Globalisierung, interkulturelle Kommunikation und Sprache
Akten des 44. Linguistischen Kolloquiums 2009 in Sofia
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort: Globalisierung, interkulturelle Kommunikation und Sprache
- Plenarvorträge
- Identitäten und Identitätskrisen in „Kakanien“
- Die Globalisierung und die Sprache der Wissenschaft
- Culture, language and globalization: Challenges for instructors teaching intercultural communication
- Beiträge
- Sprachliche Formen des Verhüllens in der interkulturellen Relation. Zum Gebrauch von Euphemismen in öffentlichen Diskursen
- Zur kontrastiven Beschreibung des Kontrollphänomens bei deutschen und bulgarischen Verben der Handlungssteuerung
- Compétence plurilingue spécialisée pour les filières d’études européennes
- Aspekte der funktionalen Textperspektive
- Tempus im Aktiv und Passiv
- Intercultural communication and semiotic analysis in foreign language teaching materials
- Kommunikationsgrenzen in der Übersetzung
- Anglicisms everywhere! The influence of English as a global language
- Semantic types of predicates in weather forecasts
- Die Sprache früher Bibelübersetzungen – „Experimentiersprache“ erster volkssprachlicher Schriftlichkeit im Gefolge spätantiker und frühmittelalterlicher Globalisierungsprozesse in Europa
- Dissecting Current Language Use: Contesting Ideologies
- Rhetorik im Dienste der Transplantationsmedizin
- Hedging and Concealed Knowledge: I don’t know that p.
- ‚Wir‘ oder ‚ich‘? Oder über Hedging in der deutschen Wissenschaftssprache
- Conceptual Metaphors and Intercultural Awareness
- Vielsprachigkeit im Kontext der globalisierten Welt
- Politolinguistik: Fachterminologisches Instrumentarium der politischen Sprache
- Kulturspezifische Informationen in bulgarischen und deutschen öffentlichen Urkunden und Probleme ihrer Übersetzung
- Interkulturelles Lernen und Kommunikation durch Zwillingsformeln aus dem Deutschen, Bulgarischen und Englischen
- Representations du temps (étude comparee français – bulgare)
- Zwischen „mochte“ und „Möchtegern“: Die „möchte“-Lücke im Deutschen
- Der Renarrativ im Bulgarischen – neue Tendenzen?
- Fußballfan-Kommunikation in Deutschland und in Italien. Eine semiologische und linguistische Studie
- Lernerbezogene Voraussetzungen zum Einsatz von WBT im Fachsprachenunterricht für Medizinstudenten
- The interpreter as performer
- Comparative analysis of active and passive dictionary and Children with hearing damaged at elementary school age
- Modernity in Lûdskanov’s thought and terminological issues of translation along the East-West line
- Call for Papers – eine Textsorte des (globalisierten) wissenschaftlichen Diskurses
- Linguistische Analyse deutscher und bulgarischer Corporate Blogs
- Generating Thesauri of Orthographically Similar Words
- Ermittlung von Prozessen, Problemen und Strategien des Textverstehens durch Protokolle des paarweisen lauten Denkens
- Formation of cross-cultural competences while teaching English at linguistic departments
- Zum Begriff „Mehrdeutigkeit“
- Zero determiner in interlanguage comparison
- The scope of subcategorisation in Bulgarian und English
- Paradigms in word-formation and some globalizing developments
- The mirror of pejorative Ottoman Turkish loan words in Bulgarian
- Auf dem Weg zu einem vereinten Europa – das Thema “Europa” in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen
- „Die regenbogenbunte Einheit“ in ontologischen Konzepten
- Bulgarische Standardsprache und umgangssprachliche Elemente im Fremdsprachenunterricht
- Chinese-based lexicon in Singapore English, and Singapore-Chinese culture
- Semantische Untersuchung des Wortfeldes „Sitzgelegenheiten“ im österreichischen Deutsch und im Binnendeutschen
- Emotionalität und Europa. Eine lebensweltlich-biographische Perspektive
- Textlinguistik > Linguistische Diskursanalyse (LDA)/Kritische Diskursanalyse (KDA) > Erneuerte Soziolinguistik
- Quantitative Data Presentation in German Research Articles in Economics
- Eingeleitete Redewiedergabe in deutschen und niederländischen Zeitungen
- Korrelate – nur eine grammatische Marginalie?
- Syntaktisch-morphologische Aspekte der Passivierung im Deutschen
- Zum Präpositionalattribut in der deutschen Gegenwartssprache: FREUDE „über“, „an“, „auf“, „mit“, „zu“, „um“ oder…
- Die Rolle der Fremdsprache in der interkulturellen Kommunikation am Beispiel des Deutschunterrichts in Serbien
- Autorenverzeichnis
← 10 | 11 → Vorwort
Globalisierung, interkulturelle Kommunikation und Sprache
Zum Thema des Kolloquiums
Das 44. Linguistische Kolloquium fand vom 09.09.2009 bis zum 12.09.2009 in Sofia statt und wurde von der Neuen Bulgarischen Universität veranstaltet. Somit wurde die fast fünfzigjährige ununterbrochene Tradition des Linguistischen Kolloquiums fortgesetzt, das ein Beispiel für transkulturelle Zusammenarbeit und wissenschaftlichen Pluralismus ist. Seit dem ersten Treffen 1966 in Hamburg hat sich das Linguistische Kolloquium bereits als ein wissenschaftliches Ereignis etabliert, auf dem Themen aus verschiedenen Bereichen der Wissenschaften über die Sprache und ihre gesellschaftliche Rolle und Bedeutung diskutiert werden.
Das gewählte Leitthema des 44. Linguistischen Kolloquiums Globalisierung, interkulturelle Kommunikation und Sprache zog über 70 Teilnehmer aus Europa, Asien und Australien an, was als ein Beleg für die Aktualität des Themas zu deuten ist. Der Grund dafür ist u. E. darin zu suchen, dass der Mensch immer wieder danach bestrebt war und auch heute noch ist, die Grenzen seiner ihm bekannten Welt zu sprengen, etwas Neues zu erschließen, andere Menschen und Kulturen kennenzulernen. In diesem Sinne besteht die Globalisierung, seit es den Menschen gibt1, nur haben wir heute dafür andere Termini wie Globalisierung und interkulturelle Kommunikation geprägt. Die gegenseitigen Einflüsse und Zusammenhänge zwischen Sprache und interkultureller Kommunikation einerseits und der Globalisierung andererseits werden in den Konferenzbeiträgen unter verschiedenen Aspekten untersucht und interpretiert: Sprache als soziales Phänomen, als Verständigungs-, Manipulations- und Machtinstrument, Sprache im Zeitalter der Globalisierung.
Der Grund dafür, dass sich heute viele Geisteswissenschaften mit diesen Problemen auseinandersetzen, ist die enorme Intensität des Informationsaustausches, die wir den neuen Kommunikationstechnologien zu verdanken haben. Das Thema des 44. Linguistischen Kolloquiums steht außerdem in enger Verbindung mit den europäischen Politiken zur Bewahrung der kulturellen und Sprachenvielfalt, Erforschung der Rolle der Sprache in der Gesellschaft, der unterschiedlichen Diskurse und ganz besonders mit der interkulturellen Kommunikation.
