Ethik und Therapieangebote auf Palliativstationen
Eine Interviewstudie mit betroffenen Patienten
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Danksagung
- Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung
- 1.1 Definition der Palliativmedizin
- 1.2 Palliativmedizinische Forschung
- 1.3 Entwicklung der Fragestellung
- 2 Stand der Forschung
- 2.1 Befragungen mit dem Ziel der Qualitätssicherung
- 2.2 Erwartungen und Erfahrungen
- 2.2.1 Erwartungen
- 2.2.2 Erfahrungen
- 2.3 Zufriedenheit
- 2.4 Fazit
- 3 Methoden
- 3.1 Entwicklung und Grundlagen der qualitativen Forschung
- 3.1.1 Grundprinzipien
- 3.1.2 Gütekriterien
- 3.1.3 Begründung der qualitativen Forschungsmethode
- 3.2 Erhebungsverfahren und -instrument
- 3.3 Dokumentation
- 3.4 Auswertungsverfahren
- 3.4.1 Begründung der Methodenwahl
- 3.4.2 Darstellung der Methode
- 3.5 Ethik
- 4 Kooperationspartner und Probanden
- 4.1 Kooperationspartner
- 4.1.1 Evangelisches Krankenhaus Oldenburg
- 4.1.2 Georg-August-Universität Göttingen
- 4.1.3 Klinikum Links der Weser Bremen
- 4.1.4 Medizinische Hochschule Hannover
- 4.2 Probanden
- 4.2.1 Samplingstrategie und Rekrutierung
- 4.2.2 Ein- und Ausschlusskriterien
- 5 Ergebnisse
- 5.1 Charakterisierung der Probanden
- 5.2 Formale Auswertung der Interviews
- 5.3 Inhaltliche Auswertung
- 5.3.1 Zugang zur Palliativstation
- 5.3.1.1 Hauptproblem
- 5.3.1.2 Alternative Versorgungsmöglichkeit
- 5.3.1.3 Bekanntheit von Palliativmedizin
- 5.3.1.4 Berührungsängste mit der Palliativmedizin
- 5.3.2 Erwartungen und Ziele
- 5.3.2.1 Erwartungen
- 5.3.2.2 Ziele
- 5.3.2.2.1 Medizinische Ziele und Therapieerfolg
- 5.3.2.2.2 Entlassungsziele
- 5.3.3 Auseinandersetzung mit der Krankheit
- 5.3.3.1 Krankheitsbewältigung
- 5.3.3.2 Belastung durch die Krankheit
- 5.3.3.3 Auseinandersetzung mit Sterben und Tod
- 5.3.4 Zufriedenheit
- 5.3.4.1 Angebote
- 5.3.4.1.1 Medizinische Therapie
- 5.3.4.1.2 Körperorientierte Therapien
- 5.3.4.1.3 Psychisch-spirituelle Unterstützung
- 5.3.4.1.4 Spezielle Angebote
- 5.3.4.2 Besonderheiten einer Palliativstation
- 5.3.4.2.1 Betreuung und Begleitung durch das Personal
- 5.3.4.2.2 Palliativstation & Angehörige
- 5.3.4.2.3 Räumliche Gestaltung
- 5.3.4.3 Defizite
- 5.3.5 Autonomie
- 5.3.5.1 Entscheidungen selber treffen
- 5.3.5.2 Ablehnung von Maßnahmen
- 5.3.5.3 Aufklärung und Information
- 5.3.6 Arzt-Patient-Kommunikation
- 5.3.6.1 Erwartungen an Ärzte
- 5.3.7 Abschluss der Interviews
- 5.3.7.1 Bedeutung der Palliativstation für die Patienten
- 5.3.7.2 Wichtige Anliegen der Patienten
- 5.3.7.3 Belastung der Patienten durch das Interview
- 6 Diskussion
- 6.1 Beurteilung anhand der Gütekriterien
- 6.1.1 Offenlegung widersprüchlicher Fälle und offener Fragen
- 6.1.2 Abschließende Beurteilung
- 6.2 Ethische Reflexion der Studie
- 6.3 Diskussion der Ergebnisse
- 6.3.1 Abgrenzung palliativmedizinischer Versorgungsformen
- 6.3.1.1 Vergleich zwischen Palliativstation und Hospiz
- 6.3.1.2 Der Palliativbereich
- 6.3.1.3 Fazit
- 6.3.2 Vergleich zur Normalstation
- 6.3.2.1 Symptomkontrolle
- 6.3.2.2 Betreuung und Begleitung durch das Personal
- 6.3.2.3 Spezielle Angebote
- 6.3.2.4 Räumliche Gestaltung
- 6.3.2.5 Die Einbeziehung von Angehörigen
- 6.3.2.6 Entlassungsplanung
- 6.3.2.7 Fazit
- 6.3.3 Patienten und Palliativmedizin
- 6.3.3.1 Patientenkollektiv einer Palliativstation
- 6.3.3.2 Bekanntheit von Palliativmedizin bei Tumorpatienten
- 6.3.4 Arzt-Patient-Beziehung
