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Joseph Wittig: Jenseits von Modernismus, Antimodernismus und Reformkatholizismus

Sein Glaubenszeugnis als Entwurf einer Theologie für das dritte nachchristliche Jahrtausend – eine historisch-theologische Untersuchung

von Christian Löhr (Autor:in)
©2022 Monographie 578 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch stellt den katholischen Theologen, Priester und Dichter Joseph Wittig (1879–1949) als Sprachlehrer des Glaubens vor. Seine Hauptwerke werden unter Einbeziehung der Zeit- und Lebensgeschichte historisch-theologisch detailliert analysiert. So zeigt sich, dass Wittig jenseits von Modernismus, Antimodernismus und Reformkatholizismus eine neue Sprache des Glaubens entdeckt hat. Diese eigenständige Form narrativer Theologie ermöglicht es ihm, komplizierte theologische Lehraussagen in einer poetischen, von eigener Lebenserfahrung gesättigten Sprache fruchtbar zu machen für den eigenen Glaubensvollzug seiner Lesergemeinde. Zudem zeigen bisher unerschlossene Quellen, was es heißt, Christsein und Glaubenstreue teilweise gegen seine Kirche und gegen den Nationalsozialismus zu bewähren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Einstimmung
  • 1. Was uns bewegt
  • 1.1. Die Not unserer Zeit
  • 1.2. Unsere Herkunft
  • 1.3. Was uns heute not tut – den Tod ins Leben hinein nehmen
  • 1.4. Die Zeugen neuen Lebens
  • 2. Vorausgesetztes: „Am Anfang war das Wort“ oder: Was ich von Eugen Rosenstock-Huessy gelernt habe!
  • 2.1. Von der Sprache, die uns gegeben ist
  • 2.2. Von Glaube, Hoffnung und Liebe oder: Wie wir zeitmächtig leben – eine Auslegung von 1. Korinther 13.
  • 2.3. Von der Offenbarung oder: Wir sind datiert und adressiert
  • 3. Ortsbestimmung: Von Daten und Räumen
  • 1. Der Ursprung der Theologie: Von den leibhaften Bedingungen künftiger Theologie
  • 1.1. „So lebe nun nicht Ich, sondern Christus lebt in mir …“ – Zwei Leben in einem – Anmerkungen zum Lebensgang Joseph Wittigs
  • 1.1.1. Vorspruch:
  • 1.1.2. Lebensgang 1: Priester und Lehrer
  • 1.1.2.1. Äußere Voraussetzungen des „Lebens Jesu in Palästina, Schlesien und anderswo“
  • 1.1.2.2. Priester und Lehrer
  • 1.1.2.3. Der „Fall Wittig“
  • Exkurs 1: „Herausgeboren“ – Die Osterbotschaft von den Erlösten und ihre Folgen
  • 1.1.3. Lebensgang 2: Das neue Leben oder: Werde Volk!
  • 1.1.3.1. Vom Priester zum Ehemann und Vater
  • 1.1.3.2. Anfechtung: Die verbotene Lebensform
  • 1.1.3.3. Neues Leben aus dem Tode: Haus, Familie, neue „Gemeinde“ und eine „Evangelische Fahrt“
  • 1.1.3.4. Verdunkelung
  • Exkurs 2: Überleben in finsteren Zeiten: Joseph Wittig in der Zeit des Nationalsozialismus – zwischen messianischen Hoffnungen und apokalyptischen Enttäuschungen
  • 1.1.4. Lebensgang 3: Bettler
  • 1.1.4.1. In der Fremde
  • Exkurs 3: … und doch wieder zuhause … – Zur Rekonziliation Wittigs – eine Recherche
  • 1.1.4.2. Sieben Jahrzehnte – zehn Jahrsiebente
  • 1.1.4.3. Tod und Vollendung
  • 1.1.4.4. Nachleben – Anmerkungen zur Rezeption Wittigs nach seinem Tode341
  • Bilanz 1: Wittig als Theologe des Kreuzes
  • 1.2. Die programmatische Bedeutung der Freundschaft für Wittigs Leben
  • 1.2.1. Eine Freundschaft fürs Leben: Joseph Wittig und Eugen Rosenstock-Huessy
  • 1.2.1.1. Der Freund – sein Weg nach Breslau
  • 1.2.1.2. Eines Glaubens
  • 1.2.1.3. Von mancherlei Hochzeiten
  • 1.2.1.4. Das „neue Testament“: Höregott – Kreatur – Aussichten und Wege
  • 1.2.1.5. Wohltaten
  • 1.2.1.6. Liturgisches Denken
  • 1.2.1.7. Maria Magdalena
  • 1.2.2. Freundschaft als Überlebenshilfe
  • 1.2.2.1. „Vom gleichen Ausgange“ herkommend – Joseph Wittig und Friedrich Hielscher
  • 1.2.2.2. Wenn die Wirklichkeit die Träume überholt – Vom „holdseligen Geist einer Freundschaft“ jenseits aller konfessionellen Grenzen und dogmatischen wie politisch-ideologischen Kategorien – Wittigs Freundschaft mit Landesbischof Schultz
  • Bilanz 2: Entprivatisierung des Geistes
  • 1.3. Zum Leben kommst du nur durchs Leben oder: Den Ort bestimmen, den Zugang finden – die programmatische Bedeutung von Kirchengeschichte und praktischer Theologie
  • 1.3.1. Der Ort oder: Verleiblichung
  • 1.3.1.1. Von der Seele als dem Ursprung der Kirche
  • 1.3.1.2. Die Kirche als Ort, an dem der Glaubende lebt
  • 1.3.1.3. Vom Amt
  • 1.3.1.4. Im Mutterschoß der Kirche – tiefe Harmonie
  • 1.3.1.5. Wer den Ort kennt, findet den Zugang
  • 1.3.2. Der Zugang
  • 1.3.2.1. Von der Freiheit des menschlichen Willens
  • 1.3.2.2. Das Geheimnis oder: Wie ein Schuljunge einem alten Leineweber heimlich hilft, seinen Karren den Berg hinauf zu schieben
  • 1.3.2.3. Schrift und Tradition
  • 1.3.2.4. Von der Gnade, von der Gerechtigkeit, vom Gebet und von der Freiheit
  • 1.3.2.5. Wittigs geistlicher Optimismus – „ein starkes JA zu dem Geschehenden“
  • 1.3.2.6. Von der Christusförmigkeit aller menschlichen Handlungen
  • 1.3.2.7. Lebensfragen
  • 1.3.2.8. Gottes Hand über unseren Händen
  • Bilanz 3: Von der Neuorganisation der theologischen Wissenschaften
  • 2. Die Mitte der Theologie – Ausformung eines Bekenntnisses
  • 2.1. Ausgangspunkt: Vom Geist und von der Kirche – Teil 1: Vom Leben daheim in der Kirche
  • 2.1.1. Kirche als Begegnung
  • 2.1.1.1. Vom Abendmahl
  • 2.1.1.2. Von der Taufe
  • 2.1.2. Wes Geistes Kind wir sind
  • 2.1.2.1. Von den verschiedenen Ordnungen im Reiche des Lebendigen oder: Wer hat wem was zu sagen?
  • 2.1.2.2. Über Jesus hinaus
  • 2.2. Der zweite Artikel: Von Jesus Christus
  • 2.2.1. Wittigs Antwort auf Albert Schweitzer
  • 2.2.2. Mein Leben heißt Christus. Darum ist Gott mein Vater.
  • 2.2.3. Das einzig Notwendige: Der rechte Gottesbegriff
  • 2.2.4. Kreuzförmiges Leben
  • 2.3. Der dritte Artikel: Vom Geist und von der Kirche – Teil 2: Vom Leben im Exil
  • 2.3.1. Der innere Aufbau des Bekenntnisbuches „Höregott“ – eine Lesehilfe
  • 2.3.2. Vom Ausgang des Geistes
  • 2.3.3. Vom Wirken des Geistes in der Geschichte und vom Kampf der Geister gegen den Glauben
  • 2.3.3.1. Der Geist als Leben und Tod
  • 2.3.3.2. Die Schau der vier Zeitalter
  • 2.3.3.3. Die Zeitalter als Gezeiten im eigenen Leben
  • 2.3.4. Welche der Geist Gottes treibt, die sind seine Kinder – eine Ortsbestimmung
  • 2.3.4.1. Die großen Geburtsvorgänge der Vergangenheit
  • 2.3.4.2. Namenlos oder: Die Una Sancta als Gesellschaft
  • 2.4. Der erste Artikel: Von Gott, dem Vater und Bräutigam, dem Schöpfer und von der Schöpfung
  • 2.4.1. Vorbereitung auf eine „Lebensbeichte“ – Die Mecklenburger Texte „Unter dem krummen Apfelbaum“ und „Dogmenglaube“
  • 2.4.2. Der „Roman mit Gott“ als Vermächtnis – eine Lesehilfe
  • 2.4.2.1. Gottverlassenheit als Ausgangspunkt für eine neue Gottesbegegnung und als Voraussetzung einer neuen Frömmigkeit
  • 2.4.2.2. Zur Gestalt des „Romans“
  • 2.4.3. Auf der Suche
  • 2.4.3.1. Der erste Kreis: Atheismus
  • 2.4.3.2. Der zweite Kreis: das Kreuz
  • 2.4.3.3. Der dritte Kreis: Braut und Bräutigam oder: Die Liebe Gottes
  • 2.4.4. Leben aus dem Glauben – Aspekte „atheistischer Frömmigkeit“
  • 2.4.4.1. Vom Maßstab „atheistischer“ Frömmigkeit: Jesus der wahre Mensch – Urbild und Vorbild des Glaubens
  • 2.4.4.2. Von der Praxis „atheistischer“ Frömmigkeit: Unterwanderung oder: Der subversive Charakter des Glaubenslebens
  • 2.4.5. Zwischenbilanz: „Humanistische Theologie“
  • Exkurs 5: Über Wittig hinaus oder: Der Mensch Jesus, sacramentum et exemplum – eine kritische Weiterführung
  • 2.4.6. Was von „Gott“ noch zu bezeugen ist! oder: Von Gott, dem Schöpfer, und der Schöpfung
  • 2.4.6.1. Vom andauernden Schöpfungstag Gottes, vom Wort, vom Wasser und vom Geist oder: Das Netzwerk der Kreatur-Aufsätze
  • 2.4.6.2. Die Schöpfung ist verfasst im Wort. Deshalb ist alles Geschaffene ansprechbar.
  • 2.4.6.3. Vom An-„Fangen“ und vom Auf-„Hören“
  • 2.4.6.4. Von Wasser und Geist
  • 2.4.6.5. 1 + 1 = 3 oder: Von der Geschichte zwischen eins und drei
  • 2.5. Zusammenfassung: Von den rechten Namen oder: Der Theologe des Kreuzes als Sprachlehrer des Glaubens
  • 3. Vom Ziel der Theologie – Das Wort der Kirche an die Welt als in die Geschichte eingreifendes Sprechen
  • 3.1. Die erste Berufung: Das Volk als „Christus patiens“
  • 3.1.1. Die Schau des Freundes
  • 3.1.2. Die „schwerere Schulklasse“
  • 3.2. Von Patmos nach Babylon oder: Wie aus wahrer Prophetie babylonische Gefangenschaft wird
  • 3.2.1. Von der Blindheit des Propheten
  • 3.2.2. Der Umschlag oder: Es ist eine verfluchte Zeit
  • 3.3. Der Untergang Babylons
  • 3.4. Die zweite Berufung: Zurück zum Glauben der Eltern oder: Das konservative Element in jeder echten Prophetie
  • 3.4.1. Die eigene Umkehr oder: Von der Heimat und vom Volkstum – Teil 2
  • 3.4.2. Das vorletzte Wort: „O Welt … kehr um!“
  • 3.4.3. Das letzte Angebot
  • 3.5. Ewigkeitssichtig oder: Vom Überschuss prophetischen Redens
  • 3.5.1. Der verwandelte Tod
  • 3.5.2. Vom Reich der Toten und dem Leben der Toten mit den Lebenden
  • 3.5.3. Das verwandelte Leben
  • Ausblick: Sich hineinschwingen in den Ursprung – eine Ermutigung
  • Nachwort und Dank
  • Literaturverzeichnis
  • Veröffentlichte Werke Joseph Wittigs
  • Ungedruckte Quellen (Chroniken, Texte, Briefe und Dokumente)
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Sekundärliteratur
  • Personenregister
  • Reihenübersicht

