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Glaube und Denken

Jahrbuch der Karl-Heim-Gesellschaft- 27. Jahrgang 2014

von Martin Rothgangel (Band-Herausgeber:in) Ulrich Beuttler (Band-Herausgeber:in)
©2015 Dissertation 208 Seiten
Reihe: Glaube und Denken, Band 32

Zusammenfassung

Karl Heim (1874-1958) prägte als Theologe an den Universitäten Halle, Münster und seit 1920 in Tübingen Generationen von Pfarrern. Unter seinen Zuhörern befanden sich auch viele Nicht-Theologen, weil er komplizierte naturwissenschaftliche Sachverhalte zutreffend elementarisieren und zugleich den christlichen Glauben mit diesen Ergebnissen in einen fruchtbaren Dialog bringen konnte. Der 27. Jahrgang dieses Jahrbuchs widmet sich verschiedenen Themenbereichen im Kontext des Verhältnisses von Theologie und Naturwissenschaft, wobei insbesondere systematisch-theologische Überlegungen zur Religionslosigkeit, zu Todesträumen, zu einer theologischen Resonanztheorie der Wahrheit sowie zur Evolutionstheologie einen Schwerpunkt dieser Ausgabe bilden.
Volume 27 of the yearbook of the German Karl Heim Society presents a variety of articles concerning the dialogue between theology and the natural sciences. The authors want to show the enduring significance of Karl Heim’s insistence on the dialogue between theology and the natural sciences, and to further the intention of the Karl Heim Society to present a biblical Christian orientation in a world shaped by technology and sciences. Though the contributions are in German, an extensive summary in English is appended to each of them.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Inhalt
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Religionslosigkeit – gibt’s das überhaupt? Systematisch-theologische Anmerkungen zu einem komplexen Phänomen
  • Todesträume: Blick über die Todesgrenze hinaus oder „gnädige Illusionen“?
  • Welche Wirklichkeit kommt den Naturwissenschaften in den Blick?
  • „Voller Gnade und Wahrheit“. Eine theologische Resonanztheorie der Wahrheit
  • Musik – Interface – Mensch. Erfahrungen und Einsichten eines Suchenden
  • Warum haben Fliegen sechs Beine und Menschen zehn Finger?
  • Schöpfung via Evolution – und mögliche Implikationen: Evolutionstheologie
  • „… und doch sind auch Wahrheitskörner darin.“ Zum Verhältnis von „Mythos“ und „Wahrheit“ am Beispiel des Erechtheus-Mythos
  • Autorenverzeichnis

Zitierfähigkeit des eBooks

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← 8 | 9 →Christian Danz

Religionslosigkeit – gibt’s das überhaupt? Systematisch-theologische Anmerkungen zu einem komplexen Phänomen

Abstract: Non-religious – Is this Even Possible? This contribution is devoted to the phenomenon of the non-religious. To understand this phenomenon in distinction from atheism or not being a member of a denomination one must clarify the concept of religion. This is done against the background of the contemporary debate in sociology of religion. An analytically substantial concept of religion can be gained only – so my thesis – if the perspective of the participants is considered. Against the background of the concept of religion non-religious is understood as a human perspective of the self and the world which explicitly renounces religious interpretations.