- 6.3.4.1 Entscheidungsfindung
- 6.3.4.2 Das Aufklärungsgespräch
- 6.3.4.3 Gespräch über Prognose
- 6.3.4.4 Gespräch über Sterben und Tod
- 6.3.4.5 Ärztliche Schweigepflicht
- 6.3.5 Krankheitsbewältigung
- 6.3.6 Zur psychologisch-seelsorgerlichen Begleitung
- 6.3.6.1 Die Rolle der Seelsorge
- 6.3.6.2 Psychoonkologie und Musiktherapie
- 6.3.6.3 Einbeziehung von Angehörigen
- 6.3.6.4 Fazit
- 6.4 Limitationen der Studie
- 6.4.1 Methoden/Formalitäten
- 6.4.2 Inhaltliche Grenzen
- 7 Zusammenfassung
- 8 Literaturverzeichnis
- 8.1 Gedruckte Quellen
- 8.2 Internetquellen
- Anhang
- A – Leitfaden
- B – Transkriptionsregeln
- C – Fragebogen zu soziodemographischen Daten
- D – Schriftliche Patienteninformation
- E – Schriftliche Einwilligungserklärung
- F – Verzeichnis der Tabellen und Graphiken
- G – Abkürzungsverzeichnis
- H – Transkript P11 UMG
- I – Transkript P20 UMG
„Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen.“ Diese grundlegende Feststellung steht am Anfang des ersten Leitsatzes der 2010 verabschiedeten „Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland“, die von der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), dem Deutschen Hospiz- und PalliativVerband (DHPV) und der Bundesärztekammer (BÄK) erarbeitet wurde.1 Im zweiten Leitsatz heißt es weiter: „Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht auf eine umfassende medizinische, pflegerische, psychosoziale und spirituelle Betreuung und Begleitung […]“2 Die explizite Ausformulierung dieser und weiterer Rechte schwerstkranker und sterbender Menschen ist das Ergebnis der langjährigen Bemühungen um eben diese Rechte durch Palliativmedizin und Hospizbewegung im nationalen und internationalen Rahmen. Die Charta greift damit Forderungen auf, die in den Definitionen der Palliativmedizin der verschiedenen Organisationen und Gesellschaften schon lange impliziert sind.
Die Einleitung gibt zunächst eine Definition der Palliativmedizin (1.1), einen kurzen Überblick über ihr breites Angebotsspektrum sowie eine genauere Darstellung der Einrichtung „Palliativstation“. Es folgt eine kurze Stellungnahme zu palliativmedizinischer Forschung (1.2). Anschließend wird die Fragestellung der vorliegenden Forschungsarbeit entwickelt (1.3).
1.1 Definition der Palliativmedizin
„Palliativ“ leitet sich von dem lateinischen Wort pallium ab, übersetzt Mantel. Palliativmedizin umgibt und schützt den Patienten. Die ganzheitliche Sicht des Patienten und sein subjektives Wohlbefinden stehen im Mittelpunkt. ← 1 | 2 →
Die World Health Organization (WHO) definiert Palliativmedizin folgendermaßen: „Palliative care is an approach that improves the quality of life of patients and their families facing the problem associated with life-threatening illness, through the prevention and relief of suffering by means of early identification and impeccable assessment and treatment of pain and other problems, physical, psychosocial and spiritual.“3 Oberstes Ziel ist somit die Verbesserung und Erhaltung der Lebensqualität der Patienten und ihrer Familien. Es werden ausdrücklich alle Patienten mit lebensbedrohenden Erkrankungen, seien sie onkologischer, neurologischer, internistischer oder anderer Natur, eingeschlossen. Bestandteile der Palliativmedizin sind nach dieser Definition die Prävention, Erkennung und Behandlung physischer, aber gleichrangig auch psychosozialer und spiritueller Probleme und Bedürfnisse der Patienten.
