster sozial- und kulturwissenschaftlicher Wissenschaftsdisziplinen, mit ihren speziellen Fachtraditionen, Fachsprachen und Ansätzen.

Das Team der Herausgeberinnen und Herausgeber dankt allen Autorinnen und Autoren dieses Bandes sehr herzlich für ihre Mitwirkung. Der Fonds National de la Recherche Luxemburg und das Historische Institut der Universität Luxemburg unter der Leitung von Michel Margue finanzierten seine Herstellung. Der Fonds National de la Recherche finanzierte darüber hinaus nicht nur unsere beiden Forschungsprojekte, sondern übernahm auch weitgehend die Kosten unserer Tagungen.

Wir bedanken uns bei den Herausgebern der „Études luxembourgeoises“, die das vorliegende Buch, wie bereits den ersten Sammelband unserer Projekte, in ihre Buchreihe zur Geschichte und Kultur Luxemburgs aufnahmen. Besonders herzlicher Dank gilt dem anonymen Gutachter der Reihe, sowie Michel Pauly und Thomas Kolnberger für ihre konstruktive Kritik. Und für die abschließende Korrektur danken wir Constanze Tyrell und Marie Cécile Charles sehr herzlich. Schließlich danken wir unseren Kolleginnen und Kollegen der interdisziplinären Forschungseinheit IPSE (Identités. Politiques, Sociétés, Espaces) der Universität Luxemburg für ihr wohlwollend kritisches Interesse an unserer Arbeit.

Esch an der Alzette, im Oktober 2016

Norbert Franz, Thorsten Fuchshuber, Sonja Kmec, Jean-Paul Lehners, Renée Wagener ← 9 | 10 →

← 10 | 11 →

Einführung

← 11 | 12 →

← 12 | 13 →

Norbert Franz und Sonja Kmec

Identität und Teilhabe in Luxemburg – eine Einleitung

Das „demokratische Defizit“ müsse behoben werden: So lautete das Hauptargument der Befürworterinnen und Befürworter einer Ausweitung des Wahlrechts auf „ausländische Mitbürger“ in Luxemburg, über die am 7. Juni 2015 durch ein Referendum entschieden wurde.1 Die Diagnose eines „Defizits“ wurde in Anbetracht der Tatsache formuliert, dass nur 55 Prozent der erwachsenen Wohnbevölkerung des Großherzogtums wahlberechtigt sind.2 Dem hielten die Gegner einer Veränderung des Wahlrechts die Bedeutung der nationalen Zugehörigkeit entgegen. Zugleich verwiesen sie auf die Option der Naturalisierung, auf die Möglichkeit der erwachsenen Migrantinnen und Migranten also, nach sieben Jahren Aufenthalt im Lande, Bürgerkundekursen und einem Sprachtest die luxemburgische Staatsbürgerschaft zu erhalten.3 Die Auseinandersetzung um das Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer in Luxemburg ist der vorläufige Höhepunkt einer langen Entwicklung: Identitätsbildungsprozesse, insbesondere im Verlauf von Nationsbildungen, und Forderungen nach mehr zivilgesellschaftlicher und politischer Teilhabe prägen die Geschichte Luxemburgs wie ganz Europas seit dem Ende des 18. Jahrhunderts.4 ← 13 | 14 →

Im Großherzogtum Luxemburg, das 1815 aus den Beschlüssen des Wiener Kongress hervorging, lassen sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts Nationsbildungsprozesse beobachten, die teilweise gegenläufig zueinander waren. So trafen sich in diesem Raum die niederländische, die belgische, die luxemburgische und die deutsche Sicht auf Volkszugehörigkeit und Nation. Sie standen in einem Spannungsverhältnis zueinander, aber auch zu Demokratisierungsprozessen, wie z. B. dem zunehmenden Einfluss der nationalen wie internationalen Arbeiterbewegung. Während die Nation klassenübergreifend gedacht wurde, blieben Frauen meist von politischer Teilhabe ausgeschlossen.5 Weder Nationsbildung noch Demokratisierung verliefen linear, sie können nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Dass die luxemburgische Gesellschaft heute multikulturell, insbesondere auch multilingual geprägt ist, dass sie ihre Angelegenheiten auf der Grundlage eines demokratischen Rechtsstaates und im Rahmen der Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union regelt, war zu Beginn dieser Entwicklungen nicht abzusehen. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein war Luxemburg ein vergleichsweise armes Land mit einer starken Auswanderung. Seine Wirtschaft war überwiegend agrarisch geprägt. Seine Industrie hatte teilweise noch frühmoderne Züge. Die Transformation zu einer schwerindustriell dominierten Wirtschaft und, seit den 1970er Jahren, zu einer Dienstleistungsgesellschaft mit einem ausgeprägten Finanzsektor – begleitet von starker Arbeitsmigration und grenzüberschreitender Arbeitsmobilität – trugen dazu bei, dass Luxemburg heute zu den reichsten Ländern der Welt zählt.6