Wer nach Religionslosigkeit fragt, merkt schnell, dass er mit ähnlichen Problemen konfrontiert ist, wie bei der Erfassung dessen, was Religion sei. Zum Problem wird die Frage nämlich in erster Linie für den wissenschaftlichen Beobachter. „Für einen Glaubenden“, so Niklas Luhmann in dem posthum erschienenen Werk Die Religion der Gesellschaft, „mag diese Frage ohne Bedeutung sein. Er kann das bezeichnen, was er glaubt, und sich daran halten. Er mag bestreiten, daß die Bezeichnung als Religion ihm etwas Zusätzliches bringt. Er mag sie sogar ablehnen, weil er darin eine Phänomenklassifizierung sieht, die ihn in eine Kategorie mit anderen Sachverhalten bringt, deren Glaubwürdigkeit er ablehnen würde. Der Begriff der Religion scheint dann ein Kulturbegriff zu sein, ein Begriff, der Toleranz impliziert.“1 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Religionslosigkeit und deren Derivaten steht in der Tat in einem engen Zusammenhang mit den Problemen des Religionsbegriffs und seiner angemessenen Erfassung, um die Theologen, Religionswissenschaftler und andere mit dem Thema befasste Disziplinen seit 200 Jahren erbitterte Deutungskämpfe führen.2 Je nachdem, was man unter Religion versteht, so viel oder so wenig ← 9 | 10 →findet man von ihr in der modernen Gesellschaft. Die Frage nach dem Begriff der Religion stellt allerdings nicht die einzige Voraussetzung für eine Beschäftigung mit dem Thema Religionslosigkeit dar. Hinzu kommen mindestens noch zwei andere für die Frage relevante Aspekte. Zunächst impliziert das Problem der Religionslosigkeit immer auch eine Einschätzung der gesellschaftlichen Evolution.3 Führt diese, wie die klassische Soziologie bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts noch angenommen hat, mit zunehmender Modernisierung zum Verschwinden der Religion, oder erweist sich die moderne Gesellschaft als religionsproduktiv?

Hinzu kommt zweitens die Deutung der theologischen Entwicklung im 20. Jahrhundert. Sie ist für unsere Frage deshalb von Interesse, weil von ihrer Beantwortung der Beitrag der Theologie für die Erschließung der religiösen Lebenswelten der Moderne abhängt. Weithin traut man der Theologie nicht mehr zu, einen Beitrag zur analytischen Erschließung der religiösen Lebenswelten der Moderne zu leisten. In diesen Chor stimmen auch Theologen ein. So urteilte der Wiener Theologe Falk Wagner: „Wegen ihrer selbstinszenierten religionstheoretischen und religionsempirischen Enthaltsamkeit hat die Theologie längst dafür gesorgt, ihre im Neuprotestantismus erworbene Religionsdeutungskompetenz an Sozialwissenschaftler und Sozial- und Kulturhistoriker abzutreten, die auf den Feldern der Religions- und konfessionellen Milieuforschung zunehmend die Stimmführerschaft übernehmen.“4 Die Theologie und insbesondere die Dogmatik sei im 20. Jahrhundert infolge der Dominanz der dialektischen Wort-Gottes-Theologie an den deutschsprachigen Fakultäten zu einer professionellen Theologentheologie von und für Berufstheologen geworden und habe die gelebte Religion der Individuen im Spannungsfeld von Individualität und Sozialität aus den Augen verloren. Die dogmatisch-normative Beschreibung der Religion sei deshalb durch eine neue Aufmerksamkeit auf die individuelle Religionskultur der Moderne zu ersetzen. „Da einzig die Individualität der ← 10 | 11 →Individuen das empirisch erfahrbare und theoretisch reflektierbare Subjekt der Religion bildet, sind alle anderen überempirischen und übernatürlichen Vorstellungssubjekte, die im Laufe langer religiöser und theologischer Traditionen aufgebaut worden sind, auf die Funktion zu reduzieren, die sie für den Aufbau und die Auslegung einer religiös sich verstehenden Individualität leisten können.“5

Man kann die theologische Entwicklung im 20. Jahrhundert freilich auch geradezu umgekehrt wie Wagner als Bemühung um einen vollzugsgebundenen Begriff der Religion lesen, die auf eine dogmatische Beschreibung des religiösen Aktes abzielt. Von der zuletzt genannten Lesart der theologischen Entwicklung gehe ich in meinen nachfolgenden Überlegungen zu der Frage, ob es so etwas wie Religionslosigkeit überhaupt gibt, aus. Um das Thema angemessen in Angriff nehmen zu können, müssen wir uns zunächst den Kontroversen über den Religionsbegriff zuwenden. Einzusetzen ist mit einem knappen Überblick über die religionssoziologische Debatte um den Begriff der Religion. Vor dem Hintergrund dieser Kontroversen und der in ihr zutage tretenden Probleme ist im zweiten Abschnitt ein analytisch gehaltvoller Begriff der Religion zu skizzieren. Er knüpft an die dogmatische Explikation des Glaubensaktes an und arbeitet diesen zu einem theologischen Begriff der Religion aus. Abschließend werde ich mich im Ausgang von den vorgestellten Überlegungen zum Religionsbegriff dem Thema der Religionslosigkeit zuwenden.

