Die Rückwirkung von Gesetzesänderungen im Erbrecht
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Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- A. Einleitung
- B. Die Aussicht auf erbrechtlichen Erwerb
- I. Die Erberwartung
- II. Die Aussicht auf den Pflichtteil
- 1. Zivilrechtliche Dimension
- 2. Verfassungsrechtliche Dimension
- C. Die nachträgliche Bestimmung der Anrechnung einer Zuwendung auf den Pflichtteil, § 2315 BGB
- I. Verfassungsrechtlicher Ausgleich zwischen der Testierfreiheit und dem Pflichtteilsrecht
- 1. Legitimer Zweck
- 2. Geeignetheit
- 3. Erforderlichkeit
- 4. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
- a. Faktische Entziehung des Pflichtteils durch nachträgliche Anrechnung?
- aa. Nachträgliche Anrechnung einer Zuwendung einem Minderjährigen gegenüber
- bb. Bestimmung der Anrechnung de lege lata
- aaa. Der rechtliche Nachteil der Anrechnungsbestimmung
- α. Rechtsnatur der Anrechnung einer Zuwendung auf den Pflichtteil
- β. Vergleich mit der Leistung an Erfüllungs statt
- χ. Die Rechtsprechung des BGH zur Ausgleichungsbestimmung, BGHZ 15, 168
- δ. Die Ungewissheit des künftigen Pflichtteilsanspruchs
- ε. Notarielle Form für jede Zuwendung unter Anrechnungsbestimmung?
- bbb. Zwischenergebnis
- cc. Zuwendung als angemessener Ersatz für den Pflichtteil?
- aaa. Wirtschaftlicher Vorteil durch die anzurechnende Zuwendung?
- bbb. Kurzlebige oder belastete Zuwendungen
- b. Bewertung der Ergebnisse
- II. Bedeutung des Rechtsnachteils für die nachträgliche Anrechnungsbestimmung gemäß § 2315 I BGB-RegE
- III. Zwischenergebnis
- IV. Die Rückwirkung der nachträglichen Anrechnung von Zuwendungen
- 1. Verfassungsmäßigkeit der Rückwirkung
- a. Art der Rückwirkung
- aa. Echte Rückwirkung (Rückbewirkung von Rechtsfolgen)
- bb. Unechte Rückwirkung (Tatbestandliche Rückanknüpfung)
- b. Zulässigkeit der Rückwirkung
- aa. Änderungsinteresse
- bb. Vertrauensinteresse
- cc. Vertrauensinteresse des Minderjährigen
- dd. Abwägung der Interessen
- 2. Ergebnis
- D. Die nachträgliche Anordnung der Ausgleichung einer Zuwendung
- I. Ausgleichungsanordnung einem Minderjährigen gegenüber
- 1. Rechtsnatur der Ausgleichung
- a. Auffassungen im Schrifttum
- b. Auffassung der Rechtsprechung
- c. Stellungnahme zur Ausgleichungspflicht als Schuldverhältnis
- d. Stellungnahme: Die den Anspruch auf das Auseinandersetzungsguthaben ändernde Wirkung
- e. Stellungnahme: Die den Pflichtteil inhaltlich ändernde Wirkung
- 2. Bedeutung der Rechtsnatur für den lediglich rechtlichen Vorteil
- a. Ausnahme vom Minderjährigenschutz aufgrund ganz unerheblichen Gefährdungspotentials?
- b. Zwischenergebnis
- 3. Bedeutung für die verfassungsrechtlichen Vorgaben
- II. Die Rückwirkung der nachträglichen Ausgleichungsanordnung
- III. Ergebnis
- E. Die rückwirkende Abschmelzung der Pflichtteilsergänzung, § 2325 III 1 BGB
- I. Die unechte Rückwirkung der Übergangsregelung
- II. Verfassungsmäßigkeit der unechten Rückwirkung
- III. Ergebnis
- F. Die rückwirkende Erstreckung des Zuwendungsverzichts auf Abkömmlinge des Verzichtenden, §§ 2349, 2352 BGB
- I. Verletzung eines Rechts des Ersatzschlusserben?
