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Versuch über Kundry

Facetten einer Figur

von Chikako Kitagawa (Autor:in)
©2015 Dissertation 402 Seiten

Zusammenfassung

Thema des Buches ist Kundry, die weibliche Hauptfigur in Richard Wagners Spätwerk Parsifal (1882) und eine singuläre Gestalt der Operngeschichte. Als Grenzgängerin und in sich Zerrissene findet sie – zwischen Schrei, Lachen und Verstummen – zu verstörend neuen Artikulationsformen an den Rändern des Sagbaren. Ziel der Autorin ist es, das Vielgestaltige, stets wieder Beunruhigende der Kundry-Figur aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, ihre Vorbilder zu erhellen, die in mythische Fernen zurückweisen, sowie ihre Fortschreibungen in der verschlungenen Rezeptions- und Inszenierungsgeschichte des Werkes zu erkunden. Dank der ihr innewohnenden Dynamik wird Kundry zum geistesgeschichtlichen Paradigma: zu einer Schlüssel- und Schwellenfigur zwischen Romantik und anbrechender Moderne.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorwort
  • Einleitung
  • 1. Die Figur der Kundry
  • 2. Zum Begriff der Figur
  • 2.1 Die Figur in der Dichtung
  • 2.2 Die Figur in der Dramentheorie
  • 2.3 Die Figur im Theater – Komplexität und absolute Gegenwärtigkeit
  • 3. Zum Begriff der Emotionalität
  • 3.1 Leitvorstellungen
  • 3.2 Zum Wandel des Emotionalitätsbegriffs
  • 4. Zur Methodik – Geschichtliche Dynamik und Perspektivenwechsel
  • I Strukturen weiblicher Emotionalität – Frauenfiguren in Wolframs von Eschenbach Parzival
  • Hinführung
  • 1.1 Die Figuren und ihre Funktionen im Epos
  • 1.1.1 Sigune
  • 1.1.2 Orgeluse
  • 1.1.3 Cundrîe
  • 1.2 Weibliche Emotionalität im Parzival – Trauer und Leiden als leitende Motive
  • 1.3 Strategien der weiblichen Emotionsdarstellung
  • 1.3.1 Formen der Körperdarstellung
  • 1.3.1.1 Direkte Körperdarstellung
  • 1.3.1.2 Indirekte Körperdarstellung
  • 1.3.2 Rauminszenierung
  • 1.3.3 Zur Narration des Ich-Erzählers
  • 1.4 Zur Komplexität Orgeluses
  • 1.5 Trauer und Leiden als Mittel der Darstellung von minne und triuwe
  • II Zu Wagners Konzeption und Gestaltung Kundrys
  • 2.1 Kundry – eine Schwellenfigur der Moderne
  • 2.1.1 Von Cundrîe zu Kundry – Zum Entstehungsprozeß der Figur Wagners
  • 2.1.2 Kundry – »eine personifizierte Paradoxie«
  • 2.1.3 Überschreitungen
  • 2.2 »Das wilde Weib« – die Physiognomie des Fremden
  • 2.2.1 Die Neuartigkeit der Wildheitskonzeption
  • 2.2.1.1 Zur Bedeutungsvielfalt des Wildheitsbegriffs
  • 2.2.1.2 Ursprünglichkeit
  • 2.2.1.3 Ausgegrenztheit
  • 2.2.1.4 Zur musikalischen Physiognomie der Wildheit
  • 2.2.2 Wildheit im zeithistorischen Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts
  • 2.2.2.1 Zur Strömung des Exotismus
  • 2.2.2.2 Das »ferne Fremde«: Wildheit und das Fremdländische
  • 2.2.2.3 Das »nahe Fremde«: Wildheit und das Randständige
  • 2.2.2.4 Exkurs: Parsifal, der »edle Wilde« – Ein Gegenentwurf zu Kundry
  • 2.2.3 Wildheit, Instinkt und Unterbewußtsein
  • 2.2.3.1 Kundrys Ruhelosigkeit und Getriebensein
  • 2.2.3.2 Kontradiktion und Kritik
  • 2.2.3.3 Strukturanalogien: Parsifal und Das Unbehagen in der Kultur (Sigmund Freud)
  • 2.2.4 Vergegenwärtigungsstrategien des Unbewußten
  • 2.2.4.1 Sprachliche Gestaltung
  • 2.2.4.2 Sprachreflexion und Erkundung seelischer Tiefenschichten als Kennzeichen der Moderne
  • 2.2.4.3 Wagners Musikdramen – Entfaltung neuer Sprachmöglichkeiten
  • 2.2.4.4 Zur Struktur von Kundrys Sprache
  • 2.2.4.5 Sprachform und musikalische Struktur
  • 2.2.4.6 Aspekte szenischer Vergegenwärtigung
  • 2.3 Kundrys Passion – Lachen und Schreien
  • Hinführung: Lachen und Schreien im Theater
  • 2.3.1 Kundrys Schrei
  • 2.3.2 In der Maske einer Verführerin
  • 2.3.3 »Qualen, wie sie noch kein Wesen litt«
  • 2.3.3.1 Emotionaler Ausbruch und strukturelles Kalkül
  • 2.3.3.2 Zur Ambivalenz der Erlöserfigur
  • 2.3.3.3 Verwandlung: Kundry, »die Liebende«
  • 2.3.4 Kundrys Lachen
  • 2.3.4.1 Das Lachen als Keim des Dramas
  • 2.3.4.2 Lachen als Zeichen eines doppelten Sonderstatus
  • 2.3.5 Ausblick: Der Schrei als Topos der Moderne
  • 2.4 Zur Dramaturgie des Schweigens – Kundrys Verwandlung im III. Akt
  • 2.4.1 Potentiale des Schweigens: Gegenwärtige Interpretationsversuche
  • 2.4.2 Verwandlung im Schweigen
  • 2.4.2.1 Parallele Strukturen des II. und III. Aktes
  • 2.4.2.2 Parallele Strukturen des I. und III. Aktes
  • 2.4.2.2.1 Schritte
  • 2.4.2.2.2 Aussehen
  • 2.4.2.2.3 Wiederbegegnung mit Parsifal
  • 2.4.2.3 »Spiel des Blickes«
  • 2.4.3 Struktur des Schweigens
  • 2.4.3.1 Erlöschen als Erlösung?
  • 2.4.3.2 Zur szenischen Konzeption
  • 2.4.4 Zur musikalischen Gestalt des III. Aktes
  • 2.4.4.1 Das Konzept des »tönenden Schweigens«
  • 2.4.4.2 Zur Ambivalenz der musikalisch-dichterischen Gestalt – Kundrys Dienen
  • 2.4.4.3 Vom Klang der Stille – Zur Funktion der Pauke im Parsifal
  • 2.4.5 Kundrys Tod – Der offene Schluß
  • Exkurs: Kundry und Isolde
  • 2.4.6 Kundry – eine Metapher der Musik
  • III Zur Rezeption der Figur Kundrys
  • 3.1 Die Figur Kundrys im Kontext der Uraufführung
  • 3.1.1 »… wie an einem göttlichen Marionettendraht …«(Eduard Hanslick)
  • 3.1.2 Kundry als Ausdruck einer »sterbende[n] Hyperromantik«(Hermann Kretzschmar)
  • 3.2 Zur Rezeption zwischen 1900 und 1945
  • 3.2.1 Kundry im Rahmen religiöser Vorstellungen
  • 3.2.2 Rezeption in den Bayreuther Blättern
  • 3.3 Kundry – eine antisemitisch geprägte Figur?
  • Hinführung
  • 3.3.1 Rezeption Kundrys als Jüdin – vor 1945
  • 3.3.2 Rezeption Kundrys als Jüdin – nach dem Holocaust
  • 3.3.2.1 Physiognomie und Habitus
  • 3.3.2.2 Sprache
  • 3.3.2.3 Sexualität
  • 3.3.3 Die Kundry-Gestalt im Kontext der ›Blutideologie‹
  • 3.3.4 Im Spannungsfeld von Werkimmanenz und Hermeneutik
  • 3.4 Kundry und das Phänomen der Hysterie – Frauenbilder um 1900
  • Hinführung
  • 3.4.1 Hysterie-Konzepte im geschichtlichen Wandel
  • 3.4.2 Hysterie-Entwürfe im Rahmen der Gender Studies
  • 3.4.3 Zum Aspekt der Sexualität
  • 3.4.4 Zum Aspekt der Dissoziation
  • 3.4.5 Hysterie als Darstellungsmedium
  • 3.4.6 Zwischen »Verbergung und Offenbarung« (E. Bronfen): Die Ausweitung des Hysterie-Konzepts
  • 3.5 Kundry und der Frauentypus der Femme fatale
  • 3.5.1 Ein ambivalentes Frauenbild
  • 3.5.2 Die Dämonisierung der weiblichen Sexualität
  • 3.5.3 Projektionsflächen männlicher Ängste und Wünsche
  • 3.5.4 Die Ästhetisierung der weiblichen Sexualität: Kundry und die bildende Kunst des Jugendstils
  • 3.5.5 Ausprägungen der Femme fatale: Kundry, Salome und Lulu
  • IV Kundry in der gegenwärtigen Inszenierungspraxis
  • 4.1 Hinführung
  • 4.1.1 Kundry heute
  • 4.1.2 Methoden und analytische Schritte
  • 4.2 Jenseits der Interpretation: Robert Wilson (1991)
  • 4.2.1 Zum Regiekonzept Robert Wilsons – Konkretionen des postdramatischen Theaters
  • 4.2.2 Darstellung eines Nicht-Darstellbaren?
  • 4.2.3 Zeitformen: Dehnung und Verdichtung
  • 4.2.4 Das Nichts
  • 4.2.5 Dissoziation
  • 4.3 Der verwandelte Gral: Peter Konwitschny (1995)
  • 4.3.1 Zum Regiekonzept Peter Konwitschnys – Theater als Korrektiv
  • 4.3.2 Realitätsnähe
  • 4.3.3 Die Visualisierung des Mit-Leidens
  • 4.3.4 Kundry als Symbol der Erlösung
  • 4.3.5 Kundrys Tod – Aufhebung der Alterität
  • 4.4 Die Grenzgängerin: Christoph Schlingensief (2004)
  • 4.4.1 Zum Regiekonzept Christoph Schlingensiefs – Das Prinzip »Ready-Made«
  • 4.4.2 Wanderin durch Zeiten und Räume
  • 4.4.3 Funktionen der Verwandlungen Kundrys
  • 4.4.3.1 Visualisierungen
  • 4.4.3.2 »Aus der Perspektive eines kleinen Menschen«
  • 4.4.4 Universalität und Vergänglichkeit
  • 4.5 Schritte ins Offene: Calixto Bieito (2010)
  • 4.5.1 Zum Regiekonzept Calixto Bieitos
  • 4.5.2 Realistisches Theater
  • 4.5.3 Züge des Humanen
  • 4.5.3.1 Agape
  • 4.5.3.2 Mutterrolle
  • 4.5.4 Kundry als Einzelgängerin – eine Emanzipation?
  • Zur gegenwärtigen Inszenierungspraxis – ein Resümee
  • Zusammenfassung
  • Anhang
  • Die drei Kundry-Darstellerinnen des Uraufführungsjahrs 1882
  • 1. Amalie Materna (1844–1918)
  • 2. Marianne Brandt (1842–1921)
  • 3. Therese Malten (1853–1930)
  • Literaturverzeichnis
  • Sigel
  • Primärquellen
  • Primärquellen zu einzelnen Parsifal-Inszenierungen
  • Rezensionen
  • Dokumente der Künstlerinnen
  • Lexika, Nachschlagwerke, Handbücher
  • Sekundärliteratur
  • Versuch über Kundry – Facetten einer Figur
  • Experiment on Kundry – Facets of a Character