1. Zur religionssoziologischen Rekonstruktion moderner Religion

Die Deutungen der modernen Gesellschaft waren bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts noch von der Überzeugung getragen, dass die Religion zunehmend an Bedeutung und gesellschaftlicher Prägekraft verlieren wird.6 Im Anschluss an die von Herbert Spencer, Georg Simmel und Arnold Gehlen ausgearbeiteten Evolutionstheorien sah man die gesellschaftliche Evolution von archaischen Gesellschaftsformationen auf die industrielle Gesellschaft und ihre Sozialstrukturen zulaufen. Dem korrespondierte die Herausbildung der ← 11 | 12 →Kirchensoziologie nach dem Zweiten Weltkrieg, welche Kirchlichkeit und Religiosität kurzschloss. Aus dem nicht zu übersehenden Bedeutungsverlust der institutionalisierten Religionsformen, dem Schwund an kirchlicher Mitgliedschaft in den Industrieregionen und dem Nachlassen kirchlicher Prägekraft für das Individual- und Sozialleben schloss man – wie schon in den Debatten in der Sattelzeit der Moderne – auf einen zunehmenden „Religionsindifferentismus“7 und Religionszerfall in der modernen Gesellschaft. Gegen diese methodisch verengte Perspektive der Kirchensoziologie wandte sich seit den 1960er Jahren die sich im Rückgriff auf die soziologischen Klassiker Emil Durkheim und Max Weber etablierende moderne Religionssoziologie. Methodisch plädierte sie entschieden für eine Erweiterung der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie. Dies setzt nicht nur einen erweiterten Religionsbegriff voraus, der nicht mehr mit der dogmatischen Selbstbeschreibung der kirchlichen Religionsform zusammenfiel, sondern auch einen veränderten Theorierahmen. In nahezu allen religionssoziologischen Konzeptionen, wie sie seit den 1960er Jahren ausgearbeitet wurden, avancierte – wie schon bei Weber selbst – der Sinnbegriff zum Schlüsselbegriff der Religionssoziologie. Dadurch wurde es möglich, Religion auch dort zu identifizieren, wo sie nicht in Form von Kirchlichkeit auftrat.

Für die weitere Debatte bestimmend wurden insbesondere zwei religionssoziologische Modelle: ein wissenssoziologisches und ein systemtheoretisches. Die wissenssoziologische Religionstheorie, wie sie etwa von Peter L. Berger und Thomas Luckmann vorgeschlagen wurde, zeichnet sich durch ein Doppeltes aus. Sie arbeitet einerseits einen funktionalen Religionsbegriff aus, da nur dieser soziologisch relevant sei, und andererseits versucht sie, einen anthropologisch-funktionalen Religionsbegriff mit einer gesellschaftlichen Evolutionstheorie zu verbinden.8 Auf dieser methodischen Grundlage versteht Luckmann Religion ← 12 | 13 →als einen Bestandteil des Sozialisationsprozesses, genauer, als die Aneignung einer sinnhaften Weltsicht durch das Individuum im Sozialisierungsprozess. „Sozialisation beruht auf den anthropologischen Bedingungen der Religion, der Individuation des Bewußtseins und des Gewissens in gesellschaftlichen Vorgängen, und aktualisiert sich in der subjektiven Aneignung des Sinnzusammenhangs, der eine geschichtliche Ordnung innewohnt.“9 Die Transzendierung der biologischen Natur durch die Einbindung des Individuums in die Sinntradition einer konkreten Gesellschaftsordnung und die Aneignung einer Weltsicht erscheint bereits als ein religiöser Vorgang.10 Religion ist damit nicht an Institutionen gebunden, so dass von dem Bedeutungsverlust der kirchlichen Organisationsformen in der Moderne nicht auf einen Bedeutungsverlust der Religion zurückgeschlossen werden kann. Vielmehr ändert die Religion ihre Formen. Aus der kirchlichen Form der Religion wird die unsichtbare, individualisierte Religion der Moderne.11 Von einer Säkularisierung im Sinne eines Bedeutungsverlusts oder gar Verschwindens der Religion kann also keine Rede sein. Sie ändert in der Moderne ihre Form, so dass Säkularisierung als Entinstitutionalisierung und Privatisierung der Religion zu verstehen ist.12