Einstimmung

1.Was uns bewegt

1.1. Die Not unserer Zeit

Im Mai 1944 schrieb nach gut einjähriger Haft im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Tegel der Pfarrer, Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) in einem vermächtnisartigen Text zum Tauftag seines Patenkindes jene Sätze, die sich heute gut sieben Jahrzehnte später als eine der klarsichtigsten Diagnosen der Krise des abendländischen Christentums darstellen. „Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun“.1 Für Bonhoeffer bedeutete das praktische und theoretische Versagen der Kirche angesichts der Herausforderungen durch die Ideologie des Nationalsozialismus ein klares Indiz für einen notwendigen Paradigmenwechsel in Theologie und Kirche. Bonhoeffer spricht in diesem Zusammenhang von der Schuld der Kirche und der Christen, weshalb er ein Schuldbekenntnis für die Voraussetzung jedweder Neuordnung der Kirche nach dem zweiten Weltkrieg hielt.2 Dazu ist es wie bekannt nach 1945 nicht gekommen.3 Stattdessen hat sich Bonhoeffers Prophezeiung nahezu wörtlich erfüllt. Der in seinem Sinne vorzeitige Versuch, „ihr [der Kirche – C.L.] zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen“, statt gehorsam im Beten und im Tun des Gerechten zu verharren, hat den Prozess ihrer Umkehr und Läuterung verzögert bis zum heutigen Tage.4 Die Folgen sind offenkundig. Die über Jahrhunderte gewachsene institutionelle Gestalt der Kirche zerbricht. Trotz zahlloser Anpassungsversuche an den Zeitgeist, trotz Anwendung betriebswirtschaftlicher Kriterien auf die Organisation kirchlichen Lebens und trotz vielstimmiger Appelle zu einer notwendigen Modernisierung, die regelmäßig verbunden werden mit der Aufforderung, diese oder jene überkommenen Dogmen nun endlich über Bord gehen zu lassen oder sich von ihnen zu verabschieden, verlassen immer mehr Menschen die Institution Kirche oder gehen zumindest innerlich auf große Distanz zu ihr. Gleichzeitig erreicht das theologische Nachdenken nicht mehr das Leben der Gläubigen. In dieser Umbruchsphase gilt es zunächst, erneut den Blick auf die Anfänge unseres Glaubens zu richten und kurz den Weg zu skizzieren, den der Glaube seit der Erscheinung des Juden Jesus aus Nazareth genommen hat. Das dient der Vergewisserung über die uns als Christen allen gemeinsame Herkunft. Danach fragen wir, wie es um die Quellgründe unseres Glaubens steht. Der Ursprung ist zu beschreiben, aus dem heraus dann auch Theologie wieder neu geboren werden kann. Das Lebens- und Glaubenszeugnis des katholischen Priesters, Theologen und Schriftstellers Joseph Wittig bietet uns dafür nicht zuletzt wegen seiner Verschränkung von Leben und Lehre, von Biographie und Theologie ein bislang völlig unausgeschöpftes Material. Indem wir sein Leben nachzeichnen, den Begegnungen mit anderen Zeugen des Glaubens nachspüren und seine wesentlichen Werke historisch und theologisch analysieren, möchten wir den theologischen Ertrag seines Lebenszeugnisses wieder in den gegenwärtigen Diskurs um Glauben und Kirche einbringen. In seinem Lebenszeugnis hat eine Theologie Gestalt angenommen, die dem Leben des Glaubens gehorsam nach-denkt und es verantwortlich so bezeugt, dass dieses Leben weitergegeben werden kann an künftige Generationen. Weil dieses Zeugnis in einer äußeren Gestalt vorliegt, die geprägt ist von dem Lebensraum Wittigs in Schlesien und von dessen Frömmigkeit ebenso wie von den persönlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen seiner Lebenszeit, ist es authentisch, bedarf aber, um heute ca. ein Jahrhundert später wirken zu können, der historisch genauen, behutsamen Interpretation. Wir möchten mit dieser Arbeit – um ein Bild zu benutzen – einen indessen fast verschütteten Brunnen freilegen, damit aus dessen frischem Wasser auch unser eigener Glaube an den mütterlichen Vater im Himmel sich erneuern und vor der Welt theologisch verantworten kann. Dazu ist es nötig, das in der Begegnung mit dieser Theologie Gelernte bereits in der Art der Darstellung zum Ausdruck zu bringen. Dem dienen nicht nur der etwas ungewöhnliche Eingangsteil unter der Überschrift „Einstimmung“ mit den Kapiteln „Was uns bewegt“, „Vorausgesetztes“ und „Ortsbestimmung“, sondern im zweiten Hauptteil auch der Versuch, das jeweilige Ergebnis der Werkanalyse und Interpretation in theologischen Thesen zusammenzufassen, die sich am traditionellen Glaubensbekenntnis orientieren, dieses aber in einer neuen Ausdrucksweise zu Gehör bringen möchten.