← 11 | 12 → Plenarvorträge
Bereits die Plenarvorträge von Goltschnigg, Todorov und Altan illustrieren dieses vielfältige Herangehen an die Globalisierung und ihre sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Folgen, die ihren Niederschlag in der Sprache als unserem wichtigsten Kommunikationsmittel finden.
Der Beitrag von Dietmar GOLTSCHNIGG versucht anhand des Falls ‚Österreich‘ eine Analyse der Identitätskrisen in der heutigen globalisierten Welt zu erstellen. Er zieht sowohl Traditionswerke der deutschsprachigen Literatur als auch deren Rezeptionszusammenhänge heran, um sich mit den durch den im Wiener Fin de siècle virulenten Antisemitismus hervorgerufenen jüdischen Identitätskrisen und ihren literarischen Darstellungen auseinanderzusetzen. Goltschnigg zieht Parallelen zwischen den damals in den Nationalstaaten entstandenen massiven Pluralitäten zu den sich am Ausgang des 20./Anfang des 21. Jh. durch Zuwanderung resp. Auswanderung ausbildenden ethnischen, kulturellen, religiösen und sprachlichen Pluralitäten, um die daraus resultierenden sozialen, ethnischen, kulturellen und religiösen Spannungen zu analysieren. Seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen für die Situation damals könnten in vieler Hinsicht für die Situation heute aufschlussreich und lehrreich sein.
Christo TODOROV widmet seine Aufmerksamkeit den Einflüssen der Globalisierung auf die Sprache der Wissenschaft. Zunächst wird die Bedeutung des Begriffs ‚Globalisierung‘ diskutiert, die hier als eine langfristige Tendenz intensiven wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Austausches zwischen Menschen verschiedener Regionen definiert wird. Der daraus resultierende Wandel in den historisch gewachsenen Traditionen führt zu einem Streit zwischen Traditionalismus und Antitraditionalismus mit interessanten Projektionen in der zeitgenössischen Wissenschaft. Während durch die Mathematisierung und Unifizierung der Wissenschaftssprache das angestrebte Einheitsideal in der Naturwissenschaft verwirklicht wird, stellt dieses Ideal die Geisteswissenschaften wegen derer Sprach- und Kulturgebundenheit vor viele Probleme, die besonders deutlich unter den Bedingungen der Globalisierung zu erkennen sind, denn einerseits sind die Geisteswissenschaften durch das Interesse für die eigenen und fremden Sprachen und Kulturen motiviert, andererseits wird ihr Gegenstand sprachlich vermittelt.
Die bestehenden Zusammenhänge zwischen Sprache, Kultur und den Auswirkungen der Globalisierung betrachtet Mustafa ALTAN unter dem Blickwinkel des Fremdsprachenunterrichts. Der intensive Austausch in fast allen Bereichen sowohl zwischen Menschen und Gemeinschaften wie auch zwischen ganzen Regionen setzt die Kenntnis von Fremdsprachen voraus, wie auch Wissen darüber, welche kulturellen Unterschiede vorliegen, damit die Kommunikation und das gegenseitige Verständnis nicht misslingen und die Grundlage für die Akzeptanz des Anderen geschaffen wird. Es werden die Anforderungen an den Fremdsprachenlehrer erörtert, wie auch die Herangehen, die er im Unterricht einsetzen soll, um seine Lerner dazu zu befähigen, problemlos kulturelle und sprachliche Unterschiede in der globalisierten Welt zu bewältigen.
← 12 | 13 → Zu den Beiträgen in diesem Band
Auf dem Kolloquium wurden 63 Beiträge in fünf Sektionen gehalten. Davon erscheinen in diesem Band 56, die verschiedene Aspekte des globalen Themas behandeln. Da die Autoren der meisten Beiträge an ihr Forschungsobjekt interdisziplinär vorgehen, erwies sich eine Zuordnung zu einem konkreten Thema recht schwierig. Es finden sich Überlegungen zu Sprache und Gesellschaft, Sprache und Politik, Sprache und Kultur, sowie zu Mehrsprachigkeit und Möglichkeiten des Fremdsprachenlernens im europäischen Kontext. Weitere Schwerpunkte der Tagung bilden Untersuchungen im Bereich der Textlinguistik und Pragmatik, der Translatologie und der kontrastiven Studien. In allen Beiträgen werden direkt oder indirekt die Einflüsse der Globalisierung auf Kultur und Sprache zur Diskussion gestellt. Um dem Leser dieses vielfältige Herangehen an das Leitthema übersichtlicher und leichter zugänglich zu machen, haben wir uns für die nachstehende alphabetische Anordnung entschlossen.
Mit dem vielschichtigen und komplizierten Thema Sprache und Gesellschaft befassen sich die Beiträge von CRUZ-CABANILLAS&TEJEDOR-MARTÍNEZ, STEPANENKO&BLOCH, EBELING, GOTTSCHALK&GOTTSCHALK und CH. STAMENOV&KOLAROVA. In ihrem Beitrag untersucht IVANOVA das Problem der Vielsprachigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung. GOTTSCHALK befasst sich mit Englisch als lingua franca und den Vorteilen, die sich daraus für Sprecher des Englischen in den Höflichkeitsstrategien ergeben.
Die Zusammenhänge zwischen Sprache und Politik werden von KATAJEWA aus der Sicht der Politolinguistik diskutiert. TREICHEL&SCHÖPE widmen ihre Aufmerksamkeit dem sprachlichen Bezug auf Europa, indem sie biographische Interviews einer lexikalisch-semantischen und pragmalinguistischen Analyse unterziehen. Europa steht auch in den Beiträgen von STANCHEVA und BOZHINOVA im Mittelpunkt.
Im Zentrum vieler Beiträge stehen die mannigfaltigen Beziehungen zwischen Sprache und Kultur. So beleuchtet M. STAMENOV die sprachliche Wiederspiegelung der interkulturellen Konflikte in der Geschichte Bulgariens. Fragen der interkulturellen Kommunikation untersuchen BĄK, TIEN, VASILEVA, HADJIKOTEVA und GROZEVA-MINKOVA, die spezifische Aspekte der interkulturellen Kommunikation in verschiedenen Diskursen herausarbeiten. Damit beschäftigen sich auch KIRYAKOVA-DINEVA, CHRISTODOULOU, SHABANOV und ZORICA-SAMARDZIC, die auf die interkulturelle Kommunikation im Fremdsprachenunterricht und in der Ausbildung von Dolmetschern/Übersetzern verweisen. Spezifische Probleme des Deutschen als Fremdsprache im interkulturellen Kontext behandeln in ihren Beiträgen ZLATEVA und WIERZBICKA, und des Bulgarischen – STOYANOVA und LAMBOVA. Auf den Einsatz von neuen Medien im Fremdsprachenunterricht unter dem Aspekt der Globalisierung geht MERDZHANOV ein. Ihrerseits interessieren sich NIKOLIC&SAVIC für die Entwicklung des aktiven und passiven Wortschatzes bei gehörlosen Kindern unter dem Einsatz der Gebärdensprache. KÜRSCHNER diskutiert ein für den Deutschunterricht sehr interessantes Problem – die Defektivität von „möchte“ und wie diese in Grammatiken und Wörterbüchern kodifiziert wird.