Vorwort

Im Jahr 2005, während meines ersten Bayreuther Festspielsommers, hinterließ mir die Parsifal-Inszenierung Christoph Schlingensiefs einen unauslöschlichen Eindruck. Was diese Bayreuther Aufführung, die ich miterleben durfte, an Intensität und überwältigender Bilderfülle entfaltete, war jenseits all dessen, was ich zuvor an Wagner-Inszenierungen gekannt hatte. Insbesondere Kundry – Grenzgängerin zwischen verschiedenen Welten – irritierte und berührte mich gleichermaßen; stets wieder radikal unterschiedliche Gestalten annehmend, stellte sie sich in jähen Umschwüngen dar. Dieses Theatererlebnis gab mir den entscheidenden Impuls, mich mit Richard Wagners Parsifal und vor allem mit der Figur Kundrys eingehend zu befassen.

Konkrete Formen im Sinne eines Dissertationsprojektes nahm mein Versuch über Kundry an, als ich durch ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) die Gelegenheit erhielt, von 2009 bis 2013 ein Promotionsstudium an der Freien Universität Berlin in den Fächern Theater- und Musikwissenschaft durchzuführen. Die vorliegende Arbeit, die das Ergebnis dieser Studien bildet, wurde im Dezember 2013 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität als Dissertation angenommen.

Den vorausliegenden Arbeitsprozeß haben zahlreiche Menschen hilfreich begleitet. An erster Stelle danke ich den beiden Betreuern meines Projektes, Herrn Professor Dr. Clemens Risi und Herrn Professor Dr. Jürgen Maehder, für ihre mir in jeder Hinsicht gewährte Unterstützung. Ihre vielfältigen Hinweise und Anregungen sowie ihre stets produktive Kritik haben mein interdisziplinär ausgerichtetes Forschungsvorhaben wesentlich befördert.