1.2. Unsere Herkunft

Als mit der Erscheinung des Juden Jesus aus Nazareth das Christentum eintrat in die Geschichte der Welt, überwand es die Gesamtheit der antiken Lebenswelten durch eine neue Sprache. Diese neue Sprache, genauer: ein neues Sprechen mit und von dem, den die Menschen „Gott“ nannten, eröffnete inmitten einer vergehenden Weltzeit neue Zukunft und führte eine neue Weltzeit herauf, weshalb wir heute zu Recht die Zeit nach der Erscheinung Jesu Christi zählen. Jesus eröffnete die neue Zukunft damit, dass er „Gott“ als seinen „lieben Vater“ anredete. So gab er ihm einen neuen Namen. Wie das in dieser Ausschließlichkeit neu war, zeigt sich daran, dass dieser neue Name Gottes noch in den Paulusbriefen, also in einem griechischen Text, in aramäischen Worten auftaucht: „abba das ist: lieber Vater“ (Gal 4,6). Mit diesem neuen Namen machte Jesus endgültig deutlich, dass das Wort „Gott“ eine Bezeichnung ist. Jesus brauchte diesen neuen Namen als Anrede und gab ihn den Seinen zum Gebrauch frei, weil er selbst zuvor angeredet worden war als „mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“ (Mk 1,11). Er war vom Vater den Seinen vorgestellt worden als „mein lieber Sohn, den ihr hören sollt“ (Mk 9,7). Am Ende seines irdisch wahrnehmbaren Lebens wurde schließlich das Bekenntnis laut: „Dieser ist wahrlich Gottes Sohn.“ (Mk 15,39). Dass er nicht nur Gottes Sohn gewesen ist, wie das dem römischen Hauptmann angesichts der Kreuzigung Jesu in den Mund gelegte Bekenntnis genau lautet, sondern dass er Gottes Sohn heute ist und in alle Ewigkeit sein wird, das bekennt seither die Christenheit von ihm, wenn sie sagt: Den (den ihr gekreuzigt habt) hat der Vater von den Toten auferweckt (vgl. Apg 2,23f.). So ist er in Wahrheit zukünftig für alle Zeiten und Räume dieser Welt, denn es gibt keine Zukunft außer durch den Tod hindurch.

Jesu zukunfteröffnendes Sprechen von „Gott“ als von seinem Vater war als Anrede seinerseits die angemessene Antwort auf des Vaters zuvor ergangene Anrede an Jesus. In dieser Anrede durch den Vater gründet sein Leben. Dank dieser Anrede ist er der „Sohn“. Das bezeugte er den Menschen, indem er von ihm, den die Menschen „Gott“ nannten, als von seinem und ihrem lieben Vater sprach und ihnen zugleich mit seinem Leben, Sterben und Auferwecktwerden so nahe war, wie der Vater ihm. So ermöglichte er ihnen jene Erfahrung, die er selbst mit dem Vater gemacht hatte. Das kam zur Sprache in dem Bekenntnis: „Gott war in Christus …“ (2 Kor 5,19) oder: Der Jude Jesus aus Nazareth ist der Christus und als solcher Sohn Gottes (vgl. Röm 1,3ff.).

Mit diesem Bekenntnis hat die Kirche in zwei Schritten die alte Welt überwunden5 und zugleich das Erbe Israels angetreten.

Im ersten Jahrtausend nach Christus hat sie die antike Welt der vielen Götter überwunden hin zu dem einen Gott in Christus und damit das Heidentum als gestaltende Kraft besiegt. Die Strukturen dieser „alten Welt“, bisher zwingender Rahmen für alle Gestaltungen des Lebens (Gesetz), sind nunmehr offen für ganz neues Leben. Sie können nun von uns durch ein Leben in der Nachfolge Christi überwunden und außer Kraft gesetzt werden. An ihrer Stelle wachsen seither die Strukturen einer neuen Welt.

Im zweiten Jahrtausend hat die Kirche die Vielfalt der Welt in ihren natürlichen Gegebenheiten und in ihren menschlichen Schöpfungen überwunden hin zu der einen Welt, die der eine Gott in Christus geschaffen hat. Damit hat sie die Welt entgöttert und dem Zugriff des Menschen überlassen. Dieser Prozess der Säkularisierung ist in eins ein Prozess wachsender Freiheit und ein Prozess zunehmender Gefährdungen. Er scheint in unseren Tagen an sein „natürliches Ende“ zu gelangen. Wir stehen nun an einer Zeitenwende. Unsere Welt ist in eine Krise eingetreten6, die ein neues Zeitalter heraufführen wird. Die geschichtlich gewachsenen Gestaltungen, die diesen Prozess einer doppelten Überwindung ermöglichten und absicherten, verlieren allmählich ihre prägende Kraft. Zugleich erkennen wir den Preis, der zu zahlen war, damit das Bekenntnis zu dem Juden Jesus als dem Christus, dem Sohn Gottes, alle Zeiten und Räume dieser Welt hinein reißen konnte in die in Jesus angebrochene Fülle der Zeiten.

