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Eine Wiederbegegnung im neuseeländischen Exil

Der Briefwechsel von Karl Wolfskehl mit Otti und Paul Binswanger (1939-1948)

von Friedrich Voit (Band-Herausgeber:in)
©2014 Andere VIII, 110 Seiten
Reihe: Germanica Pacifica, Band 14

Zusammenfassung

In den Korrespondenzen Karl Wolfskehls aus den Jahren seines neuseeländischen Exils, die er mit über den Globus verstreuten Freunden und Bekannten geführt hat, erscheint der antipodische Inselstaat als exemplarisches Exilland der Zeit, als europaferne «Ultima Thule des Südens». Im Gegensatz dazu gibt Wolfskehls Briefwechsel mit Otti und Paul Binswanger einen nicht stilisierten Einblick in das äußere wie innere Leben des gemeinsam geteilten Exils am anderen Ende der Welt, wo man freilich über 1000 km voneinander getrennt lebte: der Dichter in Auckland und der Gelehrte mit seiner künstlerisch wie schriftstellerisch begabten Frau in Christchurch auf der Südinsel. Diese Briefe sind ein bewegendes Zeugnis der Freundschaft und des wechselseitigen Zuspruchs in schwierigen Zeiten.

Inhaltsverzeichnis


← VI | VII → Liste der im Text und in den Fußnoten verwendeten Abkürzungen

OB

Otti Binswanger

PB

Paul Binswanger

KW

Karl Wolfskehl

MR

Margot Ruben

Albatros

Otti Binswanger-Lilienthal, Der Albatros. Ein Weg durch die Zeit. Eine Jugend in Berlin – Leben in der Emigration. Hrsg. von Friedrich Voit. Berlin 2011

And How Do You Like

Otti Binswanger, “And How Do You Like This Country?” Stories of New Zealand. Ed. by Friedrich Voit and with an Essay by Livia Käthe Wittmann. Frankfurt 2010, [= Germanica Pacifica. Ed. by James N. Bade, Vol. 5]

Br I

Zehn Jahre Exil. Briefe aus Neuseeland 1938–1948. Hrsg. von Margot Ruben. Darmstadt 1959

Br II

Karl Wolfskehls Briefwechsel aus Neuseeland 1938–1948. Hrsg. von Cornelia Blasberg. 2 Bde. Darmstadt 1988

Briefe

Friedrich Voit, „Briefe von den Antipoden. Zu den Exilbriefen Otti Binswangers der Jahre 1938–1948)“, in: Inge Hansen-Schaberg u.a. (Hgg.), Auf unsicherem Terrain. Briefeschreiben im Exil. München 2013, S. 121–134

← VII | VIII → DLA

Deutsches Literaturarchiv, Marbach.

FA Halle

Familienarchiv Halle, Berlin

GW

Karl Wolfskehl, Gesammelte Werke. Hrsg. von Margot Ruben und Claus Victor Bock. 2 Bde. Hamburg 1960

hschr.

Handschrift / handschriftlich

Leben und Werk

Friedrich Voit, Karl Wolfskehl. Leben und Werk im Exil. Göttingen 2005

Msch.

Maschinenschrift /maschinenschriftlich

nvh

nicht vorhanden

← VIII | 1 → Ein Briefwechsel in Neuseeland

Mit seinen Briefen aus Neuseeland1 wurde Karl Wolfskehl als einer der bedeutenden Briefschreiber des deutschsprachigen Exils bekannt. Der antipodische Inselstaat hatte dem deutschen Dichter seit 1938 Asyl bis zu seinem Tod 1948 gewährt und ihm so fern vom europäischen Kriegsgeschehen Raum und Ruhe gegeben für ein schaffenskrönendes Spätwerk, dem auch seine umfangreiche und weltumspannende Korrespondenz zuzurechnen ist. Seine Exil-Briefe lassen Wolfskehl nicht allein als einen reichhaltigen Korrespondenten erkenne, der sich auf jeden seiner Briefpartner in Ton und Themen einzustellen vermochte, sie dienten ihm auch dazu, die Fassetten eines Selbstbildes zu gestalten, das ihn, wie er sich selbst immer wieder in den Briefen gerne bezeichnete, als Exul2 und sein Exil als exemplarisch für diese Zeit zeigen sollte. Die Mehrzahl der in der zweibändigen Ausgabe von 1988 immer nur in z.T. knapper Auswahl dokumentierten Korrespondenzen sind an Freunde und Bekannte in Übersee gerichtet – nach Europa, Palästina, USA, Südamerika und nach Kriegsende auch wieder nach Deutschland. Nur ein kleiner Teil der über 450 Briefe hat Adressaten in Neuseeland selbst. Das spiegelt zum einen die tatsächliche Gewichtung innerhalb der Korrespondenz Wolfskehls wider, doch auch eine auffällige Auslassung der Herausgeberin der Briefe. Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass die Adressaten dieser Briefe in Deutschland so gut wie unbekannt waren. Dies hat jedoch zur Folge, dass mancher Einblick in Wolfskehls Lebenswirklichkeit im Exil ausgeblendet blieb.

