Kulturwissenschaften der Moderne
Band 3: Das 20. Jahrhundert
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Kulturwissenschaften im 20. Jahrhundert: eine Einleitung: Peter Nitschke
- I. Das Jahrhundert der Kulturwissenschaften
- II. Das Paradigma der Kultur
- Literatur
- Plakatpropaganda im Ersten Weltkrieg: Eugen Kotte
- I. Bilder als historische Quellen – zur Entwicklung einer „visual history“
- II. Die Entwicklung des Plakats als Propagandamedium
- III. Politische Plakate im Ersten Weltkrieg
- IV. Kurze Bilanz: Das politische Plakat als historische Quelle
- Literatur
- Biologismus in den internationalen Theorien des frühen 20. Jahrhunderts: Harald Kleinschmidt
- Einleitung
- II. Internationale Theorien I: Realismus
- III. Internationale Theorie II: Funktionalismus
- IV. Unterschiede und Gemeinsamkeiten
- V. Wirkungen des Biologismus
- VI. Bedeutung der Geschichte für die Theorie
- Literatur
- Schuld ohne Gedächtnis?: Mirko Wischke
- III. Kommunikation und Existenz
- II. Schuld und Kommunikation
- III. Kommunikative Übergänge: die Untilgbarkeit von Schuld
- Literatur
- Die Vernichtung des Politischen in der totalen Herrschaft – Hannah Arendts Entdeckung einer neuen Herrschaftsform: Karl-Heinz Breier
- I. Von der Politik der Vernichtung zur Vernichtung des Politischen
- II. Die totale Herrschaft des Antipolitischen
- III. Das Recht, Rechte zu haben
- Literatur
- Von der ersten deutschen Frauenbewegung zu den Gender Studies: Corinna Onnen
- I. Die Deutsche Frauenbewegung
- I. Die Anfänge mit der Ersten Deutschen Frauenbewegung
- II. Die Zweite Deutsche Frauenbewegung
- III. Fazit
- Literatur
- Das Amt des Bundespräsidenten als Spiegelbild der politischen Kultur in Deutschland: Martin Schwarz
- I. Das Amt in seiner Begründung
- II. Das Amt in seiner Wahrnehmung
- III. Die Reichweite(n) des Amtes
- IV. Das Amt als Spiegelbild der politischen Kultur
- V. Fazit
- Literatur
- Deliberative Demokratie und aus der Globalisierung entstehender kultureller Pluralismus: Jean-Christophe Merle
- I. Deliberative Demokratie
- II. Inkompatibilitätsthese versus Verleugnung jeglicher problematischer Beziehung
- III. Wie sind Kulturen fähig, sich zu entwickeln? Bemerkungen zu den „umfassenden Lehren” (comprehensive doctrines) in Rawls’ Politischem Liberalismus
- IV. Schluss
- Literatur
- Der Untergang des Abendlandes – oder: Die Kulturprobleme der Moderne: Peter Nitschke
- IV. Jahrhundertbetrachtungen
- II. Die Vision des Untergangs
- III. Die Modellierung der Zukunft
- IV. Der Kampf um die Identität
- V. Einblicke in das 21. Jahrhundert
- Literatur
- Autorenverzeichnis
- Register
Kulturwissenschaften im 20. Jahrhundert: eine Einleitung
I.Das Jahrhundert der Kulturwissenschaften
Das 20. Jahrhundert, das gemeinhin als Höhepunkt der Moderne firmiert, ist in der Geschichte der Wissenschaften auch das Zeitalter der enormen Umbrüche: Paradigmen kommen und gehen schneller denn je. Das hat zweifellos auch etwas mit den Umbrüchen in der gesellschaftlichen wie politischen Realität zu tun. Im Zeitalter zweier Weltkriege, im Angesicht des Holocausts, der Gulag-Systeme, des systematischen Genozids, bleiben traditionelle Gewissheiten nicht mehr so gewiss, wie sie einstmals waren oder zu sein schienen. Insbesondere der Glaube an den Fortschritt nimmt erheblich Schaden. Technik ist nicht mehr einfach eine Sache der Verbesserung im menschlichen Leben, obgleich sich hierdurch de facto Vieles erheblich verbessert hat. Skepsis, gar Frustration, macht sich in immer neuen Schüben breit.1 Der Verlauf des 20. Jahrhunderts erscheint weder für die Zeitgenossen, noch im Rückblick nach der Millenniumswende, als ein linearer Prozess.
