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Blattdolmetschen in paradigmatischer Perspektive der anthropozentrischen Translatorik

von Jerzy Zmudzki (Autor:in)
©2015 Monographie 342 Seiten

Zusammenfassung

Der Autor identifiziert das Blattdolmetschen als eine autonome Translationsart, die er typologisch zuordnet. Seine Untersuchungen vollziehen sich im Paradigma der anthropozentrischen Translatorik von F. Grucza und S. Grucza. Sie stützen sich auf originelles Textmaterial, also auf Aufzeichnungen von authentischen Verdolmetschungen. Hierbei wird die Methode der Autodeskription von mentalen Prozessen während des Blattdolmetschens und der Sprechsynthesizer angewandt. Jerzy Żmudzki kommt zu einer konträren Differenzierung des Blattdolmetschens gegenüber den bisherigen Zuordnungen und Definitionen u. a. als (Stegreif-)Übersetzen. Einer wesenhaften Kennzeichnung werden im Buch auch das Controllingsystem und seine Funktionsweise im Blattdolmetschprozess unterzogen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Zielsetzung und Festlegung der Aufgaben
  • 2. Blattdolmetschen als Untersuchungsgegenstand – Verschiedenheit von Definitionskriterien, diverse typologische Zuordnungen und definitorische Diversifikation
  • 2.1.1. Simultandolmetschen mit Text
  • 3. Grundlagen der anthropozentrischen Translatorik
  • 3.1. Genese und theoretische Fundierung der anthropozentrischen Translatorik in Polen
  • 4. Der Funktionsholismus als paradigmatische Synthese und Perspektivierung der anthropozentrischen Translatorik
  • 4.1. Interpretative Erweiterung des Modells des Translationsgefüges
  • 4.2. Kommunikativ-pragmatisch-strategische Dynamisierung des Translationsgefüges
  • 4.3. Der translationsbasierte Status des Textes in der dynamischen Perspektive des Translationsprozesses
  • 4.3.1. Texte in der holistischen und engen Perspektive der Translation
  • 5. Einige theoretische Überlegungen zu dem klassischen Dilemma Treue vs. Freiheit in der Translation
  • 5.1. Die prozessregulative Funktion der fundamentalen Translationsmodalitäten
  • 6. Blattdolmetschen in seiner typologischen Identität und prozessualer Autonomie
  • 7. Sub- und transmediale Grenzfälle des Blattdolmetschens
  • 8. Grundlagen des empirischen Forschungsdesigns
  • 9. Blattdolmetschen im Handlungsvollzug des Translators und des Translationsprozesses
  • 9.1. Charakteristik des Blattdolmetschgefüges im typologischen Sinne
  • 9.1.1. Der Initiator des BD
  • 9.1.2. Die AS-Textproduzenten, die möglichen/potenziellen AS-Textverwender/-verwalter
  • 9.1.3. Der (Die) AS-Text(-e)
  • 9.1.4. Der BD-Translator und seine notwendigen Kompetenzen
  • 9.1.5. Die prozessspezifischen Kompetenzen des BD- Translators als Bedingungen der Translationsperformanz
  • 9.1.6. Der (Die) ZS-Text(/-e)
  • 9.1.7. Der ZS-Adressat beim BD und möglicher/potenzieller ZS-Textverwender/Verwalter
  • 10. Charakteristik des Handlungsgefüges des Blattdolmetschens
  • 10.1. Die Initialphase
  • 10.2. Die Orientierunsrezeption, die Perzeption und die Rezeption als BD-Prozesskomponenten im Operationskomplex
  • 10.2.1. Ausgliederung der Orientierungsrezeption und ihre funktionelle Charakteristik
  • 10.2.2. Zur Spezifik der Perzeption und Rezeption im BD-Operationskomplex
  • 10.2.3. Kennzeichnung der rezeptiven Fokusbereiche, -richtungen und -felder
  • 10.2.3.1. Der kommunikativ-pragmatisch-situative Aspekt als Fokusfeld und -richtung
  • 10.2.3.2. Der illokutiv-pragmatische Aspekt als Fokusrichtung und -feld
  • 10.2.3.3. Der referentiell-textthematische Aspekt als Fokusrichtung und -feld
  • 10.2.3.4. Der syntaktische Aspekt als Fokusrichtung und –feld
  • 10.2.3.5. Der lexikalisch-terminologische Aspekt als Fokusrichtung und -feld
  • 10.2.3.6. Der Aspekt der medial (zunehmend auch multimedial) und semiotisch differenten Objekte eines Textdesigns
  • 11. Zum Wesen des Transfers im Blattdolmetschprozess
  • 11.1. Differenzierung, Funktionsweise und Zielrichtungen der einzelnen Transfermodi
  • 11.1.1. Kennzeichnung des simulativen Transfermodus
  • 11.1.1.1. Verdolmetschung ins Polnische (Transkript)
  • 11.1.1.2. Retrospektiver Kommentar des Dolmetschers in polnischer Sprache
  • 11.1.1.3. Übersetzung des retrospektiven Kommentars ins Deutsche
  • 11.1.2. Kennzeichnung des deskriptiven Transfermodus
  • 11.1.2.1. Verdolmetschung ins Polnische (Transkript)
  • 11.1.2.2. Retrospektiver Kommentar des Dolmetschers in polnischer Sprache
  • 11.1.2.3. Retrospektiver Kommentar des Dolmetschers in deutscher Übersetzung
  • 11.1.3. Kennzeichnung des explikativen Transfermodus
  • 11.1.3.1. Verdolmetschung ins Polnische (Transkript)
  • 11.1.3.2. Retrospektiver Kommentar des Dolmetschers in polnischer Sprache:
  • 11.1.3.3. Retrospektiver Kommentar des Dolmetschers in deutscher Übersetzung
  • 11.1.4. Kennzeichnung des synthetischen Transfermodus
  • 11.1.4.1. Verdolmetschung ins Polnische (Transkript)
  • 11.1.4.2. Retrospektiver Kommentar des Dolmetschers in polnischer Sprache
  • 11.1.4.3. Retrospektiver Kommentar des Dolmetschers in deutscher Übersetzung
  • 12. Projektionsoperationen als Basismechanismen für die Transferrealisierung
  • 13. Der ganzheitliche ZS-Textvollzug im Blattdolmetschen: Prozesskonstituenten und Operationsschritte
  • 14. Das blattdolmetschspezifische Controllingsystem
  • 15. Expansionen und Kompressionen beim Blattdolmetschen – eine empirisch angelegte Untersuchung
  • 15.1. Typologie von strategischen Expansionen
  • 15.2. Typologie von strategischen Kompressionen
  • 16. Desiderative Forschungsperspektiven auf die Realität des Blattdolmetschens und des Blattdolmetschers. Forschungsmethoden und Forschungsziele
  • 17. Literaturverzeichnis
  • 18. Textkorpora: AS-Texte und ihre transkribierten ZS-Verdolmetschungen ins Polnische als Textbelege für das Blattdolmetschen in Prüfungssituation