Weiter heißt es bei der WHO: „Palliative care […] offers a support system to help the family cope during the patients illness and in their own b Stand der Forschung ereavement“.4 Damit nimmt sich die Palliativmedizin auch der Angehörigen in ihrer schwierigen Situation an und schenkt dem Patienten in seinem sozialen Kontext Beachtung. Weiterhin wird in der Definition auf den teamorientierten Ansatz sowie den frühzeitigen Einsatz der Palliativmedizin im Krankheitsverlauf hingewiesen.
Die Definition der European Association for Palliative Care (EAPC) betont darüber hinaus das grundlegende Konzept von Pflege und Fürsorge in Bezug auf Palliativmedizin: „In a sense, palliative care is to offer the most basic concept of care – that of providing for the needs of the patient wherever he or she is cared for, either at home or in the hospital“.5
Entscheidend in beiden Definitionen ist die Bejahung des Lebens und die Betrachtung des Sterbens als einen natürlichen Prozess, der weder verzögert noch beschleunigt werden soll.6 Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin schließt sich der Definition der WHO an.7 Dabei differenziert sie den Begriff Palliativmedizin als Übersetzung der englischen Begriffe Palliative Care und Palliative Medicine. Palliativmedizin im Sinne von Palliative Care „[…] ← 2 | 3 → beinhaltet gleichwertig pflegerische, ärztliche und psychosoziale Kompetenz.“8 Im Sinne von Palliative Medicine ist sie „[…] der unverzichtbare, spezialisierte ärztliche Beitrag zu Palliative Care […].“9
Klaschik et al. betonen ausdrücklich: „Die Linderung von Leiden, unabhängig davon welche Ursache zugrunde liegt oder wie weit die Erkrankungen fortgeschritten sind, war und ist die Aufgabe aller Ärzte.“10 Die palliative Versorgung von Patienten ist somit eine der grundlegendsten Aufgaben von Ärzten und Pflegenden. Sie beinhaltet, sich um Menschen zu kümmern, die ihre Hilfe, gleich welcher Art, benötigen und sie dabei als eigenständige Persönlichkeiten in ihrem sozialen Umfeld wahrzunehmen. Hartenstein schreibt 2005: „Palliativmedizin ist vor allem eine Rückbesinnung auf jahrhundertealte ärztliche Tugenden, gemäß denen der Arzt nicht der hochtechnisierte Heiler, sondern vielmehr der Helfende oder Tröstende ist.“11
Um die anspruchsvolle Aufgabe einer guten palliativen Begleitung bewältigen zu können, hat sich ein breites Angebotsspektrum sowohl im stationären, als auch im ambulanten Bereich entwickelt.12 Gemäß den oben genannten Definitionen wird dabei ein multiprofessioneller Ansatz verfolgt. Für die angemessene Versorgung von Palliativpatienten ist ein Team gleichberechtigter Mitarbeiter verschiedener Professionen wie Mediziner, Pflegekräfte, Seelsorger und Psychologen, Physiotherapeuten, Sozialarbeiter usw. nötig.13 Falckenberg entwirft in ihrem Grundsatzartikel Prinzipien der Zusammenarbeit, betont die Wichtigkeit guter Kommunikation innerhalb eines Teams und nach außen und stellt Regeln für eine gelungene Kommunikation auf.14 Ein wesentliches weiteres Element in der Palliativmedizin ist der Einsatz von Ehrenamtlichen, die begleitende und unterstützende Arbeit leisten.