Sinn ist auch der Grundbegriff der systemtheoretischen Religionssoziologie von Niklas Luhmann, des zweiten Modells, welches die nachfolgende Debatte nachhaltig bestimmte.13 Im Unterschied zu Berger und Luckmann ist ← 13 | 14 →Luhmann freilich der Auffassung, der Bezugspunkt der Religion in der Moderne sei nicht das Individuum, sondern die Gesellschaft. „Religion löst nicht spezifische Probleme des Individuums, sondern erfüllt eine gesellschaftliche Funktion.“14 Die Religion hat also keine anthropologische Funktion, wohl aber eine unverzichtbare gesellschaftliche. Die notwendige Funktion der Religion für die Gesellschaft besteht darin, Sinnvertrauen zu generieren. Diese Funktion der Religion ist das Resultat der gesellschaftlichen Entwicklung, die zu einer funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche Subsysteme führte, die nur noch ihrer eigenen Funktionslogik folgen.15 Jedes gesellschaftliche System operiert im Medium Sinn, und jedes soziale System hat eine Umwelt, die es nur systemintern und damit selektiv wahrnehmen kann. Damit ist ein doppeltes Strukturproblem verbunden. Einerseits tritt in jedem System-Umwelt-Verhältnis die Duplizität von Bestimmtheit und Unbestimmtheit auf, und andererseits liegt die Eigenart von Sinn darin, zugleich komplexitätsreduzierend und komplexitätssteigernd zu sein. Beide genannten Aspekte sind offensichtlich strukturanalog: Das unreduzierbare Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit reproduziert sich fortlaufend in jeder Operation eines Systems. Mit diesem Strukturproblem ist nicht nur jedes gesellschaftliche System konfrontiert, aus diesem systemtheoretischen Abschlussproblem resultiert auch die gesellschaftliche Notwendigkeit der Religion: Angesichts der von den Systemen produzierten Überkomplexität von Sinn generiert sie Sinnvertrauen. Die Eigenlogik der Operationen des Religionssystems, ihren Code von Transzendenz und Immanenz sowie ihre Kontingenzformel können im Folgenden auf sich beruhen.16 Wichtiger für unsere Überlegungen ist der aus der Systemtheorie resultierende Säkularisierungsbegriff. In seiner systemtheoretischen Reformulierung, in der er auch unverzichtbar ist, meint er weder einen Bedeutungsverlust der Religion für die Gesellschaft, noch einen Funktionsverlust der Religion oder gar ← 14 | 15 →ihr Verschwinden aus der Gesellschaft, sondern den Vorgang der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft.17 „Säkularisierung können wir begreifen als die gesellschaftsstrukturelle Relevanz der Privatisierung religiösen Entscheidens. Weder begrifflich noch theoretisch ist damit ein Funktionsverlust oder auch nur ein Bedeutungsverlust der Religion schlechthin postuliert. […] Er orientiert sich an dem allgemeinen Problem, das eine strukturell erzwungene Privatisierung des Entscheidens gesellschaftsstrukturelle Konsequenzen hat und darüber hinaus einschneidende Restriktionen auf die Form der sozialen Ordnung setzt, die dann noch möglich ist; und er bezeichnet die Konsequenzen dieses Zusammenhangs von strukturellen Bedingungen für den Bereich der Religion.“18 Denn funktionale Ausdifferenzierung meint ja nichts anderes, als dass jedes System in selbstreferentieller Geschlossenheit nur noch seiner Eigenlogik folgt, also keine religiöse Funktion mehr wahrnimmt. Die Umwelt des Religionssystems erscheint aus dessen Perspektive als säkular, aber das besagt nichts über die Religion und ihre notwendige gesellschaftliche Bedeutung.