← 10 | 11 → 1. Zielsetzung und Festlegung der Aufgaben

Zum Gegenstand sowohl des ganzen Untersuchungsprojekts als auch der nachfolgenden komplexen Analysen und Interpretationen nach den paradigmatischen Grundlagen der anthropozentrischen Translatorik (F. Grucza 1981, 1993; S. Grucza 2013; J. Żmudzki 2013) wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine besondere Art der Translation, und zwar das Blattdolmetschen erklärt. Die Besonderheit resultiert aus dem praktischen und theoretischen Status des Blattdolmetschens. Das Charakteristische seiner Position lässt sich beschreiben in den Termini eines gewissen „comming out“, und zwar sowohl im Bereich der Praxis als auch im Bereich der Forschung und der Universitätsdidaktik (M. Płużyczka 2011a,b,, 2012, 2013a,b; A. Kubacki 2012: 284ff; J. Żmudzki 2004, 2008, 2008a,b, 2010 u.a.). Wenn also noch 2004 den Status des Blattdolmetschens eine auffallende Ambivalenz prägte, d.h. einerseits seine Geläufigkeit und relative Frequentiertet in der Translations- und sprachdidaktischen Praxis, andererseits offensichtliche Marginalisierung, sogar Verkennung durch die translationswissenschaftliche Forschung und Theoriebildung, so unterlag diese Translationsart in den folgenden Jahren und insbesondere im Zuge der aktuellen Entwicklung der institutionellen Kommunikation einer zunehmenden Einbeziehung in den wissenschaftlichen Fokus von vielen Forschungsprojekten auch auf der Basis eines hochmodernen empirischen Untersuchungsapparats wie Eye-Tracker (Płużyczka ebenda: passim) oder Sprechsynthesatoren (J. Żmudzki 2013). Dies hatte ebenfalls zur Folge, dass die universitäre Translationsdidaktik in Polen und in Europa (A. Kubacki 2012: 41-99) dem Blattdolmetschen in zunehmendem Masse einen gebührenden und festen Platz einräumte sowie seine Geltung im Erwerbsprozess von bestimmten Kompetenzbereichen und –stufen, in der Herausbildung von fundamentalen Translationsfähigkeiten mit einer wesentlichen Dienstleistung für andere Translationsarten wie Simultan- oder Konsekutivdolmetschen expandierte. Trotz der steigenden Interessendynamik für diese Translationsart ist die Forschungslage in dem Gegenstandsbereich im Vergleich zu den Forschungsergebnissen und zu der Forschungsliteratur über die dominierenden Dolmetscharten Simultan-, Konsekutivdolmetschen und speziell über das Übersetzen als relativ defizitär zu identifizieren. In Anbetracht dieses gegenwärtigen Zustandes sowie der daraus resultierenden translationswissenschaftlichen Desiderate und gleichermaßen der translationsdidaktischen Postulate erscheint es meiner Ansicht nach sinnvoll und legitim, ein verstärktes Forschungsinteresse diesem translatorischen Realitätsbereich zu widmen und in Konsequenz eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Problematik ← 11 | 12 → vorzunehmen. Daher wird eben aus diesem Grund hier der Versuch unternommen, dem „misslichen“ Tatbestand dahingehend entgegenzuwirken, dass mit dem annoncierten Forschungsvorhaben eine prozessual angelegte und im paradigmatischen Sinne eine anthropozentrisch basierte, relativ komplexe Modellierung dieses spezifischen Translationstyps bzw. der Dolmetschart vorgelegt wird. Zu den wichtigsten Anhaltspunkten für die Forschung gehört zweifellos sowohl die nachweisbar existierende Autonomie dieses Vorgangs in bestimmten Typen von Translationssituationen in der Translationspraxis, in der Ausbildung von Translatoren, in der universitären (und nicht nur dort) Fremdsprachendidaktik als auch in Konsequenz eine praktische und v.a. wissenschaftlich-typologische Ausgliederbarkeit des Blattdolmetschens aus dem Translationsgeschehen. (Eine interpretative Auseinandersetzung mit dem Problem der definitorischen Wesensbestimmung des Blattdolmetschens gegenüber dem Stegreifübersetzen, wie es in vielen Arbeiten der deutschen Translationswissenschaftler z.B. in S. Kalina 2004, Chr. Parkin 2012 oder S. Reinart 2014 zugunsten des letzteren praktiziert wird, erfolgt in den weiteren Kapiteln der Arbeit.)

Nach der einführenden und allgemeinen Skizze des Forschungsgegenstandes (Mehr dazu erfolgt nach der Evaluation der aktuellen Forschungslage und einer Abgrenzung gegenüber dem Stegreifübersetzen im Sinne einer definitorisch korrektiven Verortung des Blattdolmetschens) soll im Folgenden die dominierende Forschungsrichtung unter Bezugnahme auf konkrete Fragestellungen in dem bereits skizzierten Bereich der Translationsrealitӓt detailliert dargestellt werden. Zu den wichtigsten Fragen-, Ziel- und Aufgabenkomplexen gehören die folgenden:

I.Worauf beruht die Spezifik des anthropozentrischen Interpretationsparadigmas, das eine Erschließung der wesenhaften Merkmale des Blattdolmetschens als Translationsart neu begründet (gegenüber den bereits vorliegenden, wie in Chr. Parkin und S. Reinart ebenda) und seine Modellierung ermӧglicht? Welche linguistischen bzw. translatorischen Erkenntnisse bilden also die paradigmatische Basis, die das Blattdolmetschen als eine autonome Translationsart gegenüber dem in der Arbeit von Chr. Parkin (2012) ausgewiesenen Status des Stegreifübersetzens (was damit grundsӓtzlich das Blattdolmetschen verstanden wird) als einer Grenzform (einer Hybride) identifizieren lӓsst?