Mein Dank gilt ebenso dem DAAD, der mir – über die mehrjährige finanzielle Beihilfe hinaus – den kollegialen Austausch mit Stipendiaten anderer Fachrichtungen ermöglichte. Dafür, daß ich mein Promotionsstudium in Deutschland durchführen konnte, sei nochmals Herrn Prof. Dr. Maehder ausdrücklich gedankt, der sich freundlicherweise schon im Vorfeld meines Dissertationsvorhabens bereit erklärt hatte, mich wissenschaftlich zu betreuen.

Großzügige Druckkostenzuschüsse zur Veröffentlichung der vorliegenden Arbeit gewährten mir die Gesellschaft zur Förderung der Germanistik in Japan (doitsu gogaku bungaku shinkokai) und der Richard-Wagner-Verband International, dessen ehemalige Präsidentin Frau Prof. Eva Märtson mir besondere Fürsprache zuteil werden ließ. Beiden Institutionen bin ich zu großem Dank verpflichtet.

Mein Dank gebührt ebenso dem Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth, vor allem dessen Leiter Herrn Dr. Sven Friedrich, sowie der Akademie der Künste Berlin für die Bereitschaft, mir wissenschaftliche Quellen zugänglich zu machen; die Staatsoper Hamburg, die Bayerische Staatsoper München und die Staatsoper Stuttgart überließen mir freundlicherweise Aufführungsmaterialien und ← 13 | 14 → Photographien. Darüber hinaus gilt mein besonderer Dank dem Bayreuther Festspielhaus, das mir über viele Jahre hinweg Gelegenheit gab, mich mit dem Œuvre Richard Wagners vertraut zu machen.

Herrn Dr. Benjamin Kloss und Frau Anne-Kathrin Grimmeißen vom Verlag Peter Lang danke ich für die engagierte Betreuung der vorliegenden Publikation, Herrn Gerhart Schneider für die sorgfältige und schöne Gestaltung des Layouts.

Für die gründliche Durchsicht meines Manuskripts und einen stets anregenden Gedankenaustausch möchte ich mich bei Veronika Riesenberg, Hans-Werner Schostak, Anja von Stein, Christiana Schwade und Ulrich Thoma vielmals bedanken. Sehr herzlich danke ich ebenso Herrn Prof. em. Dr. Eberhard Scheiffele, der mir zahlreiche wertvolle Anmerkungen zu meiner Arbeit gab. Ein besonderer Dank gilt Frau Doris Despineux, die dieses Projekt von Beginn an begleitet und gefördert hat.

Über die fachliche Unterstützung hinaus stand mir Roland Willmann auch in schwierigen Arbeitsphasen immer zur Seite; hierfür danke ich ihm von Herzen. Was meine Mutter Atsuko Kitagawa für mich getan hat, läßt sich kaum in Worte fassen. Ihr sei dieses Buch gewidmet.

Berlin, im Herbst 2014

Chikako Kitagawa ← 14 | 15 →

Einleitung

»Groß aber stehen die echten Paradoxa im Parsifal, vor allem diejenigen Kundrys, wie sie zwischen Schrei und Winseln, Venusgesang und Karfreitagszauber um diese Musikgestalt versammelt sind.«
Ernst Bloch, Paradoxa und Pastorale bei Wagner
»Das Rätsel lösen ist soviel wie den Grund seiner Unlösbarkeit angeben.«
Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie

1.Die Figur der Kundry

»Parsifal is the most enigmatic and elusive work in the Wagnerian canon«1: Diese lapidare Feststellung gilt wohl insbesondere für die Figur Kundrys, die – als »Synthese des Unmöglichen«2 – gleichsam zur Repräsentantin der Kunstform Oper überhaupt wird.3 Sie ist häßlich und schön, teuflisch und heilig, erotisch und asketisch, uralt und ganz gegenwärtig. Dadurch hat diese Figur stets wieder neue, radikal verschiedene Deutungen provoziert; ihr wirkungsgeschichtliches Potential indes verweist darauf, daß sie selber quasi eine Überblendung darstellt: Verschiedene Konzepte und Traditionen, Räume und Zeiten verdichten sich in dieser einen, verstörend vielschichtigen Figur.

Schon in der Hebräischen Bibel und im Neuen Testament erscheinen Facetten Kundrys vorgeprägt. So lassen sich Eva und die Schlange des Paradieses, das heidnische, schuldbehaftete Weib Herodias und Maria Magdalena, die bekehrte Sünderin, als Vorbilder erkennen. Ebenso weisen disparat anmutende Modelle wie die kriegerische Gundryggia und die Gestalt des unstet umherirrenden, nach Erlösung suchenden Ahasver ins mythisch Ferne zurück. Deutlicher noch tritt das Moment der Komplexität hervor, indem ein Rückbezug auf Wolframs von Eschenbach Parzival erfolgt, denn es sind mindestens drei verschiedene Frauenfiguren dieses Versepos, welche in der Gestaltung Kundrys gebündelt werden: Cundrîe, Orgeluse und Sigune. Doch geht Wagners Konzeption allein in solchen Bezügen nicht auf; Bezeichnungen wie ← 15 | 16 → »Ur-Frauenzimmer«4 und »weltdämonisches Weib«5 weisen vielmehr darauf hin, daß Kundry archetypische, universale Züge annimmt, die sich von allen Vorbildern zu lösen scheinen.

Was sich innerhalb einer solchen Konzeption schon andeutet, entfaltet sich wirkungsgeschichtlich. Es entstehen Interpretationen, die den Zeitgeist des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts ebenso reflektieren wie die katastrophischen Erfahrungen von Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust. So ist Kundry zum Beispiel als Hysterikerin, als Femme fatale oder als antisemitisch geprägte Figur begriffen worden. Darüber hinaus hat die gegenwärtige Inszenierungspraxis neue, zukunftsweisende Perspektiven auf Kundry eröffnet, und zwar gerade im Sinne eines humanen Gehalts, durch den sie sich von einer zwanghaft in sich verschlossenen Männerwelt – der Gralsgesellschaft – abhebt. Eine derart variable, ja in sich konträre Rezeptionsgeschichte aufweisend, erscheint Kundry als eine singuläre Figur im Œuvre Wagners. Läßt sich jedoch überhaupt von der Figur Kundrys sprechen? Was verleiht ihr ein solches Potential an Bedeutungsebenen? – Mein Versuch möchte die irritierende Vielzahl von Deutungen Kundrys nicht ausblenden oder diesen Interpretationen bloß eine weitere hinzufügen, sondern vielmehr das Vielschichtige, Facettenreiche, ja disparat Anmutende dieser Figur ausloten; gerade dadurch kann vielleicht – aus verschiedenen, gegenläufigen Fragerichtungen heraus – ihr spezifischer Gehalt ergründet werden.