Aufgrund dieser sozio-ökonomischen Transformationen eignet Luxemburg sich in besonderer Weise für die Erforschung von Identitätsbildungs- und Partizipationsprozessen. Denn hier liefen zum einen alle wesentlichen Entwicklungslinien des gesellschaftlichen Wandels zusammen, die West- und Mitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert prägten: Staatsaufbau und Nationsbildung, die Ablösung einer von der Person des Monarchen getragenen Souveränität durch die Volkssouveränität, die Ausweitung politischer und zivilgesellschaftlicher Partizipation über die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten hinaus sowie die Inklusion von Zugewanderten und kulturellen Minderheiten in die politische und zivilgesellschaftliche Gemeinschaft, denen vielfältige Mechanismen der Exklusion entgegenwirkten.7 ← 14 | 15 →

Zum anderen wurden in Luxemburg unter den Bedingungen des Kleinstaates die allgemeineuropäisch wirksamen Tendenzen gesellschaftlichen Wandels besonders deutlich: Die ausgeprägte Abhängigkeit des Großherzogtums von den Dynamiken des europäischen Mächtesystems spitzte sich immer wieder in der Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz dieses Staates zu. Der Staatsaufbau setzte auf den Grundlagen einer Provinzverwaltung gleichsam bei einem Nullpunkt ein, die radikalen politischen Veränderungen des Zeitalters der Revolutionen wirkten in Staat und Zivilgesellschaft Luxemburgs ebenso deutlich und nachhaltig wie die demographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dynamiken des 19. und 20. Jahrhunderts. In der Phase der Hochindustrialisierung erfuhren die luxemburgische Wirtschaft und Gesellschaft einen ebenso schnellen wie tiefgreifenden Wandel. Grundlage waren die phosphorhaltigen Minette-Erze im Süden des Landes. Die Dynamik dieser Entwicklung übertraf sogar jene der ebenfalls sehr rasch wachsenden deutschen Wirtschaft. Daher wurde Luxemburg in diesen Jahrzehnten vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland.8

Auch im 20. Jahrhundert wirkten sich die gesamteuropäischen Entwicklungen in Luxemburg besonders intensiv auf die luxemburgische Staatlichkeit und Zivilgesellschaft aus: Im Ersten Weltkrieg zerstörte die Besetzung der neutralen Staaten Belgien und Luxemburg durch deutsche Truppen die Reste jenes „Europäischen Mächtekonzerts“, das auch die Staatlichkeit Luxemburgs seit dem Wiener Kongress immer wieder gewährleistet hatte – zunächst als Gliedstaat des Deutschen Bundes und schließlich als völlig souveräner Staat, dessen Existenz durch die Großmächte garantiert wurde. In den Jahren 1918–1919 erfasste das Land, wie andere zentraleuropäische Monarchien, eine Krise, die revolutionäre Züge trug. Im Falle Luxemburgs stellten die Sieger des Ersten Weltkriegs sogar die Frage nach der staatlichen Fortexistenz des Großherzogtums, und im Inneren zielten antimonarchische und sozialrevolutionäre Bewegungen auf einen radikalen Wechsel des politischen und sozio-ökonomischen Systems. Schlussendlich kam es nicht zu einer Revolution, sondern zur Ablösung der liberalen konstitutionellen Monarchie durch eine parlamentarische Monarchie auf der Grundlage der Volkssouveränität und des allgemeinen Wahlrechts nicht nur für alle erwachsenen männlichen Staatsbürger, sondern auch für die Frauen.9 ← 15 | 16 →

In der Zwischenkriegszeit entwickelte sich die nun demokratisch verfasste luxemburgische Gesellschaft im Zuge einer wirtschaftlichen Blütephase, die erneut zahlreiche Migranten – insbesondere Italiener, Deutsche, Belgier und Polen – in das Industriegebiet im Süden führte. Das parlamentarisch-demokratische System war erheblichen Gegenkräften ausgesetzt – von der 1921 gegründeten Kommunistischen Partei Luxemburgs über korporatistische Strömungen bis zu rechtsradikalen Gruppen, wie die Landesgruppe der NSDAP in Luxemburg, die in den 1930er Jahren aktiv war.10 Gleichzeitig wirkte der alte Gegensatz zwischen antiklerikal-liberalen Eliten und dem politischen Katholizismus weiter. Hinzu kam nun eine starke demokratisch-sozialistische Strömung in Parteiensystem und Gewerkschaften, die zunehmend von revolutionären Positionen abrückte. Angesichts der verstärkten Bedrohung durch den unter nationalsozialistischer Führung erneut auflebenden deutschen Expansionismus rückten Politik und Gesellschaft Luxemburgs nach 1933, nicht zuletzt auch angesichts der zahlreichen politischen Flüchtlinge, deutlich nach rechts. Nach der erneuten Besetzung des neutralen Großherzogtums durch deutsche Truppen 1940 war der Großteil der luxemburgischen Bevölkerung Ziel der „Germanisierungs“-Politik der nationalsozialistisch geführten „Zivilverwaltung“ des Landes. Sie konfrontierte eine schubweise fortschreitende luxemburgische Nationsbildung mit dem Bemühen, die Luxemburgerinnen und Luxemburger als „Volks“-Deutsche in die so genannte „Deutsche Volksgemeinschaft“ zu integrieren – auch durch kulturelle11 und wirtschaftliche Einflussnahme, vor allem aber mit den Instrumenten des totalitären Machtstaates.12