   Es ist im Grunde genommen eine Basisfrage, die teilweise schon im Rahmen meines anderen Forschungsprojekts über das Konsekutivdolmetschen beantwortet wurde1. Nichtdestotrotz werden die bestehenden ← 12 | 13 → paradigmatischen Grundlagen der anthropozentrisch profilierten Translatorik in Polen einer vertieften und weiterführenden Entfaltung unterzogen. In der Hoffnung, dass damit die notwendige Methodologie für Analysen, Synthesen, Kriterienbestimmung und Interpretation verfeinert wird, erfährt das Translationsverstӓndnis in der vorliegenden Arbeit eine anthropozentrisch basierte Dynamisierung insbesondere unter dem kognitiv und kommunikativ-pragmatischen Aspekt. Und in diesem Sinne werden die bestehenden definitorischen Zuordnungen und Typologiesierungen einer kritischen Evaluation unterzogen, was auch nicht zuletzt im Rahmen der Abgrenzung des Übersetzens vom Dolmetschen insbesondere nach der Heranziehung von modifizierten Interpretationskriterien erfolgt. Untersucht wird also speziell das Verhältnis Stegreifübersetzen und Blattdolmetschen.

II.In Form eines theoretischen Exkurses wird im Sinne der obigen Interpretationsrichtlinien auch der Frage nach dem ontologischen Status der Translation, des Translats und darin der Äquivalenz sowie der Adäquatheit im Translationsprozess nachgegangen. Diese Fragestellung ergibt sich aus der Konsequenz der Annahme und Erweiterung des anthropozentrischen Paradigmas. Der nächste Schritt betrifft die Kennzeichnung der Struktur des Blattdolmetschens in seiner ganzheitlichen Operationsdynamik als eine besondere Kommunikationshandlung. Es wird also danach gefragt:

III.Welche Handlungen und Operationen bilden den blattdolmetschspezifischen Komplex dieser Translationsart in direkter Abhӓngigkeit von der Translationsstrategie? In diesem Kontext interessiert natürlich die Frage nach der Konstitution der Translationsaufgabe als kognitiver Realitӓt des Translators, nach dem strategischen Profil der Operationen und Handlungen bei ihrem Vollzug im Prozess des Blattdolmetschens und konsequenterweise nach der Spezifik und dem Verlauf der Rezeptions-, der transfermӓssigen Projektion und schließlich nach der ZS-Textbildungsphase. Im prozessualen Bereich sollen demnach die Operationen der AS-Textsinnerschließung zunächst als perzeptuelle und konzeptuell-rekonstruktive Aktivität des Dolmetschers, dann als strategische (funktionale) Rekonzeptualisierung des erschlossenen AS-Textsinns, seine Umprofilierung im Rahmen der Projektion, infolgedessen die weitere Ӓquivalentaktivierung und schließlich die ZS-Textkonstruktion und mündliche –produktion gekennzeichnet werden. Die nӓchste Teilaufgabe betrifft die Beantwortung von folgender Frage:

IV.Was sind die Determinanzfaktoren, von denen die subtypenmӓssige Differenzierung des Blattdolmetschens in pragmatisch bedingte und andere Varianten abhängt und eine verfeinerte Identifizierung und Zuordnung vornehmen lӓsst?

← 13 | 14 → V.Einen anderen Bereich bilden die Fragen nach der Konzipierung und dem Einsatz von empirischen Methoden der Prozessdatengewinnung, die für die Verifizierung von theoretischen Interpretationen und Modellierungen notwendig sind. Zwecks einer deklarativen Festlegung wird vorab eine in dieser Hinsicht erforderliche Einengung der empirischen Methodologie vorgenommen und zwar auf die Methode der sog. Autodeskription der mentalen Prozesse/Operationen beim Blattdolmetschen, die früher als die Methode des Lauten-Denkens bekannt und bei vielen Untersuchungen eingesetzt wurde. Sie wird einer Präzisierung und Erweiterung insbesondere unter dem Aspekt der Diagnose und Identifizierung von Translationsoperationen bei ihrer praktischen Realisierung vom Translator unterzogen und speziell bei der Untersuchung von Expansionen und Kompressionen verwendet.

