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Erhaltene Präsenz

Essays über die politische Sprache

von Christian Gellinek (Autor:in)
©2015 Monographie 102 Seiten

Zusammenfassung

Christian Gellinek überprüft in seinem Buch die Behauptung des jungen Jacob Grimm, dass Dichtung und Recht letztlich aus einer Quelle fließen (Von der Poesie im Recht, 1816). Anhand von altdeutscher, mittlerer und neuerer Poesie und Prosa bis zu Herman Grimms Essays und Günter Grass’ Lyrik sowie seiner Streitprosa analysiert er die deutsche Sprachlandschaft. Seine Essays über die politische Sprache zeigen Teile des deutschen Unterbewusstseins, das in der politischen Sprache unseres Unrechtsbewusstseins präsent geblieben ist und Wirkungen zeigt. Eigene Erinnerungsgedichte ergänzen die Schriften. Im Sinne Jacob Grimms stellt Gellinek fest: Prosa stuft die Poesie und diese formt Stufen zur Prosa.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • I. Einführung in das literarische Problem
  • II. Beispiele eigener Poesie und politischer Prosa
  • 1. 1962 Berliner Lied
  • 2. 1965 -Igung / <Freiheit>, Terror und Unrecht in der DDR 2010
  • 3. 1971 Katerland / Städtisches Grundbuch und der Zorn des Potsdamer OB 1991
  • 4. 1971 Deutschland / Die Sprache Deutsch ins GG? 2008
  • 5. 1972 Anti-Goya / NKWD und russische Gutmütigkeit: Perspektive 2014
  • 6. 1972 Eigene Wiedergeburt / Das Fulbright Zeiterlebnis 1982
  • 7. 1983 Ruit Hora: Hugo Grotius / Kapholländisch, Afrikaans und Hudson Dutch 2004
  • 8. 1985 Mutter Unser / Altenglische Flaschenpost nach York 2013
  • 9. 2000 Meine Feste Wartburg / Bundeskanzler Willy Brandts Rücktritt 1974
  • 10. 2012 Günter Grass Lebenslang / Ein Dichter ist kein Diplomat 2014 als Kontrast
  • 11. 2014 Schweizerpsalm / Baseler Saisonnierprofessur 1974/75
  • 12. Philipp Scheidemann 1919 / An seine Kinder / 1926 Familiengrab
  • III. Ergebnis: Prosa stuft die Poesie – und diese formt Stufen zur Prosa
  • IV. Apparat Literaturverzeichnis
  • A. Literatur-kritische Beispiele
  • B. Das sprachlich-politikgeschichtliche Umfeld
  • C. Forschung aus der Lehre

I.Einführung in das literarische Problem

Als Jacob Grimm seine Abhandlung Von der Poesie im Recht 1816 veröffentlichte, stellte er die Behauptung auf, daß Dichtung und Recht letztlich aus einer Quelle fließen.

Der Verfasser wurde damit in einem rechtshistorischen Nachdruck von 1957 bekannt und glaubte bis voriges Jahr fest daran, das müsse eine romantische Fehlannahme sein. Jetzt im Alter hat er eingesehen, daß der junge Grimm mit seiner Grundannahme doch Recht hatte. Woran konnte man das festmachen? Eigene Gedichte ab 1961 standen mit des Verfassers politischen Essays, selbst wenn ihre Entstehungszeiten Jahre auseinander lagen, auf einmal vor dem geistigen Auge in einer inneren Beziehung und stehen es noch. Dies gilt es hier zu zeigen und an Beispielen darzulegen.

Meine frühen bis 1979 verfassten Gedichte und auch neuere, hier berücksichtigte, sowie von mir gesammelte politischen Essays über Rechts-, Staat- soder auch Gattungsprobleme wurden in einigen Fällen sogar Jahrzehnte getrennt. Eine neuere abschließende Gedichtsammlung brachte der agenda Verlag Münster 2012 heraus und es wurden parallel dazu, Essays zum Deutschen Elternland 2013 im gleichen Verlag, Stadtkultur und Kulturstadt Münster bei Böhlau 1990, Friedensessays zu Grotius und Goethe New York 1984, Essays zur Literaturkritik im europäischen Mittelalter Poznan 1980, rückwirkend aufgezählt, von mir vorgelegt. Ein zusammenfassender Vergleich beider Gattungen über auseinanderliegende Zeitepochen hinweg war mir bisher nicht in den Sinn gekommen. Nach einer verspäteten privaten Vergleichsstudie stellte sich jedoch überraschend der Einblick ein, der sich, auch wenn solche Schriftwerke aus der eigenen Feder stammten, auf eine Formel bringen ließen: Prosa stuft die Poesie und diese formt Stufen zur Prosa. Gilt das auch allgemein?