Jesu Sprechen mit und von „Gott“ als dem Vater musste übersetzt werden in die vielen natürlichen und künstlichen Sprachen der Welt. Im Vorgang der Übersetzung aber verlor dieses neue Sprechen mit der Zeit seine Unmittelbarkeit. Neben die direkte Anrede an „Gott“ trat notwendig das begriffliche Reden von und über „Gott“, das wir Theologie nennen. Das begriffliche Reden löste sich mehr und mehr von der ihm zugrunde liegenden Erfahrung eigenen Angeredetseins. Dadurch begann der lebendige Strom der Sprache auszutrocknen. Indessen haben wir weithin die Worte verloren, die es uns erlauben, unmittelbar aus der Anrede des Vaters zu leben. Was wir Leben nennen, soll aus den schmalen Rinnsalen vermittelnder Rede über Gott quellen und dem Verstand Rechenschaft geben. Gebet, Lob und Klage, Ruf und Bitte, heischender Befehl und prophetisches Wort sind nicht mehr organischer Bestandteil der Theologie in allen ihren Vollzügen. Sie sind bestenfalls abgedrängt worden in den Teilbereich einer „praktischen Theologie“, wenn sie nicht nur noch als Erscheinungsformen persönlicher Frömmigkeit ein theologisches Schattendasein führen. Die begriffliche Aussage über Gott, der Lehrsatz, hat die Herrschaft angetreten über den Glauben. Der Geist des Menschen versucht, den Geist Gottes zu meistern. Die Beziehung zwischen Theologie, wie sie gegenwärtig an Universitäten und Hochschulen gelehrt wird, und dem Glauben ist fraglich geworden. Ohne Zweifel ist Theologie immer auch und notwendig Lehre, geronnene Erfahrung, redet daher verallgemeinernd und vermittelnd auch über Gott. Bindet sie sich aber nicht aus freien Stücken zurück an die unmittelbar erfahrungsgesättigten Sprachvollzüge des Glaubens, so vermag sie nicht mehr den garstigen Graben zu überspringen zwischen meinem Leben heute und dem Leben Jesu. Damit aber nimmt sie sich heraus aus dem lebendigen Glauben. Solche ausschließlich auf Lehre fixierte Theologie verantwortet sich wohl vor der Vergangenheit, hat aber eben darin keine Zukunft mehr. Sie ist nur noch Nach-denken (= dem Leben und den vergangenen Erfahrungen nachdenken), erhebt aber gerade in dieser Gestalt den für das Leben tödlichen Anspruch, Vor-denken zu sein, d. h. das Leben zu bestimmen und für das Glauben als Maßstab zu dienen. Damit entwertet sie die lebendigen Erfahrungen des Glaubens, die doch allemal das Erste und Entscheidende sind. Wenn aber unsere Erfahrungen theologisch für irrelevant erklärt und allenfalls einer nachträglichen Bewertung unterzogen werden, verlernen wir es, unsere Erfahrungen in Worte zu fassen und dem Denken vorzuordnen. Wir haben zwar Erfahrungen gemacht. Aber wir messen ihnen keine Bedeutung bei. Unser Herz bleibt leer. Unser Kopf indessen quillt über und vermag die Fülle der Erkenntnisse nicht mehr zu fassen, geschweige denn zu ordnen. Herausgefallen aus der Mitte der Zeit droht uns die uns durch Offenbarung gegebene Orientierung unseres Lebens verloren zu gehen. Wir müssen die Unmittelbarkeit des Sprechens Jesu mit Gott für unseren Alltag wieder gewinnen, indem wir uns wieder neu als von Gott Angesprochene erfahren und daraus unser Leben in Gemeinschaft mit der ganzen Schöpfung neu gestalten.

1.3. Was uns heute not tut – den Tod ins Leben hinein nehmen

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts werden sie immer wieder hörbar, die Stimmen jener, die der Einsicht Ausdruck verleihen, dass mit dem Ende des zweiten Jahrtausends nach Christus auf die Kirche wie die Welt das zukommt, was man einen „Paradigmenwechsel“ nennt. Im ersten Jahrtausend hatte die Menschheit den zweiten Artikel des christlichen Glaubensbekenntnisses buchstabiert und damit für alle Zeiten im trinitarischen Bekenntnis den Ursprung der neuen Zeit und aller Zukunft festgeschrieben. Sodann hatte sie im zweiten Jahrtausend nach Christus auf dieser sicheren Grundlage den Auftrag angenommen: „Machet euch die Erde untertan …!“ (Gen 1). Indem sie den ersten Artikel des Glaubensbekenntnisses in vielerlei Zungen und Sprachen letztlich einheitlich bezeugte, hat sie diesen Auftrag im Wesentlichen erfüllt. Die eine Welt hat dadurch für uns einen Namen bekommen. Sie ist Schöpfung und zugleich im Namen Gottes uns anvertraut. Nun ist die Menschheit gefordert, den Artikel vom Geist Gottes, dem Geist, der vom Vater ausgeht, der durch den Vater und den Sohn wirkt, und der uns alle samt aller Schöpfung begeistern und in uns wohnen will, mit ihrem ganzen Leben zu bezeugen und so zu der Einheit heimzukehren, in der endlich Gott sein wird alles in allem.

Krise heißt: Wir stehen nicht nur als Einzelne, sondern global an der Schwelle einer Todeserfahrung. Wie wir sie bestehen, davon wird die Zukunft abhängen, die unsere Welt haben wird. Die Institutionen von Staat und Kirche haben keine Macht mehr über die Seelen der Einzelnen. Sie sterben in der Seele des Menschen. Die Indizien dafür sind jedermann erkennbar: Menschen treten zahlreicher als bisher aus der Institution Kirche aus, während zugleich das Bedürfnis nach Spiritualität wächst und das religiöse Leben sich in zahlreichen Formen ausdifferenziert. Auch das Interesse an der Person Jesu erwacht neu. Verbunden damit ist eine sowohl den Staat wie die Kirche ergreifende Autoritätskrise. Hinter ihr verbirgt sich die Frage nach wirklicher Vollmacht. Die zunehmende Undurchschaubarkeit der in der Regel immer mehr zentralisierten Organisationsstrukturen führt bei den einzelnen Menschen zum Gefühl einer Entmündigung. Sich diesen Strukturen zu entziehen, bedeutet Freiheit. Das wiederum fördert die Austrittsbewegung. Soll aus diesen Todeserfahrungen neues Leben erwachsen, bedürfen wir aufs Neue einer Sinn und Identität stiftenden Anrede. Wir müssen das „Du“ wieder vernehmen, mit dem wir angesprochen und ernannt werden zu eigenverantwortlichen Personen, damit wir neu lernen, verantwortlich „Ich“ zu sagen.7 Das ist die Voraussetzung dafür, dass andere Menschen unser Zeugnis annehmen und einstimmen können in ein „Wir“, damit sich schließlich die uns gegebene und von uns bezeugte Einsicht von uns ablösen und verallgemeinert werden kann, so dass über sie als ein „Es“ gesprochen werden kann. So wird uns der Strom lebendiger Sprache wieder ergreifen. Unser Herz wird voll werden und unser Mund übergehen vom Lob unseres „mütterlichen Vaters in den Himmeln“8, der uns die Fülle der Zeit offenbar gemacht hat im Leben, Sterben und Auferwecktwerden unseres Herrn und Bruders Jesus Christus. Auf diese Weise gewinnen wir das einst so neue zukunfteröffnende und orientierende Sprechen mit und von „Gott“ wieder und werden hineingenommen in den lebendigen Sprachstrom Jesu.