Unter diesem Druck bewegte sich die gesellschaftliche Entwicklung Luxemburgs zwischen zwei Extremen: es gab energische und sogar begeisterte Unterstützer der nationalsozialistischen „Germanisierungs“-Politik. Gegen diese Politik einer Inklusion in die so genannte „Deutsche Volksgemeinschaft“ wandte sich ein patriotischer und/oder antifaschistischer Widerstand, der seit 1941 immer stärker wurde. Zwischen diesen Extremen bewegten sich jene, die in unterschiedlicher Intensität mit ← 16 | 17 → der deutschen Zivilverwaltung in Luxemburg kollaborierten13, und jene, die passiven Widerstand leisteten und an ihrer luxemburgischen Identität festhielten. Am 10. Oktober 1941 wurde eine Umfrage zum Zivilstandsregister, die unter anderem Fragen zur Muttersprache und Volksangehörigkeit enthielt, von dem Leiter der „Zivilverwaltung“, Gauleiter Simon, abgebrochen. Luxemburgische Widerstandsorganisationen hatten im Vorfeld dazu aufgerufen, überhaupt nicht, oder mit “luxemburgisch” zu beantworten und feierten den Abbruch als Beweis, dass die überwältigende Mehrheit der Luxemburger den Besatzern getrotzt habe.14 Obwohl die Gründe für das Scheitern der Umfrage nicht klar sind, und nur jene Fragebögen bislang ausgewertet wurden, die nicht abgegeben wurden, sondern erst nach dem Krieg eingereicht wurden, um die Gegnerschaft der betreffenden Personen zum nationalsozialistischen Regime zu bezeugen, gilt die Umfrage als nationales „Referendum“.

Bereits 1946 wurde der 10. Oktober zum nationalen Erinnerungstag erklärt und bot in den folgenden Jahren den rivalisierenden Vereinigungen ehemaliger Mitglieder des Widerstands einerseits und ehemaliger Soldaten, die in die deutsche Wehrmacht gezwungen worden waren, andererseits, einen gemeinsamen Bezugspunkt. Die Tatsache, dass sich zahlreiche Luxemburger dem Dienst in der Wehrmacht entzogen und von der Bevölkerung versteckt wurden, mag zudem als Beleg für die Entwicklung der luxemburgischen Nationsbildung im und durch den Krieg gelten, die durch Deutschlands Niederlage einen weiteren Schub erhielt.15 Bereits unmittelbar nach dem Krieg entwickelte sich eine ← 17 | 18 → Erinnerungskultur, mit deren Hilfe die zumeist traumatisierenden Erfahrungen dieser Zeit privat und politisch aufgearbeitet werden sollten. Andererseits wurde die Kollaboration mit den deutschen Besatzern, nach der sogenannten Säuberung des Verwaltungsapparats („épuration administrative“) und dem Amnestiegesetz von 195516, lange Zeit in der Öffentlichkeit nicht thematisiert.

Die Neuordnung Europas zwischen europäischer Integration und Kaltem Krieg wirkte sich in Luxemburg in besonderer Weise aus. Nicht mehr die zweifelhafte Garantie der europäischen Mächte stützte nun seine Souveränität, sondern die doppelte Integration in die nordatlantische Verteidigungsorganisation und die europäischen Gemeinschaften. Zugleich arbeiteten die politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes zielstrebig an dem Aufbau des Finanzplatzes und – nach der Stahlkrise der 1970er Jahre – an der Diversifizierung der übrigen Wirtschaftssektoren. Hier wirkte sich nun der politisch-administrative Rahmen des Kleinstaates besonders günstig aus. So konnte Luxemburg die europäischen Richtlinien in der Regel besonders rasch umsetzen, die geringen Aufwendungen für die Streitkräfte und die tendenziell anhaltende Prosperität eröffneten der politischen Führung viele Möglichkeiten, die Infrastrukturen in öffentlicher Bildung, Erziehung und Verkehr sowie im sozialstaatlichen Sektor zu stärken.17

Darüber hinaus veränderte sich die luxemburgische Gesellschaft, weil sie unterschiedliche Gruppen von Einwanderern an sich zog: zunächst überwiegend aus Italien, dann aus Portugal, seit den 1980er Jahren insbesondere aus den Nachbarländern als Grenzgänger, zu denen seit den 1990er Jahren zahlreiche Flüchtlinge ← 18 | 19 → aus Krisengebieten kamen. Der Anteil der nicht-luxemburgischen Einwohner ist innerhalb des letzten halben Jahrhunderts von 13 Prozent (1961) auf 43 Prozent (2011) gestiegen. In diesem Zeitraum sind allerdings nicht nur 545.000 Menschen zugezogen, sondern auch 370.000 abgewandert, begünstig durch die Personenfreizügigkeit, die im Schengener Abkommen festgelegt wurde. Der Nettomigrationssaldo stieg konstant. 1970 ließen sich noch 1.091 Personen mehr in Luxemburg nieder, als abwanderten, 2014 waren es 11.049.18 Der Arbeitsmarkt ist zudem geprägt von den zahlreichen Grenzgängern, die tagtäglich aus Frankreich, Belgien und Deutschland nach Luxemburg zur Arbeit fahren und danach wieder in ihre Heimatorte zurückkehren. Im Mai 2015 arbeiteten 169.000 Grenzgänger im Großherzogtum. Ihnen stehen 260.000 Lohnempfänger gegenüber, die in Luxemburg leben, bei einer Wohnbevölkerung von insgesamt 550.000. Luxemburg hat, neben der Schweiz, die höchste grenzüberschreitende Arbeitsmobilität Europas.19