In beiden religionssoziologischen Modellen behält die Religion auch in der modernen Gesellschaft eine grundlegende Funktion, sei es für die Einbindung des Individuums in die Gesellschaft oder für diese selbst. Religion und moderne Gesellschaft schließen sich also nicht aus.

2. Zur Kritik am religionssoziologischen Religionsbegriff

Den beiden kurz skizzierten religionssoziologischen Beschreibungen von Religion und moderner Gesellschaft kommt das Verdienst zu, sowohl den Religionsbegriff als auch das Verständnis der modernen Gesellschaft präzisiert zu haben. Was zunächst den Begriff der Religion betrifft, so ist deutlich, dass die ältere kirchensoziologische Fassung, welche diese mit ihrer kirchlichen Sozialform identifizierte, zu eng ist, um die Transformationsprozesse von Religion und ← 15 | 16 →Gesellschaft seit der Sattelzeit der Moderne angemessen zu rekonstruieren.19 Auch der Ertrag des religionssoziologischen Säkularisierungsbegriffs ist nicht zu gering zu veranschlagen. In ihm überschneiden sich, was oft betont wird, die unterschiedlichsten Motive und Interessen. So wird der Begriff als kirchenrechtliche Kategorie gebraucht, aber auch als historiographische Kategorie, als Emanzipationsbegriff, als ideenpolitischer Kampfbegriff, der sich positiv oder negativ wenden lässt, und schließlich als theologische Kategorie.20 Angesichts dieser Überlagerungen und Identifikationen, die mit dem Säkularisierungsbegriff einhergehen, bedeutet das religionssoziologische Verständnis von Säkularisierung als gesellschaftliche Ausdifferenzierung eine wichtige begriffliche Klärung – auch wenn man nicht gewillt ist, die weitreichenden Konsequenzen zu teilen, die sich mit diesem Säkularisierungsbegriff verbinden.21

Die von der neueren Religionssoziologie vorgenommene Funktionsbestimmung führte dazu, Formen der Religion zu analysieren, die von den Mustern kirchlich institutionalisierter Religion abweichen. Das ganze Spektrum eines Christentums ‚außerhalb der Kirche‘, wie es sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, kam mit dem veränderten methodischen Ansatz erst in den Blick, von den vielfältigen Formen moderner, individualisierter Gegenwartsreligion ganz zu schweigen.22 Das funktionale Religionsverständnis birgt indes auch seine Gefahren. Sie dürfen nicht zuletzt darin gesehen werden, dass der Religionsbegriff selbst unscharf wird und seine analytische Prägnanz verliert. Wenn jede Sinnsuche als Religion verbucht werden kann, dann wird der Religionsbegriff geradezu ← 16 | 17 →inflationär.23 Damit ist das gravierendste Problem dieses Religionsbegriffs noch gar nicht benannt. Es besteht in der Unterstellung einer den Teilnehmern selbst unbewussten Religion. Letztlich entscheidet also der Religionssoziologe über das Vorkommen von Religion und Religionslosigkeit. Luhmanns systemtheoretischer Religionsbegriff ist – wenn auch auf der theoretischen Ebene – mit einem ähnlich gelagerten Problem konfrontiert. Wenn die Notwendigkeit der Religion allein aus einem systemtheoretischen Abschlussproblem resultiert, dann fragt es sich, wie man unter Absehung von den individuellen religiösen Vollzügen überhaupt zu einem gehaltvollen Begriff der Religion gelangen soll.24