Die berühmte Jugendstiltreppe vom Alsergrund in Wien IX bildet symbolisch solche Stufen, von oben betrachtet, nach und zeigt auf einen Ab- und Aufstieg in Folgerichtungen, als wäre sie über einen längeren Zeitraum eine Einordnung deutschsprachigen Schrifttums. In diesem Sinne soll die Umschlagsabbildung und das Widmungsgedicht „Auf die Strudlhofstiege zu Wien“ verstanden werden. ← 9 | 10 →

Jacob Grimm scheute sich nicht, seinen Gedanken durch eine kurze Definition klar zu machen, als er meinte, „die Poesie wird folglich das Recht enthalten wie das Gesetz die Poesie in sich schließen“. Insofern müssen sie als „füreinander beweisend“ gelten. Daher komme es darauf an, die sprachlichen Gemeinsamkeiten in der Rechtssprache und der epischen Kunstsprache aufzudecken. Beide stilistischen Elemente finden sich im Heliand.

Dazu gehört die Neigung zur Wiederholung, zur Tautologie, zur Gegensätzlichkeit und vor allem zur Alliteration im Stabreim. Sowohl in „alten epischen Liedern, Rechtsformeln und Urkunden“ schreitet die Poesie vorwärts, weil sie zwei Glieder in ihren förmlich gebauten Zeilen oder in ihrem Gesätz hat. Es kommt auf die räumlich-zeitliche Erstreckung an, weil „die meisten Symbole unseres alten Rechts höchst einfach“ gestaltet und in die Urelemente „Erde, Wasser und Feuer“ auflösbar seien und sich entweder abwärts erstrecken oder aufwärts stauen und stufen. Jacob Grimm glaubte also zu wissen, daß eine historische Gesamtgrammatik wie die des Deutschen mäanderartig ein Licht und einen Abglanz der geschichtlichen Poesie entzünde. Das seien die eigentlichen Schritte, Tiefenstrukturen und Höhendimensionen der deutschen Sprache. Kann man solche Entwicklungen an charakteristischen deutschen Sprachdenkmälern wie z. B. der Christianisierungsdichtung mit dem Traditionsnamen Heliand von Andreas Schmeller, der als Text nicht zur Missionierung verfasst wurde, verfolgen?

Andreas Heusler legt in der Einführung zu seiner Heliand-Ausgabe von 1935 den Stil des altsächsischen Dichters als „weltlichen Stabreimvers“ fest. Der von König Ludwig dem Frommen beauftragte Heliand-Dichter „verlängert noch die Perioden wie die Senkungen und Auftakte, er häuft die variierende Wiederholung und abhängige Rede. So entsteht seine „tiefatmige“ – nach unserer Terminologie tiefstufende – „Verssprache, vergleichbar einer uferlosen Wellenfläche“.Was traditionell Hebung der Silbe heißt, soll hier als Stufung, die Senkung der Silbe als Abschritt von der Stufe angesprochen werden. Früher hieß das Hakenstil.

Leider kennen wir den geistlich und musikalisch gebildeten sächsischen Dichter nicht. Die ausführende Schreibstube ist entweder direkt in Bischof Liutgers Kloster Münster (so M. Heyne und E. Sievers), oder dessen Bruders, Abt Hildegrims, in der Abtei Werden an der Ruhr, wie neuerdings von C. Burchhardt (2007) zu suchen. So erklärt sich die Nähe zur gleichzeiti ← 10 | 11 → gen inselsächsischen Literatur. Der Friese Luitger war in York ausgebildet worden.