Seit 1945 erfuhr Luxemburg aber auch erhebliche sozio-kulturelle Formen des Wandels. Die politische Debatte bewegte sich zwischen einem Ausgleich zwischen konservativen, liberalen und sozialistischen Kräften einerseits und neuen Gruppierungen, in denen sich Teile der alten kommunistischen und der „Neuen“ Linken mit neuen sozialen Bewegungen – insbesondere der Frauen-, Umwelt- und Friedensbewegung – um gesellschaftlichen Wandel bemühten. Seit den frühen 1950er Jahren bildete der luxemburgische Nationalstaat den politisch-administrativen Rahmen für eine von Massenkonsum geprägte, multilinguale und multikulturelle Gesellschaft mit erheblichem identitätsstiftendem Potenzial. Gleichzeitig blieb erneut ein wachsender Teil der Wohn- und Erwerbsbevölkerung von politischer Mitgestaltung ausgeschlossen, weil diese Menschen keine luxemburgischen Staatsbürger waren.

Am Beispiel Luxemburgs werden somit jene teils gegenläufigen, teils sich wechselseitig verstärkenden Tendenzen von Identitätsbildung und politischer sowie zivilgesellschaftlicher Teilhabe besonders deutlich, die West- und Mitteleuropa in den vergangenen zweihundert Jahren prägten: Staatsaufbau und Nationsbildung, Demokratisierung und Gleichberechtigung der Geschlechter, demographischer Übergang und Wanderungsbewegungen, hegemoniale Beziehungen und Multi-Kulturalität, agrarisch-industrielle und Kommunikationsrevolution, kriegerische Auseinandersetzungen und Phasen friedlicher Entwicklung im Rahmen des ← 19 | 20 → Mächtekonzerts und der europäischen Integration. Die luxemburgische Nation formte sich nicht auf der Grundlage frühneuzeitlicher oder gar mittelalterlicher Traditionen aus – auch wenn diese Elemente zur nationalen Mythenbildung herangezogen wurden20 –, sondern im Zuge des Aufbaus und der Verteidigung der Eigenstaatlichkeit des Großherzogtums seit den 1830er Jahren. Bis 1919 blieben ein Großteil der erwachsenen männlichen Staatsbürger und alle Frauen von der politischen Willensbildung ausgeschlossen, auch kulturelle Minderheiten, wie Juden oder Protestanten, konnten kaum an der Gestaltung des politischen Lebens mitwirken.21

Wie die vielfältigen Formen gesellschaftlichen Wandels, denen Luxemburg im betrachteten Zeitraum unterworfen war, auf die Ausformungen der Identitäten und auf die Partizipationschancen der betroffenen Menschen wirkten, ist ein Forschungsproblem, das, neben der Geschichtswissenschaft auch andere Sozial- und Kulturwissenschaften beschäftigt. So prägte das für die Geschichte Europas bestimmende Phänomen der Migration bereits die vor- und frühmodernen Entwicklungen vor der Gründung des Großherzogtums.22 Die luxemburgische Landwirtschaft modernisierte und industrialisierte sich, ihre Akteure wurden von einer gesellschaftlichen Mehrheitsgruppe zu einer Minderheit. Die Transformationsprozesse der Industrie gingen von vor- und frühmodernen Formen aus, die sich in der Boom-Phase der Hochindustrialisierung in eine moderne Schwerindustrie weiter entwickelten. Diese wiederum schrumpfte im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts sehr schnell und wurde von einer stark diversifizierten gewerblichen Wirtschaft und einem expandierenden Dienstleistungssektor abgelöst, den ein Finanzzentrum dominierte, das mit den übrigen Teilen der luxemburgischen Volkswirtschaft kaum noch verbunden war und vor allem in der „Offshore-Welt“23 agierte. Somit prägten ← 20 | 21 → sich alle Phasen der Transformationsprozesse, die die europäischen Gesellschaften in zwei Jahrhunderten durchliefen, in Luxemburg besonders deutlich aus: die agrarisch-demographisch-industrielle Revolution, interstaatliche- und Binnen-Migration, die Urbanisierung und der Übergang von einer industriell zu einer von Dienstleistungen dominierten Wirtschaft und Gesellschaft.24

Die Forschungen über die Entwicklung des luxemburgischen Staatsaufbaus und der Nationsbildung waren lange selbst Teil der von ihnen dargestellten Phänomene. Dennoch sind sie – auf Ebene der Fakten – bis heute gültiger Forschungsstand.25 Auch die Identitätsbildungsforschung war in Luxemburg lange von der Debatte um die Nation geprägt.26 Neuere Forschungen haben dies mit Hilfe des methodischen Instrumentariums der Erinnerungsforschung aufgearbeitet, das Ansätze der Sozialpsychologie und Kulturanthropologie aufgreift.27 In jüngster ← 21 | 22 → Zeit folgten Studien zu Identitätsbildungen im multikulturellen und mehrsprachigen Kontext Luxemburgs mit einem multi-disziplinären Ansatz, der für die Erforschung trans- und interkultureller Phänomene besonders gut geeignet ist.28