Über jene Dynamik hinaus, welche die Figur Kundrys schon in sich austrägt, wachsen ihr somit im geschichtlichen Prozeß der Rezeption und Interpretation unablässig weitere Bedeutungsschichten zu; diese sollen ebenso wie die in der Figur bereits unmittelbar angelegten Züge aufgedeckt werden. Voraussetzung hierfür ist es, zentrale Begriffe wie diejenigen der Figur oder der Emotionalität in ihren grundsätzlichen Implikationen, d. h. von ihrem Theoriegehalt her zu bedenken. Es gilt daher, diesen Begriffen in ihren historisch, medial und gesellschaftlich wechselnden Kontexten nachzuspüren, so zum Beispiel jenem stets wirksamen Ineinander von Immanenz und Weltbezügen, einem Geflecht, das die Figur – im Sinne eines prozessualen Geschehens – generell konstituiert. Dem Vorhaben einer multiperspektivischen Ausleuchtung der Kundry-Figur dient zudem ein interdisziplinärer Ansatz, der Forschungsergebnisse aus den Bereichen der Theater- und Musikwissenschaft sowie der Mediävistik integriert. So kann erst vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit den drei Frauenfiguren in Wolframs Epos die Figur Kundrys in Wagners Parsifal einer Analyse unterzogen werden, die zum Ziel hat, das Spezifische dieser Frauengestalt freizulegen. Zugleich ist es in diesem Zusammenhang notwendig, differierende Vorstellungen von Emotionalität zu klären; Konzepte des Emotionalen bilden gleichsam den Schlüssel, um produktive Widersprüche innerhalb der Figur Kundrys – ihre jähen ← 16 | 17 → Ausschläge von einem Extrem zum anderen – erhellen zu können. Gerade durch eine qua Emotionalität vorgenommene Analyse wird gezeigt werden können, daß Kundry einen zukunftweisenden, bereits auf die Moderne hindeutenden Charakter innehat; sie erweist sich als dasjenige Paradigma, das die von Wagner antizipierten Probleme der Moderne in besonderer Schärfe zu artikulieren vermag.

2.Zum Begriff der Figur

Das Wort figura, von dem der moderne Figur-Begriff sich herleitet, meint eine »Gestalt«, ein artifizielles Gebilde. Diesen generellen Begriff konkretisiert Gabriele Brandstetter, indem sie – an Vorstellungen des 18. Jahrhunderts anknüpfend – eine gattungsgeschichtliche Differenzierung vornimmt. So tritt das Dynamische des Figur-Begriffs gerade im Vergleich von Rhetorik, bildender Kunst und Tanz hervor.

Im weitesten Sinne ist die Figur, so Brandstetter, eine »Zeit- und Raum-Organisations-Formel«6, die sich erst im geschichtlichen Rückgriff erhellt. In der barocken, an die Antike anknüpfenden Rhetorik bezeichnet die figura ein Kunstmittel, das den Charakter des Auffälligen, aus dem jeweiligen Kontext Hervorstechenden trägt.7 Um den Hörern gegenüber eine suggestive Kraft zu entfalten, kann eine solche Figur bildhafte oder expressive Züge gewinnen: etwa als eine zugespitzte, die Antwort quasi schon vorwegnehmende Frage (Interrogatio), als ein Gefüge sich steigernder Wiederholungen (Climax, Gradatio) oder als spannungsreich gesetzte Pause (Pausa). Eine Darstellung und Vermittlung von Affekten streben insbesondere die musikalisch-rhetorischen Figuren an.8 Dieses rhetorisch eindringliche, auf Wirkung ausgerichtete Kompositionsprinzip des Barock ist unterschwellig selbst noch im musikalischen Idiom Wagners vorhanden, doch nun nicht länger in einer typisierten, sondern individuell geprägten Gestalt. So gemahnt Wagners dynamische, stets subtil variierte Sequenzbildung an jenes Kunstmittel der Gradatio: der sich steigernden, den Hörer mitreißenden Wiederholung. – In der bildenden Kunst, insbesondere der Plastik, gewinnt die figura eine unmittelbar materielle Qualität. Zugleich bewahrt sie, so Brandstetter, einen Doppelcharakter, indem sie einerseits als etwas Stillgestelltes – ein statisches Bild – erscheint, andererseits jedoch als ein »dynamischer Prozeß in der Bewegungsgestalt des menschlichen Körpers«9. Noch stärker in die Sphäre unmittelbarer körperlicher Präsenz weist der Figur-Begriff im Tanz: zum einen als ← 17 | 18 → »Raumgestalt des Tänzers«, zum anderen als ein übergreifendes Prinzip, das »bestimmte Einheiten von Bewegung« artikuliert.10 Zentrale Bedeutung erlangt hierbei der Gedanke, daß die Figur stets dynamisch geprägt sei. Eine solche Dynamik wird insbesondere in einer verborgenen Dialektik des Figur-Begriffs spürbar, indem die Figur – im Versuch der Darstellung – gleichzeitig auf ein Nicht-Darstellbares hindeutet:

Anstelle von ›figura‹, der Figur der Belebung, tritt nunmehr ein anderes – wiewohl zuletzt immer noch aus der Differenz zum Modell der Figur belebtes – Moment von Darstellung in den Vordergrund: Nicht die Figur der Animation des Körpers als dargestellte und darstellbare Natur, sondern der Topos der Nicht-Bezeichenbarkeit einer Natur, die sich entzieht – ein Gedanke des Verfehlens oder der Auflösung von ›Figur‹ mithin als Bestandteil einer Ästhetik des Nicht-Darstellbaren, einer Ästhetik also, die schließlich um 1800, in der Romantik und bis in die Moderne hinein vorherrschend werden wird.11

Die Frage der Darstellbarkeit und des Nicht-Darstellbaren scheint insbesondere Wagner beunruhigt zu haben; gerade in Bezug auf Kundry faßt er seine künstlerische Absicht im Paradoxon des »unsichtbare[n] Theater[s]«, wie aus einer Äußerung gegenüber Cosima hervorgeht:

»[A]ch! es graut mir vor allem Kostüm- und Schminke-Wesen; wenn ich daran denke, daß diese Gestalten wie Kundry nur sollen gemummt werden, fallen mir gleich die ekelhaften Künstlerfeste ein, und nachdem ich das unsichtbare Orchester geschaffen, möchte ich auch das unsichtbare Theater erfinden!«12