1.4. Die Zeugen neuen Lebens

Dankbar bekennen wir, dass wir am Beginn des dritten Jahrtausends nicht ohne Zeugen dieser neuen Sprache sind. Lob und Klage, Aufruf und prophetisches Wort sind nach wie vor unter uns lebendig. Es gilt sie aufzuspüren bei jenen, die vom lebendigen Sprachstrom Jesu ergriffen sind, weil sie die Erfahrung des Todes in ihr Leben hinein genommen haben und so sich selber überlebten. Einer dieser Zeugen ist der Priester, Kirchenhistoriker und Schriftsteller Joseph Wittig (1879–1949). Seine erste und wichtigste Todeserfahrung, die Austreibung aus der Kirche, der er, innerlich zutiefst in ihr verwurzelt, sein ganzes Leben übergeben hatte, hat sein Freund und Kollege an der Universität Breslau, der Rechtshistoriker, Soziologe und Theologe Eugen Rosenstock-Huessy, in einem Aufsatz unter dem Titel „Religio depopulata“9 analysiert. Der Titel dieser Studie geht zurück auf eine alte Prophezeiung, der zufolge unter den letzten Päpsten der Endzeit die Kirche ihr Volk verlieren werde. Konnte man nach dem II. Vatikanischen Konzil hoffen, der Fall „Joseph Wittig“ erweise sich sozusagen als ein Betriebsunfall – noch 1979 gab Rudolf Hermeier10 dem Ausdruck, wenn er davon sprach, dieser Fall gehöre nun endgültig der Vergangenheit an11 –, so wissen wir indessen, dass dies keineswegs der Fall war. Für den Raum der katholischen Kirche seien nur die Namen Edward Schillebeeckx (1914–2009), Adolf Holl (geb. 1930), Hans Küng (geb. 1928), Jaques Pohier (1871–1956), Eugen Drewermann (geb. 1940) und Leonardo Boff (geb. 1938) erwähnt. Aber auch im protestantischen Raum mehrten sich warnende Stimmen. Nicht zufällig hat der bedeutende evangelische Publizist Eberhard Stammler (1915–2004)12 die Bilanz seines Lebens unter dem Titel „Kirche ohne Volk?“ erscheinen lassen. Zuletzt schließlich zeigte der politische Niedergang der unmittelbar durch die Grosse Sozialistische Oktoberrevolution geprägten Welt Osteuropas und der Zusammenbruch ihrer Ideologie, was nicht nur viele Christen in der DDR schon immer wussten, dass deren Religionsfeindlichkeit bis hin zu einem militanten Atheismus zwar das Zerbrechen der tradierten volkskirchlichen Strukturen in diesem Raum beschleunigte, keineswegs aber als deren Ursache anzusehen ist. Damit ist bestätigt, was sich aus der Geschichte immer wieder belegen lässt: Die Kirche Jesu Christi ist nicht von außen gefährdet, sondern aus sich heraus und dies immer dann, wenn sie die ihr gebotene Nachfolge verweigert. Mit anderen Worten: Die Kirchen stehen vor einer ihre Gestalt grundsätzlich wandelnden Entscheidung. Beharren sie auf den tradierten Strukturen, werden sie mit dieser Welt vergehen. Nehmen sie dagegen deren Tod in ihr Leben hinein, können sie Zukunft gewinnen zum ewigen Leben.

Auch die zweite Todeserfahrung Wittigs ist von entscheidender Bedeutung. Vertreibung und Flucht aus der irdischen Heimat lassen auf zugespitzte Weise erkennen, dass die Pilgerschaft zum Leben des Glaubens existenziell hinzugehört. In einer sich immer schneller und immer radikaler wandelnden Welt, die räumlich immer enger zusammenrückt und in der die Mobilität der Menschen immer mehr zunimmt, eröffnet die leibhafte Erinnerung an unsere immerwährende Pilgerschaft einen neuen Zugang und Umgang mit diesen Erfahrungen. Insofern kommt dem „Fall Wittig“ und dem Lebenszeugnis dieses Priesters, Theologen und Schriftstellers bis zum heutigen Tage eine wegweisende Bedeutung zu. Die Untersuchung seines Lebenszeugnisses leistet gleichsam eine Art Geburtshilfe. Sie fördert die Ursprünge und Elemente jenes die Zukunft eröffnenden Sprechens mit und von „Gott“ zutage und bereitet damit auch einer neuen Gestalt von Theologie den Weg. Am Lebenszeugnis Wittigs wird uns anschaulich vor Augen geführt, dass vor allem Nachdenken und aller Theologie die eigenen Glaubenserfahrungen liegen. Denn aus ihnen wächst jenes neue Sprechen. Dazu ist es nötig, sich einige vorauszusetzende, weil uns und unserem Leben vorausgesetzte Einsichten wieder ins Bewusstsein zu rufen. Deren wichtigste steht im ersten Kapitel des Johannesevangeliums. Dort heißt es: „Im Anfang war das Wort“ (Joh 1,1). Mit Eugen Rosenstock-Huessy ziehen wir daraus die Schlussfolgerung: Aus dem Wort kommt unser Leben und im Vollzug des Wortes hat es Bestand, wird der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft mächtig.13 Rosenstock-Huessys hilfreichen Erkenntnissen, die sich auf jenen Ursprung unseres Lebens im Wort gründen, werden wir am Anfang unserer Untersuchung noch ein Stück nachzugehen haben. Sie sind zugleich auch eine Voraussetzung für das Verständnis des Lebenszeugnisses von Joseph Wittig. Erst wenn diese Einsicht in den Ursprung unseres Lebens unser Denken bestimmt, werden wir zu jener neuen alten Sprache finden, der Sprache Jesu, von der Dietrich Bonhoeffer kurz vor seinem Tode, also im Angesicht jenes Geschehens, das uns wahrhaft zukunftssichtig macht, hoffte, der Tag werde kommen, „an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert“.14 Schon Bonhoeffer vermutete, es werde dies eine für uns neue Sprache sein, „vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend, wie die Sprache Jesu, dass sich die Menschen über sie entsetzen und doch von ihrer Gewalt überwunden werden, die Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit, die Sprache, die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündigt“.15 Es ist gewiss kein Zufall, dass solche Zukunftssichtigkeit einher geht mit scharfer Kritik an der bestehenden Kirche und den derzeitigen Strukturen neuzeitlichen Christentums.16 Dabei geht es nicht darum, rückwirkend irgendwelche Fehlentwicklungen festzustellen. Entscheidend ist vielmehr die Diagnose, dass eine bestimmte geschichtliche Entwicklung gegenwärtig an ihr Ende gekommen ist und das es infolgedessen nötig ist, aufgrund einer neuen Standortbestimmung zu sagen, was angesichts dessen nun geboten ist. Ausgangspunkt der Kritik ist die Erwartung einer neuen Weltepoche. Kritisiert wird darum auch nicht zuerst das, was war, mag es doch in seiner Zeit seine Berechtigung gehabt haben. Kritisiert wird vielmehr eine Haltung, die das, was war, in die Zukunft hinein verewigen möchte und gerade so die uns von Gott eröffnete Zukunft angesichts einer sich radikal wandelnden Welt verspielt. Dazu gehören im Christentum unter anderem auch das Gegeneinander der Konfessionen und natürlich das in langen Jahrhunderten gewachsene Verhältnis von Kirche und Staat. Gerade im Blick auf Letzteres lässt sich das an einem in mehrere Hinsicht interessanten Beispiel zeigen. Wir denken hier an die in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor allem unter Christen in der DDR aufkommende Rede vom „Ende des Konstantinischen Zeitalters“. Diese Proklamation hatte seinerzeit durchaus ihre Berechtigung. So erklärte beispielsweise der Cottbuser Generalsuperintendent Günter Jacob (1906–1993)17 in seinem Aufsehen erregenden Vortrag unter dem Titel: „Der Raum für das Evangelium in Ost und West“ auf der EKD-Synode in Spandau 1956: „Wir stehen vor der Frage, ob wir im Bannkreis einer langen Überlieferung die konstantinische Konzeption von einer durch das Christentum bestimmten Ära weiterhin festhalten und sie vielleicht gegen alle Abfallprozesse und Zersetzungserscheinungen mit Tapferkeit und Starrsinn verteidigen wollen, oder ob wir jenes konstantinische Vorzeichen heute in einer an die Wurzel gehenden theologischen Besinnung in seiner Fragwürdigkeit durchschauen und abweisen wollen.“18 Dies war in der zweiten Hälfte der fünziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ein fast prophetisch zu nennendes wegweisendes Wort. Heute wird es leider vor allem verstanden im Sinne einer rückwärtsgewandten Kritik an einer mit Konstantin einsetzenden kirchlichen Fehlentwicklung. Statt dessen wäre es an der Zeit, eine in die Zukunft blickende Vision der Gestalt von Kirche zu entwickeln, weil die uns überlieferte Gestalt der Kirche im gegenüber zum Staat keine Zukunft mehr hat.