Auch die Entwicklung der Staats- und Kommunalverfassungen, welche die Partizipationsmöglichkeiten der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger entscheidend prägte, wurde in den letzten beiden Jahrzehnten u. a. mit Methoden einer vergleichenden Mikrogeschichte aber auch quantitativ-analytisch erforscht. Durch die komparative Herangehensweise wurde dabei deutlich, dass der Kleinstaat Luxemburg ähnliche Entwicklungen durchlief wie die Nachbarstaaten, aber auch, neben dem Risiko einer immer wieder gefährdeten Eigenstaatlichkeit, besondere Entwicklungschancen hatte, die vor allem aus der geringen Größe des Landes und seiner weitgehenden Demilitarisierung resultierten.29 Die für die allgemeine mitteleuropäische Entwicklung typische soziale Struktur der luxemburgischen Gesellschaft wurde exemplarisch für die Stadt Luxemburg im 19. Jahrhundert ← 22 | 23 → aufgezeigt.30 Für andere Gemeinden und generell für das 20. Jahrhundert bleiben diese Fragestellungen bislang weitgehend Desiderat.

Auf dem Gebiet der historisch-sozialwissenschaftlichen Partizipationsforschung zu Luxemburg wurden in den vergangenen Jahren einschlägige Studien zur Geschichte der politischen Parteien31, der Arbeiterbewegung32, der Geschichte der jüdischen Minderheit33, zur Migrationsforschung34 sowie der Frauengeschichte und Genderforschung35 vorgelegt, doch bleiben erhebliche Lücken. So stellen diese Arbeiten ihre Befunde für Luxemburg eher selten in einen breiten, europäischen Kontext. Auch werden internationale Forschungsdebatten und Theoriebildung nur vereinzelt aufgenommen und weitergeführt.

Hier setzten zwei Forschungsprojekte an, die von 2009 bis 2015 an der Universität Luxemburg aktiv waren.36 Sie fragten nach den Partizipationsmöglichkeiten ← 23 | 24 → der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und -schichten vor dem Beginn der luxemburgischen Eigenstaatlichkeit und im Zuge des Staatsaufbaus im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie fragten weiter nach den Gründen und dem Verlauf der Ausformung von Gruppenidentitäten und der nationalen Identitäten in Luxemburg, nach den Wegen, auf denen die bäuerliche Bevölkerung und die Frauen politische Teilhabe erwarben und wie neue gesellschaftliche Gruppen, kulturelle Minderheiten oder die Industriearbeiterschaft politische und zivilgesellschaftliche Teilhabe erkämpften. Und sie fragten nach der Funktion der Erinnerungskulturen krisenhafter Phasen der Nationsbildung und nach den Diskursen um Partizipation in der luxemburgischen Gesellschaft.

Die beiden „Partizip“37-Projekte untersuchten diese Prozesse mit Hilfe interdisziplinär ausgerichteter Methoden entlang der Leitkategorien „Diversität“, „Identität“ und „Integration“. Diese Kategorien sind anschlussfähig an das analytische Modell „Inklusion-Exklusion“, das in der Soziologie entwickelt und auch in der Geschichtswissenschaft erprobt wurde.38 Im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit waren die beiden Projekte grundsätzlich offen für neuere Ansätze der politischen Theorie, der Genderforschung oder ganz allgemein für konstruktivistische Richtungen der Sozial- und Kulturwissenschaften. Das schloss die kritische Auseinandersetzung mit einem weit gefassten Begriff von sozialem „Konstrukt“ nicht aus.39 Hauptansatzpunkt war jedoch die Analyse der sozialen Wirklichkeit der luxemburgischen Gesellschaft – nicht „von oben“40, wie komple­mentär zu diesem Ansatz Josiane Webers Untersuchung der Eliten – sondern „von unten“, entlang ausgewählter Bevölkerungsgruppen: anhand ← 24 | 25 →

  1. der bäuerlichen Bevölkerung, die im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte von der überwiegenden Mehrheit zur Minderheit der Bevölkerung wurde und einen tiefgreifenden Wandel ihrer Berufs- und Lebenswelten erfuhr;
  2. der Industriearbeiterschaft, die von einer randständigen Minorität zu einer starken sozialen und politischen Kraft wurde und im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts erneut an politisch-kulturellem Gewicht verlor;
  3. der Frauen, die auch dann, wenn sie den gesellschaftlichen Oberschichten angehörten, diskriminiert wurden;
  4. der jüdischen Bevölkerung und anderer kultureller Minderheiten der luxemburgischen Gesellschaft; und schließlich
  5. der Migrantinnen und Migranten, die aus wirtschaftlichen und politischen Gründen, oft weil sie verfolgt wurden, nach Luxemburg kamen und der Einwanderungsgesellschaft neue kulturelle Impulse vermittelten.

Untrennbar verbunden mit dem Kampf um politische Partizipation in Luxemburg ist die teils rasche, teils zögernde, teils völlig ausbleibende Identifizierung der verschiedenen Teile der Bevölkerung mit dem luxemburgischen Staatswesen und dem luxemburgischen Nationsbildungsprozess. Die beiden Projekte beleuchteten darüber hinaus punktuell die Integrationsbeiträge der Interessenvertretungen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen sowie ihren Einfluss auf das staatliche Handeln. Dabei fassten sie den sich wandelnden Grad der Einbindung verschiedener Bevölkerungsgruppen in Staatswesen, Wirtschaft und kulturelles Leben Luxemburgs nicht als bloße Anpassungsleistung der untersuchten Bevölkerungsgruppen auf, sondern auch als ihre eigenen Beiträge zum Wandel der luxemburgischen Gesellschaft.