In Deutschland gibt es im ambulanten Bereich Ambulante Hospizdienste (AHD), Ambulante Palliativdienste (APD), Ambulante Hospiz- und Palliativberatungsdienste (AHPB) sowie Ambulante Hospiz- und Palliativpflegedienste (AHPP). Mit der „Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung“ (SAPV) befindet sich ein weiteres Element im ambulanten Sektor im Aufbau. Diese ← 3 | 4 → verschiedenen Dienste nehmen sich der Patienten in deren häuslichem Umfeld an. Sie setzen dabei unterschiedliche Schwerpunkte und sind beratend, begleitend und/oder pflegerisch tätig.15
Im stationären Bereich sind Einrichtungen in Krankenhäusern wie Palliativstationen, Palliativbetten auf Normalstationen und der palliativmedizinische Konsiliardienst von hospizlichen Einrichtungen zu unterscheiden, wie stationäre Hospize und Tageshospize. Hospizliche Einrichtungen versorgen und begleiten Sterbende in ihren letzten Tagen und Wochen.16 Palliativstationen verfolgen dagegen einen anderen Ansatz, der im Folgenden genauer erläutert werden soll, da die vorliegende Arbeit Patienten auf Palliativstationen zum Thema hat.
Palliativstationen sind in Krankenhäuser integrierte Einrichtungen, die sich vor allem als Anlaufstelle in Krisensituationen verstehen.17 Es werden Patienten aufgenommen, die unter ambulant schlecht zu beherrschenden Symptomen leiden, deren Versorgung zu Hause nicht mehr gewährleistet ist oder die psychosoziale und seelische Krisen durchleben. Behandlungsziel ist die Entlassung nach Hause mit ausreichender Symptomkontrolle bzw. Vermittlung einer für Patient und Angehörige tragbaren Alternative (z. B. Hospiz oder Pflegeeinrichtung).18 Es sind ausdrücklich keine „Sterbestationen“, auch wenn die Sterbebegleitung ein selbstverständlicher Teil der Arbeit einer Palliativstation ist. 2010 konnten in Deutschland 41% der auf einer Palliativstation behandelten Patienten entlassen werden.19
1.2 Palliativmedizinische Forschung
In Deutschland befindet sich die Palliativmedizin mit breiterer Wirksamkeit seit ca. 15 bis 20 Jahren im Aufbau, wobei einzelne Institutionen schon länger bestehen.20 Ihre Entwicklung ist geprägt von einer rasanten Dynamik. Trotz oder gerade ← 4 | 5 → wegen dieses schnellen Fortschrittes steht die Palliativmedizin in einigen Bereichen noch am Anfang. Dies trifft besonders auf palliativmedizinische Forschung zu,21 die durch DGP und EAPC eine besondere Förderung erhält.22 Im Folgenden soll die Diskussion, die um palliativmedizinische Forschung geführt wird, dargestellt werden.
Die Palliativmedizin kümmert sich um schwerstkranke und sterbende Menschen. Dieses Patientenkollektiv erscheint als besonders verletzlich und daher schützenswert gegen zusätzliche Belastungen, wie sie durch Forschungsvorhaben entstehen können.23 Unter dieser Prämisse stellt sich die Frage, ob Forschung in der Palliativmedizin ethisch vertretbar ist.
Medizinische Forschung muss immer dem Wohle der Patienten dienen. In der Deklaration von Helsinki in der revidierten Fassung von 2008 heißt es: „In der medizinischen Forschung am Menschen muss das Wohlergehen der einzelnen Versuchsperson Vorrang vor allen anderen Interessen haben.“24 Forschung an und mit Patienten ist dennoch unerlässlich für den medizinischen Fortschritt und um weitere Verbesserungen in der Patientenversorgung zu erreichen. Neben klinischen Studien zur Entwicklung und Optimierung von Diagnostik und Therapien finden auch Fragestellungen zu Qualitätssicherung und ethisch-rechtlichen Themen Beachtung.25
