Apologien Russlands
Ein russisch-deutsches Presse-Projekt (1820–1840) und dessen Gestalter Fedor I. Tjutčev und Friedrich L. Lindner
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Copyright
- Autorenangaben
- Über das Buch
- Zitierfähigkeit des eBooks
- Inhaltsverzeichnis
- Danksagung
- Abkürzungsverzeichnis
- 0. Einleitung: Russland zwischen Publizistik und Poesie
- 0.1. Ein publizistischer Versuch, Russland mit dem Verstand zu begreifen
- 0.2. Lyrik als politische Plattform
- 0.3. Forschungsstand und Problemfelder der Untersuchung
- 1. Zu den Anfängen des Presse-Projekts (1825–1826)
- 1.1. Kampf um die öffentliche Meinung
- 1.2. Lindners Kontakte mit der Münchner Gesandtschaft
- 1.2.1. Das ‘Münchner Dreieck’: Lindner-Tjutčev-Heine
- 1.2.2. Tjutčev, Lindner und der Dekabristen-Aufstand
- 1.3. Lindners Nekrolog auf Zar Aleksandr I.
- 1.3.1. Der Nachruf als Indulgenz
- 1.3.2. Lindners Paradoxien: Krieg gegen die Revolution als Friedenssicherung
- 1.4. Resümee
- 2. Imperialer Philhellenismus: Russisch-türkischer Krieg (1828–1829)
- 2.1. Lindners Visionen der Weltpolitik zu Anfang des Winters
- 2.1.1. „Russland ist groß genug…“
- 2.1.2. Zivilisation und allgemeiner Frieden
- 2.2. Gegen falsche Ansichten in der orientalischen Frage
- 2.2.1. Lindners Russland und die Revolution
- 2.2.2. Restauration des Handels und heilige Allianz der Humanität
- 2.3. Die Ode Ludwigs I. an Nikolaj I. in Tjutčevs Übertragung
- 2.3.1. „Konstantinopel lebet wieder auf…“: Bayerische Byzanz-Vision
- 2.3.2. Zwischen Zar und König: Tjutčevs Botschaft
- 2.4. Resümee
- 3. Polnischer Aufstand (1830–1831)
- 3.1. Heinrich Heines geändertes Russland-Bild
- 3.2. Russische Gesandtschaft gegen die propolnische Stimmung
- 3.2.1. Russisches Blut und polnische Schlange
- 3.2.2. Auf der Suche nach einem Autor (Tjutčev?)
- 3.3. Lindners Korrespondenz von der russischen Grenze
- 3.3.1. Revolution oder Empörung?
- 3.3.2. „Die Sklaverei in Russland ist ein patriarchalisches Verhältnis…“
- 3.4. Lindner über die polnische Revolution
- 3.4.1. Freiheit für Polen
- 3.4.2. Polen und Konstantinopel
- 3.5. Betrachtungen über die politische Lage Europas
- 3.5.1. Sieg der Zivilisation
- 3.5.2. Kampf zweier entgegengesetzter Systeme
- 3.6. Tjutčevs Gedicht Как дочь родную на закланье…
- 3.6.1. Gegen wen polemisiert Tjutčev?
- 3.6.2. Nicht für den Koran der Selbstherrschaft…
- 3.6.3. Antike Tragödie: politische Realität als Theater
- 3.7. Resümee
- 4. „Russe mit Leib und Seele“: Tjutčevs Publizistik der 1840er Jahre
- 4.1. Die Wiederbelebung des Presse-Projekts
- 4.2. „Eine Apologie Russlands…“
- 4.2.1. Russland und Deutschland
- 4.2.2. Ein anderes Europa
- 4.3. Das Memorandum an Zar Nikolaj I.
- 4.3.1. Der Heilige Krieg zwischen Ost und West
- 4.3.2. Ein zweiter Versuch, das Presse-Projekt wiederzubeleben
- 4.4. Russland und der Westen
- 4.4.1. Kampf der zwei Prinzipien (Russland und Revolution)
- 4.4.2. Die slavische Einheit
- 4.4.3. Ökumene vs. Revolution
- 4.4.4. Anerkennung und Enttäuschung
- 4.5. Resümee
- 5. Tjutčev – ein russischer Patriot?