Der vorliegende Abschlussband stellt Ergebnisse der „Partizip“-Projekte und einiger seiner ,Fellow travellers‘ entlang der Gegenstandsbereiche Identitätsbildung und Partizipation vor. Die Bedeutung der beiden Termini soll im Folgenden präzisiert und für diesen Sammelband auf eine gemeinsame Reflexionsebene gebracht werden. Dabei soll jedoch die Heterogenität, die für diese Art der Publikation charakteristisch ist und ihren besonderen Wert ausmacht, nicht korrigiert werden.

„Identität“ ist zunächst ein politisches Schlagwort, dessen Nützlichkeit als analytisches Konzept oft in Frage gestellt wird. Es aber deswegen gar nicht zu diskutieren erscheint uns als eine freiwillige Kapitulation vor politischen Vereinnahmungen. Stattdessen möchten wir es wertneutral benutzen. Nach unserer Auffassung ist „Identität“ im Sinne einer Gruppenzugehörigkeit weder angeboren noch beliebig wählbar. Sie ist einerseits von Sozialisierungsprozessen und ← 25 | 26 → institutionellen Strukturen41 geprägt, gleichzeitig jedoch immer kontextabhängig und relational bedingt. Wenngleich in der Praxis die beiden Prozesse nicht zu trennen sind, so sollte analytisch unterschieden werden zwischen Zuschreibungs-und Aneignungsprozessen der „Identität“.42 Letztere bedeutet, dass je nachdem wo, wann und mit wem „Identität“ besprochen oder auch unbesprochen ausgeübt wird, die eigene Gruppenidentität unterschiedlich gebildet wird. Abgrenzungsprozesse von jenen, die in dem Moment als „anders“ gesehen werden, sind dabei von fundamentaler Wichtigkeit. In diesem Band betreffen diese Identitätsbildungen nicht nur die Nation, deren zugeschriebene Eigenschaften zudem je nach Sprecher stark variieren, sondern auch politische Ideologien, NGOs, Interessensverbände, religiöse Gemeinschaften und andere Solidargruppen. Da die Autorinnen und Autoren keine softwaregestützten Netzwerkanalysen durchführen konnten – die überlieferten Quellen erlaubten dies in der Regel nicht –,43 wurden die Beziehungen innerhalb und außerhalb diese Gruppenkonstellationen einer qualitativen Analyse unterzogen. Aus diesen Gruppenattributen und -interaktionen ergeben sich politische Handlungskompetenzen.

„Partizipation“ ist ebenso wenig wie „Identität“ ein politisch neutrales Konzept. Es wird unterschiedlich verstanden und eingesetzt, wie Tobias Vetterle es in seiner Dissertation, die ebenfalls im Kontext der „Partizip“-Projekte entsteht, für die 1960er, 70er und 80er Jahre untersucht.44 Dem Ansatz der beiden Projekte folgen die beiden politisch-theoretischen Beiträge von Winfried Thaa und Michel Dormal, indem sie die Frage nach Partizipation an „Inklusion“ festmachen. An Thaas Fragen richten sich die übrigen Beiträge des Bandes in unterschiedlicher Intensität aus: Was wird inkludiert und auf welcher Grundlage? ← 26 | 27 → Welche Ausgrenzungen sind damit verbunden, wird Andersheit anerkannt? Welche Herrschaftsverhältnisse verschleiern diese Inklusionsprozesse eventuell? Führt die Inklusion zu (mehr) Handlungskompetenz?

Dieses Buch greift die allgemeine Fragestellung der beiden „Partizip“-Projekte auf. Es präsentiert zunächst eine Einführung, die zwei Artikel umfasst. Es folgen in vier Teilen weitere Beiträge, die im Wesentlichen aus zwei Tagungen der „Partizip“-beiden Projekte hervorgegangen sind.45 Dabei sind die Themenfelder der noch laufenden Doktorarbeiten zwar noch nicht vertreten, doch kommen Renée Wagener und Michel Dormal, die den beiden Partizip-Projekten besonders lange verbunden waren, sogar zwei- oder dreimal zu Wort. Im Gegensatz zu dem ersten Sammelband der beiden Partizip-Projekte wird der vorliegende Band überwiegend von Autorinnen und Autoren getragen, die im Projektzusammenhang forschten. Doch sind auch hier die Beiträge, die außerhalb der beiden Projekte entstanden, für die Theoriebildung, die der Band anregen und leisten will, unverzichtbar. Die wichtigsten Ergebnisse der Projekte und die noch laufenden Doktorarbeiten werden im Anhang dieses Bandes skizziert.