2.1Die Figur in der Dichtung

Daß eine Figur sich überhaupt erst aus verschiedenen Perspektiven bildet, haben vor allem die Dichtungstheorien des 20. Jahrhunderts gezeigt.13 Sie ist einerseits – vom Autor her – ein »kalkuliertes Gebilde«: ein »fiktionales Strukturelement, […] ein intentional gemachtes Konstrukt und daher durch Funktionalität geprägt«14. Kontextgebunden ist eine solche Figur jedoch nicht nur in dem Sinne, daß sie sich gleichsam nur immanent, im Beziehungsgeflecht eines Textes herausbildet, sondern auch insofern, als ← 18 | 19 → sie wesentlich von ästhetischen, politischen, philosophischen oder religiösen Vorstellungen des Autors – kurz: durch seine Weltanschauung – bestimmt erscheint. Gerade das Ineinander von Immanenz und Weltbezügen verleiht einer Figur überhaupt erst ein dynamisches Potential, eine Prozessualität, welche die Figur in ein Anderes – in ein vom Autor sich ablösendes Gebilde – verwandelt. Andererseits jedoch beschränkt sich die Entstehung einer Figur nicht allein auf den Prozeß der Produktion, vielmehr wird das Geschehen der Rezeption zu einer zweiten, unabdingbaren Voraussetzung.15 Die ästhetische Erfahrung und die Weltbezüge der Leser prägen dieses Geschehen; ihre Aktivität ist daher gefordert. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht die Vorstellung, daß ein Text Segmente, gewissermaßen nur Ausschnitte bildet, die unvermittelt aufeinanderstoßen können. Diese Segmente zu einer quasi sprechenden Konstellation zu verdichten und ebenso die Lücken, die der Text reißt, in eine genuine ästhetische Erfahrung einzulassen, wird zur zentralen Herausforderung der Rezeption. Gemäß einer solchen Sichtweise erscheint die Figur als ein

kognitiv-emotionales Konstrukt, das von Rezipierenden durch Anregungen textueller Informationsvergabe und unter Hinzuziehung von kognitiv-emotionalen Wissensstrukturen während des Lesevorgangs gebildet, mental repräsentiert, bearbeitet (elaboriert, modifiziert, revidiert) und bewertet wird.16

Indem ein solcher – an sich schon komplexer Prozeß – zugleich geschichtlich sich wandelnden Kontexten unterworfen ist, bringt er notwendig stets wieder neue Deutungen hervor. In diesem Sinne läßt sich der Figur ein Fragmentcharakter zusprechen, der freilich im Konzept des Dramas noch an Wirksamkeit gewinnt. ← 19 | 20 →

2.2Die Figur in der Dramentheorie

Im Kontext des Dramas hat Manfred Pfister das Konzept der Figur grundlegend reflektiert.17 Er rückt es in die Nähe des christlich geprägten Personenbegriffs und betont zugleich, daß eine literarisch dargestellte Figur stets an einen bestimmten Zeitraum gebunden ist und sich somit wesentlich geschichtlich konstituiert. Ebenso weist Pfister darauf hin, daß eine ontologische Differenz zwischen einer fiktiven Figur und realen Charakteren besteht, weil eine solche Figur stets einem fiktiven Kontext verhaftet bleibt; sie wird prozessual hervorgebracht, indem sie erst »in der Summe ihrer Relationen zu diesem Kontext«18 entsteht; so erweist sich die fiktive dramatische Figur wiederum als ein intentionales Konstrukt. Im Gegensatz zu einem realen Charakter – und ebenso zu den nicht auszulotenden Deutungsmöglichkeiten einer Figur – ist der Satz an Informationen, durch den eine Figur in einem dramatischen Text unmittelbar bestimmt wird, indes ein endlicher und abgeschlossener, so daß dieser spezifische Satz analytisch vielleicht ausgeschöpft, nicht aber erweitert werden kann.19

Es erscheint als Paradoxie einer theatralen Figur, daß sie einerseits – aufgrund der Plurimedialität des Bühnengeschehens und der leibhaften Präsenz einer Figur – die Illusion erwecken kann, als realer Charakter zu wirken20; andererseits jedoch mutet sie gegenüber einer Romanfigur von ihren medialen Bedingungen her gleichsam limitiert an, denn sie weist einen stärkeren Fragmentcharakter auf und eröffnet – im Vergleich zu narrativen Texten – nur begrenzt Möglichkeiten einer detaillierten, alle Aspekte berücksichtigenden Menschendarstellung. Was eine dramatische Figur ist, sucht Pfister ganz abstrakt zu fassen: als »die Summe ihrer strukturellen Funktionen der Situationsveränderung und der Situationsstabilisierung«21, während sich der Charakter einer Figur (aufgefaßt im neutralen Sinn der Identität) als »Summe der Korrespondenz- und Kontrastrelationen zu den anderen Figuren des Textes«22 erweist. Daß eine Figur im Drama eine strukturelle Funktion innehat – daß sie prozessual hinsichtlich der Stiftung sowie der Verwandlung von Situationen wirken kann – und sich gleichzeitig in der Interaktion mit anderen Figuren überhaupt erst schärft, bildet einen wesentlichen Ausgangspunkt, um sich der Figur der Kundry zu nähern.

Schon dem abstrakten Begriff der Figur ist, so Pfister, das Moment des Vielschichtigen eingeschrieben, weshalb sich folgende Gegensatzpaare exponieren lassen: eine statische und dynamische, ein- und mehrdimensionale, geschlossene und offene Figurenkonzeption. In meiner Arbeit soll gezeigt werden, daß die Gestalt ← 20 | 21 → Kundrys wesentlich einer dynamischen, mehrdimensionalen und offenen Konzeption zugehört.

Eine dynamisch konzipierte Figur ist nach Pfister dadurch gekennzeichnet, daß sie beständiger Entwicklung unterliegt und der Satz ihrer Differenzmerkmale sich stets verändern kann, sei es kontinuierlich oder in jäh-sprunghaften Schüben.23 Dem entspricht die Idee des Mehrdimensionalen. Eine gemäß dieser Idee entworfene Figur ist nach Pfister durch einen komplexen Satz von Merkmalen bestimmt,

die auf den verschiedenen Ebenen liegen und zum Beispiel ihren biographischen Hintergrund, ihre psychische Disposition, ihr zwischenmenschliches Verhalten unterschiedlichen Figuren gegenüber, ihre Reaktionen auf unterschiedlichste Situationen und ihre ideologische Orientierung betreffen können. In jeder Figurenperspektive und in jeder Situation scheinen neue Seiten ihres Wesens auf, so daß sich ihre Identität in einer Fülle von Facetten und Abschattungen dem Rezipienten als mehrdimensionales Ganzes erschließt.24

Für Kundry ist insbesondere jenes Merkmal erhellend, welches Pfister im Begriff der »offen konzipierte[n] Figur« faßt. Eine solche Figur kann für den Betrachter des Dramas »enigmatische Züge« annehmen; »relevante Informationen bleiben ausgespart, der Satz definierender Informationen wird vom Rezipienten als unvollständig empfunden«, so daß sich irritierende Widersprüche bilden können, die unauflösbar erscheinen.25 Das »setzt ein bestimmtes anthropologisches Modell, das bestimmte geistes- und sozialgeschichtliche Voraussetzungen impliziert, voraus«, welches eine solche Offenheit überhaupt erst zuläßt.26