← 13 | 14 → RAPP beschreibt in seinem Beitrag die maschinelle Generierung von Wörterbüchern, die auf den anhand eines Algorithmus berechneten orthographischen Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen basieren. Auf die Erstellung von Wörterbüchern konzentriert sich auch STAMBOLIEVA, die besonderen Wert auf eine Erweiterung der syntaktischen Projektion der Lexeme legt.
Kontrastiv angelegt sind die Beiträge von BASCHEWA, PRIETO, MELONI, KRASTEVA, TÓTH&KALDI, SROKA, TIEN und VLIEGEN. BASCHEWA befasst sich mit der Kodierung der semantischen Rolle ‚Finitiv‘ im Bulgarischen und Deutschen, um Schlussfolgerungen über die Kodierung dieser semantischen Rolle als Resultat der Verbsemantik zu ziehen. Spezifische Probleme der Redewiedergabe im Deutschen und Niederländischen in Zeitungstexten behandelt VLIEGEN. TÓTH&KÁLDI unternehmen den Versuch sprach- und kulturspezifisch strukturierte Ereigniskomplexe im Deutschen und Ungarischen zu modellieren und miteinander zu vergleichеn. Anhand von Sprachmaterial aus der Bibel vergleicht SROKA die Rolle des Null-Artikels in Sprachen, die den bestimmten und unbestimmten Artikel, nur den bestimmten Artikel oder gar keinen Artikel aufweisen. Mit Hilfe des NSM-Modells (Natural Semantic Metalanguage) arbeitet TIEN die in den Wörtern des Singapur-Englischen (Singlisch) verschlüsselten kulturellen Inhalte heraus. Besonders interessant ist die von PRIETO unternommene interdisziplinäre Analyse der Sprache in deutschen, spanischen und bulgarischen Corporate Blogs.
Probleme der Translationswissenschaft und der Ausbildung von Dolmetschern/Übersetzern stellen NAIMUSHIN, KILEVA-STAMENOVA, CREŢU, DENTSCHEWA und OSIMO in den Mittelpunkt. KILEVA-STAMENOVA verweist auf die kulturspezifischen Informationen in öffentlichen Urkunden im Deutschen und Bulgarischen, die zu Problemen bei der Übersetzung führen können. CREŢU dagegen interessiert sich für die Veränderungen auf der Inhaltsebene bei der Sprachverarbeitung und Übertragung in eine andere Sprache. Die Überlegungen von DENTSCHEVA beziehen sich auf die Besonderheiten der spätantiken und frühmittelalterlichen Bibelübersetzungen. OSIMO betont die heutige Aktualität des Beitrags von Lûdskanov zu der Übersetzungstheorie vor dem Hintergrund des semiotischen Herangehens an die Übersetzungsproblematik. NAIMUSHIN interessiert sich für die spezifischen Fertigkeiten, die die Dolmetscher erwerben müssen.
Linguistischen Schwerpunkten ist eine Reihe von Beiträgen gewidmet. So verfolgt UESSELER in seinem aufschlussreichen Beitrag die logischen Schritte von Textlinguistik über linguistische Diskursanalyse zur Kritischen Diskursanalyse und begründet die Entstehung einer erneuerten Soziolinguistik, die interdisziplinäre Verbindungen schafft. SHABANOVA & DENISLAMOVA gehen in ihrer Arbeit auf die Repräsentation unterschiedlicher semantischer Prädikate ein, die die syntaktischen Konstruktionen in Wetterberichten untermauern. WEBER befasst sich mit den Korrelaten und deren Grammatikalisierung in der Anzeige der referentiellen Funktion und der Textkohäsion. TEN CATE stellt in den Mittelpunkt seiner Überlegungen die temporalen Verhältnisse in Aktiv und Passiv im Deutschen. Textlinguistisch ausgerichtet sind die Beiträge von BRAČIČ, ŠKERLAVAJ, SAVOVA ← 14 | 15 → und PETKOVA-KESANLIS, die Fragen der Themenentfaltung, der Ermittlung von Prozessen und Strategien des Textverstehens und der Veränderung in den Textsorten unter dem Einfluss der Globalisierung und der Vernetzung behandeln.
Dankaussagung
Unser Dank geht an die Herausgeber/Herausgeberinnen der Reihe LINGUISTIK INTERNATIONAL und an das Internationale Organisationskomitee des Linguistischen Kolloquiums, die uns immer wieder Mut gemacht haben. Wir bedanken uns auch bei unserem Ansprechpartner im Peter Lang Verlag Frau Ute Winkelkötter, die die Herausgabe des Bandes in der Schlussphase betreut hat.
Unser ganz besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Heinrich Weber und Herrn Prof. Dr. Wilfried Kürschner, die unsere Arbeit vielfältig unterstützt und das Erscheinen des Bandes ermöglicht haben. Für die redaktionellen Arbeiten bedanken wir uns bei Frau Dr. Corinna Leschber, Frau Susanne Keller, Frau Dr. Milka Hadjikoteva, Frau Dr. Elena Savova, Ass. Anelia Lambova, Ass. Rositsa Vasileva und Ass. Veselinka Kruscheva, wie auch all bei den Kolleginnen und Kollegen und Studierenden der Neuen Bulgarischen Universität, deren Einsatz die erfolgreiche Vorbereitung und Durchführung des Kolloquiums in Sofia ermöglicht hat.
Maria Grozeva-Minkova & Boris Naimushin
Sofia, im Juli 2014 ← 15 | 16 →
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1Bogdan Bogdanov: Глобализацията – едно реалистично разбиране. Софийски диалози: В памет на Ж. Бодрияр, София, 2007, http://bogdanbogdanov.net/pdf/32.pdf
Identitäten und Identitätskrisen in „Kakanien“
Die vielfältigen politischen und gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Modernisierungsprozesse hatten im Europa des 19. Jahrhunderts einerseits erfolgreiche Vereinheitlichungen zur Folge (zum Beispiel die Bildung von Nationalstaaten wie Deutschland und Italien), denen andererseits – wie vor allem im Habsburgerreich – massive Heterogenitäten entgegenstanden, und zwar nicht nur soziale, sondern vor allem auch ethnische, kulturelle, religiöse und sprachliche Pluralitäten (Deutsche, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Polen, Italiener, Ruthenen, Rumänen, Kroaten, Serben, Bosnier, Slowenen und Juden, um nur die zahlenmäßig größten Volksgruppen zu erwähnen). Diese komplexen Differenziertheiten wurden von der länger ansässigen Bevölkerung in den urbanen Zentren der Donaumonarchie tagtäglich mit wachsenden Ängsten wahrgenommen, die Zugewanderten wurden als identitäts- und existenzbedrohende Fremdkörper empfunden. Ein Vergleich mittelost- und westeuropäischer Migrationsbewegungen erhellt diese Problematik.1 Während um 1900 der Anteil der „Fremden“, das heißt nicht vor Ort Geborenen, in Paris nur 6,3 Prozent der Gesamtbevölkerung betrug, machte er in Wien mit mehr als 60 Prozent etwa das Zehnfache aus. Die nach Wien zugewanderten Bevölkerungsgruppen kamen aus Böhmen und Mähren, aus Ungarn, Galizien und der Bukowina, aber auch aus anderen, vorzugsweise östlichen und südöstlichen Regionen des Habsburgerreichs. Die verstärkte Ausbildung und Wahrnehmung „vertikaler“ und „horizontaler“ Differenziertheiten hatte hier vielfältige politisch-nationale und ethnisch-kulturelle Spannungen und Konflikte zur Folge, individuelle und kollektive fremdenfeindliche Phobien, vor allem auch antisemitische Projektionen, die sich in ebenso mannigfaltigen Identitäts- und Existenzkrisen manifestierten. Die habsburgische Metropole und das ganze mitteleuropäische Umfeld erweisen sich als komplexe Systeme „hybrider Kulturen“, in denen sich bereits um 1900 Prozesse abspielten, wie sie dann an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert globale Relevanz gewannen.