VI.Interpretative Modellierung, Konstruktion und Darstellung des Blattdolmetschens in seiner funktionellen Ganzheit. In dem funktionalen Gefüge sollen die ermittelten Prozesskonstituenten synthetisch zusammengefasst werden.

Das gesamte Untersuchungs- und Analysekorpus bilden einerseits aufgezeichnete Texte als Ergebnisse des Experiments unter Einsatz der Sprechsynthesatoren, was bisher als die sog. Lautes-Denken-Protokolle praktiziert war. Andererseits sind es fixierte und von der Polnischen Prüfungskommission für den Staatlichen Examen für Vereidigte Übersetzer und Dolmetscher beim Polnischen Justizministerium angefertigte Aufnahmetexte aus den durchgeführten Prüfungen, die zu Zwecken der Untersuchungen von dem genannten Amt in Form einer offiziellen Erlaubnis zugänglich gemacht wurden. Die Texte im Rahmen des Korpus bleiben wegen der Rechtsfragen und der ganzen Spezifik der Staatlichen Prüfung erwartungsgemäß anonym.

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1Vgl. dazu ausführlicher J. Żmudzki 1995, 1998, L. Brzozowska 2014.

← 14 | 15 → 2. Blattdolmetschen als Untersuchungsgegenstand – Verschiedenheit von Definitionskriterien, diverse typologische Zuordnungen und definitorische Diversifikation