Das Lebenszeugnis Joseph Wittigs kann unseren Horizont öffnen, indem es uns nicht nur wieder eintauchen lässt in den lebendigen Strom des durch Jesus ein für allemal erneuerten Sprechens mit und von „Gott“ als unserem Vater. Es lässt uns auch eine Ahnung bekommen von der Gestalt einer künftigen Una Sancta Ecclesia, die den Herausforderungen des 3. Jahrtausends nach der Erscheinung Jesu Christi gewachsen ist.

2. Vorausgesetztes: „Am Anfang war das Wort“ oder: Was ich von Eugen Rosenstock-Huessy gelernt habe!

Am Anfang sind wir einander schuldig, uns zu sagen, woher wir kommen. Unser Reden ist nicht voraussetzungslos. Unser Denken, Reden und Schreiben, auch wenn es das Gewand einer wissenschaftlichen Untersuchung trägt, macht Voraussetzungen. Sie zu kennen, erleichtert das Verstehen. Wir haben eingangs das leitende Interesse bei der Untersuchung von Wittigs Lebenszeugnis benannt. Nun ist auf wesentliche Voraussetzungen hinzuweisen.

Die alles entscheidende Voraussetzung dieser Untersuchung besteht darin, dass sie Teil eines Gespräches ist, in das mich Joseph Wittig gezogen hat und immer noch zieht. Natürlich geschah dies nicht unmittelbar. Joseph Wittig ist 1949 im Alter von 70 Jahren gestorben. Allerdings hat es leibhaftige Gespräche gegeben mit seiner Frau Anka Wittig. Als ich sie 1985/86 persönlich kennen lernte, lebte sie hoch betagt in Meschede, jenem Ort, der ein letzter Fluchtpunkt werden sollte für den aus seiner Heimat Schlesien Vertriebenen. Von 1996 bis zu ihrem Tode 1998 wohnte sie dann in Soest, in der Nähe ihrer Tochter Bianca-Maria Prinz, geb. Wittig. Mit ihr sind wir seither im Gespräch, und dieses Gespräch dauert bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt an. Doch lange vor diesen leibhaftigen Gesprächen sind mir die Bücher Wittigs begegnet, immer wieder zu verschiedenen Zeiten. Die Untersuchung, die hier vorgelegt wird, ist mein bisheriger dokumentierbarer Teil an diesem Gespräch, also im strengen Sinne noch nicht abgeschlossen, sondern ein momentanes Innehalten in einem andauernden Prozess.

Einem Gespräch eignet es, dass die Anteile der Partner nicht immer reinlich zu trennen sind. Das scheint wissenschaftlichem Brauch gegenwärtig noch immer zu widersprechen. Insofern erhebt diese Untersuchung einen Anspruch: Sie will unter anderem auch dazu beitragen, dass in Zukunft solche Gespräche wissenschaftlich ernst genommen werden, will also helfen, einem lebendigeren, weil dialogischen Verständnis von Wissenschaft den Weg zu bereiten. Dass solches möglich ist, habe ich bei Eugen Rosenstock-Huessy gelernt. Das bei ihm Gelernte gehört zu den wesentlichen Voraussetzungen dieser Untersuchung. Darum auch muss es an dieser Stelle vor allen anderen Voraussetzungen benannt werden.19 Das Werk Eugen Rosenstock-Huessys ist noch immer ein „Geheimtipp“. Deshalb ist es notwendig, an dieser Stelle etwas ausführlicher zu werden, geht es doch um vollmächtiges Leben, das aus dem Wort kommt, uns in die Zeit und in den Raum einweist, in dem wir leben sollen, und uns so vollendet zum Ebenbild Gottes. Hinzu kommt, dass die Begegnung mit Rosenstock-Huessy auch für das Leben Joseph Wittigs eine prägende Bedeutung hatte.20 So wird der Boden dafür bereitet, Wittigs Lebenszeugnis selbst besser zu verstehen.

2.1. Von der Sprache, die uns gegeben ist

Die artikulierte menschliche Sprache entwickelt sich nicht aus der Nachahmung von Tierlauten oder aus Interjektionen präformalen Erlebens. Sie baut sich nicht auf Wort- und Begriffsbildungen auf. Vielmehr hat sie ihren Ursprung im Namensaufruf und entsteht aus den Riten, in denen der Stammeskrieger die Geister der Ahnen und der Reichsbürger die waltenden Gestirne anruft und ihre Antwort erheischt, vorab angesichts des Todes und im Dienst der Einweihung in die Gemeinschaft sowie der Eheschließung. Daher ist der Sprachprozess als in Gott entsprungen zu erkennen. „Sprache ist ein Kontinuum“.21 Der Mensch tritt durch den Anruf Gottes in den Sprachprozess ein. Nur dadurch kann der Mensch selber sprechen und dann auch denken. Sprache geht vor Denken und ist kein dem Menschen selbstverständlich verfügbares Mittel. Der Imperativ ist die Urform alles vollmächtigen Sprechens. Infolgedessen kann der Mensch nicht als Einzelwesen betrachtet werden. Er ist auf Gemeinschaft, auf den Mitmenschen angewiesen. Hier hat alle Soziologie ihren Ursprung. Als Angesprochene kommen wir zum Leben und sprechend leben wir. So entsprechen wir der kreuzförmigen Raum-Zeit-Ordnung der geschaffenen Welt. Rosenstock-Huessy spricht vom „Kreuz der Wirklichkeit“. Hinein genommen in den Prozess lebendigen Sprechens leben wir vorwärts und rückwärts, einwärts und auswärts:22

Wir leben vorwärts, d. h. vorausleben: Ein Mensch wird angesprochen. Zu ihm wird „Du“ gesagt, vielleicht: „Ich liebe Dich!“ Er wird ernannt, damit über sich selbst hinausgeworfen. Er ist Präjekt.

Wir leben einwärts, d. h. nach innen leben: Der Angesprochene antwortet. Er sagt: „Hier bin ich!“ Er bekennt sich zu seiner Ernennung. Er bezeugt sie. So wird er Subjekt.

Wir leben rückwärts, d. h. überleben, auch zurück leben: Der Angesprochene und Antwortgebende öffnet sich, sodass Andere einstimmen können, sich mitteilen, damit sich Institutionen bilden. Andere Menschen nehmen so das Zeugnis an, bestätigen es, sagen „wir“. So beginnt ein Mensch sich zu überleben. Er ist Trajekt.

Wir leben auswärts d. h. nach außen leben: Der Mensch wird enteignet. Seine Erkenntnisse, seine Einsichten lösen sich von ihm. Sie werden verallgemeinert. Nun kann ES besprochen werden. ES gehört zum Erbe der Menschheit. Der Mensch ist Objekt geworden. Man spricht über ihn.