Wenn heute allenthalben – gerade auch von österreichischer Seite aus – gern behauptet wird, dass Multinationalität, Multilingualität und Multikulturalität die ästhetische Kreativität der habsburgischen Moderne gesteigert haben, dann darf nicht übersehen werden, dass – infolge der deutschösterreichischen und der ungarischen Hegemonieansprüche – ein ausbalancierter, wechselseitiger Kulturtransfer ← 19 | 20 → unter den verschiedenen Nationalitäten eher die Ausnahme darstellte. Neuerdings begreifen sogenannte „postkoloniale“ Forschungsperspektiven die Donaumonarchie als ein „quasi-koloniales“ Herrschaftssystem, in dem sich vermeintlich überlegene und fortschrittlichere Kulturen durch strikte Abwehr fremdartiger und beängstigender, als unterentwickelt und minderwertig diskriminierter Zivilisationen abzusichern suchten.2 Dabei verdient die Tatsache besondere Beachtung, dass solcherart ausgegrenzte Volksgemeinschaften und Territorien, „Kolonien“ also, innerhalb des habsburgischen Vielvölkerstaates, meist an dessen östlicher und südöstlicher Peripherie und jenseits davon verortet wurden, für die der aus Galizien stammende jüdische Schriftsteller Karl Emil Franzos den populären, allerdings auch umstrittenen Begriff „Halb-Asien“ geprägt hatte. Postkoloniale Fokussierungen auf transnationale Sozialisations-, Akkulturations- und Assimilationsprozesse lassen das Habsburgerreich als ein Laboratorium gegenwärtiger europäischer und auch globaler Problemlagen mit ihren komplexen ethnischen, sprachlichen, kulturellen und konfessionellen Heterogenitäten erscheinen, die in innen- und außenpolitischen Auseinandersetzungen mit höchst problematischen und missverständlichen Begriffen wie „Leitkultur“, „Assimilation“ und „Integration“ instrumentalisiert werden. Postkoloniale Forschungsperspektiven können jedoch auch Musils provokante, in seinem programmatischen Essay Der Anschluß an Deutschland (1919) vertretene Auffassung bekräftigen, dass die nostalgisch verklärte, sogenannte „österreichische Kultur“ nichts anderes als „eine Spezialität der Deutschösterreicher“ darstellte, die weder von den „Slawen“, noch von den „Romanen“, noch von den „Madjaren der Monarchie“ akzeptiert wurde, weil diese Nationalitäten „nur ihre eigene“ Kultur kannten und – im Gegensatz dazu – „eine deutsche, die sie nicht mochten“. Die kulturelle Gemeinsamkeit Wiens, der Alpen- und Sudetenländer sei demnach „einfach eine deutsche“ gewesen, die allerdings selbst die Deutschösterreicher gar „nicht haben wollten“. Die legendäre österreichische war allenfalls eine „Wiener Kultur“ mit „ihrem esprit de finesse, der immer mehr zum Feuilletonismus entgeistete“.3 Diese ambivalente und satirisch formulierte Kritik, die ähnlich auch Karl Kraus vertrat, kehrte drei Jahrzehnte später in Hermann Brochs Studie Hofmannsthal und seine Zeit wieder. Noch stärker aber fiel für Musil die bekannte literarhistorische „Tatsache“ ins Gewicht, „daß fast alle österreichischen Bücher in Deutschland hergestellt werden“ und daher „fast alle österreichischen Dichter ihre Existenz deutschen Verlegern verdanken“. Daraus ← 20 | 21 → zog Musil das apodiktische Fazit: „Die Rede von der österreichischen Kultur, die auf dem Boden des nationalen Mischstaats stärker erblühen soll als anderswo, diese so oft beteuerte Mission der sancta Austria, war eine niemals bewahrheitete Theorie“.4 Wesentlich differenzierter und – im Hinblick auf den hier geforderten „Anschluß an Deutschland“ – reservierter war dann freilich das Bild Kakaniens, das Musil wenige Jahre später im Mann ohne Eigenschaften zur erzählenden Darstellung brachte.
„Kakanien“ – dieser schillernde, konstruktiv-ironische, nostalgische und zugleich utopische Name, den Robert Musil in seinem gigantischen Romantorso Der Mann ohne Eigenschaften dem untergegangenen, komplizierten Staatsgebilde der k. u. k. Monarchie, das heißt der kaiserlich-königlichen, österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, verliehen hat, ist in der literarischen Öffentlichkeit längst zum geflügelten Wort geworden und eignet sich vorzüglich als Signatur für das mitteleuropäische Spannungsfeld von Literatur und historischer Realität auch im verallgemeinernden Ausgriff auf die Zukunft: „Österr.[eich] als besonders deutlicher Fall der modernen Welt“.5 Ins Ironische gewendet war Kakanien, „ohne daß es die Welt schon wußte, der fortgeschrittenste Staat“.6 Das habsburgische Fin de siècle galt schon den Zeitgenossen als kreatives „Biotop“ moderner Kunst und Wissenschaft: der Musik, der Malerei, der Architektur, der Philosophie und der Literatur sowie der Naturwissenschaften, der Medizin, nicht zuletzt auch der Psychiatrie. Politisch hingegen stand in der „Monarchie auf Abruf“ – so ein zeitgenössisches, despektierliches Bonmot – das vielgelästerte „Fortwursteln“ auf der Tagesordnung, weil in diesem „Staatsleben nichts da war, um das Verstockende mitzureißen“, woran Musil abermals in seinem Essay Der Anschluß an Deutschland (1919) erinnerte: „Seit der Verdrängung aus Deutschland durch den Sieg der kleindeutschen über die großdeutsche Idee und seit dem davon heraufbeschworenen ‚Ausgleich‘ mit Ungarn im Jahre 1867 war das ehemalige Kaisertum Österreich ein biologisch unmögliches Gebilde.“ Die einzige Überlebenschance, die Musil diesem fragilen Vielvölkerstaat zubilligte, wäre die Teilhabe an jener „Entfesselung des bürgerlichen Unternehmungsgeistes“ gewesen, „welche in Deutschland eine Kraft und Bewegtheit ins Leben rief, die man als ungeheuer anerkennen muß, auch wenn man ihre Formen und Ergebnisse mit gutem Recht verdammt“: „Wäre Österreich ein Staat von so großem Tempo gewesen, so hätte es vielleicht die Interessen seiner Völker in einem dynamischen Gleichgewicht verschmelzen können; da es schwerfällig und schlecht ausbalanciert war und langsam fuhr, fiel es vom Rad.