Erkennbar wird dies in zwei fast die ganze neuseeländische Exilzeit umfassenden Briefwechsel, die Wolfskehl in Neuseeland führte – dem mit Otti und Paul Binswanger und dem mit Caesar und Hanna Steinhof. Diese beiden Briefwechsel sind in den Auswahlausgaben jeweils nur mit weniger als einer Handvoll Briefen repräsentiert. Zunächst heben sich diese Briefe von denen nach Übersee gerichteten dadurch ab, dass die Briefschreiber sich in ihnen vor allem über Leben und Schaffen im gemeinsamen Asylland austauschen und bestärken. Die Europaferne von „Erdballs letztem Inselriff“3 ← 1 | 2 → bedurfte hier keiner Erläuterung, man teilte sie und der Gestus des verbannten Dichters fehlt hier fast ganz. Sonst freilich unterscheiden sich auch diese beiden Korrespondenzen, wie so oft bei Wolfskehl, in ihrer Gestimmtheit und inhaltlicher Ausrichtung.

Den jüdischen Theologen Caesar Steinhof (1909–1954) hatte Wolfskehl 1939 in Auckland kennengelernt. Er stammte aus Hamburg und war mit seiner Familie nach Neuseeland entkommen, wo man ihm eine Position als Reverend in Christchurch in Aussicht gestellt hatte. Als diese sich jedoch zerschlug, absolvierte er in Auckland eine Zusatzlehrerausbildung, ehe er Anfang 1940 eine Anstellung als Religionslehrer in Dunedin auf der Südinsel fand. Zwischen Steinhof, der Wolfskehls unter deutschen Juden vielgelesenen Gedichtzyklus Die Stimme spricht (1934) kannte, und dem Dichter entstand bald ein tiefes Einverständnis und beide trafen sich häufig zu nächtlichen Gesprächen. Der so viel jüngere Gelehrte wurde Wolfskehl eine profunde Quelle jüdischen Wissens; er war ihm, wie er Steinhof dankend bekannte, „der erste Jude, mit dem ich mich verstehe als einem Juden, ohne irgend andre Zutat, schrankenlos und ungehemmt.“4 Die Freundschaft schloss die ganze Familie ein, deren jüdische Lebensform und Haltung Wolfskehl beeindruckte und beim Zusammensein teilte. Nach dem Wegzug der Steinhofs blieb die briefliche Verbindung und Caesar Steinhof gehörte zu den wenigen, denen Wolfskehl neuentstandene, noch unveröffentlichte Gedichte sandte, die dann Eingang in die letzte Fassung des Zyklus Die Stimme spricht5 und die Hiob-Dichtung6 fanden.

In Gegensatz zu den Briefen an Caesar und Hanna Steinhof spielt Jüdisches im Briefwechsel mit Otti und Paul Binswanger so gut wie keine Rolle. Dieser Briefwechsel lebte vielmehr, wie die nachfolgende kommentierende Edition dokumentiert, aus der gemeinsamen Vergangenheit und geistigen Herkunft und ist vor allem auf die Gegenwart und deren Bewältigung gerichtet. Diese Briefe zwischen einstigen, eher peripheren Bekannten bezeugen eine Wiederbegegnung, die sich im Exil zu neuer Nähe und Freundschaft entwickelt, obgleich man voneinander über 1000 km getrennt – in Christchurch auf der Südinsel und in Auckland auf der Nordinsel – lebte und sich nur wenige Male persönlich begegnete.