Der Heliand wird statt nach der 71. Vitte abzureißen, vollständig 72 Erzählblöcke gehabt haben. Es ist eine Zahl der Vielfältigkeit der Völker, die in übergeordnete und untergeordnete eingeteilt wurden. An der Spitze standen die judäo-griechisch-römischen Völker und ihre abgestuft heiligen Sprachen. Abgesehen davon, ist die Einteilung in den verschiedenen Ausgaben abweichend, weil nicht wirklich eine solche von Buchkapiteln, sondern vielmehr der mündlichen Vertragsbeherrschung gegeben ist, die nach Harald Haferland 2004 „situatives Denken“ als Folgen der Mündlichkeit voraussetzt. In unserem Sinne verlangt die Satzgrenzenverlagerung eine Abstufung zwischen den Zeilen. Ein Beispiel wäre die Herunterstellung des Epithetons „des Sündelosen“ für Christus (5149) auf die nächst untere Zeile (5150) oder „das Volk, die Übeltäter“ (5174/75) oder „cristan thuo, salig barn godes“ (5508/09). Als Beispiele von so gestuften Beschreibungen, die sich über mehrere Zeilen erstrecken, mögen auch dienen:

„Im Schlaf ein Gesicht, wie der Schöpfer selber, der Waltende wollte, daß geboten wäre, auf anderem Wege heimwärts zu wandern nach dem Morgenlande und den leidigen Mann, Herodes, nicht abermals aufzusuchen, den feindlichen Fürsten“ (681–686) [nach Herrmann, 1891] oder

„die Stätte wird wüst um Jerusalem den Judenleuten, weil sie nicht erkennen, daß ihnen gekommen sei die Zeit ihrer Zeiten, denn sie zweifeln noch, wissen nicht, daß sie heimsucht des Waltenden Kraft (3702–3706) [nach Simrock, 1892/1907/1921].

Im Heliand wird der Salvator als Held und Richter zwar in weltlichen Stabreimen verherrlicht, aber es finden sich auch urkundensprachliche Anklänge, die hörbar und nicht nur lesbar sein mussten. Ein gestufter Satzbau prägt einen Stil aus, der sowohl geistlich überzeugt, wie auch klanglich anspricht. Des Heliands Schicksalsglaube ist gefolgschaftsgebunden und entspricht dem damaligen sächsischen Rechtsgefühl.

Es wird hier nicht in Abrede gestellt, daß die Glied- und Endstellungen in späteren deutschen Prosasätzen auch auf den Einfluß des Lateinischen zurückgehen, aber die hier besprochene Erscheinung entwickelte sich viel früher, nämlich um ganze Jahrhunderte.

„Die Rechtsbücher des Mittelalters sind Arbeiten einzelner Verfasser ohne amtlichen Auftrag, die das Gewohnheitsrecht eines bestimmten Gebietes meist in volkstümlicher Sprache aufzeichnen. Das bedeutendste unter ihnen, zugleich ei ← 11 | 12 → nes der ältesten größeren Prosawerke in deutscher Sprache, ist zwischen 1224 und 1230 entstanden: der Sachsenspiegel Eikes von Repgow, eines der ersten deutschen Rechtsdenker.“ (Adolf Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, Berlin 2006, S. 6)

Details

Seiten
102
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (PDF)
9783653056129
ISBN (MOBI)
9783653966671
ISBN (ePUB)
9783653966688
ISBN (Hardcover)
9783631661192
DOI
10.3726/978-3-653-05612-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Mai)
Schlagworte
Jacob Grimm deutsche Sprachlandschaft Unrechtsbewusstsein politische Sprache
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 102 S.

Biographische Angaben

Christian Gellinek (Autor:in)

Christian Gellinek, emeritierter Professor für deutsche Philologie, studierte in Göttingen, Toronto und New Haven (Connecticut). Er forschte und lehrte in Yale, in Gainesville (Florida), an der Brigham Young University und in Münster. Er forschte am Vredes Palais in Den Haag, am Institute of Social and Economic Research (ISER) an der Memorial University of Newfoundland, St. John’s (Kanada) und hielt Gastprofessuren in Basel, Poznań, Utah, Los Angeles, Potsdam und Vechta.

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