“7 Diesem Staat, der „sich selbst nur noch mitmachte“8, waren Morbidität und Mortalität vorzeitig ← 21 | 22 → und unübersehbar eingeschrieben. In diesem „definitiven Provisorium“ musste die nicht nur politisch, sondern auch geistig zerrissene Moderne zwangsläufig in die Katastrophe münden: den Ersten Weltkrieg, der den Untergang des Vielvölkerstaats besiegelte und in der Literatur schon zur Jahrhundertwende satirisch herbeigesehnt wurde, wie zum Beispiel von Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl, der als repräsentative Leitfigur der Epoche gleich zu Beginn der Novelle die vieldeutige, ominöse Frage stellt: „Wie lange wird denn das noch dauern?“ – eine Frage, die sich nur vordergründig auf das vom Protagonisten gelangweilt aufgenommene Oratorium bezieht. In Wirklichkeit geht es hier um den längst fragwürdig gewordenen Bestand ganz Kakaniens, dessen Untergang nur noch eine Frage der Zeit war. Was den jungen, zum Selbstmord scheinbar fest entschlossenen Offizier bis zuletzt fasziniert, ist einzig die Vision eines leichtfertigen, kollektiv-militärischen Todesmuts, den unter Beweis zu stellen ihm jedoch zu seinem Leidwesen nicht mehr vergönnt sei: „Etwas hätt’ ich gern noch mitgemacht: einen Krieg – aber da hätt’ ich lang’ warten können“.9
In dem von Schnitzlers Leutnant Gustl herbeigesehnten und vierzehn Jahre später realiter ausgebrochenen Weltkrieg schlug die fortschrittsoptimistische Moderne in masochistische Weltzerstörung um, für deren Wiener Variante der nach Amerika emigrierte Hermann Broch in seiner Schrift Hofmannsthal und seine Zeit (1948/49) die zynisch-ambivalente Formel der „fröhlichen Apokalypse“ prägte. Altösterreich stellte, wie Broch es schon in seiner Skizze Autobiographie als Arbeitsprogramm (1941) definiert hatte, „infolge seiner besonders schwierigen Verhältnisse ein gewissermaßen verschärftes, wenn auch verkleinertes Bild der gesamten ökonomischen und sozialen Weltsituation“ dar10, die traumwandlerisch ihrem Untergang zutrieb. Das zerfallende Habsburgerreich wurde zur exemplarischen „Versuchsstation des Weltuntergangs“11, den Karl Kraus in seinem riesigen „Marstheater“ Die letzten Tage der Menschheit auf unzähligen Schauplätzen mit unzähligen Figuren, ihren unzähligen und unwahrscheinlichsten, in der historischen Realität aber tatsächlich gesprochenen Phrasen auf eine imaginäre Weltbühne brachte. Mit ebensolch satirischer Meisterschaft wird die Katastrophe der Moderne auch in Musils Mann ohne Eigenschaften vorbereitet, und zwar in den geheimnisumwitterten, von niemandem so richtig ernst genommenen Mobilisierungsvisionen eines kleinwüchsigen und auf den ersten Blick kleinlaut wirkenden Generals mit dem ironisch beredten Namen Stumm von Bordwehr. Der Mann ohne Eigenschaften spielt in der habsburgischen Metropole des unmittelbaren Vorkriegsjahrs 1913, aber infolge der vier Jahrzehnte langen Entstehungszeit des Romans werden ← 22 | 23 → in das lebensunfähige, zum definitiven Untergang verurteilte Kakanien auch schon der heraufdämmernde Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg als zwingende Folge des Ersten eingeblendet. Musil hat, wie er gegen Ende seines Lebens erklärt, den Mann ohne Eigenschaften von Anfang an bewusst als einen „aus der Vergangenheit entwickelten Gegenwartsroman“ angelegt.12 Und schon 1920 heißt es in einer Tagebuchnotiz des Romanciers: „Alles, was sich im Krieg und nach dem Krieg gezeigt hat, war schon vorher da […]. Alles muß man submarin auch schon in dem Vorkriegsroman zeigen.“13
Jedes auf Homogenität fixierte soziale Gemeinwesen begründet sowohl durch Abgrenzung vom Anderen bzw. Fremden wie auch durch dessen Assimilation und Akkulturation seine Identität. Als Inbegriff stereotyper, von Vorurteilen geprägter, abschreckender Fremdheit galten in der Habsburgermonarchie vor allem die Juden, obschon diese nach ihrem Selbstverständnis als multi- bzw. übernationale, völkerverbindende Ethnie „prädisponiert“ gewesen wären, „die österreichische Nationalität“ schlechthin zu bilden – eine optimistische, freilich utopische Wunschvorstellung, die namentlich der aus Galizien stammende und dann in der Wiener Arbeitergemeinde Floridsdorf erfolgreich tätige Rabbiner Joseph Samuel Bloch im Jahre 1886 vertreten hatte.14 Für den skeptisch-pessimistischen Schnitzler blieb die „Complicirtheit der Sache“, Österreicher und/oder Jude zu sein15, eine unlösbare Aporie. Nicht nur die Symbiose beider Identitäten erschien ihm fragwürdig, sondern auch die Integrität der je eigenen, jüdischen bzw. österreichischen, Identität: Die „Heimat“ blieb ihm fremd, „nur Tummelplatz und Kulisse des eigenen Schicksals; das Vaterland, ein Gebild des Zufalls, – eine völlig gleichgültige, administrative Angelegenheit“.16
Die Identität sowohl der deutschnationalen Österreicher wie auch der habsburgischen Juden erwies sich – historisch gesehen – tatsächlich als höchst fragiles Konstrukt. Die deutschnationalen Österreicher schielten neidvoll auf die deutschen Nachbarn, die seit jeher nicht nur durch eine gemeinsame Sprache verbunden, sondern neuerdings auch, seit 1870/71, in einem Nationalstaat vereinigt waren. Einen Ausweg aus diesem deutsch-österreichischen Dilemma verhieß das sogenannte, von allen politischen Bewegungen mehr oder minder getragene „Linzer Programm“ von 1882, das eine Trennung der Doppelmonarchie und in der Folge ← 23 | 24 → den Anschluss des deutschsprachigen Österreich ans Deutsche Reich anstrebte. Obzwar sich diese Zielvorstellung vorläufig als Utopie erwies, blieb der Anschluss Österreichs an Deutschland auch nach dem Weltkrieg für einen Großteil der österreichischen Bevölkerung eine faszinierende Option, die von den Sozialdemokraten noch im „Linzer Programm“ von 1926 als Anschluss des österreichischen an den deutschen Sozialismus befürwortet, nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland jedoch aus dem Parteiprogramm gestrichen wurde.
Dass sich im ausgehenden 19. Jahrhundert die deutsch-österreichische Identität gerade auch für Juden als problematisch erwies, bezeugen – neben Schnitzler – auch so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Karl Emil Franzos und Theodor Herzl.