Die Momente des Dynamischen, Mehrdimensionalen und Offenen potenzieren sich gleichsam in der Idee des Gesamtkunstwerkes, die auf eine Synthese von Drama, Musik und Tanz zielt. Daß in Wagners Konzept eine Figur wesentlich durch die Musik gekennzeichnet ist, bewirkt, daß eine solche Figur immer schon ins Offene und Mehrdimensionale weist; denn stets entzieht sich die Musik in semantischer Hinsicht einer eindeutigen Zuschreibung: Ein »Rätselcharakter« ist ihr daher immer schon zu eigen.27 ← 21 | 22 →

2.3Die Figur im Theater – Komplexität und absolute Gegenwärtigkeit

Innerhalb der Bühnenwirklichkeit entsteht die Figur – als ein artifizielles Gebilde – im Zusammenspiel mehrerer Ebenen; dadurch potenziert sie sich nochmals:

Für die Theaterwissenschaft kann gelten, daß die Figur auf der Bühne nicht als ontologische Einheit aufzufassen ist, sondern als Konstrukt, welches sich erst in einem je spezifischen Verhältnis von Rolle und individuellem Schauspieler konstituiert und durch die Wahrnehmung der Zuschauer vollzogen wird.28

Im Zusammenwirken von Autor, Darsteller und Zuschauer prägt sich ein intersubjektives Geschehen aus, das über die je einzelnen, in dieses Spiel involvierten Subjekte noch hinausweist; hieraus resultiert eine nicht stillzustellende Dynamik. Vielschichtigkeit gewinnt ein solches Gebilde gerade dadurch, daß es auf den verschiedenen Ebenen der interagierenden Subjekte jeweils »biographische, emotionale und psychologische Komplexe umfasst«29. Gefordert erscheint in diesem prozessualen Geschehen insbesondere eine »Syntheseleistung der Zuschauer […], die auf historisch variable Paradigmen bezogen werden muss«30. Während die Konzeption einer Figur sowohl statische als auch dynamische, geschlossene sowie offene Gestaltungsmöglichkeiten kennt, erscheint die Figur auf der Bühne immer schon als ein offenes, dynamisch-unabgeschlossenes Gebilde.

Die Figur gewinnt somit eine gleichsam absolute Gegenwärtigkeit. Im Theater existieren Figuren zunächst »allein im aktuellen Spielen für die jeweiligen Vorstellungen der Spieler, nirgendwo sonst«31. Hierbei wirkt die unmittelbare körperliche Erscheinung vermittelnd zwischen dem Schauspieler selbst und der von ihm dargestellten Figur: als ein Medium, worin Agieren und Interpretieren in eins geschehen können. Eine solche Körperlichkeit der Spieler schafft im Rahmen des Spiels gewissermaßen »eine eigene Materialität«, die sich spannungsreich »in der realen Zeit und im realen Raum«32 vollzieht.

Im Geschehen des Spiels wirken Schauspieler, Rolle und Figur zusammen, was unablässig Wechselwirkungen zwischen den Ebenen der Realität des Spiels und der ← 22 | 23 → Fiktion hervorruft. Wichtig ist hierbei vor allem die Differenz zwischen Rolle und Figur. Nach Schwind bildet die Rolle quasi nur eine Basis des Spiels: Sie ist eine Vorlage, die es zu gestalten gilt. Die Rolle eröffnet insofern lediglich einen Spielraum; innerhalb dieses Raumes bewegt sich der Schauspieler sowohl agierend als auch reflektierend, gleichsam in einem Spannungsfeld zwischen Identifikation und Distanz33, so daß eine grundlegende Ambivalenz entsteht. Stets nur bildet die Rolle ein Angebot für die Gestaltung einer Figur; eine solche Gestaltung kann selektiv verdichtend mit jenem Angebot verfahren, sie kann jedoch zugleich Bedeutungsebenen gewinnen, die in der Rolle nicht schon unmittelbar angelegt sind. Daher weist die Figur – in der Komplexität ihrer Erscheinung, im Ereignis der Aufführung – über ein bloßes Rollenangebot stets hinaus.

Im Ereignis der Aufführung erscheint darüber hinaus die leibliche Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern bedeutsam; gerade auch auf dieser Ebene erfolgt ein Prozeß wechselseitiger Interaktion und Kommunikation. Ein solcher Prozeß, der sich in der Jetztzeit und im konkreten Raum der Aufführung vollzieht, konstituiert wesentlich die Figur.34 Diese Erfahrung scheint schon in Wagners Konzept relevant gewesen zu sein, denn sie geht – wie auch immer unterschwellig – in die Gestaltung von Dichtung, Musik und Szene ein: Der Charakter des Performativen ist sozusagen bereits mitbedacht. Nach Wagners Auffassung realisiert sich ein Werk daher letztlich erst im Geschehen der Aufführung; es gewinnt erst in ihr eine ereignishafte Qualität und Dichte, so daß die szenische Realisierung ins Zentrum seiner artifiziellen Bestrebungen rückt:

Ein Kunstwerk existiert nur dadurch, daß es zur Erscheinung kommt: dies Moment ist für das Drama die Aufführung auf der Bühne. Soweit es irgend in meinen Kräften steht, will ich auch diese beherrschen, und ich stelle meine Wirksamkeit zu diesem Zweck den übrigen Teilen meiner Produktivität fast vollständig zur Seite.35

3.Zum Begriff der Emotionalität

3.1Leitvorstellungen

Ein wesentliches Frageinteresse dieser Arbeit richtet sich auf den Aspekt der Emotionalität. Die Gestaltung einer Figur verknüpft sich in aller Regel mit der Darstellung ihr zugehöriger, vielfach gestufter Emotionen. Die Analyse solcher Emotionen erscheint daher notwendig, um die Komplexität einer Figur wie Kundry erhellen zu ← 23 | 24 → können. Was aber ist eine Emotion? Worin zeigt sich die Differenz zwischen ihr und dem Begriff der Emotionalität? Die Emotionsforschung hat zum Ziel, Begriffe und Vorstellungen im Feld des Emotionalen – wie zum Beispiel Gefühl, Affekt, Empfindung oder Trieb – näher zu bestimmen. Grundlegend ist hierbei die Erkenntnis, daß Emotionen geschichtlich, kulturell sowie gesellschaftlich bedingt erscheinen und insofern einem Prozeß mannigfaltiger Differenzierung unterworfen sind.36 Als »kulturelle Konstruktionen« werden sie zum Gegenstand interdisziplinärer Forschung; wichtig ist daher, sie nicht primär nur für sich, sondern in einem übergreifenden Beziehungsgeflecht zu betrachten:

Denn nur, wenn wir ›Gefühle‹ nicht isoliert untersuchen, sondern in Beziehung zu ›Informationen‹ unterschiedlicher Herkunft setzen, können wir emotionale Äußerungen auch deuten und gewichten; nur dann können wir eine Vorstellung darüber gewinnen, inwiefern sich Gefühle auch in Handlungen niederschlagen […].37

Weil Emotionen sich somit in komplexen Relationen bilden und sich nur vor dem Hintergrund eines solchen Beziehungsgeflechts deuten lassen, rückt das umfassende Konzept der Emotionalität, das gerade auch den Aspekt der Darstellung in sich schließt, ins Zentrum des Forschungsinteresses.38 So erscheinen Affekte oder Empfindungen im Kunstwerk nicht unmittelbar, sondern vielmehr repräsentiert, einem Kalkül der Darstellung gehorchend. Ausdruck meint in diesem Kontext deshalb stets etwas »Gezeigtes, Verkörpertes und Erzeugtes«39. Das artifizielle, scheinhafte Moment zeigt ← 24 | 25 → sich speziell darin, daß »die ›Natürlichkeit‹ und ›Authentizität‹ von Emotionen Effekt ihrer theatralen Verfaßtheit [ist]«40. Es gehört zu dieser theatralen Verfaßtheit, daß ein Affekt keinen fixierten Gegenstand bildet, sondern ein »performatives Phänomen, das nur im Moment seines Vollzugs in flüchtigen und veränderlichen Konstellationen der Darstellung, Artikulation und Wahrnehmung existiert«41.

Gemäß der Einsicht der Emotionspsychologie, daß Empfindungen und deren Artikulation – in wiederum geschichtlich und kulturell wechselnden Kontexten – erlernt werden, erfährt auch im Kunstwerk jede Emotion ihren spezifischen, historisch bedingten Ausdruck.42 Die Emotion an sich erscheint somit als etwas, das sich analytischem Zugang entzieht; das Forschungsinteresse gilt daher wesentlich den Möglichkeiten ihrer Darstellung und Codierung.43 Die Strategien solcher Darstellung sind dabei je nach dem spezifischen Kunstmedium differenziert. Im Epos oder im Roman vollzieht sich eine Emotionsdarstellung auf der Basis schriftlicher Zeichen, während sie im Theater wesentlich durch Inszenierungen und Stilisierungen des Körpers erfolgt.44 Somit kann der Begriff der Emotionalität gerade in seinem geschichtlichen und artifiziellen Beziehungsreichtum zu einem Schlüsselwort innerhalb der Untersuchung der Kundry-Figur werden.

3.2Zum Wandel des Emotionalitätsbegriffs

In der Antike identifizierte man Affekte oder Gefühle primär mit »externen, atmosphärisch-numinosen Mächten«45: Emotionen erschienen als etwas, das den Menschen – wie von außen her – ergreift und überwältigt. Dem entsprach innerhalb der Gesellschaft und insbesondere in den Darstellungsformen der Kunst ein Ausdruck von Emotionen, der eine gleichsam überindividuelle, streng codierte Verbindlichkeit zeigt: ← 25 | 26 →

In den vormodernen Jahrhunderten sind es […] weniger elaborierte und individualisierte Artikulationen, in denen eine Person ihre Emotionen zum Ausdruck bringt, als vielmehr ritualisierte Handlungsweisen, die ebenso sprachliche wie körperliche Ausdrucksformen umfassen können.46

Im geschichtlichen Prozeß wurde indes die Vorstellung ausgebildet, daß Gefühle und ihre Entstehung ganz ins Innere des Menschen verlagert sind. Die überkommene Affektenlehre ist daher im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend obsolet geworden. Leitvorstellungen eines gleichsam wahrhaftigen, authentischen Gefühlsausdrucks bildeten nun die Konzepte der Subjektivität und Natürlichkeit.47 Solche Gefühle erschienen als Ausdruck einer besonderen, unvergleichlichen seelischen Disposition, ein Ausdruck, der sich jeder Normierung oder Codierung entzieht.48 Speziell die Romantik hat im beginnenden 19. Jahrhundert diese Vorstellung entfaltet. Die Musik ist zum privilegierten Träger der Expression einer solchen inneren, rationaler Steuerung nicht gehorchenden seelischen Sphäre geworden. Das Unsagbare – dasjenige, was ins Reich einer »unendlichen Sehnsucht« (E. T. A. Hoffmann) weist – läßt gemäß einer solchen Vorstellung nur in Tönen sich sagen; das wirkt in Wagners Idee eines »tönenden Schweigens« fort. Wagners Kunst jedoch erscheint komplex, denn sie nimmt gleichzeitig Vorstellungen des Realismus in sich auf49; dies geht so weit, daß manche Aspekte innerhalb der musikdramatischen Konzeption Wagners wie ein Echo auf zeitgenössische Körper- und Medizintheorien wirken können.50 Zugleich antizipiert Wagner, speziell im 1882 uraufgeführten Spätwerk Parsifal, Züge des Expressionismus; eine solch radikal gewordene, unmittelbar somatischen Regungen folgende und Extreme umschließende Emotionalität prägt zumal die Kundry-Figur. ← 26 | 27 →

4.Zur Methodik – Geschichtliche Dynamik und Perspektivenwechsel

Im komplexen geschichtlichen Prozeß, der die Figur Kundrys hervorbringt, wirken Produktion und Rezeption auf verschiedenen Ebenen zusammen. Variabel mutet in diesem Gefüge die Position Wagners an: Als Rezipient der mittelalterlichen Vorlage wird er zum Produzenten seines Parsifal; sein Werk wird wiederum rezipiert, von Regisseuren und Darstellerinnen der Kundry künstlerisch interpretiert und (re-)produziert. Es entsteht eine Dynamik, die nie an ein Ende gelangt, weil dieser Prozeß – das wechselseitige Ineinander-Verschlungensein von Produktion und Rezeption – per se unabschließbar bleiben muß.51 Wechselnde Perspektiven erscheinen daher erforderlich, um überhaupt die Möglichkeit zu eröffnen, sich den Facetten und dem Bedeutungspotential der Figur Kundrys analytisch anzunähern.