- 6. Bibliographie
- 7. Anhang
- 7.1. Gedichte
- 7.1.1. Ludwig I. An Rußland’s Kaiser. Im Sommer 1828
- 7.1.2. F. I. Tjutčev Императору Николаю I. (Из Людвига Баварского)
- 7.1.3. F. I. Tjutčev Как дочь родную на закланье…
- 7.2. Archivmaterialien
- 7.2.1. Briefe Lindners
- 7.2.1.1. an J. F. Cotta v. 23. Dezember 1825
- 7.2.1.2. an J. F. Cotta v. 16. Januar 1826
- 7.2.1.3. an J. F. Cotta v. 15. Februar 1826
- 7.2.1.4. an J. F. Cotta v. 27. Februar 1826
- 7.2.1.5. an J. F. Cotta v. <9. April 1826>
- 7.2.1.6. an J. F. Cotta v. 26. Oktober 1826
- 7.2.1.7. an J. F. Cotta v. 7. März 1827
- 7.2.1.8. an J. F. Cotta v. 4. Mai 1827
- 7.2.1.9. an J. F. Cotta v. 20. Mai 1827
- 7.2.1.10. an J. F. Cotta v. 9. September 1829
- 7.2.1.11. an J. F. Cotta v. 24. September 1829
- 7.2.1.12. an Albrecht Le Bret v. 8. Dezember 1829
- 7.2.1.13. an J. F. Cotta v. 11. Februar 1830
- 7.2.1.14. an J. F. Cotta v. 15. September 1831
- 7.2.2. Depesche von I. I. Voroncov-Daškov an K. R. Nesselrode v. 17. Februar/1. März 1826
- 8. Апология России между публицистикой и поэзией
- 9. Personenregister
← 8 | 9 → Danksagung
An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei all denen bedanken, die mir bei so einem umfangreichen Projekt wie einer Dissertation immer einen fachkompetenten wie auch freundlichen Beistand geleistet haben und ohne deren Unterstützung es nicht hätte zustande kommen können. Einen besonderen Dank möchte ich Herrn Prof. Dr. Walter Koschmal für seine langjährige vertrauensvolle Betreuung meiner Arbeit und vor allem für seine ständige Bereitschaft, mir in vielen Situationen beizustehen, aussprechen. Für das Interesse für meine Studien sowie für die Übernahme meiner Schrift in seine Reihe gilt mein großer Dank Herrn Prof. Dr. Fedor B. Poljakov. Die finanzielle Unterstützung bekam ich im Rahmen des Graduiertenstipendiums vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Der Forschungsaufenthalt in Moskau wurde mir vom DAAD finanziell ermöglicht. Dafür bin ich ebenfalls sehr dankbar. Im Besonderen möchte ich mich bei allen Mitarbeitern des Marbacher Literaturarchivs und des Moskauer Archivs der Außenpolitik des Russischen Reiches für ihre unschätzbare Hilfe bei meinen Archiv-Recherchen bedanken. Herr Prof. Dr. Alexander Ospovat, dem ich auch einen Dank schulde, sorgte dafür, dass ich mich bei meinem Moskauer Forschungsaufenthalt immer gut betreut und beraten fühlte. Ein weiterer Dank für Hilfe und Verständnis geht an Herrn Christopher Dagleish, den Fachreferenten für Slavistik an der Universitätsbibliothek Regensburg bzw. an die Mitarbeiter der Universitätsbibliothek Regensburg. Für die sorgfältige und kompetente Korrektur meiner Arbeit bedanke ich mich recht herzlich bei Lisa Gaier, Anna Gorbunov, Eduard Kirschbaum und Marion Rutz. Ein großer Dank für die ständige Unterstützung meiner Arbeit geht auch an Heinrich Kirschbaum. Die einzelnen Kapitel bzw. Thesen der Doktorarbeit wurden im Rahmen der Forschungskolloquien im Fach Slavische Philologie unter Leitung von Herrn Prof. Dr. Walter Koschmal sowie im Fach Politische Philosophie und Ideengeschichte unter Leitung von Herrn Prof. Dr. Karlfriedrich Herb an der Universität Regensburg diskutiert. Herrn Prof. Dr. Karlfriedrich Herb möchte ich ebenfalls besonderen Dank für seinen ständigen Beistand aussprechen. Ich bedanke mich auch bei allen Teilnehmern der Kolloquien für ihre Anregungen und ihre großartige Unterstützung. Vielen Dank auch an diejenigen, die ich nicht namentlich erwähnen konnte. Im Laufe meiner Arbeit konnte ich mich auf erfreuliche Weise davon überzeugen, dass die Solidarität der wissenschaftlichen Gemeinschaft weder disziplinäre noch nationale Grenzen kennt.← 9 | 10 →
← 10 | 11 → Abkürzungsverzeichnis
← 12 | 13 → 0.Einleitung: Russland zwischen Publizistik und Poesie
[…] der Dichter [läßt] seine Personen jedesmal [bloß rhetorischer Zwecke wegen] das reden, was eben an dieser Stelle gehörig, wirksam und gut ist, ohne sich viel und ängstlich zu bekümmern und zu kalkulieren, ob diese Worte vielleicht mit einer anderen Stelle in scheinbaren Widerspruch geraten möchten. (Eckermann 1999, 605)