Die relative Vielheit und v.a. die Verschiedenheit von definitorischen Bestimmungen, Auffassungen und Interpretationen des Blattdolmetschens manifestiert sich im Gebrauch von heterogenen Bezeichnungen und Termini, mit denen je nach dem Interpretationsparadigma und generell in direkter Abhängigkeit von dem Verständnis der Translation andere Merkmale dieser Translationsart zu den wesenhaften erklärt und definitorisch thematisiert wurden. Eine umfangreiche und analytisch sehr gut fundierte Übersicht über die begriffliche Disparität von Definitionsmerkmalen und Heterogenität der angeführten Kriterien bietet Franz Pöchhacker in seinem Aufsatz von 1997 (218) sowie 2007, weiter Kautz I. (2010: 6) und Parkin Chr. (2012) an, die ihre Interpretation des Stegreifübersetzens (nach meinem Dafürhalten ist es das Blattdolmetschen) mit besonderer Detailliertheit und Präzision der typologischen Charakteristik darlegt. In der interpretativen Auseinandersetzung mit dem Problem der typologischen Identifizierung des Blattdolmetschens diskutiert und polemisiert Pöchhacker mit den klassischen Vertretern der Translationswissenschaft, indem er auf der Basis der in den Bezeichnungen gebrauchten Identitätsmerkmale ihre kritische Evaluation vornimmt. Die besagte Disparität kommt also in den „sprechenden Namen“ für diese Translationsart zum Vorschein z.B. als „Translation vom Blatt“, „Vom-Blatt-Übersetzen“2 im Sinne von „Dolmetschen von oralisierten Schriften“ insbesondere in Driesen Ch. J. (1998:314), (auch Glossar: http//www.tayar.de), „Blatt-Übersetzen“, „Vom-Blatt-Dolmetschen“ (z.B. Prunč E. 20093), „Blatt-Dolmetschen“, „Stegreifübersetzen“, „Spontanübersetzung“, die u.a. von S. Kalina 2004: 103-107) für eine Subform ← 15 | 16 → mehrsprachiger Kommunikationsmittlung neben Technical Writing, Computergestütztem Übersetzen, Übersetzungsrevision und anderen mehr, von Parkin Chr. (2012) für eine Grenzform der Translation und von I. Kautz (2010) sogar für eine translatorische Subdisziplin gehalten wird. Auf der Webseite des Bundesverbandes der Dolmetscher und Übersetzer (BDÜ) Landesverband Sachsen e.V. wird das „so genannte Vom-Blatt-Übersetzen“ zu einer Mischform zwischen Übersetzen und Dolmetschen erklärt. „Hierbei liegt der Ausgangstext schriftlich vor, der Zieltext wird jedoch mündlich wiedergegeben. Diese Form kommt zum Einsatz, wenn sich der Kunde spontan und ohne Wartezeit über den Inhalt eines fremdsprachlichen Schriftstücks informieren möchte.“ Interessanterweise benutzt S. Kalina noch 1998 (1998: 255) und auch 2007 in ihren Arbeiten über Dolmetschprozesse den Namen „sight translation“ wohl mit der größten definitorischen Extension, wobei sie darunter eine Reihe von alternativen Varianten versteht wie „Spontanübersetzen“ bzw. „Stegreifübersetzen“ oder „Vom-Blatt-Übersetzen“. Sie verweist aber dabei auf seine direkten translationsdidaktischen Implikationen für das Dolmetschen schlechthin und argumentiert es insbesondere mit seiner vorbereitenden Funktion auf das Dolmetschen. S. Kalina (ebenda) konzentriert sich mit besonderer Deutlichkeit auf den Aspekt der visuellen Perzeption eines immer grafisch fixierten Ausganstextes, die die prozessuale Dimension des ganzen Vorgangs charakterisiert. Auf der Ebene der Intension bevorzugt sie jedoch konsequenterweise den