Adorno spitzt die geschichtliche Dynamik, die ein Kunstwerk aufweist, dahingehend zu, daß er sie nicht allein dessen Rezeption zuschreibt, sondern in der Immanenz des Kunstwerks selbst aufspürt. Das gilt vor allem für das Œuvre Wagners:

Was indessen sich an Wagner veränderte, ist nicht bloß seine Wirkung, sondern das Werk selber, an sich. […] Kunstwerke als ein Geistiges sind nichts in sich Fertiges. Sie bilden ein Spannungsfeld aller möglichen Intentionen und Kräfte, von inwendigen Tendenzen und ihnen Widerstrebendem, von Gelingen und notwendigem Mißlingen. Objektiv lösen aus ihnen immer neue Schichten sich ab, treten hervor; andere werden gleichgültig und sterben. Das wahre Verhältnis zu einem Kunstwerk ist nicht sowohl, daß man es, wie man so sagt, einer neuen Situation anpaßt, als daß man, worauf man geschichtlich anders reagiert, im Werk selbst entziffert.52

Eben weil die Kunstwerke »kein Sein sondern ein Werden«53 bilden, verlangen sie nach ihrer Interpretation.54 Ein Wahrheitsgehalt sei Kunstwerken zu eigen, indem sie gesellschaftliche Verhältnisse und Widersprüche nicht nur abbilden, sondern vielmehr – in der Immanenz ihrer Form – Kritik an ihnen üben.55 Dem Versuch, diesen Gehalt ← 27 | 28 → im Prozeß der Interpretation sprachlich-rational zu fassen, bleibt jedoch notwendig das Moment des Scheiterns eingeschrieben. Der Grund hierfür ist der »Rätselcharakter«, der jedes gelungene Kunstwerk prägt. Andererseits ist es eben dieser enigmatische Charakter, der stets neue Deutungen provoziert.

Daß Adornos Theorie metaphysische, quasi-religiöse Züge in sich birgt, hat Albrecht Wellmer entfaltet.56 Eine solche immanente Kritik spitzt sich in Fragestellungen Wolfgang Ullrichs noch zu; befragt wird sowohl die Vorstellung Adornos, daß das Kunstwerk eine immanente Dynamik in sich austrage, als auch dessen Idee, daß ein Artefakt unerschöpflich sei; damit werde es gleichsam in die Sphäre des Göttlichen und Heiligen transformiert:

Ist es nicht eine merkwürdige – erklärungsbedürftige – Konstruktion, einem Artefakt ein Eigenleben zu unterstellen? […] Hat, wer der Kunst derart unerschöpfliche Potenziale zutraut, nicht nur einer metaphysischen Sehnsucht, einer Heilsphantasie nachgegeben? […] Und wird ein Werk nicht zum heiligen Text, zur heiligen Partitur deklariert, ja hypostasiert, wenn darin Antworten auf alle jeweils drängenden Fragen gesucht werden – und wenn jenes Orakel darin erkannt wird, das immer eine Wahrheit parat hält und daher zeitübergreifend aktuell ist?57

Trotz dieser Einschränkungen Ullrichs erscheint es evident, daß einer Figur wie Kundry eine Dynamik innewohnt, die bis heute immer wieder neue Facetten freigelegt hat; diese Figur löst, gerade was die aktuelle Inszenierungspraxis betrifft, Irritationen aus, die produktiv werden können. Daß die Figur Kundrys – mag sie vielleicht auch keine unendlichen, unausschöpflichen Potentiale aufweisen – sich andererseits auch nicht in einer einzigen, sich gleichsam absolut setzenden Deutung konkretisieren kann, bildet den Ausgangspunkt meines Fragens.

Ausgehend von einem Konzept historisch-kritischer Analyse, das zugleich einen Wechsel der Perspektiven in sich einschließt, rückt meine Arbeit zunächst Wolframs Parzival ins Zentrum. Untersucht wird, welche Strategien und Codes in diesem mittelalterlichen Epos verwendet werden, um Figuren – konkreter: die drei Frauenfiguren Cundrîe, Sigune und Orgeluse – zu konstituieren und darzustellen. Mein Frageinteresse gilt insbesondere den geschichtlichen und gesellschaftlichen Codierungen, denen ← 28 | 29 → diese Frauenfiguren, speziell hinsichtlich der Emotionsdarstellung, unterliegen. In Bezug auf mein Thema ist von besonderem Interesse, daß in der Kultur des Mittelalters literarische Texte nicht primär stumm gelesen, sondern kunstvoll – unter Einsatz rhetorischer Mittel – vorgetragen worden sind: Das Wort wurde nicht nur in seiner semantischen Qualität, sondern zugleich als ein Klangerlebnis wahrgenommen, so daß bereits in der mittelalterlichen Kultur der Charakter des Performativen hervortritt.

Wagners Rezeption des mittelalterlichen Epos ist dadurch charakterisiert, daß sie nicht eine Rezeption im gewöhnlichen Sinne bildet, sondern daß sie produktiv wird, d. h. sich mit der Absicht kreativer Aneignung verknüpft. Die Faszination elementarer, atmosphärisch aufgeladener Sprachbilder und die gleichzeitige Erfahrung von bleibender Fremdheit wirken in dessen Rezeption in eins58; genau an dieser von Spannungen durchzogenen Konstellation entzündete sich Wagners Produktivität. Innerhalb meiner Untersuchung werden daher vor allem zwei Aspekte wesentlich: erstens der Wechsel des Mediums, den Wagner vollzieht, indem er das Epos Wolframs in ein komplexes, Dichtung, Musik und szenische Darstellung umfassendes Bühnengeschehen überträgt; zweitens der Zeitenabstand59, der, als ein vollständig verwandelter historischer Kontext, sowohl das Spezifische der Figuren- und Emotionsdarstellung bei Wolfram als auch bei Wagner erhellt.

Leitend ist darüber hinaus die Frage, welche Facetten der Figur Kundrys innerhalb der Rezeptionsgeschichte freigelegt worden sind. Daß solche Deutungen und Zuschreibungen stets auch historisch bedingt erscheinen, ist ebenso Gegenstand meines Fragens. Den Begriff der Rezeption verstehe ich wiederum doppelsinnig: nicht nur in Bezug auf Auslegungen, wie sie sich in Rezensionen und wissenschaftlichen Texten vollzogen haben, sondern ebenso im Sinne einer wiederum produktiv gewordenen Rezeption, wie sie sich zumal in der gegenwärtigen Inszenierungspraxis zeigt. Um einen komplexen, in sich dynamischen Figurbegriff zu entfalten, sollen paradigmatische, provozierend wirkende Inszenierungen näher beleuchtet werden. Gerade sie können Perspektiven eröffnen, die es ermöglichen, der Figur Kundrys verblüffend neue Charakterzüge zuzuschreiben.

Details

Seiten
402
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653045123
ISBN (ePUB)
9783653983388
ISBN (MOBI)
9783653983371
ISBN (Hardcover)
9783631653319
DOI
10.3726/978-3-653-04512-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Theaterwissenschaft Musikwissenschaft Oper Musiktheater
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 402 S., 10 Graf.

Biographische Angaben

Chikako Kitagawa (Autor:in)

Chikako Kitagawa studierte Literatur-, Theater- und Musikwissenschaft in Hiroshima sowie in Tübingen, Wien und Berlin. Sie promovierte an der Freien Universität Berlin in Theater- und Musikwissenschaft und war als Dramaturgin an den Opernhäusern Leipzig und Amsterdam tätig. Seit 2015 lehrt sie als Assistenzprofessorin an der Keiō Universität Tokyo.

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Titel: Versuch über Kundry
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