Im Anschluss an diese Einleitung eröffnet der Beitrag des Politologen Winfried Thaa den vorliegenden Band. Aus der Perspektive der politischen Theorie lotet er das Spannungsverhältnis von Universalismus und Partikularismus aus. Zunächst problematisiert er das Selbstverständnis der Moderne als einen fortschreitenden Inklusionsprozess. In einem zweiten Schritt zeigt er die Inklusionsmechanismen des modernen Nationalstaates und ihre Kehrseiten bei Jean-Jacques Rousseau und Karl Marx im Spannungsfeld zwischen Partikularismus (Nation) und universalistischer Wertorientierung auf. In einem weiteren Untersuchungsschritt problematisiert er die deliberative Demokratietheorie Jürgen Habermas’ und ihren Versuch einer Überwindung des Nationalstaates im Namen universalistischer Normen und Prinzipien. Er kommt zu dem Schluss, dass die drei betrachteten Theorien die konstitutive Pluralität und den Handlungsaspekt des Politischen zugunsten eines legitimierenden Vernunftanspruchs vernachlässigen. Aus dieser Schlussfolgerung heraus entwickelt der Autor Perspektiven der historischen Forschung, die der vorliegende Band aufgreift.

Der erste Teil des vorliegenden Bandes konzentriert sich auf die politische Partizipation von Angehörigen der ländlichen Gesellschaft. Er wird eröffnet durch den ← 27 | 28 → gemeinsamen Beitrag des Politologen Michel Dormal und des Historikers Dominik Trauth. Die beiden ehemaligen Doktoranden des ersten Partizip-Projekts behandeln hier eine Schnittmenge ihrer Forschungsfelder: die Rolle von Berufskammern, Parteiensystem und Genossenschaften bei der Interessenvertretung der luxemburgischen Landwirte. Die Autoren verfolgen die Frage, wer den Agrarsektor im Großherzogtum politisch repräsentierte. Sie konzentrieren sich auf das Beispiel des Widerstreits parlamentarischer und außerparlamentarischer Repräsentationen bei der Gründung der luxemburgischen Landwirtschaftskammer im Jahr 1924/25. Ziel war eine auf Selbstverwaltung gegründete funktionale Repräsentation, die die Interessen der Landwirtschaft in den politischen Prozess einbringen sollte. Vor dem Hintergrund der Krisenerfahrungen des Ersten Weltkriegs erwiesen sich die Berufskammern als Teil einer nationalen Formierung des Staatsvolks zur volkswirtschaftlichen Ressourcen- und Produktionsgemeinschaft.

Aus einer vergleichenden mikrohistorischen Perspektive analysiert der Beitrag des Historikers Peter Moser die politischen Aktivitäten einer Schweizer und einer irischen Bäuerin im frühen 20. Jahrhundert. Er kann zeigen, dass für beide Frauen Bildung, Besitz und Eigentum, vor allem aber ihr Status als Alleinstehende oder Witwe die entscheidenden Voraussetzungen für ihr Wirken darstellten. Sie wurden von Behörden, Verbänden und Privatpersonen zumeist nicht als Frauen ihrer Ehemänner wahrgenommen, sondern als Individuen. Darüber hinaus vertraten sie Anliegen, die in ihrer Zeit noch nicht mehrheitsfähig waren, aber sachlich kaum widerlegbar und mit dem Selbstverständnis desjenigen Teils der Gesellschaft, der sich längerfristig in diesen Fragen durchsetzte, durchaus kompatibel: Stimm- und Wahlrecht für Frauen (Schweiz) oder der Aufbau korporativer Beziehungen im Agrarbereich (Irland). Allerdings stand die Vehemenz, mit der sie für ihre Ziele eintraten, ihrer umfassenden Integration in die Gesellschaft eher entgegen.

Den zweiten Teil des vorliegenden Bandes, der die Inklusion und Exklusion von Minderheiten in den Nationalstaat behandelt, eröffnet ein Aufsatz des Historikers Fabian Trinkaus, der die Lage italienischer Arbeitsmigranten und -migrantinnen in der südluxemburgischen Industriestadt Düdelingen im Zusammenhang mit den Anfängen der Gewerkschaftsbewegung im Großherzogtum analysiert. Er geht dabei der Frage nach, wie sich die frühen Düdelinger Gewerkschafter zu nationalen Spaltungstendenzen und fremdenfeindlichen Strömungen an der Gewerkschaftsbasis verhielten. Er kann zeigen, dass die luxemburgischen Gewerkschaften nach einem für diese Zeit in der europäischen Arbeiterbewegung typischen Mechanismus agierten. Zum einen pflegten sie eine internationalistische Rhetorik, die durchaus auch mit konkreten Anstrengungen zur Vermittlung zwischen den einzelnen Landsmannschaften einherging. Dies wurde freilich immer wieder überlagert von einem Denken und Handeln in dezidiert nationalen ← 28 | 29 → Kategorien. Weiter kann der Autor die tradierte Meinung widerlegen, dass die ungelernten und hoch mobilen italienischen Arbeiter vor allem als Lohndrücker auftraten. Sie waren im Gegenteil vielfach bereit, für ihre Interessen zu kämpfen.

Ein erster Beitrag der Sozialwissenschaftlerin und Historikerin Renée Wagener analysiert die politische Partizipation jüdischer Staatsbürger Luxemburgs im 19. Jahrhundert. Angesichts der lückenhaften Überlieferung untersucht sie die Entwicklungen der Teilnahme jüdischer Einwohner des luxemburgischen Raumes am politischen Leben des Großherzogtums im Wesentlichen auf der Grundlage der überlieferten Einwohnerverzeichnisse und anderer statistisch auswertbarer Quellen sowie einschlägiger Akten und Rechtstexte. Sie kann zeigen, dass für wenige Vertreter der jüdischen Oberschicht politisches Engagement nicht nur zu einer wirtschaftlichen Gesamtstrategie gehörte, sondern auch ihrem bürgerlichen Selbstverständnis entsprach. Die Autorin stellt einen mit der schrittweise vollzogenen Herabsetzung des Wahlzensus einhergehenden „Verbürgerlichungsprozess“ von Teilen der jüdischen Minderheit fest. Da diese Entwicklung jedoch erst Jahrzehnte später einsetzte als die eigentliche Emanzipation, stieß sie auf bereits gefestigte gesellschaftliche Strukturen, die den Zugang jüdischer Männer zu politischer Teilhabe offenbar erschwerten.