Termin „Spontanübersetzen“ als wäre wiederum das Merkmal Spontaneität das prototypische und wesenhafte Merkmal dieser Translationsart. Sie grenzt es entschieden von dem Merkmal und der Bezeichnung „Stegreif“-Übersetzen ab. In der Definition von S. Kalina (2004: 107) erscheint jedoch der Faktor Kommunikation, der in den voraufgegangenen Ausführungen und Argumentation draußen vor blieb: „Auch für SÜ gilt: Es handelt sich um zweisprachig vermittelte Kommunikation und um zweckgeleitetes Handeln (ein Teil einer übergeordneten Interaktionshandlung), umfasst mit den Kommunikationspartnern und der Kommunikationssituation das Wer/Wem/Wann/Wo, mit Kommunikationsgegenstand bzw. Thema das Was/Worüber, mit der kommunikativen Funktion (Ziel, Intention) das Warum/Wofür etc., also die Lasswellschen Fragen. Sowohl Kognition als auch Sprache und Wissen sind auch beim SÜ von entscheidender Bedeutung (vgl. G. Wotjak 1997: 52).“ Es könnte dennoch aus dem Vorkommen des Faktors Kommunikation ein interpretativer Vorteil gezogen werden, und zwar wäre das vom Blatt- bzw. Stegreifübersetzen (auch Spontanübersetzen) als Übersetzen schlechthin auszuweisen, wenn das mündliche Translat lediglich als eine mündliche Variante eines noch schriftlich zu verfassendes ZS-Textes zwecks i.d.R. einer zusätzlichen Evaluation vom Translator/Übersetzer und nicht als ← 16 | 17 → Instrument für eine mündliche Kommunikation mit einem reellen Adressaten hergestellt und artikuliert wird.

Die Bezeichnung „sight translation“ finden wir auch in der Arbeit von U. Kautz (2000: 272, 372, 393) mit Verweis auf seine besondere Eignung für Belange der Translationsdidaktik. „Sight translation“ als Bezeichnung für diese Translationsart gebrauchen auch J. McDonald/P. Carpenter (1981) sowie M. Viezzi (1989:110), die in den definitorischen Vordergrund solche Merkmale stellen wie: die Simultaneität von visueller Rezeption graphischer Texte in der Ausgangssprache und die Oralität der Bildung eines Translats in der Zielsprache („Sight translation is the simultaneous oral translation of a written text“.). Dies unterstützt auch I. Kautz (2010) und meint dazu folgendes: „Um jedoch einer gültigen Definition näher zu kommen, muss auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zurückgegriffen werden. „Sight translation is an oral translation of a written text“ (H. Mikkelson 1994, 381). Demnach ist SÜ die Übertragung eines schriftlich in der Ausgangssprache fixierten Textes in einen sprechsprachlichen Text in der Zielsprache.“ Bei McDonald/Carpenter (1981) wird die „sight translation“ schlechthin als die sog. simultane Übersetzung eingestuft. F. Pöchhacker (a.a.O. 220) unterscheidet außer den oben genannten Charakteristika noch das adressatengerechte Umsetzen der aufgenommenen Information in die Zielsprache und -kultur und spontanes Formulieren des Zieltextes als „Rede“. Auch juristische Berufsregelungen mancher Bundesländer enthalten Bestimmungen dieser Translationsart u.a. als Anforderungen an die Prüfungskandidaten z.B. in Form der Verordnung zur Ausführung des Hamburgischen Dolmetschergesetzes (Hamburgische Dolmetscherverordnung–HmbDolmVO) vom 23.Januar 2007 http//hh.juris.de/hhgesamt/DolmV_HA_2007.htm). Im mündlichen Teil des Eignungsfeststellungsverfahrens sind folgende Leistungen vorgesehen:

„4.Aufgabenblock: Übertragung eines Textes vom Blatt.

4.1Einzelleistung: Übertragung aus der deutschen Sprache in die Arbeitssprache

4.2Einzelleistung: Übertragung aus der Arbeitssprache in die deutsche Sprache.“

In den Verordnungstexten findet man also eine relativ neutrale (kompromisshaltige?) Bezeichnung ,Übertragung‘, die unter dem Aspekt der Prozessspezifik dieser Translationsart mehr verdunkelt als erklärt.

Eine noch mehr interessante Bezeichnungsreihe (als alternative Bezeichnungen/Termini) finden wir in dem internetpublizierten Dokument der Fachgruppe/Zentralstelle Dolmetscherwesen des Kantons Zürich (dolmetscher@gerichte-zh.ch), und zwar erscheinen hier als synonyme Bezeichnungen „Spontanübersetzen/Abblattübersetzen/Stegreifübersetzen. Ein schriftlicher Text wird unmittelbar simultan (sic! J.Ż.) verdolmetscht. Bsp.: „Einer Partei wird ein ← 17 | 18 → deutschsprachiges Dokument vorgehalten, welches vom Dolmetscher direkt ab Blatt in die Zielsprache gedolmetscht wird.“

In der deutschen Translationswissenschaft leistet Parkin (2012) einen wichtigen Forschungsbeitrag zu der sehr komplizierten Problematik des Stegreifübersetzens (bzw. Vom Blatt-Dolmetschens). Bevor sie sich für eine typologische Identifizierung, eine Definition des Stegreifübersetzens und für eine Klassifizierung seiner Varianten entscheidet, erstellt sie im Sinne einer evaluativen Übersicht einen Kriterienkatalog für die Unterscheidung und die grundsätzliche Zuordnung der Translationsarten zum Übersetzen bzw. zum Dolmetschen. Die Zugehörigkeit zum Übersetzen determinieren folgende Faktoren und Charakteristika:

i)Schriftlichkeit des AS-Textes sowie des ZS-Textes (in Anlehnung an Gonzaléz et. al. 1991:295),

ii)indirekte Kommunikationssituation,

iii)größerer zeitlicher Spielraum für die ZS-Textherstellung,

iv)Möglichkeit einer wiederholten Rezeption des AS-Textes,

v)konsequente Möglichkeit einer Verbesserung/Korrektur der ersten abgefassten Version des ZS-Textes,

vi)relativ kleinerer Stress als in einer Dolmetschsituation (bedingt durch die Direktheit der Kommunikationssituation – J. Ż.)

vii)der AS-Text

Details

Seiten
342
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (PDF)
9783653042061
ISBN (MOBI)
9783653987812
ISBN (ePUB)
9783653987829
ISBN (Hardcover)
9783631650745
DOI
10.3726/978-3-653-04206-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Translationsaufgabe Projektionsarten Transfermodi Autodeskription
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 342 S., 3 s/w Abb., 2 Tab., 7 Graf.
Produktsicherheit
Peter Lang Group AG

Biographische Angaben

Jerzy Zmudzki (Autor:in)

Jerzy Żmudzki ist außerordentlicher Professor am Institut für Germanistik und Angewandte Linguistik der Marie-Curie-Sklodowska-Universität in Lublin (Polen). Seine Forschungsbereiche sind Pragmalinguistik, Textlinguistik, Angewandte Linguistik, Translationswissenschaft, Dolmetschwissenschaft, Konsekutivdolmetschen sowie Blattdolmetschen.

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Titel: Blattdolmetschen in paradigmatischer Perspektive der anthropozentrischen Translatorik