← 2 | 3 → Wege ins Exil

Karl Wolfskehls Bekanntschaft mit den Binswangers reicht zurück in die 1920er Jahre. Er lernte Paul Binswanger und Otti Lilienthal zu unterschiedlichen Zeiten und einer jeweils ganz anderen Umgebung kennen, noch bevor sich beide selbst begegnet waren. – Paul Binswanger (1896–1961) stammte aus Frankfurt am Main und war jüdischer Herkunft. Er entwickelte jedoch „keine eigenen bewussten Beziehungen zum Judentum“. Er hatte früh die jüdische Glaubensgemeinschaft verlassen und war als Erwachsener 1932 zur protestantischen Konfession konvertiert.7 Wann sich Paul Binswanger und Karl Wolfskehl das erste Mal begegneten, lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit feststellen. Es war wohl in München, wo Paul Binswanger zwischen 1916 und 1919 zunächst Medizin und dann 1920–1923 Romanistik (bei Karl Vossler und Eugen Lerch), Philosophie und Geschichte studierte und dort wenigstens zeitweise Kontakt zu dem Kreis um Wolfskehl hatte. 1929 promovierte er bei Ernst Robert Curtius in Heidelberg.8 In ihrem bislang unveröffentlichten Essay Begegnung mit Karl Wolfskehl in Neuseeland9 schreibt Otti Binswanger, dass Paul als junger Mensch bei einer Lesung von Stefan Georges Dante-Übertragungen das Sakrileg beging, den Raum vorzeitig zu verlassen, weil ihn das Pathos der Rezitation abstieß. Er sei „daraufhin von Karl Wolfskehl und dessen Frau Hanna mit Bann belegt worden“.10 Dies deutet auf ein Geschehen aus einer Zeit vor 1919, als die Wolfskehls noch einen vielbesuchten Salon in Schwabing unterhielten. Wolfskehl selbst datiert das Zerwürfnis auf eine spätere Zeit, denn in einem undatierten, vermutlich aus dem Jahre 1945 stammenden Brief an Hanna, in dem er ihr über seine erneuerte Bekanntschaft mit den Binswangers in Neuseeland schrieb, berichtet er ihr, dass er bei seinem Besuch in Christchurch 1941 „dem ja sehr berechtigt gewesenen Spannungszustand ein Ende gemacht [habe], nachdem er zwölf Jahre gedauert hatte und sich ja auch nur auf ihn bezog.“11 Dies weist die Entfremdung in die Zeit um 1929, als sich Paul ← 3 | 4 → Binswanger und Otti Lilienthal, die sich 1927 kennengelernt und 1931 geheiratet hatten, bereits nahe standen. Möglicherweise beziehen sich aber Karl Wolfskehl und Otti Binswanger auf verschiedene Ereignisse. – Otti Lilienthal (1896–1971) wuchs als jüngste der fünf Töchter des Flugpioniers und Sozialreformers Gustav Lilienthal in Berlin auf. Ihre ungewöhnliche Jugend und schließliche Ausbildung zur Gymnastiklehrerin hat sie eingehend in ihrer Autobiographie Der Albatros12 beschrieben, ebenso wie ihre erste Begegnung mit Wolfskehl 1920 in der Reformsiedlung Frankenfeld bei Darmstadt. Als Wolfskehl dort die mit ihm befreundete Gründerin der Siedlung Marie Buchhold (1890–1983)13 besuchte, wurde er Otti Lilienthal als berühmter Dichter und Freund Stefan Georges vorgestellt, von dem sie selbst damals jedoch nichts wusste. Während eines kurzen persönlichen Austauschs verstanden sich beide; sie war beeindruckt von dem „künstlerischen Menschen, der frei und schöpferisch die Welt aufnahm“ und Wolfskehl von der Schönheit und Vitalität der jungen Frau. Ein damals wenig verbindliches ‚Auf Wiedersehen!‘ verwirklichte sich einige Jahre später, als sich Otti Lilienthal mit einer Freundin für einige Tage auf Wolfskehls Besitz in Kiechlinsbergen aufhielt. Damals war sie bereits mit Paul Binswanger verlobt, durfte diesen jedoch wegen des bereits anführten Zerwürfnisses nicht erwähnen. Danach brach der persönliche Kontakt zunächst ab.

Details

Seiten
VIII, 110
Erscheinungsjahr
2014
ISBN (PDF)
9783653045574
ISBN (MOBI)
9783653985894
ISBN (ePUB)
9783653985900
ISBN (Hardcover)
9783631651810
DOI
10.3726/978-3-653-04557-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Mai)
Schlagworte
II. Weltkrieg Exil Binswanger-Lilienthal, Otti Wolfskehl, Karl Binswanger, Paul
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. VIII, 110 S., 5 s/w Abb.

Biographische Angaben

Friedrich Voit (Band-Herausgeber:in)

Friedrich Voit lehrt als Germanist an der Universität Auckland (Neuseeland). Er ist Autor von Biographien zu Karl Wolfskehl und Gerson Stern, Herausgeber von Exildichtungen Wolfskehls, Werken Gerson Sterns sowie Otti Binswangers.

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Titel: Eine Wiederbegegnung im neuseeländischen Exil