So fing auch schon das Jahrhundert an – mit einem unter Intellektuellen quer durch Europa verbreiteten Gefühl der Unruhe, einem Gespür für den (großen) Umbruch, lange bevor der Erste Weltkrieg so ziemlich alle gängige Sozialstrukturen zerrissen hat.2 Im Grunde verdichtete sich ein öffentliches Bewusstsein für eine Identitätskrise.3 Oswald Spengler war nicht der einzige, der hierauf Bezug nahm und neue Antworten auf alte Fragen suchte. Die entscheidende Frage, die sich für viele Dichter, politische Analysten und Kommentatoren mit zunehmender Dringlichkeit stellte, war die nach der Bedeutung der Kultur. ← 7 | 8 →
Insofern sind Kulturbetrachtungen ein Indikator für Krisenbewältigung.4 Von vielen deutschen Intellektuellen wurde die deutsche Kultur z.B. in einer Gegenüberstellung zur westeuropäischen Kultur begriffen. Diese sei lediglich nur noch Zivilisation.5 Die Entstehung der Kulturwissenschaften verdankt sich demnach einer strukturellen Identitätskrise am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Der Krieg selbst hat dann mit seinen Effekten dieses Phänomen erst recht beschleunigt und erweitert. Egal ob man Max Weber, Simmel oder eben Spengler nimmt, sie alle antworten auf die Sinndeutungskrise ihrer Zeit letztlich mit einem kulturellen Bezug ihrer wissenschaftlichen Argumentation. Das Problem ist allerdings, dass man Kulturbetrachtungen im spezifischen Sinne gar nicht historisch machen kann. Dafür sorgt allein schon das Datenmaterial, das einfach zu enorm ist, egal, wie die Fragestellung lautet. Also geht es immer um einen Deutungskode, einen hermeneutischen Schlüssel, mit dem man sich den immensen Datenschatz erschließt. Deshalb existiert für die kulturwissenschaftliche Perspektive ein gravierender „Widerspruch zwischen dem Bedürfnis nach imperialer Weltsicht und universaler Deutung einerseits und der Verneinung ihrer historiographischen Durchführbarkeit andererseits“.6
Hinsichtlich der Deutungen von Kultur zeigen die unterschiedlichen Ansätze und Ausprägungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts neben der Frage der Historizität ein grundsätzliches logisches Dilemma – nämlich den Umgang mit der Natur. Ist die Wissenschaft von der Kultur eine rein menschenimmanente, also selbstgemachte Disziplin? Oder bestätigt sie nur das, was in der Natur des Menschen ohnehin angelegt ist?
„Der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen“, heißt es in einer neueren Betrachtung.7 Dieser schöne Satz ist eine moderne Anverwandlung des alten aristotelischen Prinzips, dass der Mensch von Natur aus ein politisches Wesen sei. Für Aristoteliker ist daher diese Anwendung nicht neu und schon gar nicht verblüffend. Allerdings gibt es gegenüber der aristotelischen Aussage hier eine wichtige Nuance, sozusagen eine Akzentverschiebung: ← 8 | 9 →
Wenn der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen ist, was ist er dann in Bezug auf die einzelnen Bereiche des Daseins, etwa die Kunst, die Ökonomie oder die Politik? Gehören diese dann immer schon mit zur Kultur? Oder ist es eher andersherum, wofür Aristoteles (am Beispiel der Politik) gute Gründe nennt: ist der Mensch von Natur aus politisch und ist damit seine Kultur ein Teil seiner Politik? Rein aristotelisch betrachtet lässt sich hier nun schwer eine exakte Aufteilung vornehmen. Es bleibt nicht zufällig bei dem eher analytisch schwammigen (weil nicht sauber bestimmten) Topos von der Interdependenz zwischen Kultur und Politik. Politische Kultur ist somit immer schon kulturwissenschaftliche Analyse. Aber was sind dann Politikwissenschaft, die Kunstwissenschaften, die Ökonomie als Wissenschaft? Das Gleiche wie Kulturwissenschaft? Wohl kaum.