Mit der Abwehr jüdischer Einwanderung in den 1930er Jahren als Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in Luxemburg befasst sich der Aufsatz des Historikers Marc Gloden. Auf der Grundlage umfangreicher empirischer Recherchen formuliert sein Beitrag die These, dass die luxemburgische Mehrheitsgesellschaft eine doppelte Befürchtung hegte: dass die zuwandernden Juden zum einen eine wirtschaftliche Bedrohung seien, und zum anderen eine besonders schwer zu assimilierende Gruppe. Daraus folgte der fremdenfeindliche Grundkonsens darüber, dass die jüdische Immigration eingedämmt werden müsse. Weiter kann der Autor zeigen, dass dieser Grundkonsens zu dem scheinbaren Paradox führte, dass der radikale Antisemitismus der Nationalsozialisten einerseits milieuübergreifend verurteilt wurde, andererseits aber antisemitische Ressentiments bis zu einem gewissen Grad hingenommen, ja teilweise in den fremdenfeindlichen Diskurs integriert wurden und so die Gestaltung der Immigrations- und Flüchtlingspolitik beeinflussen konnten.

Der zweite Beitrag von Renée Wagener in diesem Band betrachtet den Umgang mit der Shoah im Nachkriegs-Luxemburg. Die Autorin zeigt, dass sich die passive und sogar desinteressierte Haltung der Luxemburger Exilregierung gegenüber der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vernichtung nach dem Krieg wenig änderte. Dabei verweist sie auf die „Entschädigungs“-Politik und den Umgang mit jüdischen Hilfsbedürftigen. Die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten stand in der Nachkriegszeit für Regierung und Parlament nicht auf der ← 29 | 30 → Agenda, obwohl die spezifische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik des nationalsozialistischen Regimes auch in Luxemburg in zahlreichen Verordnungen und Maßnahmen der Besatzer sichtbar wurde. Diese Haltung wurzelte einerseits im Anspruch auf Gleichheit aller Staatsangehörigen, unabhängig von der Religionsangehörigkeit, der noch der Aufklärung verpflichtet war, andererseits wirkte der latente Antisemitismus weiter. Und schließlich wurde die kleine jüdische Minderheit als „quantité négligeable“ wahrgenommen.

Der dritte Teil des Bandes behandelt politische Partizipation im Zeichen des Nationalstaats. Er wird eröffnet von einem Beitrag des Politologen Michel Dormal, der die politische Partizipation im Zeichen des Nationalstaats untersucht. Der Autor analysiert die Verbindung von Demokratisierung, politischer Repräsentation und die Vorstellung von Nation in Luxemburg unter der Leitfrage, wie die Gemeinschaft der Staatsbürger in den politischen Institutionen repräsentiert wurde. Dabei analysiert er Forderungen nach „gerechter“, nach „proportionaler“ Repräsentation in der theoretischen und politischen Demokratiedebatte. Dormal zeigt empirisch, wann und wie in Luxemburg die politische Debatte um die proportionale Repräsentation geführt wurde und wer daran mit welchen Argumenten beteiligt war. Seine empirischen Befunde über die Auseinandersetzung um die Form der Repräsentation ordnet er dann in die allgemeineren Prozesse beschleunigter Demokratisierung in Luxemburg ein. Abschließend analysiert er die Theoriedebatte um die „authentische Repräsentation“. Dabei macht er deutlich, dass die politischen Kategorien, durch die die Gemeinschaft der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger (Demos) vergegenwärtigt werden kann, Ergebnis politischen Handelns und sozialer Konstruktion sind.

Details

Seiten
455
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631699096
ISBN (PDF)
9783653064650
ISBN (MOBI)
9783631699102
ISBN (Hardcover)
9783631667910
DOI
10.3726/978-3-653-06465-0
Open Access
CC-BY-NC-ND
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Dezember)
Schlagworte
Identitätsbildung Partizipation Nationsbildung Luxemburg Genderforschung Juden
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016, 455 S., 1 farb. Gaf., 4 s/w Graf., 4 s/w Tab.

Biographische Angaben

Norbert Franz (Band-Herausgeber:in) Thorsten Fuchshuber (Band-Herausgeber:in) Sonja Kmec (Band-Herausgeber:in) Jean-Paul Lehners (Band-Herausgeber:in) Renée Wagener (Band-Herausgeber:in)

Der Historiker Norbert Franz, der Sozialphilosoph Thorsten Fuchshuber, die Kulturwissenschaftlerin Sonja Kmec, der Historiker Jean-Paul Lehners und die Historikerin Renée Wagener trugen die Forschungsprojekte an der Universität Luxemburg, aus denen dieser Band hervorging.

Zurück

Titel: Identitätsbildung und Partizipation im 19. und 20. Jahrhundert
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
458 Seiten