0.1.Ein publizistischer Versuch, Russland mit dem Verstand zu begreifen
Im Jahr 1837 schrieb Petr Čaadaev (1784–1856) seine Verteidigungsschrift Apologie eines Wahnsinnigen (Апология сумасшедшего), in der er die Prinzipien der russischen Gesellschafts- bzw. Staatsordnung, zum Teil in der Polemik mit seinem eigenen Ersten philosophischen Brief (Первое философическое письмо, 1829, gedruckt: 1836), neu formulierte. Čaadaevs Apologie stellte einen Beitrag zur russischen Diskussion der 1830er–1840er Jahre zwischen Westlern und Slavophilen dar. Die Mythologisierung Russlands, die Čaadaev in seiner Schrift unternahm, war eher für den innerrussischen Gebrauch bestimmt, die Russland-Diskussion selbst wurzelt allerdings nicht nur in russischem Boden. Die Impulse zur Etablierung eines romantisch geprägten Nationalbewusstseins, die vor allem aus Deutschland kamen, führten dazu, dass im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Europa nationale Tendenzen aufkamen, die sich einerseits in Unabhängigkeits- und andererseits in Einigungsbestrebungen äußerten. Die gesamteuropäischen gesellschaftlichen Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozesse der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fanden vor dem Hintergrund der Restaurierung der konservativen Innen- und Außenpolitik in Europa statt, deren aktiver Befürworter Russland war. Somit konnte gar nicht verhindert werden, dass das Zarenreich in den Augen der liberalen westeuropäischen Öffentlichkeit als ein bzw. der „Gendarm Europas“ galt.
In europäischen Regierungskreisen nahm man Russland, dessen internationale Position mit dem Wiener Kongress gestärkt wurde, als eine Gefahr wahr. Die Erfolge der russischen Diplomatie sowie die militärischen Siege gegen die Perser (1828) und die Türken (1829) vertieften Russlands Vertrauen in die eigenen machtpolitischen Kräfte. Die westeuropäischen Großmächte beobachteten diese Entwicklung mit wachsender Besorgnis und bemühten sich, sie zu verhindern bzw. zu korrigieren. Dabei griff man sowohl zu klassischen diplomatischen ← 13 | 14 → Mitteln als auch zu neuen propagandistischen Methoden: Ende der 1820er Jahre erschienen in der westeuropäischen Presse zahlreiche Artikel, in denen man die russische Außenpolitik zu diskreditieren versuchte. Die russische Regierung fühlte sich aufgefordert, schnelle und effektive Gegenmaßnahmen zu ergreifen und erkannte dabei auch die meinungsbildenden Medien als ein leicht zugängliches und zugleich sehr effektives Propagandainstrument bzw. suchte sie für ihre Zwecke zu nutzen. Über den Gesandten in München Ivan Alekseevič Potemkin (1778–1850; Gesandter in München: 1828–1833) engagierte sie den renommierten deutschen Publizisten Friedrich Ludwig Lindner (1772–1845), um prorussische Artikel zu veröffentlichen. Zum Koordinator dieses Presse-Projektes bzw. zu dessen aktivstem Gestalter wurde – so die These der vorliegenden Untersuchung – der Dichter, Publizist und Diplomat Fedor Ivanovič Tjutčev (1803–1873), der achtzehn Jahre in München verbrachte (1822–1836; 1840–1844) und vierzehn davon (1822–1836) in der russischen Gesandtschaft arbeitete. Tjutčev, der sich in der westeuropäischen Rhetorik auskannte – so dass er unter seinen Landsleuten als Europäer galt – vermochte sowohl eine gemeinsame Sprache mit seinen europäischen Rezipienten zu finden als auch seine russische Authentizität als einen zusätzlichen Trumpf auszuspielen. Im Gegensatz zu anderen russischen Publizisten, welche ihren patriotischen Gefühlen freien Lauf ließen, legte Tjutčev bei seiner Apologie Russlands eine detaillierte Analyse der geopolitischen und kulturhistorischen Entwicklung des Landes vor. Dabei versuchte, er die zuvor kaum reflektierten ideologischen Prinzipien der russischen Außenpolitik zu formulieren und sie in den westeuropäischen, aber nicht zuletzt auch in den innerrussischen Russland-Diskurs zu integrieren.