Schon zu Beginn der Entwicklung des palliativen Gedankens wurde von Dame Cicely Saunders, der Begründerin der modernen Hospizbewegung, der Komplex „Forschung, systematische Dokumentation und statistische Auswertung von Ergebnissen“ als ein Basisprinzip der Palliativmedizin formuliert mit dem Ziel, die klinische Praxis zu verbessern.26 Dementsprechend heißt es auf der Homepage des Zentrums für Palliativmedizin der Universitätsklinik Köln: „Forschung ist die einzige Möglichkeit, um das Angebot für die Patienten stetig immer weiter zu verbessern. Daher muss Forschung integraler Bestandteil ← 5 | 6 → der Palliativmedizin sein.“27 Etwas plakativ formuliert es das National Palliative Care Research Center in den USA in seinem Motto: „Without research, palliative care is an art, not a science.“28
Um den weiteren Ausbau der palliativmedizinischen Forschung zu unterstützen, findet seit dem Jahr 200029 alle zwei Jahre der Kongress des Research Network der EAPC statt. Ebenfalls mit dem Ziel, bestehende Forschungsvorhaben zu unterstützen und neue Projekte zu fördern, wurde im Dezember 1999 der Arbeitskreis Forschung der DGP gegründet.30
Wie in jedem Bereich der Medizin ist es auch in der Palliativmedizin von entscheidender Bedeutung, die Qualität und den Nutzen einer Behandlung für die Patienten sicherzustellen. Als Goldstandard für Diagnostik und Therapie gilt im modernen Selbstverständnis der Medizin die sog. „evidence-based medicine“. Die im Gegensatz dazu stehende „eminence-based medicine“ ist nur eingeschränkt akzeptabel. Dieser Grundsatz muss auch für die Palliativmedizin gelten.31 Gerade die Vulnerabilität dieser Patientengruppe verbietet Therapien nach dem „trial-and-error“-Prinzip.32 Casarett et al. stellten hinsichtlich der Verbesserung der Lebensqualität von Palliativpatienten fest: „However, it is apparent that providers are often unable to achieve this goal in part because of a lack of solid evidence on which to base clinical decisions.“33 Entsprechend wird es von Sabatowski und Graf im Lehrbuch für Palliativmedizin formuliert: „Die Palliativmedizin darf sich nicht nur auf Erfahrungsmedizin berufen, vielmehr muss sie die Effektivität ihrer Methoden in wissenschaftlichen Arbeiten nachweisen.“34 Denn, so heißt es weiter: „Eine Tabuisierung von Forschung und auch Lehre im Bereich der Palliativmedizin würde dazu führen, dass diesen Patienten letztendlich moderne wissenschaftliche Behandlungsmethoden vorenthalten werden.“35
Die Vulnerabilität unheilbar erkrankter Patienten in physischer und psychischer Hinsicht bildet das Hauptargument gegen Forschung in diesem Bereich. Die Patienten leiden in der Regel unter belastenden Symptomen, die ihre ← 6 | 7 → Leistungsfähigkeit stark einschränken. Als Beispiele sollen hier Schmerzen, Dyspnoe, Fatigue-Syndrom und Angst genannt werden.36 So mussten zum Beispiel in einer Studie von Gysels et al. einige Interviews vorzeitig abgebrochen werden, da die Patienten erschöpft waren.37
In psychischer Hinsicht müssen die Patienten sich mit dem Ende ihres Lebens in allen seinen Konsequenzen auseinandersetzen, was bei nicht wenigen zu Depressionen bzw. depressiven Phasen führt.38 So ist die Vermutung, schwerstkranke Patienten hofften auf eine Lebensverlängerung und nähmen nur darum an Forschungsvorhaben teil, nachvollziehbar. Terry et al. belegen in ihrer Studie „Hospice patients’ views on research in palliative care“ jedoch, dass dies nicht grundsätzlich der Fall ist. „Death was what they and their families had prepared for and although a chance of cure of their disease would, of course, be attractive, minor prolongation of life was seen as a hazard and not as a benefit.“39
Weiterhin darf nicht vergessen werden, dass Forschung auch in anderen, als verletzlich geltenden Patientengruppen mit beachtlichem Erfolg betrieben wird.40 Diese Forschung wird auch von offizieller Seite unterstützt. So wird in der Oviedo-Konvention des Europarates41 und dem Zusatzprotokoll zu biomedizinischer Forschung42 deutlich, dass Forschung an besonders sensiblen Patientengruppen nicht ausgeschlossen werden soll und unter bestimmten Bedingungen möglich ist.