Wer diese vier Phasen durchlaufen hat, lebt wirklich.

Neben dem vierfältigen „Kreuz der Wirklichkeit“ gehört die „Dreifältigkeit“ zur Grundverfassung alles Seienden.

So lehrt die Sprache den Menschen zu unterscheiden zwischen Gott, Mensch und Welt.

Zu Gott beten wir.

Mit unseren Mitmenschen sprechen wir.

Über die Welt der Dinge reden wir.

Und sie lehrt den Menschen der Zeit mächtig zu werden in der Kraft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Als das Wort Fleisch wurde, trat Gott selbst in den Sprachprozess ein und heilte ihn, versöhnte so die Welt mit sich selbst und hat unter uns Menschen das Amt der Versöhnung aufgerichtet. In der Taufe ernennt er uns Menschen zu seinen Töchtern und Söhnen, indem er uns aus dieser Welt herauserlöst und in die Fülle der Zeiten einberuft zu vollmächtigem Sprechen und zu ewigem Leben. „Wir glauben, dass im Anfang das Wort war und am Ende die Inkarnation sein wird, weil die uns geschenkte Weitergeburt des Wortes in jeder Generation durch Christus unserer nackten Geburt hinzugefügt wird. Weitersager Mensch als des Menschen Sohn fing er an und als das Wort vollendet er uns zu Gottes Geschlecht.“23

2.2. Von Glaube, Hoffnung und Liebe oder: Wie wir zeitmächtig leben – eine Auslegung von 1. Korinther 13.

Mit dem letzten Vers im dreizehnten Kapitel des ersten Korintherbriefes spricht Paulus das Geheimnis erfüllten Lebens und in eins damit das Geheimnis des dreieinigen Gottes als des lebendigen Gottes aus. Paulus ruft die Gemeinde mit diesen Worten unter die dreifältige Macht wirklichen Lebens. Denn um Mächte handelt es sich, die Paulus aufruft, keineswegs um Haltungen oder Tugenden, die zu erringen und also zu haben uns angeraten wird.24 Liegt es doch gar nicht in unserer Macht, zu allen Zeiten zu glauben, zu hoffen und zu lieben. Nicht wir haben Glauben, Hoffnung und Liebe, sondern wenn es gut geht haben sie uns. Es sind Mächte, die unseren Weg bestimmen und denen gegenüber wir nur die Freiheit haben, uns ihnen zu entziehen. Wo wir es tun, tun wir es um den Preis des Lebens. Diesen Mächten entzogen schwindet unser Leben hin in den uns wie Sand zwischen den Fingern zerrinnenden Zeiten. Einzig diese drei können uns helfen, die Zeit zusammenzuhalten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft so aufeinander zu beziehen, dass wir in der Zeit als erfüllter Zeit zu leben vermögen. Hoffnung, Liebe und Glaube sind Zeitmächte. Sie ordnen die Zeit menschlichen Lebens auf das Heil der „Fülle der Zeiten“ hin.

Der Mensch kommt her aus der Vergangenheit. Er möchte hoffend bewahren, was ihm aus der Vergangenheit wichtig ist. Voller Dankbarkeit hält er fest an seiner Herkunft und gründet darauf seine Hoffnung. Darum heißt es im Bekenntnis der Christenheit: Ich glaube an Gott, den Vater. Der hat mich gewollt. Von ihm komme ich her. Er hat mich lieb. Er erhält und bewahrt mich. Er ist der Schöpfer, der diese Welt durch sein Wort ins Dasein gerufen hat und sie noch erhält. Er hat sie geschaffen als Paradies, weshalb Christen, Juden und auch Muslime gemeinsam auf dieses Paradies hoffen. In ihrer Hoffnung spricht sich aus, was um Gottes und der Welt willen erhalten bleiben oder wiederkommen muss. Hoffnung blickt in die Vergangenheit und findet dort das Beste, das zugleich das im irdischen Sinne Höchste ist, wessen wir uns erfreuen können. Das sucht sie zu bewahren oder – falls es verloren ging – wiederherzustellen.25

Der Mensch lebt gegenwärtig und möchte in der Gegenwart Stand fassen. Sie allein ist ihm als Raum des Handelns gegeben. Wirklich hier und jetzt leben, d. h.: sich in Liebe zu mühen, die Gegenwart zu meistern. In Liebe sich mühen kann nur, wer auf eine Gemeinschaft bezogen lebt, wo er Liebe empfängt und Liebe weitergibt. Deshalb heißt es im Bekenntnis der Christenheit: Ich glaube an den Heiligen Geist. Der eint mich mit Schwestern und Brüdern. Der stiftet so immer neu über alle Grenzen hinweg Gemeinschaft. Wo Gott seinen Geist ausgehen lässt, erneuert sich das Angesicht der Erde.

Der Mensch geht in eine Zukunft, die er nicht kennt. Will er das voller Zuversicht tun, ist das nur kraft des Glaubens möglich. Denn es ist eine Zukunft, die durch den Tod führt. Da erlöschen alle Bilder der Hoffnung. Da zerbrechen alle Vorstellungen. Angesichts dessen Zuversicht zu haben, d. h.: sich darauf verlassen, dass wir Töchter und Söhne des Vaters im Himmel sind und bleiben, was immer geschehen wird. Deshalb heißt es im Bekenntnis der Christenheit: Ich glaube an Jesus Christus, Gottes Sohn unseren Herrn und Bruder. In ihm ist Gott uns als Vater nahe gekommen. In ihm hat der Vater sein Leben unter uns Menschen, seinen Geschöpfen, angetreten. Er hat in der Kraft des Geistes den Tod überwunden und ruft uns in ein neues, ewiges Leben. So hat er uns Zukunft gegeben, weit über alle unsere Hoffnungen hinaus.

So also ordnen Glaube, Hoffnung und Liebe die Gezeiten unseres Lebens zur Fülle der Zeit. Überraschend dürfte dabei die Zuordnung der Hoffnung zur Vergangenheit und des Glaubens zur Zukunft sein. Dies hat weitreichend Folgen. Rosenstock-Huessy wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass das Wort „Hoffnung“ in den Evangelien überhaupt nicht als tragender, theologischer Begriff erscheint. Freilich hätten wir auf dergleichen vorbereitet sein können. Woher soll denn die Hoffnung ihre Bilder nehmen, wenn nicht aus der Vergangenheit. Rosenstock-Huessy schreibt dazu: „Der volle Glaube (der also, der den eigenen Tod hinnimmt und eine Zukunft ohne mein Selbst) ragt in die Zukunft hinüber. Diese Zukunft ist nicht verlängerte Gegenwart. Nein, der Weg in sie wird durch meinen Tod so unterbrochen, dass meine Gegenwart jäh abbricht. Ich kann nur ‚wiederkommen‘, muss aber zunächst sterben. Daher ist das Verdienst des Glaubens um so größer, je bildloser er ist, je freier von vorgefassten Vorstellungen. […] Die Hoffnung hingegen ist nicht bildlos. Der Mensch kann nur in bestimmten Vorstellungen hoffen. […] Die Hoffnung belädt uns mit bildhaften Erwartungen. Wir hoffen uns wiederzusehen, unser Haus zu behalten, zu siegen, gesund zu bleiben. Offenbar würden wir glauben müssen auch ohne uns wiederzusehen, auch im Exil, auch in der Niederlage oder der Krankheit. […] Aber die schon geschaffene Erde ist ja nicht voll Unheils. Sie ist eben so geschaffen, dass sie verdient, wiedergesehen, behalten und genossen zu werden. Die Hoffnung sorgt also für die historische Kontinuität. Die guten Dinge, die einmal schon geschehen sind, all die Herrlichkeiten dieser Welt dürfen wiederkehren.“26 Die Liebe aber ist es, die die Mächte des Glaubens und der Hoffnung so aneinander bindet und miteinander versöhnt, dass ein Mensch in der Gegenwart frei von der Last der Vergangenheit und von der Sorge um die Zukunft voller Liebe wirken kann. Die Liebe schafft Gegenwart, jenen Zeitraum also, der allein dem Menschen als Handlungsspielraum gegeben ist. Nur jener ständig kommende und schwindende Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt in unserer Hand. Ihn versäumen heißt, sich der Möglichkeit vollmächtigen Wirkens zu begeben. Es ist das vornehmste Werk der Liebe, immer neu Gegenwart zu schaffen, die uns nicht zwischen den Fingern zerrinnt. Darum ist sie die Größte unter den dreien: Glaube, Liebe und Hoffnung.