- 1. Keine Erstreckung auf den Nacherben
- 2. Zwischenergebnis: Keine Verletzung der Rechte des Ersatzschlusserben
- II. Verletzung der Testierfreiheit des vorverstorbenen Ehegatten
- 1. (Un-)Zulässigkeit der nachträglichen Einschränkung der Testierfreiheit des vorverstorbenen Ehegatten
- 2. Analogie zu Art. 214 II, 235 § 2 S. 2 EGBGB
- III. Ergebnis
- G. Echte Rückwirkung durch das Zweite Gesetz zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder
- I. Rückwirkung auf den Zeitraum vom 29.05.2009 bis zum 15.04.2011
- 1. Bedeutung des Urteils des EGMR für die Zulässigkeit der rückwirkenden Gesetzesänderung
- 2. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Rückwirkung
- II. Ergebnis und Rechtsfolgen
- H. Schlussfolgerung und Zusammenfassung der Ergebnisse
- I. Literaturverzeichnis
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Bei Gesetzesänderungen stellt sich die Frage, ab wann das neue Recht gelten soll. Wenn nicht ein anderer Zeitpunkt bestimmt wird, tritt ein formelles Gesetz in Kraft, sobald es beschlossen und verkündet wurde (Art. 82 GG). In besonderen Fällen kann allerdings ein Bedürfnis für ein zeitlich vor der Verkündung des Gesetzes liegendes Inkrafttreten bestehen, etwa um Schwächen des alten Rechts mit Wirkung für die Vergangenheit zu beheben. Soweit dadurch ausschließlich neutrale oder begünstigende Rechtsfolgen begründet werden, erscheint dies grundsätzlich nicht bedenklich. Eine Einschränkung der Handlungsfähigkeit des Gesetzgebers wäre also unzweckmäßig. Werden jedoch belastende Gesetze mit Wirkung für die Vergangenheit erlassen, stellt sich die Frage, ob dies verfassungsrechtlich zulässig ist. Denn aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) leitet sich der Schutz des Vertrauens auf die Gültigkeit und den Bestand der Rechtsordnung ab. Der Einzelne soll die Möglichkeit haben, die belastenden Rechtsfolgen eines Gesetzes zur Kenntnis zu nehmen, um sich entsprechend verhalten zu können.1 Er müsste sonst stets befürchten, sein gegenwärtiges Verhalten könnte wegen rückwirkender Gesetzesänderungen zu Nachteilen führen.2
Derartige Bedenken ergeben sich nicht nur im Fall der formellen Rückwirkung eines Gesetzes, wenn also das Inkrafttreten für einen Zeitpunkt vor der Verkündung des Gesetzes bestimmt ist. Sie bestehen ebenfalls, wenn ein Gesetz erst künftig eintretende Rechtsfolgen von Umständen abhängig macht, welche in der Zeit vor der Verkündung des Gesetzes liegen. Auch dann kann das Verhalten zur Vermeidung von belastenden Rechtsfolgen nicht am geltenden Recht ausgerichtet werden.
Diese Fallgruppe erlangt bei Gesetzesänderungen im Erbrecht besondere Bedeutung, da die Anwendung einer Neuregelung regelmäßig vom Zeitpunkt des Erbfalls abhängig gemacht wird. Nach dem Stichtagsprinzip, das in Art. 213 EGBGB zur Einführung des BGB normiert wurde und seitdem ein intertemporaler Grundsatz von Erbrechtsänderungen ist, gilt das alte Recht für alle Erbfälle vor dem Stichtag des Inkrafttretens der Gesetzesänderung und das neue Recht für alle Erbfälle danach. Dadurch können mit dem Erbfall Rechtsfolgen eintreten, ← 1 | 2 → die von Umständen abhängig sind, welche vor dem Erbfall und damit vor der Gesetzesänderung liegen.3
Diese Problematik wird dadurch verschärft, dass im Erbrecht mehrpolige Rechtsverhältnisse geregelt werden, die nicht lediglich die Rechte einer Person gegenüber dem Staat betreffen, sondern vor allem die Rechte zwischen mehreren Personen untereinander. Rechtsänderungen zugunsten des einen können dadurch gleichzeitig eine Beeinträchtigung zulasten eines anderen sein. Wenn die Testierfreiheit in bestimmten Bereichen erweitert wird, ist der Erblasser beispielsweise bei der Nachlassverteilung nicht mehr an frühere gemeinschaftliche Testamente und Erbverträge gebunden oder weniger durch das Pflichtteilsrecht beschränkt. Gerade bei Gesetzesänderungen im Erbrecht ist deshalb die Frage zu stellen, ob es zu Rückwirkungen kommt und, wenn das der Fall ist, ob sie verfassungsrechtlich zulässig sind.
Einen konkreten Anlass zur Untersuchung der Zulässigkeit rückwirkender Erbrechtsänderungen gibt die letzte Reform des Erbrechts durch das Gesetz zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts,4 das zum 01.01.2010 in Kraft trat. Neben der Erstreckung der Regelverjährung auf das Erbrecht und der Beseitigung einiger Schwachstellen des Erb- und Pflichtteilsrechts war die Erweiterung der Testierfreiheit des Erblassers das Ziel der Reform.5 Dazu gab es Änderungen bei der Berechnung der Pflichtteilsergänzung (§ 2325 III BGB) und der Wirkung des Zuwendungsverzichts (§§ 2352 S. 3, 2349 BGB), wodurch aufgrund des Stichtagsprinzips gemäß Art. 229 § 23 IV EGBGB6 auch Schenkungen und Zuwendungsverzichte aus der Zeit vor der Gesetzesänderung erfasst werden.