Selbst die Marxsche Vorstellung, dass Kultur ein Akt der (individuellen) Freiheit sei,8 ist in dieser Hinsicht immer noch ein Produkt aus der aristotelischen Denkweise. Aber spätestens seit dem Siegeszug der Naturwissenschaften in der Moderne, vor allem hier dem Biologismus und dem Darwinismus, stellt sich die Frage, was Kultur ist, wenn doch die Natur nicht per se kultürlich betrachtet werden kann? Denn der Sinn der Natur ergibt sich (naturwissenschaftlich hergeleitet) nicht durch eine kulturalistische Auslegung.9 All diejenigen, die so vorgehen, vollziehen damit nur einen weiteren humanistischen Fehlschluss: die Deutung der Phänomene (der Natur) aus dem eigenen (d.h. menschlichen) Interesse und Erkenntnisvermögen heraus. Das ist in gewisser Weise ein gigantischer Konstruktivismus,10 zweifellos selbst schon ein heuristischer Akt der Kultur, aber eben nicht Natur. ← 9 | 10 →
Insofern kann und muss man eine Unterscheidung vornehmen:
a)Kultur vermittelt den Sinn des Lebens (Telos) für den Menschen.
b)Natur zeigt über die Sinne Effekte des Lebens an; ob der Mensch diese versteht oder nicht, sei dahin gestellt.
Wenn die Evolution das ist, was die Evolutionstheorie darüber aussagt, dann stellt sich die grundsätzliche Frage, was dies für die Kultur des Menschen als Spezies bedeutet? Dann ist die Ausrichtung auf eine Betonung hinsichtlich der eidetischen, sinnhaften Lebensformen davon abhängig zu machen, wie unser Geist als Verstand in den ontogenetischen Vorgegebenheiten arbeitet bzw. arbeiten kann.11 Dann ist Ontogenese und Geschichte als ein systemisch verbundenes Konstrukt zu betrachten,12 womit die biologische Verfasstheit des Menschen zwangsläufig zu seinen Möglichkeiten einer kulturellen Ausprägung führt. Folglich kann man eine Abgrenzung, die anthropologisch bedingt ist, auch heuristisch wie hermeneutisch recht deutlich machen:13 „Kultur ist ein Gegenbegriff zur Natur und bezeichnet insofern den Gesamtbereich aller nicht-natürlichen Sachverhalte der menschlichen Welt.“ Damit müsste uns die Natur eigentlich fremd sein. Dies ist jedoch bekanntermaßen nicht der Fall, da im Rahmen der Wahrnehmungsmöglichkeiten des Menschen über die Sinne und über den analytischen Geist die Natur doch menschlich aufgeschlüsselt werden kann. So gesehen sind alle so genannten Naturgesetze nichts anderes als menschlich-kodifizierte Spielregeln des Geistes. Also damit auch kulturelle Leistungen des Verstandes und entsprechend pfadabhängig von der jeweiligen Kultur!
II.Das Paradigma der Kultur
So sehr die kulturwissenschaftliche Fragestellung im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer beliebter geworden ist, dass man ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sogar dezidiert von den Kulturwissenschaften sprechen kann, so bleibt doch das hermeneutische Grundproblem bestehen, was denn eigentlich unter dem Paradigma der Kultur als Spezifika angezeigt werden kann oder soll? Denn schließlich operiert so ziemlich jede moderne Wis ← 10 | 11 → senschaft mit dem Kulturbegriff. Das Dilemma besteht also darin, ob es ein Allerweltsbegriff ist oder eine von anderen Sachfragen deutlich absetzbare Perspektive. Damit verbunden ist zugleich die Frage nach der Stabilität des Begriffes: Wieviel Dynamik lässt eine je spezifische Kultur zu und wieviel Konstanz bzw. Nachhaltigkeit vermittelt diese Kultur? Und schließlich: Was folgt aus alledem?
Die Kulturwissenschaften wollen etwas erklären, was selbst nur als Substrat von Etwas in Erscheinung tritt.14 Politische Kultur, Kultursoziologie, Theaterkultur, Jugendkultur, Erwachsenenkultur, Popkultur, die Liste der Attributionen ist beliebig verlängerbar und zeigt das Problem der Hermeneutik grundsätzlich an. Wie kann man Kultur verstehen, in einer spezifischen Eigen-Art, wenn sich Kultur doch nur immer durch den Referenzbereich adäquat darstellen lässt? Texte allein reichen hier auch nicht aus, Taten sind ebenso entscheidend für kulturelles Verstehen.15 Kultur ist also nicht nur eine Frage der angemessenen Interpretation von Texten, sondern auch und vor allem eine Handlungserfahrung. Der Sinnbezug von Handlungen manifestiert sich im Wesentlichen in der Sprache. „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“, so hat Gadamer einmal formuliert.16 Aber eine Ontologisierung der Sprache (und damit auch des Verstehens) ist nicht gerade die Form, mit der in der (politischen, sozialen, ästhetischen, historischen) Kulturanalyse die Dinge betrachtet werden.