Die hier vorgenommene Bestimmung der drei Erlebnisformen der Zeit durch deren Zuordnung zu Glauben, Liebe und Hoffnung zielt auf eine gesellschaftliche Lebensform, die den Einzelnen zu unterschiedlichen Zeiten in der diesen Zeiten gemäßen Weise zu seinem Recht kommen lässt, indem sie das Aufeinanderangewiesensein der Generationen erkennbar macht und praktisch einübt. Da kein Mensch gleichzeitig in mehreren Zeiten leben kann, sind wir immer angewiesen auf die anderen, die uns die fehlenden Zeiten zubringen und uns miteinander zu Zeitgenossen werden lassen. Zeitgenosse sein, d. h.: mit anderen Menschen in einem gemeinsamen Zeitraum leben. So ist nicht nur den Erlebnisformen der Zeit, sondern auch den Lebensaltern des Menschen je eine der drei Mächte in besonderer Weise prägend zu eigen:

dem Alter der Glaube,

der Jugend die Hoffnung,

der Mitte des Lebens die Liebe.

Schauen wir auf das, was uns durch die Evangelien vom Leben Jesu überliefert ist, so schärft sich unser Blick und wir können unterscheiden zwischen der äußerlich wahrnehmbaren und der inneren Biographie eines Menschen ebenso wie zwischen der geistlichen und der natürlichen Biographie.

„Natürlich“ ist gemäß der Zuordnung von Lebensaltern zur jeweils beherrschenden Zeitmacht die Abfolge: Hoffnung – Liebe – Glaube. Unser Leben beginnt mit dem, was aus der Vergangenheit von uns als unverzichtbar erfahren wurde und deshalb unsere Hoffnungen prägt. Es schreitet fort zum gegenwärtigen Wirken in Liebe und vollendet sich in der Öffnung auf den Glauben hin, auf das also, was der Vater im Himmel Neues tun wird.

Im uns in den Evangelien überlieferten Leben Jesu nehmen wir eine ganz andere Reihenfolge war: Liebe – Hoffnung – Glaube. Jesus tritt auf und wendet sich den Menschen in Liebe zu. Daran anschließend lehrt er seine Hoffnung auf das Reich unseres Vaters im Himmel. Sterbend am Kreuz öffnet er diese Hoffnung für den Glauben, vollendet so sein Wirken in Liebe und gewinnt ewiges Leben.

Versuchen wir aber die innere, geistliche Biographie Jesu nachzuzeichnen, so begegnet uns noch einmal eine andere Abfolge27: Glaube – Hoffnung – Liebe. Da steht am Anfang der Glaube Jesu an den Vater, gründend in den Erfahrungen seines Vorlebens, von dem die Evangelien schweigen. Dieser Glaube lässt ihn eine Hoffnung lehren, die offen ist für das, was der Vater im Himmel tut. So ist er ermächtigt, in ewiger Gegenwart voller Liebe zu wirken und darin Glaube und Hoffnung bleibend zu vollenden, indem er am Kreuz stirbt.

Auf diese Weise hat Jesus alle Zeiten durchlebt mit ganzem Einsatz, um nun in allen Zeiten zuhause zu sein als der Auferweckte und in ewiger Gegenwart voller Liebe für uns zu wirken, indem er uns jeweils die uns fehlenden Zeiten zu der Zeit, in der wir gerade leben, hinzubringt. Damit befreit er uns aus seinem jeweiligen Zeit-Gefängnis:

Den Hoffenden bringt Jesus den Glauben, dass sie sich nicht an die Bilder und Vorstellungen der Vergangenheit klammern, sondern offen werden für das, was der Vater im Himmel tun wird. So wendet er sich ihnen in Liebe zu. Wem er sich so in Liebe zugewendet hat, den braucht die Vergangenheit nicht mehr zu belasten. Der lebt in Freiheit.

Den Glaubenden bringt Jesus die Hoffnung, damit ihr Glaube der Erde verbunden bleibe, diese nicht verwerfe noch überspringe. So wendet er sich auch ihnen in Liebe zu. Wem er sich so in Liebe zugewendet hat, der braucht die Zukunft nicht mehr zu fürchten. Er braucht auch die Gegenwart um einer besseren Zukunft willen nicht zu verwerfen.

Den Liebenden aber öffnet er einen weiten Raum, indem er ihre Liebe als Brücke nutzt zwischen Hoffnung und Glauben. So verbindet er die auseinanderstrebenden Zeiten und stellt die in diesen auseinanderdriftenden Zeiten untergehenden Menschen auf einen festen Grund, damit sie wirken können in der Gegenwart und also Zeitgenossen werden.

„Liebe heißt, sich heraus sehnen aus der Selbständigkeit und den Preis zahlen für diese Befreiung aus unserem Zeitgefängnis, indem wir unsere Solidarität mit denen anerkennen, die uns die fehlenden Zeiten zubringen. Mithin ist alle Gegenwart das Überschneiden mindestens zweier, an sich getrennter Zeiten zu einer aussprechbaren gemeinsamen Zeit. Zunächst aber klaffen diese Zeiten auseinander. Diesem Überschneiden zweier Zeiten muss also erst einmal eine Kraft sich widmen. Deshalb sagt Augustinus: ‚Erst müssen Menschen durch das Band der Liebe unbedingt miteinander verknüpft sein, bevor sie zueinander mit Gewinn reden oder aufeinander hören können.‘ […] Die Liebe vergegenwärtigt die zeitlich Getrennten einander.“28

Details

Seiten
578
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631839317
ISBN (ePUB)
9783631839324
ISBN (Hardcover)
9783631839300
DOI
10.3726/b17744
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Mai)
Schlagworte
Sprachlehre des Glaubens Una Sancta Trinitarische Kreuzestheologie Materialistische Pneumatologie Kirche im Nationalsozialismus Ökumene Leben Jesu
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 578 S.

Biographische Angaben

Christian Löhr (Autor:in)

Christian Löhr (1945–2021) war Theologe und Pfarrer. Nach dem Theologiestudium arbeitete er als Pfarrer in Schwarzenberg / Erzgb. und an der Ev. St. Gotthardt- und Christuskirchengemeinde in Brandenburg an der Havel. Seine in der DDR abgelegte Qualifikationsprüfung für wissenschaftliche Forschung im Fachbereich Systematische Theologie wurde 1990 offiziell als Promotion anerkannt. Er war Gründungsmitglied des Bonhoefferkomitees beim Bund der Ev. Kirchen in der DDR und stellvertretender Vorsitzender der Deutschsprachigen Sektion der internationalen Bonhoeffergesellschaft.

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Titel: Joseph Wittig: Jenseits von Modernismus, Antimodernismus und Reformkatholizismus
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