Neben der Verletzlichkeit schwerstkranker Patienten werden in der Literatur noch einige weitere Argumente gegen Forschung angeführt. So hätten Palliativpatienten selber keinen Benefit von Forschungsvorhaben und sollten daher ausgeschlossen werden. Auch dieser Frage sind Terry et al. nachgegangen. Es zeigte sich, dass die befragten Patienten sehr wohl einen Nutzen aus ihrer Teilnahme an der Studie zogen. „However, they also identified in research participation a source of what we have called Self-Validation: the knowledge that they could make a ← 7 | 8 → useful contribution despite their terminal illness.“43 Ein ähnlicher Hinweis findet sich bei Gysels et al. Hier zeigte sich, dass besonders Tumorpatienten einen Beitrag zur Forschung leisten möchten.44
Zudem lassen sich bestimmte Argumente, die sich gegen Forschung in der Palliativmedizin wenden, nicht nur auf Palliativpatienten beschränken, sondern treffen auf viele Patientengruppen zu.45 Beispielsweise nähmen Patienten an Forschungsprojekten nur teil, um ihren Behandlern einen Gefallen zu tun46 oder sie hätten Schwierigkeiten, zwischen Forschung und Therapie zu unterscheiden.47
Bei der Abwägung von Argumenten für und gegen Forschung in der Palliativmedizin sollten nicht nur theoretische Überlegungen Beachtung finden, sondern die Einstellungen von betroffenen Patienten selber ebenfalls berücksichtigt werden. Viele Einwände in der Debatte beruhen auf Überlegungen, Erfahrungen und Meinungen von Familienmitgliedern, Pflegenden und anderen Professionellen des Gesundheitswesens. Dadurch werden Empfindungen und Ansichten „der Palliativpatienten“ durch andere Personen benannt. Patienten sind jedoch selber Experten für ihre Situation und können mit größerer Legitimation und Authentizität Aussagen zu ihrer Situation machen als Angehörige oder professionelle Begleiter. Die Entscheidung über eine Teilnahme an Forschungsprojekten selbst zu treffen, kann für sie ein wichtiger Ausdruck ihrer Autonomie sein.48
Ein Leitsatz der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland befasst sich ausdrücklich mit Forschung im Bereich der Palliativmedizin. In diesem Rahmen wird unter anderem darauf hingewiesen, dass es vor allem auch bei der Identifikation relevanter Forschungsthemen entscheidend ist, die Perspektive der Betroffenen mit einzubeziehen.49
Inzwischen sind einige Studien verfügbar, die gezielt die Sichtweise von Palliativpatienten untersucht haben. So haben in einer Studie von Williams et al. 46% der befragten Hospizpatienten ihr Interesse bekundet an Forschungsvorhaben teilzunehmen, die Interviews oder Fragebögen beinhalten.50 ← 8 | 9 →
In der bereits erwähnten Interviewstudie mit Hospizpatienten von Terry et al. fanden sich zusätzlich die folgenden Aspekte: Einige der Patienten setzten „wenig Forschung“ gleich mit einem mutmaßlichen Desinteresse der Gesellschaft an den Problemen Schwerstkranker und daraus folgend keinen Bestrebungen, deren Behandlung zu optimieren.51 Zudem empfanden die Patienten die Interviews als Bereicherung.52 Dies wird unterstützt von Gysels et al., die ebenfalls schwerkranke Patienten interviewten: „[…] the interview was experienced as a way of bringing relief from their daily isolation.“53
Neben den Patienten haben auch die Kostenträger im Gesundheitssystem ein begründetes Interesse daran, dass Therapien und Versorgungsformen einen gesicherten Nutzen erbringen. Dies wird beispielsweise. in den gemeinsamen Empfehlungen der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) zur spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) vom Juni 2008 verdeutlicht: „Die Leistungen müssen ausreichend und zweckmäßig sein […]“.54 Zudem wird in der Empfehlung der hohe Stellenwert der Qualitätssicherung betont.55
Belastungen durch Forschung lassen sich nicht gänzlich vermeiden.56 Das Bewusstsein um die Verletzlichkeit der palliativmedizinischen Patientengruppe ist jedoch nötig, um Forschungsvorhaben mit der gebotenen Sensibilität zu planen und durchzuführen.
Die Festlegung sinnvoller Ein- und Ausschlusskriterien, die Überprüfung durch Ethikkommissionen und die freiwillige Teilnahme von Patienten an Forschungsprojekten sind wichtige Aspekte, um zu gewährleisten, dass die Belastungen für die Teilnehmer tragbar sind. Dass dies gelingen kann, zeigen Studien von Stiel et al.57 und Walisko-Waniek et al.,58 in denen die befragten Patienten keine zusätzlichen Belastungen durch die Studien angaben.