Ohne Zweifel ist daher die Feststellung von Jörn Rüsen richtig, dass auch nach einem ganzen Jahrhundert kulturwissenschaftlicher Debatten die Klärung des Kulturbegriffs weiterhin auf der Tagesordnung bleibt.17 Insofern bleibt auch das grundsätzliche heuristische Problem weiterhin zu beantworten, demzufolge es nicht einfach nur darum geht, wie man Kultur verstehen will oder kann, sondern mehr noch darum, was überhaupt Kultur ist? Hierzu liefern die einzelnen Disziplinen im Rahmen der Kulturwissenschaften ganz unterschiedliche Beiträge. Ihre Ansätze sind sowohl methodologisch wie auch heuristisch nicht stringent aufeinander angelegt. ← 11 | 12 →
Im Gegenteil: mitunter geht es doch recht wild, im Sinne von diffus, zu: alles wird mit allem vermengt, Hauptsache es ist Kultur. Schon der Kulturbegriff ist in manchen Fächern äußerst strittig, so z.B. in der Politikwissenschaft, oder wird einfach vorausgesetzt – ohne weitere Hinterfragungen bzw. Dechiffrierungen. Wenn sich Literaturwissenschaften schlechthin als Kulturwissenschaften verstehen, dann ist dies sicherlich eine Art imperialer Setzung, die mit einem spezifisch europäisch-abendländischen, modern müsste man sagen westlichen Verständnis gleichgesetzt wird: nämlich das Texte per se kulturelle Artefakte sind. Der Blick auf Gesellschaften vor der Erfindung der Schriftsprache zeigt, dass dem nicht so ist bzw. so nicht sein muss. Jede ethnologische Untersuchung in auch heute noch existierenden oral tradierten Stammesgesellschaften demonstriert eine andere Form von Kulturfixierung. Warum also sollte ein Literaturwissenschaftler Repräsentant einer Kulturwissenschaft sein? Das ist erklärungsbedürftig, denn warum gibt es überhaupt Literaturwissenschaften? Ist tatsächlich Literatur ein Garant von Kultur? Liefern fiktionale Texte kulturelle Images oder liefern sie nur Fiktionen im Sinne von Irrealitäten? Für reine Empiristen der Sozialwissenschaften wäre dies so. Hier soll aber nicht der Ausdifferenzierungsbedarf weiter verfolgt werden, sondern nur auf den grundsätzlichen Klärungsbedarf und seine jeweils gesellschaftlich-immanente Selbst-Kodierung hingewiesen. Keine Kultur ohne Vorordnungsmuster.
Wenn man die Entstehung der Sozialwissenschaften seit den 1960er Jahren als Kehrtwende gegen die Geisteswissenschaften klassischer Prägung deutet,18 dann sind so gesehen wiederum die Kulturwissenschaften eine Antwort auf diese Abkehr. Und dies gleich in doppelter Hinsicht a) gegen den traditionalen Geistes-Begriff, der zu sehr auf eine ontologische Bestimmung hin ausgerichtet schien, und b) gegen die sich empiristisch austobenden Sozialwissenschaften, die nur noch das gelten lassen wollten, was man zählen, messen und wahrnehmen kann. Zumindest ein nicht unbeträchtlicher Teil davon, der bis heute auch die Oberhoheit über die Debatten in den Sozialwissenschaften beansprucht.