Franzos’ Biographie kann als Musterbeispiel stufenweiser, westwärts von Station zu Station fortschreitender Emanzipation und Assimilation osteuropäischer Juden angesehen werden. Geboren 1848 im galizisch-russischen, nahe der österreichischen Grenze gelegenen Czortków, wo sein Vater, ein Abkömmling sephardischer Juden, der in Wien Medizin studiert hatte, als Bezirksarzt wirkte, übersiedelte Franzos nach dessen Tod mit der Familie seiner Mutter nach Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, wo er am Deutschen Gymnasium mit Auszeichnung die Reifeprüfung ablegte (1867) und sich „im Vorhof zum Paradies Deutschland“ fühlte.17 Sein weiterer Lebensweg führte ihn zum Jusstudium nach Wien und Graz. Trotz seiner offen einbekannten jüdischen Identität trat er – auf den Spuren seines Vaters – deutschnationalen Burschenschaften bei, in Wien der „Teutonia“, in Graz der „Orion“, die er jedoch beide, als deren Antisemitismus immer aggressiver zutage trat, bald wieder verließ. Sein 1871 in Graz erfolgter Studienabschluss als Doktor der Rechtswissenschaften gilt als erste Promotion eines jüdischen Studenten in der traditionell deutschnationalen steiermärkischen Landeshauptstadt. Wie sich Franzos noch im Vorwort zu seinem erst postum, 1905, erschienenen Roman Der Pojaz genau erinnerte, war er nicht nur an der Grazer Universität, sondern auch in der ganzen Stadt „der einzige Jude“ weit und breit.18 In den folgenden Jahren arbeitete Franzos als Journalist für den in Budapest erscheinenden „Ungarischen Lloyd“ und die Wiener „Neue Freie Presse“, in deren Auftrag er Südosteuropa bereiste und in der Nachfolge von Heines Reisebildern kulturhistorische und ethnographische Feuilletons verfasste, die später – nach regelmäßigen Zeitungsvorabdrucken – in mehreren populären Sammelbänden als Culturbilder aus Halb-Asien erschienen. Mit der Heirat der etablierten Wiener Jüdin Ottilie Benedikt, einer Verwandten Moriz Benedikts und Fritz Mauthners, vollendete Franzos 1877 in der habsburgischen Metropole seine mitteleuropäische und innerjüdische Emanzipation und Assimilation.
← 24 | 25 → Nach der freudig begrüßten Gründung des Wilhelminischen Kaiserreichs hatte Franzos eine Erweiterung des deutschen Nationalstaats mit Einschluss Deutschösterreichs unter preußischer Führung erhofft, ähnlich wie dies 1882 in dem von Deutschnationalen, Sozialdemokraten und Christlichsozialen vertretenen „Linzer Programm“ angestrebt wurde. Als fortschrittsgläubiger Aufklärer erträumte Franzos die Errettung „Halb-Asiens“ aus der „Barbarei“ dank der deutschen, die „europäische Humanität“ vermittelnden Kultur und Zivilisation, die „durch ihre Gründlichkeit und Selbstlosigkeit zu dieser großen Segensmission vor Allem berufen“ sei.19 Die Enttäuschung über die Nichtverwirklichung des „Linzer Programms“ und über die forcierte politische Instrumentalisierung des Antisemitismus, insbesondere durch die Deutschnationalen unter Georg Ritter von Schönerer, mag mit ein Grund dafür gewesen sein, dass Franzos 1886 Wien verließ und nach Berlin übersiedelte, der letzten Station seines Lebens, wo er die nationalliberale Politik des von ihm bewunderten Reichskanzlers Bismarck aus unmittelbarer Nähe miterleben durfte, allerdings auch die 1887 anlässlich des Düsseldorfer Denkmalstreits entfachte antisemitische Diffamierung des drei Jahrzehnte zuvor in Paris verstorbenen Heinrich Heine – eine in der Geschichte der deutschen Literatur beispiellose Hetzkampagne, die in Berlin von einflussreichen Persönlichkeiten wie dem Historiker Heinrich von Treitschke, dem protestantischen Hofprediger Adolf Stoecker und dem Rassisten Karl Eugen Dühring angeführt wurde und sich über den gesamten deutschsprachigen Raum ausbreitete.
Wie Franzos war auch der aus Budapest stammende, zwölf Jahre jüngere Jusstudent Theodor Herzl in Wien Mitglied einer deutschnationalen Burschenschaft, und zwar der „Albia“, aus der er 1884 wegen des sich immer rabiater gebärdenden Antisemitismus seiner Bundesbrüder austrat, was mit ein Grund dafür war, dass er sich dann der jüdischen Nationalbewegung des Zionismus anschloss, die seit 1880 an politischer Bedeutung gewann. Herzls zionistisches Engagement wurde durch nationaljüdische Studentenverbindungen vorbereitet, deren erste 1882 in Wien von dem Schriftsteller Nathan Birnbaum unter der hebräischen Bezeichnung „Kadima“ (zu deutsch: „vorwärts nach Osten“) gegründet worden war. Zu ihren ersten und prominentesten Mitgliedern zählte übrigens auch Sigmund Freud. Als „Kadima“ firmiert heute in Israel eine liberale politische Kraft zwischen dem Likud und der Arbeiterpartei.
Auf den rassischen, auch politisch instrumentalisierten Antisemitismus reagierten die Juden entweder mit verzweifelten Fluchtversuchen, die bis zum Selbstmord führen konnten, mit Ablehnung und Verdrängung oder aber der religiösen, politischen und kulturellen Selbstbehauptung ihrer Identität. Die um 1880 geborene, sich auf ihre jüdische Identität rückbesinnende Generation wurde besonders von zwei widersprüchlichen politischen, kulturellen und religiösen Strömungen ← 25 | 26 → geprägt: zum einen von dem durch Theodor Herzl (Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, 1895) begründeten modernen Zionismus, das heißt von dem utopischen Projekt eines jüdischen Nationalstaates in Palästina; zum andern vom Chassidismus, einer lebensfrohen, mystischen Bewegung im osteuropäischen Judentum, die durch jiddische Wanderspieltruppen und die Schriften Martin Bubers (Die Geschichten des Rabbi Nachman, 1906, Die Legende des Baal Schem, 1908) popularisiert wurde. Mit dem Chassidismus war auch die Hoffnung verbunden, das Jiddische unter den verschiedenen habsburgischen Sprachen als gleichwertiges Idiom anzuerkennen und auch auf diese Weise ein neues jüdisches Selbstbewusstsein zum Ausdruck zu bringen, ungeachtet der Tatsache, dass viele assimilierte Juden – darunter nicht nur der Antizionist Karl Kraus, sondern selbst Theodor Herzl – den „verkümmerten und verdrückten Jargon“ des Jiddischen als „Ghettosprache“, als „verstohlene Sprache von Gefangenen“ mit hybrider, zynischer Verachtung straften.20
Die ausführlichste literarische Auseinandersetzung mit dem Zionismus findet in Schnitzlers Schlüsselroman Der Weg ins Freie statt, in dem sich die Vielfalt der jüdischen Abwehrreaktionen gegen den Antisemitismus auf den Konflikt zwischen jenen Figuren zuspitzt, die eine nationale Heimstätte in Palästina errichten wollen, und den andern, die entschlossen sind, ihre sozial etablierte Position in Wien zu behaupten. Als individualistischer, unbestechlicher Anhänger eines liberalen Rationalismus bewahrte Schnitzler gegenüber nahezu allen jüdischen Reaktionen auf den Antisemitismus eine skeptische Distanz: gegenüber dem Zionismus ebenso wie gegenüber der Konversion zum Christentum. Am unnachsichtigsten verurteilte er jene Juden, die „in kriecherisch stinkiger Weise sich bei den Antisemiten anbiedern“.21 In seiner Autobiographie Jugend in Wien brachte Schnitzler die Korrelation zwischen jüdischem Renegatentum und jüdischem Antisemitismus auf den Punkt: „Der getaufte Jude [wußte] mit der falschen Objektivität des Renegaten den Standpunkt der kläglichen, aber zum Teil wohl gutgläubig überzeugten Gesellen, bei denen er sich anzubiedern versuchte, so geschickt zu vertreten […], daß damals das Scherzwort geprägt wurde: Der Antisemitismus sei erst dann zu Ansehen und Erfolg gediehen, als die Juden sich seiner angenommen.“22 Das Verdikt der Taufe und des jüdischen Antisemitismus traf auch den wortmächtigsten Gegner des Zionismus in Wien, den von Schnitzler wegen seiner Konversion zum Katholizismus als opportunistischen Abtrünnigen verachteten Karl Kraus, der in seinem satirischen Pamphlet Eine Krone für Zion (1898) vehement die Utopie eines jüdischen Staates in Palästina bekämpft und das Heil der habsburgischen und der ← 26 | 27 → europäischen Judenheit ausschließlich in ihrer Sesshaftigkeit und vorbehaltlosen Assimilation erblickt hatte.