Die Kritik an der europäischen Säkularisierungsdebatte, wie sie etwa von José Casanova und Charles Taylor aus einer nordamerikanischen Perspektive vorgetragen wurde,25 hat ihren Anhalt vor allem an dem gesellschaftlichen Entwicklungsmodell, welches den religionssoziologischen Säkularisierungstheorien zugrunde liegt.26 Die Unterscheidung von – mit Gehlen gesprochen – archaischer Gesellschaft, Hochkultur und Industriegesellschaft und die Unterstellung eines Entwicklungsmodells, wie differenziert im Einzelnen auch immer ausgeführt, ist in der Tat etwas „zu grobmaschig angelegt“27. Schon der Blick auf die frühe Neuzeit und die sich in der Reformation herausbildenden Unterscheidungen von Kirche und Staat oder von Amt und Person lassen sich nur sehr schwer auf eine stratifikatorische Sozialstruktur abbilden und wären angemessener als Vorläufer funktionaler Differenzierung zu beschreiben. Auf diesen Gesichtspunkt hatten bereits Max Weber und Ernst Troeltsch in ihren Studien zur Genese der modernen Gesellschaft hingewiesen und insbesondere dem Protestantismus eine grundlegende ← 17 | 18 →Bedeutung für die Herausbildung der modernen Welt beigemessen – ohne freilich das Wesen des modernen Geistes monokausal auf die Religion zurückzuführen.28 Der einschlägige Begriff, mit dem Weber und Troeltsch die Eigenart der Moderne zu beschreiben suchten, lautet denn auch Rationalisierung. Die „ungeheurere Rationalisierung des Lebens“29 und die Steigerung der Eigengesetzlichkeiten der sozialen Funktionssysteme führen dazu, um mit Webers berühmter Metapher zu reden, dass der „letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht“30. In der modernen Gesellschaft stehen keine übergreifenden Ordnungsrahmen mehr zur Verfügung, seien diese nun kosmologischer, metaphysischer oder religiöser Natur.

Die angedeuteten Schwierigkeiten des religionssoziologischen Religionsbegriffs sowie des mit diesem verbundenen Säkularisierungsverständnisses lassen sich nur dann einer konstruktiven Lösung zuführen, wenn der Religionsbegriff so mit der Teilnehmerperspektive verknüpft wird, dass der Gewinn der funktionalen Erweiterung nicht verspielt wird.31 Allerdings ist nicht – wie in den funktionalen Religionstheorien – nach der Funktion der Religion für die Gesellschaft oder das Individuum zu fragen, sondern nach der für den religiösen Akt selbst. Religion ist ein strikt selbstbezügliches Geschehen, welches sich selbst als solche bezeichnet und darstellt. Die Konturen dieses Begriffs der Religion sind im Folgenden noch etwas schärfer zu zeichnen.

Ein angemessenes Verständnis der Religion hat nicht nur die Teilnehmerperspektive einzubeziehen, sondern auch deren Vollzugsgebundenheit. Religion ist nur im und als das Geschehen des Sich-Verstehens menschlichen Lebens wirklich. Sie entsteht gewissermaßen erst in diesem Vollzug und seines reflexiven ← 18 | 19 →Wissens um sich. Damit ist eine weitere Konsequenz verbunden. Sie besteht darin, dass sowohl das Selbst als auch der Gehalt zugleich in dem religiösen Akt entstehen. Weder das Selbst noch der Gehalt sind also als fixe Größen der Religion vorauszusetzen.32 Vielmehr bezeichnet sich mit dem religiösen Gehalt der religiöse Akt selbst. Letzterer bezieht sich auf sich selbst und stellt sein reflexives Sich-Verstehen für sich selbst dar. Das Geschehen des Sich-Verstehens, also der religiöse Akt, bezieht sich mit dem Gottesgedanken auf sich selbst und stellt seine eigene Selbsterschlossenheit dar. Gott ist allein im Glauben beim Menschen, nämlich im und als das Geschehen menschlichen Sich-Verstehens. Der Gottesgedanke repräsentiert die Unbedingtheit und die Dursichtigkeit, welche der Glaube ist. Allein deshalb gehören Gott und Glaube zuhauf (Martin Luther), und außerhalb des Glaubens findet man lediglich den Teufel.