Während in der innerrussischen Kontroverse zwischen Slavophilen und Westlern der Westen auf eine abstrakte, wenn auch notwendige (Ausgangs-) Kategorie der Selbstreflexion reduziert wurde, so wurde er in den prorussischen Artikeln Tjutčevs (bzw. in denen von Lindner) zum direkten Adressaten russischer Identitätssuche. Die grundlegenden Prinzipien der russischen Politik wurden somit im Zuge von Verteidigungsreden formuliert, was zum Teil auch für die innerrussische Diskussion gilt: Die Texte der Slavophilen entstanden als Reaktion auf den russlandkritischen Text des Westlers Čaadaev. Man kann aber auch eine enge Verflechtung der russischen bzw. slavischen und der genuin deutschen Diskurse in den russisch-deutschen ideologischen Transferprozessen im 19. Jahrhundert konstatieren. Die sowohl für Russland als auch für Deutschland schmerzhafte polnische Frage lässt sich im Kontext des deutschen Selbstverständnisses betrachten: Der polnische Aufstand bzw. dessen Unterdrückung durch die russische Armee gab vielen deutschen liberalen Autoren Anlass, über ← 14 | 15 → die eigenen politischen Verhältnisse zu reflektieren und erregte heftige Auseinandersetzungen zwischen dem liberalen und konservativen Lager. Andererseits nahm die Idee der slavischen Einheit ihren Anfang nicht zuletzt in den deutschen Einigungsbestrebungen.
Dass die Münchener Gesandtschaft zu einem aktiven Zentrum eines Presse-Projekts avancierte, war kein Zufall. Gerade in Bayern wurde eine der einflussreichsten europäischen Zeitungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gedruckt, die Augsburger Allgemeine Zeitung (im Weiteren – AAZ), die einen wichtigen Austragungsort der Kontroverse um die ‚wahren‘ Absichten und Prinzipien Russlands darstellte. Die AAZ genoss – neben der Kölnischen Zeitung – den Ruf eines liberalen Presseorgans und pflegte nach dem Motto ihres Verlegers Johann Friedrich Cotta (1764–1832) die Unparteilichkeit, „ohne nach besserer oder schlechterer Meinung zu unterscheiden“ (zit. nach Breil 1996, 43). Die Zeitung publizierte zwar russlandkritische Artikel, stellte ihre Seiten aber auch der Gegenpartei zur Verfügung; dazu war sie allerdings nicht selten auch gezwungen, da sie unter der Aufsicht der Zensur stand und auf die russisch- sowie österreichisch-bayerischen Beziehungen Rücksicht nehmen musste (vgl. ebd., 172–173).1 Konfliktpotenzial barg teilweise auch die Einstellung der Machthaber Bayerns gegenüber Russland: So bewunderte der Philhellene Ludwig I. den Zaren Nikolaj I. als den lang ersehnten Befreier Griechenlands.