Dem jüdischen Antisemitismus widmete Theodor Lessing 1930 (drei Jahre bevor er von nationalsozialistischen Attentätern in Marienbad erschossen wurde) seine zum Klassiker avancierte Studie Der jüdische Selbsthaß. Der seither populär gewordene Begriff erfasst das Phänomen jedoch nur ungenau: „Denn das, wogegen jüdische Antisemiten vorgehen, ist ja gar nicht ihr jüdisches ‚Selbst‘, sondern eine Konzeption des Judentums, die nicht die ihre ist.“23 Horkheimer und Adorno legten vierzehn Jahre später, 1944, in der Dialektik der Aufklärung eine sozialpsychologisch fundierte Begriffsbestimmung dieses Phänomens vor, die aus der Konfrontation unterschiedlich assimilierter Gruppen resultiert, wie sie in Wien infolge der zugewanderten Ostjuden, besonders aus Galizien und der Bukowina, alltäglich zu beobachten war. Der Schtetljude erschien dem etablierten Großstadtjuden als „Gespenst der Vorfahren“, das den vermeintlich vollendeten Assimilations- und Emanzipationsprozess zurückzudrehen drohte. Horkheimer und Adorno sprechen vom „erbarmungslosen Verbot des Rückfalls“, vom Trauma des Assimilierten, der an den Schtetljuden wahrnehme, „wofür er sich insgeheim verachtet: sein Antisemitismus ist Selbsthaß“.24
Theodor Lessing hatte den „jüdischen Selbsthass“ vor allem von dem aufsehenerregenden Schicksal Otto Weiningers abgeleitet, aber nicht ihn bezeichnete er als „leuchtendstes Beispiel“ des „jüdischen Selbsthasses“, sondern den Weininger-Verehrer und „unumschränkten Sitteneiferer“ Karl Kraus.25 Mit seinem obsessiven, auf die Auslöschung der jüdischen Identität abzielenden Assimilationspostulat bekräftigte Kraus jene antisemitische Zumutung, wie sie schon Richard Wagner in seinem Pamphlet Das Judentum in der Musik (1850) verordnet hatte: dass die „Erlösung“ der Juden nur „durch Selbstvernichtung“ ihrer jüdischen Identität wiederzuerlangen sei.26 In diesem zum „literarischen Klassiker des Antisemitismus“ avancierten Elaborat hatte Wagner am Beispiel Heines das Judentum als „das üble Gewissen unsrer modernen Zivilisation“ bezeichnet27 und damit das Leitmotiv formuliert, das den Judenhass bis in die Wiener Moderne, vor allem bei Karl Kraus, mitbestimmte: „das Unbehagen an der Moderne“. Darunter sei – wie Wagner später ← 27 | 28 → in seinem Aufsatz unter dem Titel Modern (1878) näher erläuterte – „etwas recht Erbärmliches, und namentlich uns Deutschen sehr Gefährliches“ zu verstehen.28
Ähnlich wie Richard Wagner, allerdings unter diametral umgekehrten Vorzeichen, hatte 1870 im Gefolge von Aufklärung und Liberalismus der aus Mähren stammende und dann als Talmud-Gelehrter und Oberrabbiner in Wien wirkende Adolf Jellinek verkündet: „Das Judentum bestätigt und heiligt die Ideale der modernen Gesellschaft.“29 Die pauschale Gleichsetzung von Judentum und Modernität erweist sich indessen als Vorurteil, dem nicht nur deutsche und österreichische Juden erlagen, indem sie sich stolz als „Förderer und Vorkämpfer alles Neuen“, als „Pioniere der Moderne“ rühmten30, sondern dem auch Nichtjuden und Antisemiten anhingen, um die Juden als Sündenböcke für alle krisenhaften Begleiterscheinungen der Moderne zur Rechenschaft ziehen zu können. Insofern manifestiert sich der Antisemitismus als „Symptom einer Identitätskrise der von der Modernisierung betroffenen Individuen und sozialen Gruppen“31, wobei jedoch zu unterscheiden ist, dass sich der Antisemitismus bei den Juden als Ursache, bei den Nichtjuden als Folge von Identitätskrisen erweist. So komplex und widersprüchlich wie der Begriff der literarischen Moderne selbst, der immer Affirmation und Kritik politischer und sozioökonomischer Modernisierungsprozesse umfasst, so komplex und widersprüchlich ist auch das Verhältnis der Juden zur Moderne. Denn einerseits repräsentieren sie zwar meist die fortschrittlichen Ideen der Aufklärung, andererseits aber sind auch namhafte Juden als radikale Zivilisations-, Kultur-, Moral- und Sprachkritiker der Moderne und der von ihr entzauberten, denaturierten und metaphysisch obdachlosen Welt aufgetreten. Krankhafte, dekadente „Entartung“, irreführende „Kulturseuche“, „sittliche und gedankliche Schwäche“ sind die Schlagwörter, die etwa Max Nordau, Otto Weininger oder Karl Kraus der vorgeblich wertzersetzenden Moderne polemisch entgegenschleuderten, unbeschadet der paradoxen Tatsache, dass sich diese Autoren als unerschrockene Kämpfer im Dienste einer „neuen“, „wahren Aufklärung“ für Vitalität, Schönheit und Sittlichkeit verstanden. Ihre antimodernistische Kulturkritik galt nicht zuletzt dem von assimilierten und emanzipierten Juden idealtypisch verkörperten liberalen, kulturbeflissenen ← 28 | 29 → Besitz- und Bildungsbürgertum, angesichts dessen sich abermals schon Wagner genötigt gesehen hatte, vor der angeblichen „Verjüdung der modernen Kunst“ zu warnen.32
Die wichtigste literarische Identifikationsfigur für die Wiener Juden war der hier schon mehrfach genannte Heinrich Heine. Dies gilt für die liberalen Juden wie Moriz Szeps und Moriz Benedikt, die einflussreichen Herausgeber des „Wiener Tagblatts“ und der „Neuen Freien Presse“, dies gilt für die Zionisten Theodor Herzl und Max Nordau oder für die Jungwiener Sympathisanten des Zionismus wie Felix Salten und Raoul Auernheimer, und dies gilt ebenso für Sigmund Freud. Moriz Szeps interpretierte anlässlich des Düsseldorfer Denkmalstreits das kleine Gedicht Heines vom Fichtenbaum und der Palme als symbolisches Plädoyer für die deutsch-jüdische Symbiose, Moriz Benedikt feierte Heine als den „pariserischesten“ und „welt- und großstädtischesten“ aller deutschen Poeten, in Theodor Herzls Roman Altneuland dient der Dichter der Hebräischen Melodien aus dem Romanzero der romantischen Legitimation der jüdischen Staatsutopie, Max Nordau hielt am 24. November 1901 die Festrede bei der Enthüllung des von der Wiener Freisinnigen Bürgerschaft finanzierten Denkmals auf Heines Grab im Pariser Friedhof Montmartre und verfasste einen Nachtrag zum „Wintermärchen“ Deutschland als Caput XXVIII, in dem die 1908 von Kaiser Wilhelm II. veranlasste barbarische Entfernung des Heine-Denkmals aus dem Achilleion auf Corfu bitter beklagt wird, das 1891 die populäre, sieben Jahre später ermordete österreichische Kaiserin Sissi durch den dänischen Bildhauer Louis Hasselriis hatte errichten lassen. Sigmund Freud nahm Heines Wortspiel vom „famillionären“ Umgang mit Baron Rothschild zum Ausgangspunkt seiner berühmten Abhandlung Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905).