Außerdem sah der Regierungsentwurf7 des Gesetzes vor, Anordnungen der vorweggenommenen Erbfolge im Wege der Ausgleichung (§§ 2050 ff, 2316 BGB) ← 2 | 3 → und Anrechnung (§ 2315 BGB) von Zuwendungen noch nachträglich durch Verfügung von Todes wegen zu gestatten. Der Erblasser hätte dadurch an einen Erben oder Pflichtteilsberechtigten vorbehaltlos gewährte Zuwendungen nutzen können, um dessen spätere Nachlassbeteiligung zu vermindern. Dies wäre aufgrund des Stichtagsprinzips auch bei Zuwendungen aus der Zeit vor der Gesetzesänderung möglich gewesen. Obwohl diese Änderungen zur vorweggenommenen Erbfolge fallen gelassen wurden und nicht Gesetz geworden sind, ist wegen künftiger Gesetzgebungsvorhaben die dadurch aufgeworfene Problematik von Interesse, ob Zuwendungen aus der Zeit vor der Gesetzesänderung zulasten des Erben oder Pflichtteilsberechtigten durch eine Neuregelung berücksichtigt werden dürfen. Schon wurde auf dem 68. Deutschen Juristentag angeregt, de lege ferenda die gesetzlich angeordnete Ausgleichung von Zuwendungen (§§ 2050 ff BGB) zu erweitern,8 wodurch nach dem Stichtagsprinzip wieder Altzuwendungen erfasst wären.
Einen weiteren bemerkenswerten Fall einer rückwirkenden Erbrechtsänderung stellt das Zweite Gesetz zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder vom 12.04.2011 dar, das den Ausschluss des Erb- und Pflichtteilsrechts von vor dem 01.07.1949 geborenen nichtehelichen Kindern rückwirkend zum 29.05.2009 für bereits eingetretene Erbfälle strich. Die grundsätzlich zu begrüßende Beseitigung der letzten erbrechtlichen Benachteiligung von nichtehelichen Kindern führt in dieser Form zu einem nachträglichen Rechtsverlust der Erben und ist mit Blick auf die Rückwirkungsproblematik eine Untersuchung wert.
1 Vgl. BVerfGE 13, 261, 271; Maurer, Handbuch des Staatsrechts III, 1. Aufl., S. 223.
2 Vgl. ausführlich unten C.IV.
3 Vgl. die Ausnahmen vom Stichtagsprinzip durch besondere Übergangsregelungen vergangener Erbrechtsänderungen in Art. 214, 217, 235 § 2 EGBGB, um solche Wirkungen zu verhindern. Weitere Ausnahmen vom Stichtagsprinzip sind zu finden bei Hess, Intertemporales Privatrecht, S. 231 ff; Staudinger/J. Mayer, EGBGB, Bearb. 2005, Vorb. zu Art. 213–217 Rn. 8 ff.
4 Veröffentlicht in BGBl. 2009, Teil I Nr. 63, ausgegeben am 29.9.2009.
5 Vgl. A. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts der Bundesregierung vom 30.1.2008, in BR-Drs. 96/08 v. 1.2.2008 = BT-Drs. 16/8954.
6 Eingeführt durch Art. 2 Gesetz zur Veränderung des Erb- und Verjährungsrechts vom 24.9.2009. Mit einigen Ausnahmen vom Stichtagsprinzip im Bereich der Verjährung, vgl. Art. 229 § 23 I–III EGBGB.
7 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts der Bundesregierung vom 30.1.2008.
8 Vgl. Röthel, Gutachten A zum 68. Deutschen Juristentag, S. 56 f. Die Problematik des Übergangsrechts der nachträglichen Anordnung von Ausgleichung und Anrechnung ist über den Regierungsentwurf hinaus relevant.
Details
- Seiten
- VIII, 134
- Erscheinungsjahr
- 2014
- ISBN (PDF)
- 9783653047028
- ISBN (MOBI)
- 9783653979336
- ISBN (ePUB)
- 9783653979343
- ISBN (Hardcover)
- 9783631655498
- DOI
- 10.3726/978-3-653-04702-8
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2014 (September)
- Schlagworte
- Stichtagsprinzip Verfassungsrecht Testierfreiheit Pflichtteilsrecht
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. VIII, 134 S.