Religion als reflexives Geschehen im Selbstverhältnis des Menschen ist weder aus kulturellen noch aus anthropologischen Voraussetzungen ableitbar. Darin dürfte die Pointe der offenbarungstheologischen Weiterbestimmung der Religion im 20. Jahrhundert liegen. Zur bewussten Religion gehört das Wissen um die Unableitbarkeit ihres eigenen Entstehens. Darin liegt der Gehalt des Offenbarungsbegriffs. Er beinhaltet weder eine Übermittlung von Lehrgehalten, wie in der altprotestantischen Dogmatik, noch markiert er eine Synthese von gleichsam objektiven und subjektiven Momenten, wie in der neueren Dogmatik seit Richard Rothes Unterscheidung von Manifestation und Inspiration.33 Offenbarung ist eine religiöse Reflexionskategorie. Mit ihr bezeichnet der religiöse Akt sein Wissen um sein eigenes unableitbares Entstehen sowie die strikte Bindung der Religion an das Geschehen des Sich-Verstehens. Religion als personaler Vollzug entsteht schließlich allein in der Geschichte. Menschliches Sich-Verstehen ist stets ein inhaltlich geschichtlich eingebundenes. Das betrifft auch die symbolischen Formen, in denen sich das Sich-Verstehen darstellt. Sie werden einerseits rezipiert und andererseits transformiert. Religion als bewusster Vollzug realisiert sich stets in der Spannung von überlieferten Gehalten und deren produktiver Umformung.34 Die geschichtliche Einbindung des religiösen Aktes ist folglich ein konstitutiver Bestandteil des Religionsbegriffs. Das ist der Gehalt der ← 19 | 20 → dogmatischen Reflexion der Religion unter dem Gesichtspunkt des Schriftbezugs. Dieser bringt zugleich die geschichtliche Bestimmtheit der Religion durch inhaltliche Gehalte sowie die bleibende Notwendigkeit individueller Aneignung und Umformung dieser Gehalte als Darstellungen des Sich-Verstehens zum Ausdruck.35 Der religiöse Akt ist folglich nicht nur im Hinblick auf seine Entstehung in der Geschichte unableitbar, sondern ebenso sind die inhaltlichen Formen, in denen er sich darstellt, kontingent. Sie könnten damit grundsätzlich auch anders sein. Aber auch als andere müssen sie notwendig konkret sein.

Damit sind Aspekte eines vollzugsgebundenen Begriffs der Religion benannt, der die Teilnehmerperspektive aufnimmt. Er resultiert aus der dogmatischen Beschreibung des Glaubensaktes. Dogmatik ist selbst schon eine Darstellung des selbstreflexiven religiösen Aktes, freilich aus der Perspektive eben dieses Aktes selbst. Insofern beinhaltet sie – und zwar gerade als theologische Dogmatik – eine Theorie der Religion. Deren Grundlage ist das Selbstverhältnis des menschlichen Bewusstseins und dessen Darstellung, in denen sich das Selbst erst herstellt und sich mit einem selbstgeschaffenen Bild über sich selbst verständigt. Die religiösen Inhalte – also die Darstellungen des Sich-Verstehens des Menschen – beziehen sich auf die reflexive Durchsichtigkeit des religiösen Aktes selbst. Sie haben also eine Funktion für den religiösen Akt selbst, insofern er sich allein durch selbstgeschaffene Bilder in der Spannung von geschichtlicher Abhängigkeit der symbolischen Medien und deren Umformung artikulieren kann.

Details

Seiten
208
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (PDF)
9783653050226
ISBN (MOBI)
9783653976298
ISBN (ePUB)
9783653976304
ISBN (Hardcover)
9783631657225
DOI
10.3726/978-3-653-05022-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (September)
Schlagworte
Religionslosigkeit Wahrheitstheorie Evolutionstheologie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 208 S., 1 farb. Abb., 17 s/w Abb.

Biographische Angaben

Martin Rothgangel (Band-Herausgeber:in) Ulrich Beuttler (Band-Herausgeber:in)

Martin Rothgangel lehrt am Institut für Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Ulrich Beuttler lehrt am Institut für Systematische Theologie der Universität Erlangen.

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Titel: Glaube und Denken