Der cultural turn ist also dialektisch zu verstehen, aber diese Dialektik funktioniert eigentlich schon lange nicht mehr, vielleicht sind auch bereits die Bedingungsgründe für die jeweilige Abtrennung bzw. Neuausrichtung ← 12 | 13 → zu apodiktisch geführt worden. Das macht die Lage für die Kulturwissenschaften aber auch nicht besser: beide Seiten, Literatur- wie Sozialwissenschaften, führen ihre Deutungspräferenzen für Kultur vor, verschmelzen sie hier und da auch zu einem interessanten Amalgam, ohne dass allerdings die Grunddeutungsfrage, nämlich was ist Kultur, dadurch wirklich besser behandelt würde. Das sieht man vor allem an der Wechselwirkung auf die Geschichtswissenschaft, die nach einer Abkehr von der Deutungshoheit der Politischen Geschichte (großer Männer etc.) zu einer an den empirischen Methoden der Sozialwissenschaften ausgerichteten Sozialgeschichte mutierte, um dann erneut den Rückbezug zu weicheren Formen des Geistes unter dem Label der Kultur zu vollziehen. Wenn es denn überhaupt ein Rückbezug war, denn genauso gut kann man den cultural turn für die Geschichtswissenschaft auch als einen Zusammenbruch der klaren Deutungslinien verstehen, weil nun scheinbar alles mit allem kombiniert werden kann. So gesehen ist die Kulturgeschichte so etwas wie die Wiedergewinnung einer Totalgeschichte, was notwendigerweise auch zu Geschichtsphilosophien führt, die erst recht mit der Perspektive auf die Menschheit als Gattung zu einer Global- bzw. Universalgeschichte als Weltgeschichte tendieren.
Am Einfachsten (formal betrachtet) hat es hier noch die Philosophie, die im Rahmen ihrer Bemühungen um Logik zu keinem Zeitpunkt ihrer langen Tradition ohne die Berücksichtigung von Kulturfragen auskam. Die Grundfragen nach den anthropogenen Bestimmungen und Möglichkeiten von Mensch-Sein in der Welt sind somit seit den Tagen von Konfuzius, Platon und Aristoteles stets von neuem zu verhandeln. Das aber gerade macht die Sache für die Philosophie auch nicht einfacher.
So wenig wie die Sozialwissenschaften bis heute substantiell erhellen konnten, was denn Gesellschaft ist, so bleibt auch die Kulturbestimmung für die Kulturwissenschaften einigermaßen unklar, weil ungenau.19
Damit drohen die Kulturwissenschaften ins seichte Geschäft von vielleicht politisch korrekten, eigentlich aber nicht wirklich aufregenden Veranstaltungen abzudriften. Rüsen macht den heutigen Kulturwissenschaften sogar den Vorwurf, dass sie tendenziell „einer Entpolitisierung Vorschub“ leisten oder aber umgekehrt zu einer zweifelhaften Reideologisierung bei ← 13 | 14 → tragen, indem man soziale wie ökonomische Konflikte nur noch durch eine kulturelle Brille (in der Lesart des jeweils Eigenen und des Anderen) dechiffrieren.20 Gerade auch wenn die jeweilige Fachdisziplin methodologisch verwässert wird, indem hier nun alle möglichen Theorien und Modelle aus anderen Disziplinen idealistisch synthetisiert werden, kommt es zu einer „Entdisziplinierung“, bei der oft „die Grenze zwischen rationaler Argumentation und literarischer Fiktion verwischt“ wird „(von weltanschaulicher und politischer Ideologiebildung ganz zu schweigen)“.21 Als Konsequenz solcher Verwässerungen kann man hier in der Tat einen Verlust an Sinndeutung konstatieren.22 Das heißt, die Kulturwissenschaften leisten, gerade in dem sie das Totum der Kultur (also alles) erklären wollen, eigentlich genau das Gegenteil, nämlich immer weniger an Erklärungen, weil die Widerspruchsmöglichkeiten sofort signifikant werden. Damit einher geht dann eine Sinnkrise der Sinnvermittlung und damit auch eine Schwächung des szientistischen Profils.
Wie problematisch sich dieser Effekt erst recht in der wohlmeinenden interkulturellen Vermittlung bzw. Forschung auswirkt, kann an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang nicht weiter ausgeführt werden. Max Webers Werk wird aber, da kann man Rüsen zustimmen,23 weiterhin für die Kulturwissenschaften von Relevanz sein. Es ist letztlich gerade das stringente Bemühen um eine angemessene Methodologie zur Theoriegewinnung und damit auch die Frage der sachgerechten Terminologie, die auf der Tagesordnung der Kulturwissenschaften steht.24 ← 14 | 15 →
Details
- Seiten
- 208
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (PDF)
- 9783653056860
- ISBN (MOBI)
- 9783653999754
- ISBN (ePUB)
- 9783653999761
- ISBN (Hardcover)
- 9783631611517
- DOI
- 10.3726/978-3-653-05686-0
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (März)
- Schlagworte
- Zivilisation Gender Biologismus
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 208 S., 14 farb. Abb., 1 s/w Abb.