Deutsche Medien stellten als ‚neutrales Gewässer‘ einen günstigeren rhetorischen Ort zur Diskussion über die russische Politik dar, umso mehr, als in Russland selbst diese Debatte aus Zensurgründen unmöglich war.2 Tjutčev, der 1844 endgültig aus Deutschland nach Russland zurückkehrte, konnte seine Überraschung über die polemische Flaute in der Heimat nur in Form eines Paradoxons äußern:
← 15 | 16 → À l’étranger toute discussion sérieuse, tout débat politique, toute question d’avenir aboutit toujours à la Russie. On en parle sans cesse, on la voit partout. Arrivé en Russie, vous ne la voyez plus. Elle disparaît complètement de l’horizon.3 (zit. nach Вяземский 1963, 282)4
Laut Larry Wolff setzten sich die westlichen Autoren in ihren Texten über Russland nicht selten mit dem Problem unlösbarer Widersprüche („an intellectual problem of unresolved contrasts“, Wolff 1994, 18–19) auseinander, sodass nur die paradoxe Sprache die Möglichkeit eines im westlichen Sinne vernünftigen Gespräches über russische Verhältnisse eröffnete (Er bezog sich dabei zwar auf Texte des 18. Jahrhunderts, seine Beobachtungen lassen sich aber auch auf das 19. Jahrhundert projizieren). Tjutčev löste dieses Problem, indem er – offensichtlich nicht ohne Ironie – laut die Ungültigkeit der Gesetze der traditionellen Logik in Bezug auf Russland proklamierte. Die Auflösung der Widersprüche ist in diesem Fall nur dann möglich, wenn man annimmt, dass Russland nach einem geheimen Plan der Vorsehung handelt:
Умом Россию не понять,
Аршином общим не измерить:
У ней особенная стать –
В Россию можно только верить. (Тютчев 1987, 229)5
Es stellt sich dabei aber die Frage, ob die vorgeschlagene Begründung nicht eine rein rhetorische Lösung ist. Russland und seine Kultur werden von Tjutčev nicht in kognitiv-logischen, sondern in religiös-mythologischen Kategorien beschrieben. Der aufklärerische Aufruf, sich des eigenen Verstands zu bedienen bzw. „der Syllogismus des Westens“ (Petr Čaadaev), wird damit indirekt in Frage gestellt.6
← 16 | 17 → Die russlandapologetischen Texte, die im Rahmen bzw. vor dem Hintergrund des russischen Presse-Projekts entstanden sind, bilden den hauptsächlichen Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses werden dabei die Russland-Bilder und -Ideen von Tjutčev und anderer Autoren stehen bzw. die rhetorischen Mittel, mit deren Hilfe diese formuliert wurden. Dabei soll untersucht werden, wie der rhetorische Raum der Apologie, in dem sich realpolitische, kulturphilosophische, ideologische und nicht zuletzt poetische Diktionen kreuzen, interdiskursiv funktioniert.
0.2.Lyrik als politische Plattform
Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts kündigte sich in Deutschland und Russland eine Epoche an, in der sich Politik und Literatur im Zuge der Romantisierung und der damit verbundenen Demokratisierung stärker annäherten. Auch manche Machthaber gaben sich nicht mehr allein mit der Rolle von Mäzenen zufrieden. So präsentierte sich der bayerische König Ludwig I. nicht nur als leidenschaftlicher Kunstliebhaber und -sammler sowie als ein Bewunderer Goethes, sondern auch als ein selbstbewusster Dichter. Sein Innenminister Eduard von Schenk trat – trotz seines wenig poetischen Postens – als Dramatiker auf, dessen Theaterstücke gerne inszeniert wurden.7
Die politische Lyrik blühte in dieser Zeit ebenso wie die Dichtung von Politikern. Die Kulmination der dichterischen Aktivitäten fiel verständlicherweise auf die großen politischen Ereignisse dieser Zeit wie die antinapoleonischen Kriege, die griechische Befreiungsbewegung und den polnischen Aufstand. Die romantische Verbindung von Poesie und Musik führte zur Popularität des politischen Liedes in Europa, so dass man auch Gedichte, die nicht gesungen wurden, als Lieder bezeichnete: Die Gedichtbände deutscher polenfreundlicher Autoren trugen nicht selten den Titel „Polenlieder“. Somit gilt die Bezeichnung der Funktion des politischen Liedes „als Ausdruck gesellschaftlicher Phänomene, des Wandels, der politischen Mobilisierung, der ideologischen Indoktrinierung, des Widerstandes“ (Newerkla/ Poljakov/ Schmitt 2011, 7) auch für die politische Lyrik insgesamt. In der politischen Dichtung kreuzt sich das Politische und Poetische auf eine Weise, dass die Gedichte eine taugliche Plattform für eine direkte bzw. indirekte (wie im Fall von Ludwig I.) politische Botschaft darboten.
Details
- Seiten
- 258
- Erscheinungsjahr
- 2015
- ISBN (PDF)
- 9783653052640
- ISBN (MOBI)
- 9783653969818
- ISBN (ePUB)
- 9783653969825
- ISBN (Paperback)
- 9783631658987
- DOI
- 10.3726/978-3-653-05264-0
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2015 (August)
- Schlagworte
- Propaganda Politische Lyrik Augsburger Allgemeine Zeitung Russland-Bild in Westeuropa Rhetorische Strategien öffentliche Meinung
- Erschienen
- Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 258 S.