Abschließend ist festzustellen, dass Forschung in der Palliativmedizin wichtig und möglich ist. Die Verantwortlichen müssen sich jedoch der Besonderheiten dieses Patientenkollektives bewusst sein. „In conclusion, provided palliative care ← 9 | 10 → investigators compassionately apply ethical principles to their research, there is no justification for not endeavouring to improve the standards of palliation.“59
1.3 Entwicklung der Fragestellung
Der medizinische Fortschritt hatte einen wesentlichen Anteil an der Steigerung der Lebenserwartung vor allem in Westeuropa und Nordamerika, die besonders im letzten Jahrhundert zu verzeichnen war. Mit der Steigerung der Lebenserwartung hängt der Wandel des Krankheitsspektrums, für das Individuum und in der Bevölkerung, von den akuten zu den chronischen Erkrankungen eng zusammen. Je älter die Menschen werden, desto häufiger entwickeln sich Ko- bzw. Multimorbiditäten. Zusammen mit den vielfältigen Möglichkeiten der modernen Medizin bedingt dies eine besondere Anforderung an Ärzte, Pflegepersonal, aber auch Angehörige und nicht zuletzt an die betroffenen Patienten selber. Vor allem in der Situation einer fortgeschrittenen und weiter progredienten Erkrankung erhält diese Anforderung eine besondere Qualität, da bei nahendem Lebensende der übliche kurative Behandlungsansatz aufgegeben werden muss und neue Behandlungsziele, etwa die Sicherung der Lebensqualität, definiert werden müssen.60
Die Entwicklung der Palliativmedizin bietet Patienten mit lebenslimitierenden Erkrankungen Hilfe und Unterstützung, um ihre verbleibende Lebenszeit lebenswert, d. h. mit möglichst guter Lebensqualität, zu gestalten. Um den hohen Ansprüchen in der palliativen Versorgung gerecht werden zu können, werden Ärzte, Pflegende und andere Berufgruppen umfassend geschult61 und unterstützt62, z. B. durch regelmäßige Supervision.
In der Medizin dienen Leitlinien als Orientierungs- und Entscheidungshilfen in der täglichen Arbeit. Im palliativmedizinischen Bereich liegen jedoch zurzeit nur wenige Leitlinien vor. Als Beispiele sind zu nennen die „Hausärztliche ← 10 | 11 → Versorgungsleitlinie Palliativmedizin“ der Leitliniengruppe Hessen63 und die Pflegeleitlinien der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.64
Die „Hausärztliche Versorgungsleitlinie Palliativmedizin“ wendet sich an Hausärzte mit dem Ziel „[…] zu einem besseren Verständnis des palliativmedizinischen Gedankens bei[zu]tragen“,65 da der Hausarzt ein wichtiger Ansprechpartner ist, wenn Patienten bis zu ihrem Tod in ihrer gewohnten häuslichen Umgebung verbleiben möchten.
Die Pflegeleitlinien der DGP widmen sich Symptomen und Situationen, die im Umgang mit Schwerstkranken und Sterbenden auftreten, beleuchten diese von verschiedenen Seiten (Patient, Angehörige, Pflegende) und bieten Handlungsmöglichkeiten an.
Zusätzlich werden palliative Aspekte in den Leitlinien der medizinischen Gesellschaften zu einzelnen Erkrankungen mit berücksichtigt. Beispiele sind die Leitlinien „Exokrines Pankreakarzinom“66, „Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms der Frau“67 und „Non-Surgical Oncology“.68
Details
- Seiten
- XII, 246
- Erscheinungsjahr
- 2014
- ISBN (PDF)
- 9783653037791
- ISBN (MOBI)
- 9783653994520
- ISBN (ePUB)
- 9783653994537
- ISBN (Hardcover)
- 9783631645765
- DOI
- 10.3726/978-3-653-03779-1
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2014 (August)
- Schlagworte
- Palliativmedizin Patientensicht Symptomkontrolle qualitative Inhaltsanalyse
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. XII, 246 S., 25 Tab., 5 Graf.