Aber ein Jude war auch Heines unversöhnlichster Feind: nämlich Karl Kraus, der sprachgewaltigste Schriftsteller der Wiener Moderne, wiewohl oder gerade weil er sich als dessen gelehrigster Schüler erwies. Dass Kraus in den Chor der antisemitischen Heine-Hasser tonangebend mit einstimmte, wurde von den jüdischen Heine-Verehrern als Skandalon empfunden, als ein „Verdikt“, wie man Jahrzehnte später noch betroffen eingestehen musste, eine „Wunde“, die „sich nicht auslöschen“ ließ. „Seitdem ist die Aura Heines peinlich, schuldhaft, als blutete sie“, so die legendäre Diagnose Theodor W. Adornos 1956 zum hundertsten Todestag Heines.33
Mit seiner Streitschrift Heine und die Folgen, die Kraus effektvoll am 3. Mai 1910 in seiner ersten Wiener Vorlesung vor über tausend frenetisch applaudierenden Zuhörern vortrug, spaltete er die literarische Öffentlichkeit im ganzen deutschen Sprachraum, namentlich auch die jüdische Intelligenz in zwei feindliche Lager: die „Heineisten“ und die „Krausianer“. Dies gilt nicht nur für die Zentren der literarischen Moderne Wien, Berlin, München und Prag, sondern auch für die ← 29 | 30 → Peripherie bis hin nach „Halb-Asien“. In Czernowitz – so erinnerte sich Rose Ausländer – trugen nach „heftigen Auseinandersetzungen“ innerhalb der jüdischen „Intelligenzija“ die jüngeren „Krausianer“ über die älteren „Heineisten“ den Sieg davon.34
Für die Thematisierung von Identitäts- und Entfremdungskrisen gibt es in Österreichs klassischer Moderne viele literarische Beispiele, von denen ich nur eines noch und wohl das gewichtigste hervorheben möchte: nämlich Robert Musils Opus magnum Der Mann ohne Eigenschaften. Dieser Roman ist das avancierteste literarische Projekt der kakanischen Moderne, das sich, allen Ansprüchen eines universalen poeta doctus genügend, der komplexen Thematisierung individueller und kollektiver Identitäten und Identitätskrisen widmet. Angesichts der zu „Aller-schaften“ verdinglichten, entfremdeten und nivellierten „Eigen-schaften“, angesichts der identitätsbedrohenden Polarität von Ratio und Mystik, die enzyklopädisch alle politischen und kulturellen Polaritäten der Moderne zusammenfasst, unternimmt der Protagonist den utopischen Versuch, seine in Auflösung begriffene, weil nur durch zufällige Akzidenzien konstituierte Identität als eigenschaftslose, puristisch integre, kurzum: als „bloße“ Substanz zu behaupten – gemäß der „taghellen Mystik“ in Meister Eckharts Versen: „Daz einez daz ich da meine daz ist wortelos. / Ein und ein vereinet da liuhtet bloz in bloz.“ Dieses Schlüsselzitat hat 1909 der zionistische Wiener Religions- und Kulturphilosoph Martin Buber als programmatisches Motto seiner Mystikeranthologie Ekstatische Konfessionen vorangestellt, der wohl wichtigsten Quelle für die Beschreibung dessen, was Musil als „anderen Zustand“ bezeichnet, in der ekstatischen wie in der kontemplativen Variante, eine Utopie, die wie alle Utopien des Romans, so auch jenes verabsolutierte Denkmodell der Eigenschaftslosigkeit, nicht zu realisieren und letztlich zum Scheitern verurteilt ist: „Die Absolutheit ist nicht zu bewahren.“ Zum Unterschied von jener in einer zukünftigen Gesellschaft zu realisierenden „konkreten Utopie“, wie sie Ernst Bloch in seinem Prinzip Hoffnung proklamierte, erklärte Musil in einer Arbeitsnotiz zum Mann ohne Eigenschaften: „Was ich im Roman gebe, wird immer Utopie bleiben; es ist nicht ‚die Wirklichkeit von morgen‘.“35 Denn: „Eine Utopie ist […] kein Ziel, sondern eine Richtung.“36 „Literatur als Utopie“ – das ist Musils Credo, und daran sollten etliche nachfolgende österreichische und deutsche Schriftstellerinnen und Schriftsteller produktiv anknüpfen, am nachdrücklichsten wohl Ingeborg Bachmann, wenn sie die Literatur ihrer Gegenwart „an einem Ziel“ orientierte, „das freilich, wenn wir uns nahen, sich noch einmal entfernt“.37
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1Siehe Moritz Csáky: Ambivalenz des kulturellen Erbes: Zentraleuropa. Moderne und/oder postmoderne Befindlichkeit. In: Ambivalenz des kulturellen Erbes. Vielfachcodierung des historischen Gedächtnisses. Paradigma: Österreich. Hg. von M. C. und Klaus Zeyringer. Innsbruck [u. a.] 2000, S. 27–49, 32.
2Vgl. Heidemarie Uhl: Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen. In: Newsletter Moderne. Zeitschrift des Spezialforschungsbereichs „Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900“ (Graz) 5 (2002), H. 1, S. 2–5; Wolfgang Müller-Funk: Kakanien revisited. Über das Verhältnis von Herrschaft und Kultur. In: Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Hg. von W. M.-F., Peter Plener und Clemens Ruthner. Tübingen, Basel 2002, S. 14–32.
3Robert Musil: Der Anschluß an Deutschland. In: R. M.: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 8, S. 1039f.
4Ebda, S. 1041.
5Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: R. M.: Gesammelte Werke in neun Bänden (Anm. 3), Bd. 5, S. 1905.
6Ebda, Bd. 1, S. 35.
Details
- Seiten
- 606
- Erscheinungsjahr
- 2014
- ISBN (PDF)
- 9783653049572
- ISBN (MOBI)
- 9783653979695
- ISBN (ePUB)
- 9783653979701
- ISBN (Hardcover)
- 9783631655306
- DOI
- 10.3726/978-3-653-04957-2
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2014 (Oktober)
- Schlagworte
- Kontrastive Sprachwissenschaft interkulturelle Kommunikation Übersetzungswissenschaft Textlinguistik
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 606 S.